Die Feuerteufelin - Jenny van de Nord - E-Book

Die Feuerteufelin E-Book

Jenny van de Nord

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Beschreibung

Niemand wird als Dämon geboren, doch jeder kann einer werden. Neun Jahre ist es her, seit sich das Leben der 16-jährigen Kriegswaise Lioné in einen Albtraum verwandelt hat. Als sie eines Nachts überstürzt in die Wildnis flieht, mit nichts außer ihrem Schwert und ihrem Feuerelementarstein, beginnt eine gefährliche Reise durch die Welt Rem, in der sie sich zahlreichen Monstern, aber auch der Finsternis in ihrem Herzen stellen muss. Dabei stolpert die temperamentvolle Kämpferin mitten in die Angelegenheiten des technisch überlegenen Rabenclans, der das Land zerstört, um eine von der Göttin geschaffene Waffe zu finden. Lioné schließt sich Verbündeten an, die das Relikt beschützen wollen. Doch wem kann sie trauen? Eine Hetzjagd um unermessliche Macht ist entfesselt …

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Für dich, Papa.

In meinem Herzen bleibst du unvergessen.

Inhaltsverzeichnis

I. DIE FLUCHT

II. DER FREMDE

III. AUF DER JAGD

IV. EIN GEMEINSAMES SCHICKSAL

V. EIN ESSEN ZU DRITT

VI. NACHTWACHE

VII. DIE ALBTRÄUME

VIII. DER MONSTERSCHLÄCHTER

IX. DIE WANDERUNG NACH SIAM

X. SATESLEBEN

XI. ERSTE BEGEGNUNG

XII. VON DRACHEN UND WÖLFEN

XIII. WUNDEN AUS DER VERGANGENHEIT

XIV. KAMPF UM DEN RUNENSTEIN

XV. AD VERBEN

XVI. GETRENNTE WEGE

XVII. MEISTER GEGEN LEHRLING

XVIII. KINDHEITSTRAUMA

XIX. JUGENDTRÄUME

XX. DER FALLENDE STERN

XXI. DIE ABRECHNUNG

XXII. DIE SCHÖNE UND DAS BIEST

XXIII. EIN FRIEDLICHER TAG

XXIV. VERHÄRTETE FRONTEN

XXV. DER PIRAT

XXVI. IM INNEREN DES FEINDES

XXVII. EIN DRACHE IM SCHAFSPELZ

XXVIII. DAS ENDE EINER SUCHE

XXIX. DER MANN MIT DEN ZWEI GESICHTERN

XXX. DER AUSBRUCH

XXXI. DAS GEHEIMNIS

XXXII. INVASION

XXXIII. DAS GEISTERDREIECK

XXXIV. ZUSAMMENHALT

XXXV. DAS WIEDERSEHEN

XXXVI. DER TAG, DER ALLES ÄNDERTE

XXXVII. VERSCHIEDENE BANDE

XXXVIII. EIN LANGER WEG

XXXIX. EISZEIT

XL. DER TREFFPUNKT

XLI. DIE RUHE VOR DEM STURM

XLII. DAS FEST DER LIEBE

XLIII. DAS LETZTE GEFECHT

XLIV. ABSCHIED

EPILOG

I

DIE FLUCHT

Sie hastete durch den Wald. Die Todesangst, ihr stetiger Begleiter, folgte ihr mit jedem Schritt.

Ihr Leib war übersät mit Kratz- und Bisswunden, ihre zerschlissene Kleidung besudelt mit Erde, Grasflecken und diversen Körperflüssigkeiten. Seit Tagen hatte sie kaum geschlafen und gegessen. Sie versuchte sich nicht von der Furcht beherrschen zu lassen, dass ihr Geruch nach Blut und Schweiß bald weitere Monster anlocken würde. Hektisch spähte sie zwischen den dicht stehenden Bäumen und Büschen hindurch, eine Hand stets fest am Griff des Schwertes. Doch auch ihr Eifer konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihre Kräfte nahezu aufgebraucht waren. Der Kampf gegen ihre andauernde Müdigkeit wurde zur Tortur. Es fiel ihr zunehmend schwer, auf das Rascheln der Pflanzen, die Bewegung des Windes und die Schatten im Dickicht zu achten. Raxes hatte ihr beharrlich beigebracht, wie wichtig es war, die Natur lesen zu können. Davon konnte das Überleben abhängen.

Bei der Erinnerung stieg Übelkeit in ihr auf. Sie stoppte und glaubte, sich übergeben zu müssen, doch mehr als ein krampfartiges Zusammenziehen ihres leeren Magens und ein trockenes Würgen geschah nicht. Als sie spürte, wie eine Panikattacke sie zu überwältigen drohte, klatschte sie sich mit beiden Händen mehrmals ins Gesicht.

Nicht durchdrehen, Lioné. Bis Scoon ist es nicht mehr weit.

Die Kleinstadt war ihre letzte Hoffnung zu entkommen und alles hinter sich zu lassen, was geschehen war. Es gab Momente, da beschlich die Sechzehnjährige das Gefühl, wahnsinnig zu werden. Momente, in denen sie nicht wusste, ob sie schreien, jubeln oder weinen sollte. Ihr war nichts geblieben – der Weg hinter ihr war unwiderruflich zerstört und sie nur ein Schatten ihrer selbst. Als ihre Sicht verschwamm, blieb sie kurz stehen und rieb sich die Augen.

Ich darf mich nicht ausruhen … Ich muss in Bewegung bleiben.

In diesem Moment tropfte etwas auf ihre Schulter. Rauch stieg auf, als sich eine ätzende Flüssigkeit durch ihren Umhang fraß und schmerzhaft in ihre Haut brannte.

Augenblicklich kehrten ihre Lebensgeister zurück. Intuitiv machte Lioné einen Satz zur Seite. Nur eine Sekunde später sprang eine Kreatur vom Baum herab und verfehlte sie nur knapp. Blitzartig zog sie ihr Schwert.

Das käferartige Monster der Klasse Toxin erkannte sie sofort.

Das sogenannte Gifco besaß einen braunen Panzer, eine schmale Taille und zwei große Hörner auf dem Kopf. Während es das Menschenmädchen gierig anstarrte, tropfte zwischen seinen scharfen Fängen ätzender Speichel hervor, und sein stacheliger Schwanz, der an den eines Skorpions erinnerte, vibrierte vor Verlangen nach frischem Fleisch. Zu voller Größe aufgerichtet, reichte es Lioné zwar gerade mal bis zu den Knien, doch seine sechs Käferbeine machten es wendig und erlaubten ihm hohe Sprünge. Das war es allerdings nicht, was ihr Respekt einflößte und ihr vor Angst die Haare zu Berge stehen ließ.

Das Schlimmste war, dass es ein evolutioniertes Monster war.

Es war so stark geworden, dass sein Körper eine Art Metamorphose vollzogen hatte, um den enormen Kräften Raum zu geben. Anhand der Größe der Hörner konnte sie erkennen, dass seine Umwandlung erst seit wenigen Tagen abgeschlossen war. Mit etwas Glück hatte es noch nicht genug Kontrolle über seine veränderten Gliedmaßen. Das war ihre einzige Chance, denn Lioné spürte einmal mehr, dass ihre Kraftreserven zur Neige gingen. Selbst das kleine Ausweichmanöver ließ ihre Glieder vor Anstrengung zittern. Während das Monster sie musterte, vernahm sie ein leichtes Knurren aus seiner Kehle. Der Klangfarbe nach war es männlich.

Auch das noch. Lioné spürte, wie ihr Angstschweiß den Nacken hinablief. Ein Halbstarker, der seine neue Kraft ausprobieren will.

Plötzlich stürmte das Gifco auf sie zu.

Lioné wollte ausweichen, doch ihre Beine gehorchten ihr nicht. Brutal wurde sie auf die Hörner genommen und zu Boden gestoßen. Dabei glitt ihr das Schwert aus der Hand. Als sie auf dem Rücken landete, schlug ihr Kopf so hart auf, dass sie sprichwörtlich Sterne sah. Sofort sprang ihr Gegner auf ihren Oberkörper und holte mit seinem Schwanz zum Angriff aus. Lioné verlor keine Zeit. Sie griff an ihren Gürtel, löste ihre Waffe aus der Halterung und rammte ihren Dolch mit aller Kraft in eine Körperregion, die nicht mit einem schützenden Panzer überzogen war: den Bauch.

Während das Monster vor Schmerzen kreischte, nutzte sie seine Unaufmerksamkeit, zwängte ihr Bein zwischen sich und ihren Gegner und stieß ihn von sich hinunter. Schnell richtete sie sich auf und beobachtete, wie dickes, rotes Blut aus seiner Wunde tropfte. Das Gifco brüllte verärgert und fletschte die Zähne, während sein Adrenalinpegel in die Höhe schoss. Seine Pupillen verengten sich sichtbar.

Lioné wusste, was das bedeutete: Sobald Monster in einen Kampfrausch verfielen, verengten sich ihre Pupillen zu einem schmalen Schlitz, und sie liefen zur Höchstform auf. Ihre Angriffe wurden dann stärker und ihre Bewegungen schneller.

Angespannt presste Lioné die Lippen zusammen. Wenn sie überleben wollte, durfte ihr kein weiterer Fehler passieren. Wo zum Teufel war ihr Schwert? Rasch sah sie sich um und entdeckte es drei Schritte hinter sich im hohen Gras. Indes startete das Gifco einen neuen Angriff und sprang auf sie zu. Lioné stolperte zurück und spürte den Lufthauch, mit dem es nur knapp an ihr vorbeirauschte. Doch zu ihrer Überraschung stieß sich das Toxin-Monster augenblicklich wieder vom Boden ab und katapultierte sich wie eine Sprungfeder zurück. Es vergrub seine spitzen Zähne in ihrem linken Arm, sodass sie schreiend nach vorn taumelte und den Dolch fallen ließ. Ihre Haut riss, Blut schoss aus der Wunde, als sich die vielen kleinen Messer durch ihr Fleisch und ihre Muskeln fraßen. Keine Sekunde später sprang das Gifco an ihr hoch und bohrte seine sechs sichelförmigen Klauen durch die Kleidung in ihren Torso.

Lioné schrie, und ihre Sicht verschwamm, als sich die kalten Fremdkörper bei jeder Bewegung in ihrem Körper wanden. Der Kiefer des Monsters schnellte vorwärts, schnappten nach ihrer Kehle. Sofort warf sie den Kopf zurück. Das Gifco verfehlte knapp sein Ziel. Dabei verlor Lioné das Gleichgewicht und stürzte mitsamt dem Monster nach hinten. Als sie auf dem Boden aufprallte und die Klauen sich noch tiefer in ihr Fleisch drückten, wurde sie fast ohnmächtig. Sie bekam kaum noch Luft und war nicht in der Lage, sich zu bewegen. Mit letzter Kraft griff sie nach ihrem Dolch, der neben ihr auf dem Boden lag, doch schlagartig breitete sich ein brennender Schmerz in ihrem Bauch aus. Sie starrte fassungslos auf den giftigen Skorpionschwanz, den das Monster aus ihrem Leib zog.

Es hatte soeben seine Beute erlegt.

Die Welt begann sich zu drehen. Ihr Kopf sackte zurück, während ihr Arm samt dem Dolch nutzlos zu Boden fiel. Jegliche Kraft wich aus ihrem Körper. Das Monster lechzte gierig nach seiner Beute und kam ihrem Gesicht gefährlich nah. Sein Sabber tropfte auf ihren Hals und brannte auf ihrer Haut wie Feuer.

Nein!, schoss es ihr durch den Kopf, während die Umgebung an Farbe und Kontur verlor und es um sie herum langsam dunkel wurde. So darf es nicht enden!

In dem Moment schoss ein Pfeil durch die Luft, traf das Horn des Riesenkäfers und riss seinen Kopf zurück. Zornig ließ das Gifco von Lioné ab und streckte seine Beine, um sich nach dem Angreifer umzusehen.

Es hatte keine Gelegenheit mehr, diese Fehlentscheidung zu bereuen.

Der

nächste Pfeil traf es im Gesicht und durchbohrte seinen Schädel. Die Pfeilspitze ragte grotesk aus seinem Hinterkopf heraus, als es leblos zu Boden sackte.

Sie sind hier, dachte Lioné in ihrem Delirium. Um sie herum wurde es furchtbar still, und Kälte umschlang ihren erschöpften Körper. Es ist vorbei.

Gerade als sie ihren schweren Augenlidern nachgeben wollte, hastete ein Junge an ihre Seite, packte ihre Schultern und sprach mit Lioné, doch sie driftete bereits in die Dunkelheit und verstand kein Wort mehr. Hastig kramte er aus seiner Tasche ein weißes Tuch hervor, tränkte es mit einer antidotalen Flüssigkeit und legte es auf ihre Einstichwunde, wo es sich von dem Gift purpurn verfärbte.

Plötzlich schrie Lioné auf vor Qualen, als ihr Bauch wie heißes Eisen glühte.

Mit der einen Hand hielt er ihren Arm fest umschlossen, in der anderen einen Stachel, den er unter ihre Haut drückte. Lionés Arm brannte unerträglich. Sie verkrampfte sich, Schweiß lief ihr übers Gesicht.

»Du verfluchter Bastard!«, keuchte Lioné, während sie gegen den Eindruck ankämpfte, Hunderte Rasierklingen würden ihre Eingeweide zerfressen.

»Du kannst mir später danken«, meinte er.

Dann überwältigte Lioné der Schmerz. Sie glaubte, sterben zu müssen, als sie endgültig das Bewusstsein verlor.

II

DER FREMDE

Als Lioné zu sich kam, stand der Uranus am wolkenfreien Nachthimmel und tunkte die Landschaft in ein diffuses Blau.

Sie lag in eine Decke gehüllt am Lagerfeuer und fühlte sich wie gerädert. Ihr Kopf dröhnte, ihre Lider waren schwer, und ihr Körper fühlte sich schlaff und fremd an. Aber die Beschwerden waren nebensächlich. Das Unglaubliche war, dass sie überhaupt noch am Leben war! Ihre Hand glitt zu der großen Einstichwunde an ihrem Bauch, wo sie einen Verband ertastete. Anscheinend hatte das Gifco ihre Magenwand nicht durchstochen, sonst würde sie sicher nicht so fröhlich weiteratmen. Auch die anderen tiefen Wunden an den Armen und ihrem Oberkörper waren verbunden worden. Als sie versuchte, sich aufzusetzen, spürte sie allerdings, wie schwach ihre Muskeln und wie steif ihre Glieder noch waren.

»Ach, du bist wach!«

Beim Klang der Stimme suchte sie instinktiv nach ihrem Schwert.

Sie entdeckte die Klinge neben sich und erhob die Waffe. Doch der Junge, den Lioné neben dem Lagerfeuer sitzen sah, zeigte sich unbeeindruckt. Es war der gleiche, der zuvor an ihrer Seite gekniet hatte, als das Gifco sie fast erledigt hätte. Sie schätzte, dass auch er um die sechzehn Jahre alt sein musste. Seine schwarzen, kurzen, stacheligen Haare waren mit einem orangenen Streifen durchzogen, ähnlich wie bei einem Skunk. Die gelben Augen leuchteten im Schein des Feuers besonders hell und verliehen ihm ein katzenhaftes Aussehen. Zu ihrer Erleichterung gehörte der Junge zum Menschenvolk der Kairianer, genau wie sie, was auf den ersten Blick an den ovalen Ohrmuscheln zu erkennen war. Sein Bogen bestand aus pinkem Kirschblütenholz, welches es im Königreich Epos nicht gab. Er trug dunkle Stiefel und eine robuste braune Lederjacke, die jedoch, wie der Rest seiner Kleidung, schmutzig und abgenutzt aussah. Der Fremde war kleiner als andere Jungen in seinem Alter und doch strahlte er eine Selbstsicherheit aus, die Lioné Respekt einflößte. Neben ihm lag ein Sack, aus dem das Horn des Gifcos ragte. Der Junge hatte das tote Monster in seine Einzelteile zerlegt. Sie fragte sich, ob er vielleicht ein Monsterjäger war.

»Ein Glück, dass ich ein Serum bei mir hatte, was?«, meinte der Junge und grinste zufrieden. »Viele Leute sterben an dem Toxin, weil es sich so schnell im Körper ausbreitet. Das war wirklich Rettung in letzter Sekunde. Aber keine Sorge, das Schlimmste hast du geschafft. Ein paar Tage Bettruhe, und du bist wie neu.«

Langsam ließ Lioné die Klinge wieder sinken. Von ihm schien keine Gefahr auszugehen. Hätte er ihr etwas antun oder sie ausrauben wollen, hätte er dazu genug Gelegenheit gehabt, als sie bewusstlos gewesen war. Nicht mal ihre Waffen hatte der Fremde an sich genommen. Jeder andere hätte sich womöglich bei seinem Retter bedankt, doch nicht so Lioné van Denver. Sie beäugte ihn misstrauisch und hielt ihr Schwert, trotz Erschöpfung, fest umklammert.

»Wer bist du?«, fragte sie argwöhnisch.

»Mein Name ist Yoshi. Yoshi van Gala.«

Sein Name erregte ihre Aufmerksamkeit. Nicht nur, dass Gala weit entfernt im Westen nahe der Landesgrenze zum Königreich Pahl lag, die Stadt war vor einigen Jahren vollständig ausgelöscht worden. Zu gern hätte sie gewusst, was er hier in dieser Gegend trieb.

»Was ist mit dir?«, fragte er. »Wie heißt du?«

Sie zögerte. Allerdings schien er lediglich ein Fremder zu sein, der auf der Durchreise war. »Ich heiße Lioné.« Die Angaben zu ihrem Geburtsort ließ sie außen vor, obwohl das dortzulande als sehr unhöflich galt.

Yoshi, der irritiert von ihrer Zurückhaltung war, hakte zunächst nicht weiter nach und brachte ihr stattdessen eine Flasche Wasser und Dörrfleisch. »Es sind meine letzten Vorräte, aber greif ruhig zu. Du brauchst sie wohl dringender als ich.«

Zunächst wollte Lioné nichts annehmen, doch sie war zu hungrig und ausgezehrt, um noch Rücksicht auf ihr Schamgefühl zu nehmen. Sie stürzte sich ungeniert auf den Proviant und spürte bereits nach den ersten Bissen, wie ihre Kraft zurückkehrte. Als in der Ferne ein Monsterknurren ertönte, zuckte sie jedoch erschrocken zusammen. Erst jetzt bemerkte sie, dass sich ihr Lager am Waldrand befand und hinter wenigen Bäumen das Tal Richtung Scoon zu sehen war.

»Keine Sorge.« Yoshi grinste amüsiert. »Ich habe eine Gewürztinktur verstreut, die die Monster eine Weile von uns fernhält. Kaum zu glauben, aber sie hassen den Geruch von Bärlauch, Baldrian und menschlichem Harn.«

Lioné musterte Yoshi neugierig. Er schien allein unterwegs zu sein, obwohl das außerordentlich gefährlich war. Dennoch kam er offensichtlich gut zurecht.

»Bist du ein Monsterjäger?«, fragte sie mit vollem Mund.

»Nein«, antwortete er fröhlich. »Nur ein Überlebenskünstler.«

Gierig trank Lioné aus der Feldflasche, die er ihr gegeben hatte. Eine kleine Menge ließ sie in ihre Handfläche laufen, um damit ihr Gesicht zu säubern.

Yoshi beobachtete die junge Schwertkämpferin und fragte sich, was ihr zugestoßen war. Ihr blutverschmiertes Schwert war ihm sofort aufgefallen, als er ihre Wunden versorgt hatte. Doch mehr wunderte ihn, dass sie keine einzige Tasche bei sich trug. Ihre Klamotten, die keineswegs für eine lange Reise gedacht waren, waren dreckig und von Monsterangriffen verschlissen. Ihre rotbraunen Haare waren fettig, ihr Pferdeschwanz zerzaust. Ihr schweißgetränkter Pony fiel ihr in Strähnen ins Gesicht. Sie sah schlimmer aus als ein Vagabund: triefend vor Dreck und Blut. Zudem war sie allein, abseits des Handelsweges. Er war sicher, dass etwas Schlimmes passiert sein musste.

»Wurdest du von deiner Gruppe getrennt? Außer dir habe ich niemanden gesehen.«

»Es gibt nur mich«, erwiderte sie kühl zwischen zwei Happen.

»Wie lange bist du schon unterwegs?«

»Eine Weile.«

Yoshi runzelte ratlos die Stirn. Lioné wollte nicht reden, und das musste er widerwillig hinnehmen. Doch so, wie sie das Dörrfleisch verschlang, vermutete er, dass ihre letzte richtige Mahlzeit weit zurücklag. Vielleicht sogar mehrere Tage. Was ihn jedoch mehr als alles andere faszinierte, waren ihre feuerroten Augen, die, trotz ihres Zustandes, eine wilde Entschlossenheit ausstrahlten. Ihr Blick wirkte unnahbar.

Daraufhin sah Yoshi sie auf eine spezielle Art und Weise an, wie es nur ihm möglich war. Eigentlich wollte er das nicht mehr tun, bevor er zu Hause angekommen war, doch gegen seine Natur kam er nicht an. Dieses Mädchen war einfach zu seltsam und er zu neugierig. Doch was er sah, ließ ihn für einen kurzen Moment erschaudern.

Erschrocken hielt er inne, während Lioné seine Feldflasche leerte. Als sie plötzlich die linke Hand auf ihre Wunde am Bauch presste und sich zitternd erhob, verlangte das jedoch all seine Aufmerksamkeit.

»Ich werde gehen«, verkündete sie.

»Dein Ernst?« Yoshi glaubte, sich verhört zu haben. Da war sie nur knapp dem Tod entkommen, war körperlich am Ende, und das Einzige, was ihr in den Sinn kam, war, mitten in der Nacht durch die Wildnis zu wandern? »Ich sagte doch, du brauchst eigentlich Bettruhe! Du wirst nicht weit kommen.«

»Das ist nicht dein Problem«, erwiderte sie schroff.

»Du bist doch –« Yoshi verstummte plötzlich und sah sich um. Trotz der Dunkelheit hatte er etwas bemerkt. Rasch sprang er auf und scharrte Erde auf das Lagerfeuer, bis es erstickte.

»Was ist los?«, fragte Lioné nervös.

Anstatt ihr zu antworten, packte er ihr Handgelenk und zog sie augenblicklich hinter einen Baum. Sie wehrte sich und wollte ihn zunächst wüst beschimpfen, jedoch legte er schnell einen Finger an die Lippen, woraufhin sie stumm blieb. Dann ertönten fremde Stimmen:

»War da wer?«

Prompt erschien direkt neben ihnen ein starker Lichtkegel. Lioné schreckte zurück, doch Yoshi hielt sie an Ort und Stelle, sodass sie im Schatten des Baumes verharrte. Dabei kam sie ihm näher, als ihr lieb war. Sie nahm seinen Geruch wahr und spürte die Wärme seines Körpers. Es dauerte nur einen Moment, trotzdem kam es ihr wie eine Ewigkeit vor, bis der Strahl aus künstlichem Licht verschwand und sie hörte, wie sich mehrere Männerstimmen entfernten.

Lioné befreite sich schnell aus der unbehaglichen Situation und ging einige Schritte, um den Gestalten, die zu Fuß durch das Tal liefen, hinterherzusehen. Es war zu dunkel, um Genaueres zu erkennen, doch es waren drei Personen, jeder mit einer Taschenlampe ausgerüstet, welche den Weg vor ihnen erhellte.

Noch nie hatte sie so etwas gesehen.

Zunächst dachte Lioné an einen Licht-Elementarstein, doch Yoshi trat neben sie und beantwortete ihre Frage, noch bevor sie sie gestellt hatte.

»Das sind Leute vom Rabenclan.«

Entsetzt starrte sie ihn an. Lioné hatte von dieser Organisation gehört, doch nie Mitglieder davon gesehen. Der sogenannte Rabenclan war die militärische Einheit einer riesigen Metropole namens Cyberspace. Man erzählte sich, dass es dort kontinuierlich Elektrizität und sauberes Wasser gab und dass ihre Technologie so weit fortgeschritten war, dass sie diverse Konstruktionen und Bauten aus Stahl fertigten.

Lioné sah den Männern beunruhigt hinterher. »Was wollen die hier?«

Cyberspace war hunderte Tagesreisen entfernt. Es war jedoch kein Geheimnis, dass der Rabenclan durch Königreiche in ganz Rem reiste und stets nach Möglichkeiten suchte, seine Macht weiter auszubauen, um mehr Ressourcen zu gewinnen und seinen Einfluss zu vergrößern. Für die Clan-Mitglieder waren alle Lebewesen außerhalb ihrer Metropole lediglich Statisten, die ihnen im Weg waren. Diese Leute kannten keine Skrupel und hatten auf dem Meer sogar Inseln gewaltsam eingenommen.

»Sie treiben sich seit einer ganzen Weile in dieser Region herum. Geh ihnen aus dem Weg, wenn du kannst«, erwiderte Yoshi. »Sie werden aggressiv, wenn sie auf Fremde stoßen.«

Lioné musterte ihn misstrauisch und fragte sich, woher er das wusste. Offenbar war sie nicht die Einzige mit Geheimnissen.

»Ich muss nach Siam«, erklärte er und hockte sich vor das erloschene Lagerfeuer. »Wir können zusammen nach Scoon gehen, das ist sicherer für uns beide. Du weißt bestimmt: Je größer eine Menschengruppe ist, desto geringer ist das Risiko, unterwegs von Monstern angegriffen zu werden.«

»Nicht notwendig«, gab Lioné abfällig zurück und bekam eine Gänsehaut bei dem Gedanken, dass sie fast von den Mitgliedern des Rabenclans gesehen worden wäre. Sie war unvorsichtig geworden, weil sie sich Blöße gegeben hatte.

Was wäre, wenn es jemand anderes gewesen wäre? Jemand, der sie suchte?

»Viel Erfolg bei deiner Reise nach Siam.« Trotz ihrer Gliederschmerzen und der Kurzatmigkeit ging sie mit eiligen Schritten voran. Sie hatte genug Zeit vergeudet.

»Warte!«, raunte Yoshi, doch sie reagierte nicht. Kurzerhand rannte er ihr hinterher und packte sie am Arm. Sofort wand sie sich aus seinem Griff und starrte ihn wütend an. »Es ist gefährlich. Mach keinen Fehler!«

»Ich brauche kein Kindermädchen!«, zischte sie, doch Yoshi ließ sich nicht provozieren. Trotzdem war ihm bislang noch nie ein solch sturer Mensch über den Weg gelaufen.

»Scoon ist noch zwei Tagesmärsche entfernt«, gab er zu bedenken. »In deinem Zustand wirst du nie dort ankommen.«

»Ich kann es mir nicht leisten, länger hierzubleiben.« Doch kaum hatte Lioné es ausgesprochen, ärgerte sie sich darüber. Es ging ihn nichts an. »Ich habe keine Ahnung, weshalb du mir geholfen hast, aber ich habe dich nicht darum gebeten.«

»Dazu wärst du auch nicht in der Lage gewesen.«

»Kümmere dich um deine Angelegenheiten!«, fauchte sie, bevor sie weiterging und ihn stehen ließ.

Ihre Ausdauer war dank des Gifts nahezu aufgebraucht, trotzdem schritt sie ungerührt voran. Ihre Beine wurden schwer, sie war müde und hatte dank ihrer unregelmäßigen Atmung Seitenstiche, doch sie kämpfte sich Schritt für Schritt vorwärts, obwohl sich ihr ganzer Körper wehrte.

Wenn der Rabenclan das schafft, schaffe ich das auch, dachte sie, obwohl die Männer längst aus ihrem Sichtfeld verschwunden waren.

Auch Lioné wanderte nun durch das Tal, obwohl es dort weniger Versteckmöglichkeiten gab. Sie hoffte, auf diese Weise die verlorene Zeit einzuholen, denn auf freier Fläche kam sie leichter voran als im dicht bewachsenen Wald. In der Finsternis würde sie ohnehin niemand aus der Ferne erspähen. Als sie beunruhigende Geräusche im Dickicht hörte, deren Entfernung sie nicht einschätzen konnte, wurde ihr bewusst, dass sie nicht allein war.

Die nachtaktiven Monster lauerten überall.

Knurren, Würgen, Zermalmen. Gefühlt kam es von allen Seiten.

Es erinnerte sie an die Nacht, in der sie Denver verlassen hatte. Sie fror.

Verdammtes Gift, dachte Lioné dumpf.

Aber vielleicht war es auch den Jahreszeitenmonstern geschuldet, denn der Jühling, den die Jeloune brachten, war noch nicht ganz da, und die Nächte waren kühl. Das Wetter im Königreich Epos, welches dem auf der Erde nicht unähnlich war, zeigte sich human im Gegensatz zu anderen Regionen in Rem, die mit saurem Regen, Meteoritenhagel oder Schlimmerem aufwarteten.

Lioné war schon lange eine Einzelgängerin. Sie konnte sich weder gut in andere hineinversetzen noch war sie besonders taktvoll. Ein Grund dafür war ihr soziales Umfeld, das in ihrer Kindheit zusammengebrochen war. Es hatte eine Weile gedauert, bis sie die Einsamkeit akzeptiert hatte, doch danach war der Schmerz nur noch halb so schlimm gewesen.

Es hat mich stark gemacht, dachte Lioné bitter und kam sich in dieser Situation gar nicht mehr so stark vor.

Vielleicht hatte sie einen Fehler begangen.

Auf einmal hörte Lioné schnelle Schritte und ein Klappern hinter sich. Die Hand am Schwert, drehte sie sich um und war überrascht, Yoshi zu sehen. Er trug all seine Sachen bei sich, die er ohne Zweifel in rasender Geschwindigkeit gepackt haben musste. Als er sie eingeholt hatte, rang er nach Luft. Trotzdem lächelte er.

»Hast du vergessen, dass Scoon auf meinem Weg liegt?«, fragte er heiter, und es war das erste Mal seit ihrer Begegnung, dass auch sie lächeln musste.

Eigentlich war sie ja froh, nicht allein zu sein.

III

AUF DER JAGD

Am nächsten Morgen erwachte Lioné ruckartig aus ihrem Traum.

Der Geruch von gebratenem Fleisch lag in der Luft. Als sie sich aufsetzte, brauchte sie einige Sekunden, um zu begreifen, wo sie war. Yoshi stand an ihrem gemeinsamen Lagerfeuer und schwenkte darüber eine verbeulte Pfanne, aus der weißer Dunst emporstieg.

»Guten Morgen«, begrüßte er seine neue Reisegefährtin heiter und neigte die Pfanne, aus der sie dunkelbraune Brocken anlachten. »Hungrig? Ich dachte, du würdest gerne das Vieh verspeisen, das dich gestern fast verspeist hätte.«

Der letzte Tag war also keine Einbildung gewesen. Der fremde Junge mit den zweifarbigen Haaren hatte sie vor dem sicheren Tod bewahrt, bevor er mit ihr durch die Wildnis gewandert war.

Müde rieb sich Lioné mit beiden Händen übers Gesicht. Noch immer fühlte sie sich schwach, wenn auch nicht mehr so steif. »Wieso hast du mich nicht geweckt?«

Er lächelte verlegen. »Du hast wie ein Murmeltier geschlafen. Ich dachte, du könntest etwas Ruhe gebrauchen.«

Tatsächlich war es das erste Mal seit ihrem Aufbruch, dass ihr einige Stunden Schlaf vergönnt gewesen waren. Ein Blick gen Himmel verriet, dass es die perfekte Uhrzeit war, um ihre Reise fortzusetzen. Die Morgendämmerung setzte ein, und die nachtaktiven Monster suchten sich ein Versteck, wohingegen die tagaktiven noch schliefen. Es war die beste Zeit, eine Wasserstelle aufzusuchen, wenn man sie nicht mit einem hungrigen Fleischfresser teilen wollte.

»Weißt du, ob es einen Bach in der Nähe gibt?«, fragte Lioné.

Obwohl es mitten in der Nacht gewesen war, hatte Yoshi die Orientierung bewahrt und einen sicheren Platz für das Lager gesucht. Er hatte eine Anhöhe ausgewählt, die einerseits von Büschen und Bäumen umringt war, ihnen aber gleichzeitig eine gute Sicht auf die Umgebung bot, sodass sie nahende Gefahren rechtzeitig erspähen konnten.

»Sicher«, bestätigte Yoshi fröhlich. »Ungefähr fünfhundert Schritte in diese Richtung müsste einer sein.«

Lioné erhob sich und wollte gerade gehen, als ihr Blick auf ein Bündel neben Yoshis Schlafplatz fiel. Darin lagen die Einzelteile des Gifcos, die er zuvor säuberlich voneinander getrennt hatte. Sie gab neidlos zu, dass Yoshi genau zu wissen schien, was er tat. Denn während man das Fleisch eines Monsters gut als Nahrung verwenden konnte, ließen sich aus den Fellen, Panzern, Klauen und Zähnen wunderbare Rüstungen und Waffen schmieden, für die man in der Stadt viel Geld bekam. Yoshi verstand sein Handwerk offensichtlich. Auch Lioné wusste, dass sie dringend Geld auftreiben musste. Sei es, um in der Stadt mit ihrem heruntergekommenen Äußeren nicht unnötig Aufmerksamkeit zu erregen oder um sich für die weitere Reise zu wappnen.

Unauffällig blickte sie zu Yoshi.

Auch wenn sich seine Gesellschaft befremdlich anfühlte, so erkannte Lioné, dass er ihr in vielerlei Hinsicht dienlich war. Es würde noch eine Weile dauern, bis Scoon in Sichtweite war, und Yoshi besaß nicht nur beeindruckende Kenntnisse, sondern auch eine Distanzwaffe. Fast hätte sie ein schlechtes Gewissen gehabt, jedoch war es seine eigene Entscheidung. Es war ihr unbegreiflich, wie man einem Fremden so viel Hilfe anbieten konnte. Insgeheim fragte sie sich, ob er sich so verhielt, weil ihm noch nie etwas Schlimmes im Leben widerfahren war und er es nicht besser wusste.

Ohne weiter darüber nachzudenken, ging Lioné zum Bach.

Sie hatte genug Zeit verloren.

Als sie kurz darauf zum Lager zurückkehrte, wartete Yoshi bereits mit dem Essen. Kaum hatte Lioné sich gesetzt, beherrschte sie sich nicht länger. Gierig verschlang sie ihren Anteil, und Yoshi staunte einmal mehr über ihren Hunger.

»Was hast du vor, sobald du in Scoon angekommen bist?«

»Das ist meine Sache.«

»Okay, okay«, wiegelte Yoshi ab, dessen stetige Versuche, etwas über sie zu erfahren, im Sand verliefen. Entweder sie wich der Frage aus, beschimpfte ihn oder schwieg gänzlich. »Wenn wir heute stramm marschieren, können wir am Abend Scoon erreichen«, erklärte er. »Falls wir den Weg durch das Tal nehmen, sollte es noch schneller gehen.«

»Nicht durch das Tal!«, widersprach Lioné sofort, worüber er sichtlich überrascht war. Eilig schluckte sie den nächsten Bissen hinunter, bevor sie fortfuhr: »Dort sieht man uns am Tag viel zu leicht. Wir wären schutzlos.«

»Das gilt umgekehrt doch genauso«, entgegnete Yoshi, ohne sich von ihrer Schroffheit aus der Ruhe bringen zu lassen. »Wir können viel schneller reagieren, wenn wir die Monster kommen sehen.«

Lioné bedachte ihn mit einem missbilligenden Blick. »Wir gehen durch den Wald!«

»Aber das ist viel gefährlicher.«

»Ich bleibe dabei«, sagte sie in einem Tonfall, der keine Widerrede zuließ.

Yoshi seufzte verzagt. Dieses Mädchen war nicht nur verschlossen, sondern auch verdammt stur. Er ahnte, dass ihm noch eine anstrengende Reise bevorstand.

»Na schön«, gab er nach und grinste schelmisch. »Aber dann machen wir es auf meine Art.«

Verwundert musterte Lioné ihn. Sie musste nicht lange warten, um herauszufinden, was der selbsternannte Überlebenskünstler damit meinte.

Nachdem die beiden ihr Lager abgebaut hatten, hörte Yoshi nicht mehr auf zu reden. Zunächst dachte Lioné, es würde eine normale Abhandlung über das Spurenlesen in der Natur werden, wie sie es bereits Dutzende Male von Raxes gehört hatte, doch als er begann, auf feine Unregelmäßigkeiten einzugehen, die mit bloßem Auge kaum sichtbar waren, hörte sie gebannt zu. Yoshi redete flüssig und mit Begeisterung, als hätte er nie etwas anderes getan.

»Siehst du hier die abgenutzte Baumrinde?«, fragte er und deutete auf einen Baum, an dem Lioné nur mit Mühe eine Auffälligkeit ausmachen konnte. »Die Spuren sind zu groß und fein für einen Hirsch, also liegt die Vermutung nahe, dass es ein Tschorx war. Das passt auch zu den Hufabdrücken im hohen Gras. Sie sind langsam, deshalb werden sie häufig von jungen Monstern angegriffen. Wir sind also in der Nähe eines Jagdgebiets. Der Wind steht heute ungünstig. Unter normalen Umständen würde ich sagen, dass wir hier verschwinden müssen, aber da du auf diesen Pfad bestehst …« Yoshi öffnete eine seiner Umhängetaschen und holte ein Fläschchen heraus, in dem sich eine bräunliche Flüssigkeit befand. Fasziniert beobachtete Lioné, wie er mehrere Spritzer in der Umgebung verteilte. »… benutze ich die Geruchstinktur, die den Monstern suggeriert fernzubleiben.«

Als Lioné der faule, süßliche Geruch in die Nase stieg und ihre Augen zu tränen begannen, hätte sie am liebsten selber die Flucht angetreten. »Was ist das?«

»Ein alter und schimmliger Verwesungsgeruch, den nicht mal Aasfresser leiden können«, erwiderte Yoshi und grinste. »Der gefällt wirklich nur noch den Würmern.«

»Woher weißt du das alles?«, fragte Lioné, während sie sich mit ihrem neuen Mitstreiter einen Weg durch das Dickicht bahnte. Dabei machte sie große Schritte, um sich mit den Beinen nicht in irgendwelchen Wurzeln zu verfangen, die in dem hohen Gras oder unter dem Laub versteckt waren. Ihr Blick huschte dabei aufmerksam zwischen den zahlreichen Baumstämmen hindurch, um keine mögliche Gefahr zu übersehen.

»Oh, ich lese viel«, erwiderte er. »Außerdem hat meine Großmutter mir viel beigebracht. Sie und andere Leute, denen ich unterwegs begegnet bin.«

Lioné nickte wissend. Es gab viele Reisende, die sich zu Gruppen zusammenschlossen, um sich vor Monsterangriffen zu schützen und gegenseitig zu helfen. In einer Welt, in der einen nahezu alles und jeder töten wollte, war das nicht ungewöhnlich.

»Du scheinst gut alleine zurechtzukommen.«

Er lächelte verlegen. »Man muss nur wissen wie. Aber anstrengend bleibt es trotzdem.«

Die Aussage machte Lioné Mut. Vielleicht war es schwieriger, wenn man auf sich gestellt war, aber definitiv möglich. Der Gedanke, sich auf andere Menschen verlassen zu müssen, war für sie beängstigender als jedes Monster in der Wildnis.

»Wie lange bist du schon unterwegs?«, fragte Lioné und duckte sich unter einem Ast hindurch.

»Seit drei Jahren ungefähr.«

»So lange?! Kein Wunder, dass du so viel weißt.«

Yoshi zuckte mit den Schultern. Er maß seiner Leistung offenbar keine besondere Bedeutung zu. Stattdessen deutete er auf ihr Schwert. »Du bist auch kein Anfänger.«

»Ja, das stimmt«, pflichtete Lioné ihm bei, und ihr wurde bewusst, dass sie ebenfalls ein Talent besaß, worauf sie stolz sein konnte. »Als ich mit meinem Schwerttraining begonnen habe, war ich erst sieben Jahre alt.«

»Ein Naturtalent!«, bemerkte er. »Hat es dir schon als Kind einen Vorteil verschafft, Linkshänderin zu sein?«

Verwundert blickte Lioné ihn an, bis ihr einfiel, dass ihm vermutlich ihre Schwertscheide aufgefallen war, die sie auf der rechten Seite trug. Trotzdem behagte es ihr nicht, dass er sie derart unter die Lupe nahm. »Dir entgeht auch nichts, was?«

»Deswegen habe ich so lange überlebt.«

Daraufhin hüllten sich beide für eine Weile in Schweigen und richteten ihr Augenmerk wieder auf die Umgebung. Der Wald schien friedlich, kaum mehr als ein Vogelzwitschern oder das Summen der Insekten war zu hören, obwohl Lioné nur allzu gut wusste, dass der Frieden täuschen konnte.

»Warum gehst du nach Siam?« Bei Siam handelte es sich um einen kleinen Kurort auf der Spitze eines Berges, der zu Satesleben gehörte und für seine heißen Quellen bekannt war. »Was will jemand wie du dort?«

»Ich bin dort aufgewachsen.«

Lioné dachte darüber nach und stellte fest, dass es gar nicht so überraschend war. Immerhin existierte sein Geburtsort schon lange nicht mehr. »Dann bist du also auf dem Heimweg?«

»So ähnlich.« Yoshi hielt einen Augenblick inne, als müsste er überlegen, was er sagen sollte. Doch zu ihrer Überraschung war seiner Antwort ehrlicher, als sie erwartet hatte. »Meine Großmutter wird bald sterben, und ich möchte sie ein letztes Mal sehen.«

»Wirklich? Dann ist sie ein wichtiger Mensch in deinem Leben?«

»Allerdings«, erwiderte er wehmütig. »Sie hat sich um mich gekümmert und mir viel beigebracht. Außerdem«, seine Miene wurde plötzlich ernst, »es gibt einiges, worüber ich mit ihr reden muss.«

»Hat sie dir geschrieben, dass sie bald –«

Auf einmal ergriff Yoshi ihren Unterarm und blieb stehen.

Ihr Blick fiel auf seine Hand, dann auf ihn. Er starrte konzentriert in die Ferne, und sie folgte seinem Blick. Zuerst konnte sie nichts Besonderes ausmachen, bis plötzlich eine Kreatur hinter wenigen Büschen und Bäumen zu erkennen war.

Es war ein Hambri, ein Monster, das zu der Klasse der Flora zählte und Fähigkeiten besaß, die auf der Pflanzenwelt beruhten. Es hatte grünes, langes Fell, und sein Unterleib mündete in einen Baumstumpf, der Teil seines Körpers war. Seine Arme sahen aus wie zwei dünne Ranken, aber das Hauptmerkmal waren die riesigen runden Ohren. Es gehörte zu den friedlichen Monstern, die nur Menschen angriffen, wenn sie bedroht wurden, hungrig waren oder ihre Jungen verteidigten.

Es lungerte zwischen den hohen Gräsern und Bäumen und verspeiste in aller Seelenruhe ein paar Beeren. Doch der harmonische Anblick täuschte: Alle Monster waren Fleischfresser und besaßen genug Kraft, um einem Menschen sämtliche Knochen zu brechen. Man durfte keines von ihnen unterschätzen, egal wie friedfertig sie erscheinen mochten.

»Weichen wir ihm aus«, flüsterte Yoshi und wollte bereits weitergehen, als er bemerkte, dass seine Kameradin es fixierte.

»Nein, das schnappe ich mir!«

Mit großen Augen starrte er sie an. »Wozu willst du dieses Risiko eingehen?«

»Du hast leicht reden«, erwiderte Lioné garstig, ohne ihn dabei anzusehen. »Ich wette, du hast keine Geldsorgen.«

»Du bist noch zu schwach«, versuchte Yoshi auf sie einzureden, doch Lioné ignorierte seine Warnung. Natürlich würde das bisschen Fleisch und Fell keine hohen Einnahmen bringen, vor allem weil das Monster in dieser Region heimisch war, doch ohne Geld konnte sie ihre Reise nicht fortsetzen.

»Hilfst du mir oder nicht?«

»Du bist wirklich verrückt!«, entgegnete er. Doch nach einem Augenblick des Zögerns zog er letztlich den Bogen von seiner Schulter.

Lioné nickte zufrieden, bevor sie die Umgebung eingehend betrachtete und dann auf ein Gebüsch hinter dem Hambri deutete. »Ich schleich mich von hinten an. Wenn ich dir ein Zeichen gebe, schießt du. Danach stürme ich aus dem Gebüsch und gebe ihm den Rest.«

»Du musst schnell sein«, fügte Yoshi hinzu, dem sein Unmut deutlich anzusehen war. »Es darf keine Verstärkung rufen.«

»Natürlich.« Lioné tat, als wäre es undenkbar, dass ihr Plan fehlschlug. »Trotzdem: Sollte es mich angreifen, wäre ich dankbar, wenn du ein paar Pfeile abfeuerst.«

»Verstanden!« Er salutierte.

Ohne auf seinen vorgespielten Enthusiasmus einzugehen, schlich Lioné sich in gebückter Haltung durch das Gebüsch näher an das Hambri heran und achtete pingelig darauf, keine Geräusche zu verursachen. Zu ihrem Glück wehte gerade kein Wind, weshalb das Monster sie auch nicht wittern konnte. Als sie den Busch erreichte, hielt sie erneut inne, um ein weiteres Mal die Umgebung zu überprüfen.

Das Hambri war ganz allein.

Sie blickte zu Yoshi. Er hockte hinter einem Baum und hatte seinen Bogen gespannt. Er hielt Augenkontakt mit Lioné, wartete auf ihr Zeichen. Sie war beruhigt, dass er die Situation trotz seines seltsamen Humors ernst nahm. Als Lioné sich wieder dem Monster zuwandte, musste sie mit Entsetzen feststellen, dass es seinen Kopf gehoben hatte und die großen Ohren in alle Richtungen drehte.

Es schien etwas gehört zu haben.

Im nächsten Augenblick drehte das Hambri sich zu ihr und streckte seine Nase empor. Sein bisher friedfertiger Gesichtsausdruck verwandelte sich in eine zornige Fratze. Es entblößte die scharfen Zähne und stieß ein lautes Brüllen aus. Lioné wich einen Schritt zurück, während das Monster gleichzeitig mit einer seiner dicken Baumwurzeln in das Gebüsch schlug. Yoshi schnellte aus seinem Versteck hervor und schoss aus der Hocke einen Pfeil ab, der in die Schulter des Hambri eindrang. Entsetzt schrie es auf und wandte sich in die Richtung, aus der das Geschoss gekommen war. Lioné erkannte ihre Chance und holte mit dem Schwert aus. Das Hambri reagierte schnell und hob eine seiner hölzernen Wurzeln, um den Angriff abzuwehren.

Plötzlich begann es, eine orangene Pulverwolke aus seinem Fell zu schütteln. In Fachkreisen war es als Pilzpulver, umgangssprachlich als Kotzpulver bekannt. Lioné stolperte weiter zurück und spürte, wie sich ihr Magen verkrampfte und sie ein starkes Husten nicht länger unterdrücken konnte. Sie wandte sich von dem Monster ab, um der Wolke zu entgehen. Ein fataler Fehler. Sofort schoss das Hambri nach vorn und rammte sie zu Boden. Benommen sah Lioné zu dem Monster auf, welches sich ihr näherte und dabei das Maul voller scharfer Zähne weit aufriss.

Da durchbohrte ein Pfeil seine Wange.

Kreischend wankte es nach hinten und gab schließlich ein lautes, geschlagenes Wimmern von sich, während Yoshi die Gelegenheit nutzte, um zu Lioné zu laufen. Diese konnte sich hingegen nicht länger beherrschen und übergab sich ins hohe Gras.

»Bist du verletzt?«

»Nein …«, murmelte sie und erhob sich gequält.

»Lass uns verschwinden, bevor –« Yoshi kam nicht dazu, den Satz zu beenden. Die Klagelaute des Hambris entwickelten sich zu einem schrillen Kreischen, das im ganzen Wald zu hören war und die beiden dazu brachte, sich die Ohren zuzuhalten. Danach war es eine Sekunde lang totenstill – bis die Antwort in Form eines tiefen Knurrens aus der Ferne drang. Der Boden donnerte mit jedem Schritt, den es sich näherte. Reflexartig sahen Lioné und Yoshi in die Richtung, aus der die Geräusche kamen, unfähig, ihre Augen abzuwenden. Aus dem Schatten des Waldes trat eine riesige Gestalt. Sie hatte Ähnlichkeit mit dem Hambri, nur war sie über drei Meter hoch, besaß keine sichtbaren Ohren, und an ihrer linken Flanke prangten drei rote Male, die wie tiefe Kratzer aussahen – das Markenzeichen eines jeden Mammutra. Sein grünes Fell rankte sich wie Efeu an der massigen Gestalt herab. Es gehörte zu den gefürchtetsten Monstern, die im Wald lebten.

Das Mammutra blickte auf sein Junges und wandte sich zornig den beiden Wichten zu, die sich Menschen schimpften. Es beugte sich nach vorn und stieß ein lautes Gebrüll aus.

Yoshi fing sich als Erster und schrie: »Los, lauf!«

Sofort drehten sie sich um und rannten, so schnell sie ihre Beine trugen. Das Mammutra stieß erneut ein Brüllen aus und stürmte den beiden hinterher. Lioné und Yoshi rannten um ihr Leben, während das Hambri schadenfroh quiekte.

Das Mammutra verringerte weiter den Abstand, während die Verfolgten versuchten, ins Tal zu fliehen. Yoshi konnte den Atem des Monsters bereits im Nacken spüren, als sie den Rand des Waldes erreichten. Blitzschnell ließ es eine seiner vielen Wurzeln mithilfe seiner Fähigkeiten wachsen und umschlang damit Lionés Knöchel. Dann blieb es stehen und hob das Mädchen in die Luft.

Sofort machte Yoshi kehrt und bombardierte das Monster mit Pfeilen, doch es wehrte jeden davon mit einer tentakelartigen Wurzel ab. Wütend schüttelte es Lioné kopfüber in der Luft umher, damit sie das Bewusstsein verlor. Doch statt in Panik zu geraten, fühlte sie einen brennenden Jähzorn in sich aufsteigen. Alles wehrte sich in ihr – sie durfte sich nicht besiegen lassen. Sie wollte kein Opfer sein! Ihr Puls raste. Sie spürte eine Energie, die durch ihren Körper strömte und ihn heiß werden ließ wie ein glühendes Eisen im Schmiedefeuer. Plötzlich leuchtete die Klinge ihres Schwertes in einem zornigen Rot und setzte Feuerfunken frei.

Lioné schlug auf die Wurzel ein, die sie umklammerte, woraufhin diese Feuer fing. Das Mammutra schrie und lockerte umgehend seinen Griff. Im nächsten Moment prallte Lioné unsanft auf dem Boden auf. Kaum stand sie wieder auf den Beinen, hob das Monster eine Wurzel und wappnete sich für einen erneuten Angriff. Geistesgegenwärtig stürmte Yoshi vorwärts und warf ihm eine Handvoll Erde ins Gesicht. Das Monster brach seine Attacke augenblicklich ab, schüttelte den Kopf hin und her und schabte mit seinen Klauen den Schmutz aus seinen Augen.

»Schnell! Weg hier!«

Mit enormer Geschwindigkeit preschten Lioné und Yoshi aus dem Wald und fanden sich im baumlosen Tal wieder. Hinter sich hörten sie ein zorniges Brüllen, das sich langsam entfernte. Die beiden wurden langsamer und wagten es, sich umzudrehen. Das Mammutra war am Waldrand stehen geblieben, als wäre dort eine unsichtbare Grenze. Yoshi fiel auf die Knie und rang nach Atem. Lioné, die ebenfalls röchelte, schaute sich ungläubig dieses merkwürdige Schauspiel an.

Im nächsten Moment ließ das Mammutra einen Baumstumpf aus dem Boden wachsen, der sich mit einem ohrenbetäubenden Krachen in viele spitze Holznadeln teilte.

Yoshi begriff, was es vorhatte. »Lauf!«

Die beiden setzten ihre Flucht fort, während das Monster die Holzsplitter wachsen ließ und sie dann aufrichtete wie die Lanzen einer spartanischen Armee. Mit einem lauten Brüllen schoss es die Splitter los wie Projektile, die in gerader Linie direkt auf sie zuflogen.

»In Deckung!«, schrie Yoshi und riss Lioné zu Boden.

Die Holznadeln flogen über sie hinweg und spalteten das Gras, über das sie hinwegfegten.

»Los, weiter!«, rief Yoshi und sprang wieder auf. Lioné folgte ihm erschöpft.

Das Mammutra sah den Menschen ungerührt hinterher. Es hatte nicht vor, in das Tal zu stapfen und sich dort unnötigerweise in Gefahr zu begeben. Diese Tölpelhaftigkeit war den Menschen vorbehalten. Stattdessen machte es kehrt und verschwand in den Tiefen seines Territoriums.

Als die Jugendlichen außer Reichweite waren, hielten sie an, um nach Luft zu schnappen.

»So ein Mist!«, fluchte Lioné atemlos. »Ich dachte, zu zweit schaffen wir es.« Sie sah zu Yoshi hinüber, als wäre er schuld an dem Dilemma. »Ich dachte, du bist ein so toller Spurenleser! Wie konnte dir entgehen, dass ein ausgewachsenes Mammutra in der Nähe ist?«

Yoshi, immer noch nach Atem ringend, hockte sich auf den Boden. Aber es war doch deine Idee?!, dachte er, sagte aber nichts. Er war einfach froh, dass niemand verletzt worden war. Stattdessen sah er Lioné zu, die sich lauthals beschwerte und auf und ab lief, als müsste sie ihre Anspannung abbauen.

»Wie hast du es nur geschafft, so lange zu überleben?«, fragte sie vorwurfsvoll.

Obwohl er kaum Luft bekam, konnte sich Yoshi ein Lachen nicht verkneifen. »Na ja«, setzte er an. »Ich kann schnell laufen.«

»Du …« Lioné bemühte sich um Beherrschung, doch je mehr sie sich zurückhielt, desto schlimmer wurde es. Zunächst grinste sie nur, aber dann begann auch sie zu lachen. »Das habe ich gesehen!«

Auch Yoshi hielt sich nicht länger zurück, und beide lachten gemeinsam. Wenn man bedachte, wie knapp sie dem Tod entkommen waren, war diese Reaktion regelrecht verrückt.

»Du bist so ein Blödmann, ehrlich«, sagte Lioné und wischte sich die Lachtränen weg.

»Damit kann ich gut leben.« Auch Yoshi fing sich langsam wieder. »Du hast mir nicht erzählt, dass du einen Feuerelementarstein beherrschst.«

Demonstrativ zog Lioné ihr Schwert aus der Scheide und betrachtete den farblosen, karoförmigen Stein, der in den Griff eingearbeitet war.

»Leider mehr schlecht als recht«, gab sie zu. »Ich habe erst vor ein paar Tagen geschafft, sein Elementar zu entfesseln, obwohl ich es schon so lange versuche. Meine Mutter schenkte ihn mir zum Geburtstag.«

»Jedenfalls kannst du dich glücklich schätzen. Sie sind schwer zu finden«, meinte Yoshi. »Unter welchem Planeten bist du geboren?«

Lioné sah hinauf zum Himmel. Die Zeit des Uranus war angebrochen, sodass er auch in dieser Nacht wieder am Himmel strahlen würde. Knapp alle dreißig Tage löste ein Planet den vorherigen ab. Jeder unterstand seinem eigenen Elementar, das sich in dieser Zeit auf jene übertrug, die darunter geboren wurden.

»Unter dem Mars.«

»Dann passt der Stein ja zu dir wie die Faust aufs Auge! Bestimmt hat deine Mutter sich etwas dabei gedacht. Der Mars steht unter dem Elementar Feuer. Eigentlich hätte es dir leichter als anderen fallen müssen, die Kraft des Feuerelementarsteins zu beherrschen.«

Sie lächelte gequält. »Denk nicht, ich hätte es nicht versucht.«

Yoshi blickte nun ebenfalls zum Himmel. »Wir sollten uns ein Quartier für die Nacht suchen. Es wird dunkel.«

Tatsächlich erloschen die Sonnenpollen langsam, und der Himmel färbte sich tieforange. Die Welt Rem, in der sich die Träume der Erdenmenschen materialisierten, wuchs stetig und galt als unendlich groß, sodass ein einzelner Himmelskörper nicht ausreichte, um das gesamte Land zu erhellen. Der Natur waren daher die Sonnenpollen entsprungen, die gleichmäßig am Firmament erstrahlten und den Tag einläuteten. Viele auf einer Stelle ergaben manchmal eine oder mehrere Sonnen. Nicht mehr lange, dann würde der Uranus erneut am Nachthimmel leuchten und die letzten Sonnenpollen, die noch nicht verblasst waren, würden als Sterne funkeln.

IV

EIN GEMEINSAMES SCHICKSAL

Yoshi behielt mit seiner Vermutung recht, denn gleich am nächsten Tag erreichten sie die kleine Stadt Scoon. Das einstige Dorf hatte von der Nähe zu Denver und Ad Ramstedt profitiert und war mit ihnen gewachsen, sodass sowohl die Einwohnerzahl als auch die Wirtschaft in den letzten Jahren stark zugenommen hatten. Obwohl sogar die Trampelpfade durch sauber gelegte Steinplatten ersetzt worden waren, war durch die vielen Holzhäuser mit ihren Kräutergärten noch immer der einstige Charakter des Dorfes zu erkennen. Die Straßen waren bis auf ein paar einzelne Personen leer. Man sah lediglich einige Holzkutschen, die ihre Waren transportierten und auf der Durchreise waren.

Lioné und Yoshi näherten sich dem Ort und kamen kurz darauf vor einer Tafel zum Stehen, die bei Lionés letztem Besuch noch nicht dort gestanden hatte. Sie listete Verordnungen auf, an die man sich während seines Aufenthalts halten musste.

Es gab Regeln, die in fast allen kairianischen Städten existierten. Zum Beispiel mussten Monster, die zu Menschen gehörten, Blaubänder tragen, damit sie eindeutig von ihren wilden Artgenossen zu unterscheiden waren. Auch durften Menschen ihre Ohren nicht verdecken, damit sie als Kairianer identifiziert werden konnten. Diese Vorschrift hatte einen grausigen Hintergrund: Kairianer waren seit vielen Jahrhunderten das dominierende Volk unter den Menschen und duldeten keine Außenseiter in ihren Reihen. Ganz im Gegenteil, einige Kairianer machten Jagd auf alle, die anders waren, um deren Anzahl zu dezimieren und ihre eigene Vorherrschaft auszubauen, die sie sich auf blutige und hinterhältige Weise angeeignet hatten. Die Ohren galten in ganz Rem als zuverlässige Zuordnungsmöglichkeit, wenn es darum ging herauszufinden, welchem Volk man angehörte.

Dass es jedoch für notwendig erachtet wurde, eine Tafel mit solchen Verordnungen aufzustellen, zeigte Lioné einmal mehr, wie sehr Scoon sich in den letzten Jahren verändert hatte. Für gewöhnlich nahm man die Sitten in Dörfern nicht so ernst.

Diese Tatsache trug nicht dazu bei, ihre ohnehin wachsende Nervosität zu unterdrücken. Es bedeutete, dass man sie beobachtete. Manchmal genügte es, nur geringfügig aus der Masse herauszustechen, um Aufmerksamkeit zu erregen und die Meute gegen sich aufzubringen, die sich daraufhin zu einer selbstjustierenden Macht zusammentat.

In ihrer Situation wäre das gar nicht gut.

»Da sind wir endlich!«, verkündete Yoshi hingegen gut gelaunt. »Den Weg durch das Tal zu nehmen, war doch keine schlechte Idee, oder?«

Doch Lioné reagierte nicht. Stattdessen beobachtete sie eingehend die Menschen und Kutschen, die vorüberzogen, als hätte sie Angst, etwas Wichtiges zu übersehen. Yoshi wiederholte seine Worte energischer, und diesmal gelang es ihm, sie aus ihren Gedanken zu reißen. Die Anspannung stand ihr ins Gesicht geschrieben, was ihn sehr verwunderte. Er hatte bereits gemerkt, dass sie nervöser wurde, je näher sie ihrem Ziel kamen, und auf jede Rast verzichtete, die nicht zwingend erforderlich war.

»Was ist los? Ich dachte, du würdest dich freuen.«

»Das tue ich«, entgegnete Lioné, wenig überzeugend.

»Mal sehen, ob wir die Gifco-Teile zu Geld machen können. Lass uns gehen.«

»Wir?«

»Ja, sicher.« Yoshi grinste frech. »Ohne dich hätte ich es schließlich nicht erlegt.«

Mit diesen Worten schritt er voran. Lioné hingegen rührte sich nicht vom Fleck. Als Yoshi bemerkte, dass sie nicht nachkam, drehte er sich irritiert um. Fast glaubte er, sie würde auf das Geld verzichten und sich lieber aus dem Staub machen, doch da schloss sie bereits zu ihm auf. Sie ist wirklich schwierig, dachte er belustigt. Allmählich gewöhnte er sich daran, dass dieses Mädchen stur wie ein alter Esel war.

Als die beiden den Marktplatz erreichten, nahm die Anzahl der Menschen deutlich zu. Während Yoshi bei einem Schmied die Preise für Hörner, Zähne, Panzer und Stachel des Gifcos aushandelte, ließ Lioné ihren Blick umherschweifen und beobachtete die Menschenmassen. Darunter befanden sich viele Reisende. Man erkannte sie leicht an ihrer Kleidung, die ausgelegt war, um Wind, Wetter und Monsterangriffen zu trotzen, und der Vielzahl ihrer Waffen, die erforderlich waren, wenn man heil durch die Wildnis gelangen wollte. Manche besaßen sogar gezähmte Monster, die ihnen treu folgten. Sie sah aber auch Sklaven, einige davon höchstwahrscheinlich minderjährig. Dieser Anblick widerte Lioné an. Sklaven waren normalerweise nur in Großstädten zu finden, doch die Erbarmungslosigkeit der Menschen machte sich mittlerweile auch in kleineren Orten bemerkbar.

Kurze Zeit später kam Yoshi zurück, zählte das Geld ab und gab ihr die Hälfte. »Es ist nicht viel, aber es wird für ein paar Besorgungen reichen.«

Lioné nahm ihren Anteil und fühlte sich elendig dabei. Ihr war bewusst, dass Yoshi ihr nur aus Großherzigkeit die Hälfte überließ, und sie fragte sich unwillkürlich, warum der Igelkopf so nett zu ihr war. Aber an solche Überlegungen durfte sie keine Zeit verschwenden. Was er tat oder nicht tat, war ausschließlich seine Sache.

»Ich schätze, wir waren für kurze Zeit ein gutes Gespann«, bemerkte Lioné zum Abschied.

Yoshi nickte zustimmend und lächelte. »Das waren wir. Wie geht es für dich jetzt weiter?«

»Das wird sich zeigen. Sieh du lieber zu, dass du gesund in Siam ankommst.«

»Das Gleiche gilt für dich.«

War doch gar nicht so schwer, dachte sie bitter, als sie sich umdrehte und ging. Obwohl sie es sich nicht eingestehen wollte, hatte sie sich an den Igelkopf gewöhnt. Derart gutherzige Menschen traf man nur selten. Doch Vertrauen war eine zerbrechliche Sache und ein Luxus, den sie sich nicht leisten konnte. Das Einzige, was zählt, ist, dass ich hier wegkomme. Lioné atmete tief durch und zwang sich zur Konzentration. Alles andere ist unwichtig.

Ohne einen weiteren Gedanken an den Igelkopf zu verschwenden, machte sie sich im Eilschritt auf den Weg zum Schneider, ohne zurückzublicken.

Auch Yoshi beschäftigte sich noch mit den jüngsten Ereignissen, als er Richtung Gasthaus ging. Glücklich war er nicht. Er hatte Lioné zwar geholfen, sicher ihr Ziel zu erreichen, doch ihre Probleme, über die sie kein einziges Wort verloren hatte, würden sie weiterverfolgen. Gern hätte er mehr getan, doch er wusste mittlerweile, wie hartnäckig und dickköpfig sie war.

Reisende soll man nicht aufhalten, dachte er und seufzte.

Der junge Bogenschütze konnte einfach nicht anders, als seinem angeborenen Instinkt zu folgen, der für ihn Segen und Fluch gleichermaßen war. Seine Großmutter hatte ihn vor solchen Situationen gewarnt, doch es fiel ihm schwer, gegen seinen inneren Drang anzukämpfen, der ihn fast sein ganzes Leben lang begleitete. In Situationen wie diesen wünschte er sich, ein normaler Junge ohne besondere Abstammung und ohne Begabung zu sein.

Akzeptiere, dass du nicht mehr tun kannst. Wie oft hatte seine Großmutter diesen Satz gesagt, liebevoll und streng zugleich?

Die Erinnerung an sie brachte ihn dazu, seinen Fokus wieder auf seine eigenen Ziele zu lenken. Ihm rannte die Zeit davon und dies in jeder Hinsicht. Dabei war sein Vorhaben von großer Bedeutung.

Vielleicht sogar groß genug, um einen Krieg zu verhindern, dachte Yoshi bitter und fror plötzlich. Er merkte nicht, dass er die Arme vor dem Körper verschränkte, um sich zu wärmen.

»Habt Ihr sie gesehen?«

Yoshi wurde abrupt aus seinen Gedanken gerissen und hob den Kopf. Er war so abgelenkt gewesen, dass er gar nicht gemerkt hatte, dass seine Füße ihn von ganz allein zum Gasthaus getragen hatten, vor dessen Tür eine beachtliche Menschenmenge stand. Doch bei dem hohen Reiseaufkommen, das dank des Handels mittlerweile in Scoon herrschte, war es kein Wunder, dass die wenigen Übernachtungsmöglichkeiten schnell überrannt waren. Zwischen den wartenden Menschen erblickte Yoshi eine Frau, vermutlich Anfang dreißig, die energisch von einem Passanten zum anderen lief und sich mit ihnen unterhielt.

Sie war schlank und besaß blondes Haar, das ihr locker über die Schulter fiel. Ihre Reisekleidung sah edel aus, doch ihr gestreifter Poncho in braunen und rötlichen Tönen wirkte mitgenommen, ebenso ihre mit Lederbändern verzierte Hose. Beides war verschmutzt, und es hingen teilweise noch Laub und andere Pflanzenreste in den Textilfasern. Etwas musste sie zur Eile getrieben und durch das Unterholz gehetzt haben. Selbst ihre große Reisetasche schien nur halb befüllt zu sein. Was Yoshi jedoch besonders auffiel, war die imposante Axt an ihrer Hüfte, in deren Griff ein Stein eingearbeitet war, der im Sonnenlicht regenbogenfarben schimmerte. Selbst aus der Distanz erkannte Yoshi ihn als einen höchst seltenen Phänomen-Elementarstein. Die Stimme der Frau klang resolut und angespannt, als Yoshi sich ihr von hinten näherte.

»Eine Jugendliche, einen Meter sechzig groß, rotbraunes Haar, mit einem Saru-Schwert. Sie müsste ziemlich heruntergekommen aussehen.«

Yoshi erstarrte.

Die Passanten schüttelten den Kopf.

»Vielleicht war sie auch schon gestern hier. Sie trägt wahrscheinlich einen Pferdeschwanz und außerdem einen braunen Umhang«, beharrte die Frau mit unterdrücktem Zorn. »Denken Sie noch mal nach!«

Yoshis Blick fiel auf ein Monster neben ihr, das die Statur und Größe eines Bernhardiners besaß. Sein Körper war kräftig, und von den Wangen hingen je zwei Hautlappen. Die beige Haut des Newelts war übersät mit roten Zeichen und Symbolen. Seine dünne Rute schwang hin und her. Das Monster beschnüffelte ausführlich den Haupteingang des Gasthauses, als würde es etwas suchen. Auf einmal hob es seinen Kopf und sah zu Yoshi. Seine kleine, schwarze Nase bewegte sich schnell, als hätte es die Witterung aufgenommen. Ein Knurren drang aus seiner Kehle.

Hab ich ihren Geruch an mir?

Doch bevor er länger darüber nachdenken konnte, drehte sich die blonde Frau postwendend zu ihm um und starrte ihn mit kühlen blauen Augen an, während ihr Monster ihn in Schach hielt.

»Hey, du!«, rief sie und trat näher an Yoshi heran. »Hast du das Mädchen getroffen?«

»Ich … ähm …« Yoshi war noch nie ein besonders guter Lügner gewesen. Unbewusst machte er einen Schritt zurück, doch die Frau schoss auf ihn zu und packte ihn an der Schulter. Das Newelt knurrte weiter.

»Du musst ihr irgendwo begegnet sein!«, beharrte sie und kam noch näher, sodass er ihren Atem im Gesicht spürte. »Wo war das?«

»Keine Ahnung, wovon Sie sprechen«, stieß Yoshi aus und überlegte, wie er sich aus der Situation retten konnte.

»Lüg mich nicht an!« Ihre Stimme war voller Zorn, und Yoshi sah, ohne dass er es wollte, was in ihrem Herzen verborgen war. Trauer, blinde Wut, Hass … Er versuchte sich von ihr abzuwenden, wollte sich dem entziehen, was er nicht sehen wollte.

Dabei fiel sein Blick auf ihren Monstergefährten, der ihn genau beobachtete.

In ihrer Eile hatte die Frau offenbar etwas vergessen.

»Er trägt kein blaues Band!«, stieß Yoshi aus und deutete auf das Monster.

Die Frau zuckte überrascht zusammen, verstand offenbar nicht, was er meinte. Doch die Menschen um sie herum begriffen es. Kamen bereits näher, tuschelten.

In die aufkommende Unruhe rief Yoshi noch einmal lauter: »Das Monster trägt kein blaues Band! Das ist gegen das Gesetz!«

»Das stimmt!«, tönte es aus der Menschenmenge, die zu einer großen anonymen Masse wurde und immer näher rückte.

»Das ist verboten!«

»Sie ist eine Gefahr! Haltet sie!«

»Das ist ja wohl –«, protestierte die blonde Frau, doch ihre Einwände gingen in dem wütenden Gebrüll unter. Als die ersten Flaschen und Steine nach ihr geworfen wurden, baute sich Newelt bedrohlich vor der Menschenmasse auf und fletschte die Zähne, was die Situation nur verschlimmerte.

Yoshi nutzte den Moment der allgemeinen Verwirrung, riss sich los und rannte davon. Die Frau schrie und wollte ihn aufhalten, doch die aufgebrachten Bürger hatten sie vollkommen eingekreist. Obwohl es nicht Yoshis Art war, jemand anderen in Schwierigkeiten zu bringen, hatte er sich entschieden. Er eilte zurück zum Marktplatz.

Lioné gönnte sich keine Pause. Trotz der Erschöpfung in ihren Knochen wollte sie noch am gleichen Tag abreisen. Genügend Geld für eine Übernachtung hatte sie ohnehin nicht, sodass sie stattdessen alles für ihre Einkäufe ausgab. Danach war sie um eine Reisetasche, Wechselkleidung, Verbandsmaterial, eine Feldflasche und ein paar handliche Alltagshelfer reicher. Nahrung konnte sie sich unterwegs besorgen, die Natur war ja voll davon – zumindest, wenn man richtig zu suchen wusste. Gern hätte sie auch mehr für ihre Hygiene getan, doch dafür war schlichtweg keine Zeit. Müde blickte Lioné zum Himmel hinauf, um die Uhrzeit und die Himmelsrichtung zu bestimmen. Obwohl die Sonnenpollen ganz Rem gleichzeitig erhellten, folgten sie einem Muster, an dem man beides ablesen konnte. Um an die Küste zu gelangen, musste sie die Stadt in östlicher Richtung verlassen und dann nach Nordosten bis zum Nordozean wandern. Übermüdet, aber entschlossen ließ sie die letzten Gebäude am Stadtrand hinter sich, bis sie plötzlich eine bekannte Stimme hinter sich hörte.

»Warte!«

Der Igelkopf? Was wollte der denn noch von ihr?

Kaum blieb er vor ihr stehen, kam er ohne Umschweife zum Punkt: »Wer verfolgt dich?«

»Was?« Lioné sah ihn überrascht an. »Wie kommst du darauf, dass ich –«

»Sag schon!«, drängte er, ohne sich zu erklären. »Ist es eine blonde Frau mit einer Axt und einem Newelt?«

Schlagartig entglitten Lioné die Gesichtszüge, als hätte ihr jemand eine Ohrfeige verpasst. Mit riesigen Augen starrte sie Yoshi an und wurde kreidebleich. Sie spürte, wie sie weiche Knie bekam. Ihre Atmung ging schneller.

»Ist sie etwa hier?«

»Ja, sie fragt beim Gasthaus nach dir. Weswegen –«

Doch Lioné wartete nicht auf das Ende seiner Frage, sondern rannte bereits auf die Wildnis zu.

»Warte doch!« Yoshi lief ihr hinterher und packte sie am Arm. Einige Händler, die mit ihren Kutschen vorbeikamen, musterten die beiden teilnahmslos. Fußgänger steckten die Köpfe zusammen und tuschelten. »Zieh nicht die ganze Aufmerksamkeit auf dich!«

»Spielt keine Rolle«, zischte Lioné panisch. »Wenn sie mich erwischt, wird sie mich töten!«

An ihrem Tonfall erkannte Yoshi, dass sie das nicht nur so dahinsagte. Lioné fürchtete um ihr Leben. Das war also der wahre Grund, weshalb sie durch die Landschaft hetzte, ungesehen bleiben wollte und dafür sogar gefährliche Umwege in Kauf nahm.

»Was hast du vor? Wo willst du hin?«

»Einfach fort von hier«, keuchte Lioné und wischte sich mit zittriger Hand den Pony aus dem Gesicht. Ihre Fingerspitzen waren schon ganz kalt und kribbelten. »Ich schlage mich nach Berges durch und verschwinde mit dem nächsten Schiff vom Festland.«

»War das dein toller Plan?«, fragte Yoshi ungläubig. »Das ist zu naheliegend! Zwischen Scoon und Berges gibt es eine direkte Handelsroute. Dort wird sie dich garantiert als Nächstes suchen, wenn sie dich hier nicht findet.«

»Ich … ich …« Lioné sank ratlos auf die Knie, als sie spürte, wie die Hoffnungslosigkeit ihr die letzten Energiereserven raubte. Reglos verharrte sie, das Haupt gesenkt. »Ich muss es versuchen. Es gibt keine andere Möglichkeit.«

Fieberhaft dachte Yoshi nach. Ihre Angst war berechtigt: Das Newelt hatte einen feinen Geruchssinn und würde ihre Spur, solange sie frisch war, ohne Probleme aufnehmen können. Yoshi konnte zwar eine Gewürztinktur verwenden, doch das änderte nichts an der Tatsache, dass das Ziel ihrer Reise zu offensichtlich war.

Doch dann kam ihm eine Idee.

Er befeuchtete nervös die Lippen. »Ich weiß, wo wir hinkönnen.« Mit diesen Worten packte er sie am Arm und zog sie mit einem kräftigen Ruck auf die Beine. »Komm mit, wir müssen uns beeilen.«

Ihre Blicke trafen sich. Seine gelben Augen sahen Lioné unverwandt an, und sie fand keine Lüge darin. Vor lauter Müdigkeit und Verzweiflung wusste sie sich langsam nicht mehr zu helfen. Sollte sie ihm vertrauen? Oder allein gehen? Ihre Gedanken rasten. Doch letztlich, musste sie sich eingestehen, lag es auf der Hand, was sie wollte: leben.

»In Ordnung«, antwortete Lioné schließlich resignierend und folgte Yoshi zum anderen Ende der Stadt, wo eine Reisekutsche auf Abruf bereitstand.

V

EIN ESSEN ZU DRITT

Als sie ihr Ziel erreichten, war es weit nach Mitternacht.

Lioné fragte sich noch immer, wie viel Geld Yoshi dem Kutscher gegeben hatte, damit er den Handelspfad Richtung Norden entlangraste. Auf halber Strecke nach Berges hatte Yoshi ihn angewiesen, ohne seine Passagiere bis zur Küste weiterzufahren, während er und Lioné mitten in der Wildnis ausgestiegen waren. Lioné war schnell klar warum. Sollte jemand die Kutsche beobachtet haben, würde derjenige denken, dass sie bis zum Hafen durchgefahren waren. Durch diese Finte mussten sie zwar einen Umweg über ein bewaldetes Plateau nehmen, der sie einen Tag kostete, doch dafür ließ sich ihre Spur nicht so einfach zurückverfolgen. Yoshi hatte sie überwiegend kampflos an den Fleischfressern vorbeigeschleust, indem er immer wieder anhielt, um Spuren zu lesen, die Windrichtung zu bestimmen oder Gerüche zu verteilen.

Auf ihrem gemeinsamen Weg hätte Lioné ihm fast alles anvertraut, doch nachdem sie den ersten Schock überwunden hatte, war ihre alte Manier zurückgekehrt, und sie hüllte sich wieder in hartnäckiges Schweigen. Noch hatte Yoshi sie nicht gedrängt, doch sie ahnte, dass er schon bald nach Antworten verlangen würde.