Die Flüsse von London-Reihe II - Ben Aaronovitch - E-Book

Die Flüsse von London-Reihe II E-Book

Ben Aaronovitch

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Beschreibung

»Eine charmante, witzige und spannende Achterbahnfahrt durch eine magische Welt, die gar nicht so weit von unserer entfernt ist.« The Independent Der böse Ort: Seltsame Dinge geschehen im Skygarden Tower, einem berüchtigten Sozialwohnblock in Südlondon. Dinge, die eine magische Anziehungskraft auf Police Constable und Zauberlehrling Peter Grant ausüben. Zunächst geht es nur um ein gestohlenes altes Buch über Magie, das aus der Weißen Bibliothek zu Weimar stammt. Doch dann weitet sich der Fall rasant aus. Denn der Erbauer des Tower, Erik Stromberg, ein brillanter, wenngleich leicht gestörter Architekt, hatte sich einst in seiner Zeit am Bauhaus offenbar nicht nur mit modernem Design, sondern auch mit Magie befasst. Was erklären könnte, warum der Skygarden Tower einen unablässigen Strom von begabten Künstlern, Politikern, Drogendealern, Serienmördern und Irren hervorgebracht hat. Und warum der unheimliche gesichtslose Magier, den Peter noch in schlechtester Erinnerung hat, ein so eingehendes Interesse daran an den Tag legt … Fingerhut-Sommer: Obwohl sich Police Constable Peter Grant schon unwohl fühlt, wenn er Londons Skyline auch nur ein paar Kilometer weit hinter sich lässt, wird er jetzt in die tiefste Provinz geschickt: in einen kleinen Ort in Herefordshire – wo sich Fuchs, Hase und der Dorfpolizist Gute Nacht sagen. Aber es werden zwei Kinder vermisst, und ihr Verschwinden erfolgte womöglich unter magischen Umständen. Also muss Peter notgedrungen sein angestammtes Biotop verlassen. Mit der Flusstochter Beverley Brook begibt er sich mutig nach Westen, hinein ins ländliche England ... Der Galgen von Tyburn:  Wie man einem gesichtslosen Magier zu Leibe rückt, was die Bewohner von Londons teuerster Immobilie so treiben und wie ungünstig es sein kann, wenn man Lady Tyburn einen Gefallen schuldet – diese und noch mehr erfreuliche Erkenntnisse warten bei seinem neuen Fall auf Police Constable Peter Grant. Einen Einblick ins Leben der Reichen und Schönen von London gibt es gratis dazu. Und die öffentliche Sicherheit und Ordnung aufrechterhalten sollte er bei all dem möglichst auch noch.

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Der böse Ort:

Seltsame Dinge geschehen im Skygarden Tower, einem berüchtigten Sozialwohnblock in Südlondon. Dinge, die eine magische Anziehungskraft auf Police Constable und Zauberlehrling Peter Grant ausüben. Zunächst geht es nur um ein gestohlenes altes Buch über Magie, das aus der Weißen Bibliothek zu Weimar stammt. Doch dann weitet sich der Fall rasant aus. Denn der Erbauer des Tower, Erik Stromberg, ein brillanter, wenngleich leicht gestörter Architekt, hatte sich einst in seiner Zeit am Bauhaus offenbar nicht nur mit modernem Design, sondern auch mit Magie befasst. Was erklären könnte, warum der Skygarden Tower einen unablässigen Strom von begabten Künstlern, Politikern, Drogendealern, Serienmördern und Irren hervorgebracht hat. Und warum der unheimliche gesichtslose Magier, den Peter noch in schlechtester Erinnerung hat, ein so eingehendes Interesse daran an den Tag legt …

Fingerhut-Sommer:

Obwohl sich Police Constable Peter Grant schon unwohl fühlt, wenn er Londons Skyline auch nur ein paar Kilometer weit hinter sich lässt, wird er jetzt in die tiefste Provinz geschickt: in einen kleinen Ort in Herefordshire – wo sich Fuchs, Hase und der Dorfpolizist Gute Nacht sagen. Aber es werden zwei Kinder vermisst, und ihr Verschwinden erfolgte womöglich unter magischen Umständen. Also muss Peter notgedrungen sein angestammtes Biotop verlassen. Mit der Flusstochter Beverley Brook begibt er sich mutig nach Westen, hinein ins ländliche England ...

Galgen von Tyburn:

Wie man einem gesichtslosen Magier zu Leibe rückt, was die Bewohner von Londons teuerster Immobilie so treiben und wie ungünstig es sein kann, wenn man Lady Tyburn einen Gefallen schuldet – diese und noch mehr erfreuliche Erkenntnisse warten bei seinem neuen Fall auf Police Constable Peter Grant. Einen Einblick ins Leben der Reichen und Schönen von London gibt es gratis dazu. Und die öffentliche Sicherheit und Ordnung aufrechterhalten sollte er bei all dem möglichst auch noch.

Von Ben Aaronovitch sind bei dtv außerdem erschienen:

Die Flüsse von London

Schwarzer Mond über Soho

Ein Wispern unter Baker Street

Geister auf der Metropolitan Line

Die Glocke von Whitechapel

Der Oktobermann

Ein weißer Schwan in Tabernacle Street

Der Geist in der British Library und andere Geschichten aus dem Folly

Die Füchse von Hampstead Heath

Die Silberkammer in der Chancery Lane

Die schlafenden Geister des Lake Superior

Eine Nachtigall in New York

Ben Aaronovitch

Die Flüsse von London-Reihe II

Buch 1: Der böse Ort

Buch 2: Fingerhut-Sommer

Buch 3: Der Galgen von Tyburn

Roman

Aus dem britischen Englisch von Christine Blum

Buch 1: Der böse Ort

Dieser Roman ist allen Leuten gewidmet, die hingehen und sich engagieren – egal wofür, und egal wie klein ihr Beitrag sein mag.

Das Problem des Hauses ist ein Problem unserer Zeit. Das Gleichgewicht der heutigen Gesellschaftsordnung hängt von seiner Lösung ab. Die Aufgabe der Architektur in dieser Zeit der Erneuerung ist die Revision der geltenden Werte, die Revision der wesentlichen Elemente des Hauses. Es müssen die geistigen Voraussetzungen für den Serienbau geschaffen werden.

Charles-Édouard Jeanneret (Le Corbusier)

1Absolut menschliche Monster

Um 23.23 Uhr lenkte Robert Weil seinen im Jahre 2003 zugelassenen Volvo V70 über die Autobahnbrücke, die das Dorf mit dem denkwürdigen Namen Pease Pottage mit der gleichnamigen Raststätte verbindet. Den genauen Zeitpunkt kennen wir, weil es der Moment war, in dem das Auto von den Straßenüberwachungskameras erfasst wurde. Trotz starken Regens und schlechter Sicht war in der Vergrößerung klar zu erkennen, dass Robert Weil allein im Wagen saß.

Im Nachhinein erscheint es verdächtig, wie übersorgfältig Robert Weil dann im Kreisverkehr links auf die Straße abbog, die im Bogen um die Raststätte herum und über eine zweite Autobahnbrücke nach Crawley hinein führt. Die Einmündung der Autobahnausfahrt in diese Straße ist tückisch, deshalb gibt es dort eine Ampel, um Unfälle zu vermeiden. Wir wissen nicht, warum Robert Weil bei Rot über diese Ampel fuhr. Eine These lautet, dass es sich um einen Hilferuf handelte, den unbewussten Wunsch, erwischt zu werden. Eine andere, dass er nur möglichst schnell nach Hause wollte und das Risiko absichtlich einging – das erklärt aber nicht sein vergleichsweise gemächliches Tempo von knapp 50 Stundenkilometern. Ich persönlich glaube, er war so darauf bedacht, die Geschwindigkeitsbegrenzung einzuhalten und nicht aufzufallen, dass er die Ampel gar nicht bemerkte – er hatte ganz andere Dinge im Kopf.

Wir wissen auch nicht, was Allen Frust dachte, als er mit etwa 85  Stundenkilometern in seinem fünf Jahre alten Vauxhall Corsa im rechten Winkel zu Robert Weil die Autobahnausfahrt herunterkam. Da er Grün hatte, bog er ohne zu zögern links ab. Mitten auf der Kreuzung rammte er frontal die Seite von Robert Weils Volvo, dicht vor dessen Beifahrertür. Nach Angaben der Spurensicherung der Verkehrspolizei Sussex verlangsamte keines der beiden Fahrzeuge oder versuchte auszuweichen, weshalb anzunehmen war, dass in dem Regen und der Dunkelheit keiner der Fahrer den anderen bemerkt hatte.

Durch den Aufprall wurde der Volvo an die Leitplanke auf dem Grünstreifen geschoben, wo er zum Stehen kam. Der fast doppelt so schnelle Vauxhall drehte sich mehrmals auf der nassen Fahrbahn, überschlug sich dann und krachte in den Baumbestand ein Stück voraus. Den Ermittlungen zufolge retteten Anschnallgurt und Airbag Allen Frust zunächst das Leben, doch während des Überschlags löste sich leider der Gurt. Frust wurde gegen das Autodach geschleudert und brach sich das Genick.

Die erste Beamtin vor Ort war PC Maureen Slatt von der nahe gelegenen Polizeistation Northgate in Crawley. Sie war knapp einen Kilometer nördlich allein auf Streife gewesen und traf trotz der sich zusehends verschlechternden Wetterbedingungen keine zwei Minuten später an der Unfallstelle ein.

Da es kaum etwas gibt, wobei mehr Polizisten ums Leben kommen oder verletzt werden als beim Aufnehmen von Verkehrsunfällen an Schnellstraßen, parkte sie zunächst ihren Streifenwagen in »Abwehrstellung« mit eingeschalteten Scheinwerfern, Warnblinker und Blaulicht mitten auf der Kreuzung. Solchermaßen notdürftig vor nächtlichen Kamikazefahrern geschützt, eilte sie zu dem Volvo, in dem Robert Weil benommen, aber ansprechbar saß, und weiter zu dem Vauxhall, wo sie Allen Frust vorfand, schlaff und gänzlich tot. Nachdem sie rasch die umgebenden Büsche abgeleuchtet hatte, ob eventuell weitere Insassen des Vauxhall aus dem Wagen geschleudert worden waren, kehrte sie zu Robert Weil zurück, um zu sehen, ob sie ihm helfen konnte. Und in diesem Moment erwies sich PC Slatt als mehr als eine wandelnde Uniform, die ganz gut Auto fahren konnte.

Der Volvo V70 ist ein großer Kombi. Durch den Aufprall war die hintere Tür aufgesprungen. Unter Verkehrspolizisten kursieren unzählige schauerliche Legenden von nicht angeschnallten Haustieren, Omas und sogar Kindern, die bei Unfällen kreuz und quer im Auto verteilt werden, und so sagte sich PC Slatt, sie solle vielleicht besser mal einen Blick in den Kofferraum werfen.

Sie bemerkte die Blutspuren an den Seitenwänden sofort, sie waren so frisch, dass sie im Licht ihrer Taschenlampe glänzten. Viel Blut war es nicht, aber genug, um sie zu beunruhigen. Sie schaute sich gründlich im Auto und innerhalb eines Radius von zehn Metern um, fand aber niemanden.

Noch ehe sie die Suche beendet hatte, rückten schon die 520er-BMWs der Verkehrspolizei an, ausgerüstet mit einer solchen Menge an Absperrbaken, Warnlichtern und reflektierenden Schildern, dass es für eine zweite Startbahn in Gatwick gereicht hätte. Zügig wurde die Fahrspur abgesperrt und dafür gesorgt, dass der Verkehr – sofern welcher des Weges kam – wieder fließen konnte. Gleich darauf war auch der Rettungswagen da. Während die Sanitäter sich mit Robert Weil beschäftigten, durchsuchte PC Slatt sein Handschuhfach nach den Fahrzeugpapieren. Ehe der Rettungswagen davonfahren konnte, hüpfte Slatt hinein und fragte Weil, ob außer ihm noch jemand im Auto gewesen sei.

»Er erstarrte richtig vor Schreck«, erzählte sie später den Ermittlern. »Einerseits wegen der Frage, aber eigentlich fast noch mehr, als er sah, dass ich Polizistin war.«

Eine Polizeiweisheit von zeitloser Gültigkeit besagt, dass alle Mitbürger irgendwas auf dem Kerbholz haben, nur manche mehr als andere. Als der Rettungswagen sich auf den langen Weg über die M23 zur Notfallambulanz nach Redhill machte, tuckerte PC Slatt hinterher. Unterwegs funkte sie die Leitstelle an und bat darum, die Kripo einzuschalten. Um zwei Uhr morgens mahlen die Mühlen des Gesetzes in Zeitlupe, daher wurde es schon hell, als der Constable vom Revier Crawley sich endlich bequemte, seinen Detective Inspector zu benachrichtigen. Sie stampften gegen die Kälte mit den Füßen, verfluchten die frühen Pendler, die sich hupend über den Stau beschwerten, und kamen zu dem Schluss, dass es am sinnvollsten war, das Problem jemand anderem aufzudrücken. Und zwar dem Major Crime Team der Polizei von Sussex und Surrey, denn dafür waren die schließlich da.

Um wiederum einen leitenden Detective Chief Inspector aus seinem schönen warmen Bett zu holen, braucht es schon mehr als ein paar mickrige Blutflecke, daher trudelte Douglas Manderly, in dessen Zuständigkeitsbereich der Fall fiel, erst in seinem Büro ein, nachdem bereits zwei unglückliche DCs an den Tatort beordert waren, ein weiterer ins West Surrey Hospital, um PC Slatt abzulösen, und Manderlys Assistentin längst das HOLMES-Programm hochgefahren und der Ermittlung den schönen Namen »Sallic« verpasst hatte.

Douglas Manderly konnte nicht ahnen, dass bei der Eingabe von Robert Weils Namen in HOLMES ein Signal ausgelöst wurde, zu dessen Installation ich einen Fachmann von der IT-Abteilung beschwatzt hatte und das eine E-Mail an meinen Computer schickte. Mein Computer kontaktierte daraufhin mein Handy, und es machte ping, gerade als ich mit Toby am Russell Square spazieren ging.

Na ja, was heißt spazieren ging. Wir hatten uns gerade aus dem winterlichen Nieselregen ins Café im Park gerettet, wo ich mir einen Kaffee und Toby einen Kuchen genehmigte. Da mein Handy nicht die nötigen Sicherheitsvorkehrungen für sensible Informationen besitzt, schlappten wir eilends durch den matschigen Park zurück zum Folly. Um Zeit zu sparen, gingen wir hintenherum, überquerten den Hof und erklommen die Außentreppe zu dem ausgebauten Speicher über der Garage, wo ich meine Computer, meinen Plasmafernseher, die Stereoanlage und all die anderen schönen Annehmlichkeiten des 21.  Jahrhunderts aufgestellt habe, die ich aus dem einen oder anderen Grund lieber nicht im Folly selbst aufbewahre.

Kurz nach Weihnachten hatte ich meinen Cousin Obe herbestellt, damit er neben der Tür einen Hauptschalter installierte. Dieser unterbricht die Stromzufuhr zu allem außer dem Licht – äußerst umweltfreundlich, aber mein Beweggrund war ein anderer. Es ist nämlich so: Die Anwendung von Magie macht jedem Mikroprozessor in der unmittelbaren Umgebung auf der Stelle den Garaus. Und da heutzutage so ziemlich alles mit einem Einschaltknopf auch einen Mikroprozessor hat, kann das sehr schnell sehr teuer werden. Einige Experimente meinerseits hatten allerdings gezeigt, dass das nur galt, wenn besagte Mikrochips unter Strom standen – daher: Strom aus, Chip gerettet. Ich beauftragte Obe, einen altmodischen Kipphebelschalter zu verwenden, der so schwergängig war, dass eine versehentliche Betätigung so gut wie ausgeschlossen war.

Als ich den Schalter an diesem Morgen umlegen wollte, stellte ich fest, dass er schon in Ein-Position stand. Ich wusste ganz genau, dass ich es nicht gewesen war, weil ich nach einem Jahr bitterer Erfahrung mit magiebedingtem Durchschmoren meiner Sachen in dieser Hinsicht ziemlich gut aufpasse. Auch Lesley kam nicht in Frage, weil sie mal wieder zu einer Gesichtsoperation im Krankenhaus war. Vielleicht war es Nightingale gewesen; ich wusste, dass er sich manchmal hier heraufschlich, um heimlich Rugby zu schauen.

Als ich schließlich den Schreibtisch erreicht hatte – auch wenn Toby sich redlich bemühte, das zu verhindern, indem er sich schüttelte wie ein nasser Hund und sein Bestes tat, mir bei jedem Schritt zwischen die Beine zu geraten –, fuhr ich den Rechner hoch, der unser AWARE-Terminal beherbergt, bestätigte rasch auf eine Erinnerungsmail, dass mir sehr wohl bewusst war, dass in zwei Wochen mein Auffrischungs-Sicherheitslehrgang stattfand, und klickte zum zweiten Mal die automatisch generierte Mail an. Sie leitete mich zu »Operation Sallic« in HOLMES weiter – nur dass HOLMES mir den Zugang verweigerte. Kurz erwog ich, mich mit Nightingales Zugangskarte einzuloggen, mit der er offenbar in so ziemlich alles reinkommt, aber die höheren Mächte des Justizapparats waren in letzter Zeit etwas empfindlich geworden, was unautorisierten Zugang zu Datenbanken betraf. Also überlegte ich, was Lesley in meiner Lage tun würde, und bekam zur Antwort: Hallo? Da ruft man die Einsatzleitung an!

Das tat ich also, und nach einem zehnminütigen Gespräch mit dem Kollegen vom Major Crime Team machte ich mich auf die Socken, um Nightingale in Kenntnis zu setzen – aber vorher stellte ich mit Nachdruck den Hauptschalter auf AUS.

Eine Stunde später düsten wir im Jaguar nach Süden.

Nightingale hatte mir das Steuer überlassen, was mich freute; allerdings weigerte er sich noch immer, mich allein mit dem Jaguar fahren zu lassen, bis ich den erweiterten Fahrlehrgang der Polizei absolviert hatte. Angemeldet hatte ich mich längst, aber das Problem war, dass so ziemlich jeder Beamte der Met diesen Kurs machen will, und den Vorzug bekommen immer die Möchtegern-RennfahrerInnen, die die Einsatzwagen steuern. Ich hatte einen möglichen Platz im Juni in Aussicht. Bis dahin musste ich mich damit abfinden, nur unter Aufsicht den Sechszylinder-Reihenmotor anlassen und mit gezügelten Hundertzwanzig die M23 entlanggleiten zu dürfen. Der Jaguar schnurrte wie ein junges Kätzchen – nicht schlecht für ein Auto, das fast so alt ist wie meine Mutter.

»Der Name steht auf der Liste, die wir von Tyburn bekommen haben«, erklärte ich Nightingale, nachdem wir der Schrecken verbreitenden Verkehrsanomalie namens Croydon glücklich entronnen waren.

»Warum hatten wir den Mann noch nicht befragt?«, wollte Nightingale wissen.

Wir waren dabei, die Mitglieder des einstigen Dining-Clubs »Little Crocodiles« der Universität Oxford aufzuspüren, seit wir herausgefunden hatten, dass ein ehemaliger Magier namens Geoffrey Wheatcroft sie entgegen jeglicher Berufsetikette in der Zauberkunst unterwiesen hatte. Da er das seit Anfang der fünfziger Jahre betrieben hatte, liegt es auf der Hand, dass wir eine Menge Namen abarbeiten mussten. Tyburn (für niederes Volk wie Sie bitte immer noch Lady Ty), Genius loci eines der verlorenen Zuflüsse der Themse und ihrerseits Oxford-Absolventin, war in ihrer Zeit dort einigen Mitgliedern der Clique über den Weg gelaufen. Sie behauptete – und ich glaubte ihr –, es buchstäblich riechen zu können, wenn jemand Magie praktizierte. Daher räumten wir ihrer Liste die höchste Priorität ein.

Und unser Volvofahrer stand darauf.

»Robert Weil«, sagte ich. »Mit W. Wir sind alphabetisch vorgegangen.«

»Was beweist, dass man auch zu methodisch arbeiten kann«, sagte Nightingale. »Ich nehme an, Sie haben die Daten im Computer durchstöbert. Was haben Sie über Weil herausbekommen?«

Tatsächlich hatte der Beamte, mit dem ich telefoniert hatte, mir die Ermittlungsergebnisse fix und fertig gemailt, aber das ließ ich jetzt mal unter den Tisch fallen.

»Er ist zweiundvierzig Jahre alt, geboren in Tunbridge Wells, der Vater war Rechtsanwalt, die Mutter Hausfrau. Besuchte eine Privatschule, Beachwood Sacred Heart – «

»Intern oder extern?«

Seit ich mit Nightingale arbeitete, hatte ich hie und da etwas Oberschicht-Vokabular aufgeschnappt, daher verstand ich wenigstens die Frage.

»Ich nehme an, extern, weil die Schule in Tunbridge Wells ist. Außer, seine Eltern wollten ihn unbedingt aus dem Haus haben.«

»Und danach Oxford, nehme ich an.«

»Ja. Er trug sich für Biologie ein – «

»Schrieb sich ein. Noch besser: Er immatrikulierte sich.«

»Er immatrikulierte sich für Biologie und schloss mit einer mauen Zwei ab. Also nicht das allerhellste Licht am Leuchter.«

»Biologie«, sagte Nightingale. »Denken Sie, was ich denke?«

Ich dachte an die Chimären des Gesichtslosen, diese handgefertigten Cat-Girls und Tiger-Boys, die in dem Etablissement entstanden waren, das wir »Strip Club des Dr. Moreau« getauft hatten. An die im wahrsten Sinne des Wortes männerverschlingende, mit einer Vagina dentata ausgestattete Bleiche Lady. Und an die anderen Dinge in dem Club, bei denen Nightingale es für besser befunden hatte, wenn ich sie nicht zu Gesicht bekam.

»Ich hoffe nicht«, sagte ich, aber ich wusste, dass ich dachte, was er dachte.

»Und nach seinem Abgang von der Universität?«

Hatte er zehn Jahre lang bei einem Chemieunternehmen gearbeitet, sich dann dem boomenden Geschäft der Umweltverträglichkeitsprüfungen zugewandt und war als Umweltbeauftragter für die British Airport Authority tätig gewesen, bis die ihn 2009 gemeinsam mit dem Flughafen Gatwick verkaufte.

»Wurde letztes Jahr entlassen«, sagte ich. »Als leitender Angestellter bekam er eine gute Abfindung. Bezeichnet sich heute als Berater.«

Die Zentrale unserer Mordkommission war am Rand von Brighton eingerichtet worden, in einem Gebilde namens Sussex House, das wie ein zu Büroräumen umgestalteter Feinmechanikbetrieb aus den dreißiger Jahren wirkte. Irgendwann während der letzten drei Jahrzehnte waren drumherum jede Menge Lagerhallen, Mode-Outlets und ein ASDA-Supermarkt von der Größe eines atombetriebenen Flugzeugträgers entstanden. Genau die Art Gewerbezentrum auf der grünen Wiese, bei deren Anblick umweltbewusste Menschen vor Wut ins Lenkrad ihres Prius beißen könnten, aber vom polizeilichen Standpunkt aus konnte ich nicht umhin zu denken, dass die Kollegen es für den schnellen Einkauf nach Dienstschluss verdammt praktisch finden mussten. Da sich gleich dahinter das Untersuchungsgefängnis Brighton befand, war es auch für die Verdächtigen strategisch günstig. Und nebenan gab es ein Self-Storage-Lager, auch sehr nützlich, falls mal alle Zellen belegt sein sollten.

DCI Douglas Manderly war ein Kriminalbeamter der modernen Sorte: betont schlichter, aber gutgeschnittener Nadelstreifenanzug, kurzes braunes Haar, blaue Augen, in der Tasche ein topmodernes Smartphone. Kühl und rational, macht viele Überstunden, trinkt sein Lager in halben Pints und weiß, wie man eine Windel wechselt. Wahrscheinlich war es sein Ziel, irgendwann in naher Zukunft zum Detective Superintendent aufzusteigen, aber nur wegen der Gehalts- und Pensionszulagen. Kompetent, nahm ich an, aber nicht unbedingt jemand, der gut mit Dingen zurechtkam, die außerhalb seiner Komfortzone lagen.

Der würde uns lieben.

Er empfing uns in seinem Büro, um klarzustellen, wer hier das Sagen hatte, stand aber zur Begrüßung auf und schüttelte uns die Hand, um die angemessene kollegiale Atmosphäre herzustellen. Wir setzten uns auf die angebotenen Stühle, nahmen den angebotenen Kaffee und tauschten ungefähr anderthalb Minuten lang Höflichkeiten aus. Dann fragte er uns geradeheraus, worin unser Interesse an dem Fall bestand.

Wir erzählten ihm nicht, dass wir mitten in einer Hexengroßfahndung steckten, da solche Dinge leicht alarmierend wirken können.

»Möglicherweise gibt es einen Bezug zu einem anderen Fall«, sagte Nightingale. »Einer Mordserie im vergangenen Sommer.«

»Der Jason-Dunlop-Fall?«, fragte er.

Mehr als kompetent, dachte ich.

»Ja«, bestätigte Nightingale. »Aber nur indirekt.«

Manderly sah enttäuscht aus. Die Öffentlichkeit hat eine völlig falsche Vorstellung davon, wie die Polizei um Fälle konkurriert. Eine Mordermittlung mit allem Drum und Dran reißt dir ein Loch von mindestens einer Viertelmillion ins Budget. Hätte Manderly die Sache auf die Metropolitan Police abwälzen können, dann wäre es unser Budget und unser Problem gewesen, ganz zu schweigen davon, dass er den Fall aus seiner Aufklärungsstatistik herausgehalten hätte. Es missfiel ihm schon, dass er einen seiner kostbaren DCs dazu abstellen sollte, uns herumzuführen, aber noch weniger begeistert war er, als Nightingale um PC Maureen Slatt bat.

»Da müssen Sie ihren direkten Vorgesetzten fragen, ob sie abkömmlich ist.« Dann wollte er wissen, ob er in unserem Interesse irgendwelchen Umständen besondere Beachtung schenken sollte.

»Sie könnten uns informieren, wenn Sie auf etwas Außergewöhnliches stoßen«, sagte Nightingale.

»Eine Leiche zum Beispiel?«

Im Prinzip braucht man keine Leiche, um jemanden des Mordes anzuklagen, aber bei der Polizei fühlt man sich doch wohler, wenn man ein Opfer vorweisen kann – wir sind da ein bisschen abergläubisch. Außerdem will niemand darüber nachdenken müssen, ob man nicht gerade eine Viertelmillion in den Sand setzt, während das Opfer sich quicklebendig bei einem Versicherungsvertreter namens Dougal in Aberdeen einquartiert hat.

»Steht denn schon fest, dass im Volvo eine Leiche war?«, fragte ich.

»Die DNA-Analyse steht noch aus, aber laut Labor handelt es sich auf jeden Fall um menschliches Blut. Und es stammt von einer Leiche im frühen Stadium der Totenstarre.«

»Also keine Entführung«, sagte Nightingale.

»Nein.«

»Wo ist Mr. Weil denn jetzt?«

Manderly kniff die Augen zusammen. »Auf dem Weg hierher. Aber falls Sie nicht etwas Wesentliches zu seiner Befragung beitragen können, sollten Sie sie uns überlassen.«

Nun, da geklärt war, dass er seinen lästigen Fall nicht an uns loswurde, würde er uns nicht mehr in die Nähe des Hauptverdächtigen lassen, bis er die ganze Angelegenheit sauber zusammengefaltet mit hübscher Schleife zu den Akten legen konnte.

»Zuerst würde ich gern mit Constable Slatt sprechen«, sagte Nightingale. »Ich nehme an, Weils Haus wurde bereits durchsucht?«

»Unsere Leute sind dabei«, erwiderte Manderly. »Suchen Sie nach etwas Bestimmtem?«

»Bücher«, sagte Nightingale. »Und möglicherweise anderes Beiwerk.«

»Beiwerk«, sagte Manderly.

»Wenn ich es sehe, werde ich es erkennen«, erklärte Nightingale freundlich.

Der größte Unterschied zwischen der Polizeiarbeit in der Stadt und auf dem Land lag, soweit ich feststellen konnte, in den Entfernungen. Nach Crawley, wo Robert Weil wohnte, waren es von Brighton aus dreißig Kilometer über die A23 – mehr als ich während einer ganzen Arbeitswoche in London fuhr. Aber weil London uns nicht im Weg war, dauerte die Fahrt nicht einmal eine halbe Stunde. Als wir an der Unfallstelle vorbeikamen, fragte ich Nightingale, ob ich anhalten sollte, doch da der Volvo schon abgeschleppt war, fuhren wir lieber gleich nach Crawley hinein.

In den fünfziger und sechziger Jahren hatte die Staatsgewalt großangelegte Anstrengungen unternommen, London von seiner Arbeiterklasse zu befreien. Die Londoner Industrie schrumpfte rapide, und die große Dienerschaft, die in jedem ordentlichen edwardianischen Haushalt nötig gewesen war, wurde unaufhaltsam von den technischen Wunderwerken des Zeitalters der elektrischen Haushaltsgeräte verdrängt. London konnte so viel arme Unterschicht einfach nicht mehr gebrauchen. Daher wurden in Crawley, das zuvor ein beschaulicher mittelalterlicher Marktflecken gewesen war, mir nichts, dir nichts sechzigtausend neue Einwohner abgeladen. »Abgeladen« heißt in diesem Fall, dass man sie in Tausende gedrungener Vierzimmer-Doppelhaushälften verfrachtete, in denen meine Mum und mein Dad wunschlos glücklich gewesen wären, vorausgesetzt, sie hätten die Londoner Jazzszene, den Peckhamer Markt und die Sierra Leoner Auslandsgemeinde mitbringen können (oder zumindest den Teil davon, mit dem meine Mum zurzeit noch redete).

Crawley hatte ein trickreiches Mittel gegen die Plage, von an den Stadtrand ausgelagerten Einkaufszentren umzingelt zu werden, angewandt und einfach eines mitten in den Stadtkern gestellt. Dahinter befanden sich das Rathaus, das College und die Polizeistation, alles ordentlich nebeneinander aufgereiht wie in einem SimCity-Spiel.

Wir fanden PC Slatt in der Kantine, die ähnlich heimelig eingerichtet war wie ihre Londoner Pendants. Slatt war klein, rothaarig, wirkte in ihrer Stichschutzweste wie eine menschgewordene Vierzimmer-Doppelhaushälfte und hatte aufgeweckte graue Augen. Ihr Inspector hatte sie schon vorgewarnt. Keine Ahnung, was er ihr erzählt hatte, aber sie starrte Nightingale an, als könnte ihm jeden Moment ein zweiter Kopf wachsen.

Nightingale beorderte mich zum Tresen ab, und als ich mit Tee und Keksen zurückkam, war PC Slatt bereits bei ihrem Bericht von der Unfallstelle. Wer ein bisschen Erfahrung mit Autounfällen gesammelt hat, weiß genau, wie Blut aussieht. »Es glänzt so, wenn man mit der Taschenlampe draufleuchtet, wissen Sie? Ich dachte, im Auto wäre vielleicht ein zweiter Verletzter gewesen.«

Es kommt nicht selten vor, dass Opfer von Autounfällen, sogar Schwerverletzte, aus dem Auto steigen und ziellos davonwandern. »Nur konnte ich draußen keine Blutspur finden, und der Fahrer sagte, außer ihm sei niemand im Auto gewesen.«

»Als Sie den Fond des Autos zum ersten Mal in Augenschein nahmen, haben Sie da etwas Seltsames bemerkt?«, fragte Nightingale.

»Seltsam?«

»Hatten Sie ein ungewöhnliches Gefühl, als Sie hineinsahen?«

»Ungewöhnlich?«

»Unheimlich«, sagte ich. »Gruselig.« Magie, vor allem starke Magie, kann eine Art Echo hinterlassen. Wir nennen es Vestigium. Am besten funktioniert das bei Stein, weniger gut bei Beton und Metall und noch schlechter bei organischen Materialien – aber erstaunlich gut bei manchen Kunststoffen. Auf dieselbe Art entstehen übrigens auch Geister. Wenn man weiß, wonach man suchen muss, oder das Echo sehr stark ist, bemerkt man es mühelos. Aber es Zeugen zu erklären ist nicht ganz einfach.

Slatt lehnte sich in ihrem Stuhl zurück – sie ging auf Abstand. Nightingale warf mir einen strengen Blick zu.

»Es hat geregnet«, sagte sie schließlich.

»Wie wirkte er auf Sie?«, fragte Nightingale. »Der Fahrer?«

»Zuerst wie jeder andere Unfallbeteiligte. Betäubt, verwirrt, Sie wissen schon – entweder fangen sie an zu quasseln oder sie sind katatonisch. Er war der Quasseltyp.«

»Hat er etwas Bestimmtes gequasselt?«, fragte Nightingale.

»Ich glaube, irgendwas davon, dass die Hunde bellen, aber er hat nicht nur gequasselt, sondern auch noch genuschelt.«

Damit beendete Slatt ihr Mittagessen, Nightingale seinen Tee und ich meine Notizen.

Ich saß wieder am Steuer, und PC Slatt dirigierte mich am Bahnhof vorbei, über die Gleise und durch einen offenbar viktorianischen Teil von Crawley. Robert Weil wohnte in einer robusten viktorianischen Backsteinvilla mit eckigen Erkerfenstern, steilem Dach und Zierelementen aus Terrakotta. Da die benachbarten Häuser alle aus späterer Zeit stammten, vermutete ich, dass die Villa einst allein über ein stolzes Anwesen geherrscht hatte, dessen Reste noch in dem großen Garten auf der Rückseite zu erkennen waren, in dem sich gegenwärtig einige Leichensuchhunde tummelten, eine Leihgabe von International Rescue.

Da PC Slatt den an der Tür Wache stehenden Constable kannte, wurden wir umstandslos eingelassen. Das Haus war so groß, dass man es auch in diesen modernen Zeiten nicht für nötig befunden hatte, alle nicht tragenden Wände einzureißen, und sogar erst vor kurzem die Stuckverzierungen restauriert hatte. Das Esszimmer befand sich offenbar fest in Kinderhand und war voller Stolperfallen aus Spielzeug, zerbrochenen Xylofonen und aus den Hüllen gesegelten DVDs. Die Kinder selbst, nach meinen Notizen sieben und neun Jahre alt, waren bei Freunden untergebracht worden, aber die Ehefrau war anwesend. Sie hieß Lynda mit y, hatte ausgebleichtes blondes Haar und einen schmalen Mund. Ungnädig beobachtete sie uns vom Sofa aus, während wir ihr Reich durchsuchten – die ansässigen Kollegen nach Leichen und wir nach Büchern. Nightingale übernahm das Arbeitszimmer, ich das Obergeschoss.

Zuerst nahm ich mir die Kinderzimmer vor, nur für den unwahrscheinlichen Fall, dass sich zwischen den Lego-Star-Wars-Sammelalben, dem Grüffelo und einigen leicht klebrigen Malbüchern etwas Spannendes versteckt hatte. Der Ältere besaß schon einen eigenen Laptop, der allerdings ein ziemlich betagtes Teil und daher wohl secondhand war.

Das Elternschlafzimmer roch feucht und ungelüftet und enthielt nicht viel von Interesse. Ihre wichtigen Bücher lassen wahre Praktizierende niemals herumliegen, aber manchmal gibt es einschlägige Hinweise. Zum Beispiel ungewöhnliche Kombinationen. Bücher über das Okkulte besitzen viele Leute, aber wenn man daneben Bücher von oder über Isaac Newton findet, vor allem die endlos langen, langweiligen, dann sträuben sich die Nackenhaare, schrillen die Alarmglocken und, peng, kommt ein dicker Vermerk in mein Notizbuch.

Alles, was ich im Schlafzimmer fand, war unter dem Bett eine eselsohrige Schwarte mit dem Titel Die Tochter des Magiers neben Schiffbruch mit Tiger und Der Gott der kleinen Dinge.

Plötzlich sagte eine leise Stimme hinter mir: »Er hat nichts getan.«

Ich drehte mich um. In der Tür stand Lynda Weil.

»Ich weiß nicht, was Sie glauben, was er verbrochen hat. Aber er hat es nicht getan. Warum können Sie mir nicht sagen, was er angeblich getan haben soll?«

Als guter Polizist interagiert man nicht mit Verdächtigen oder Zeugen – und schon gar nicht mit Individuen, die womöglich als beides in Frage kommen –, während man eigentlich mit etwas anderem beschäftigt ist. Außerdem wusste ich auch nicht, was ihr Mann vielleicht getan hatte.

»Tut mir leid, Ma’am«, sagte ich. »Wir gehen so schnell wie möglich wieder.«

Wir gingen sogar noch schneller, denn eine Minute später rief mich Nightingale nach unten und eröffnete mir, dass die Jungs von Major Crime eine Leiche gefunden hatten.

Wie sie das geschafft hatten, war nicht von schlechten Eltern. Ich war ehrlich beeindruckt. Sie hatten eine Kameraaufnahme ausgegraben, auf der man sah, wie Robert Weil mehrere Stunden vor dem Unfall aus dem Kreisverkehr bei Pease Pottage auf eine ominöse Forest Road abbog – so benannt, weil sie mitten durch den St. Leonard’s Forest verläuft, einen Flickenteppich von Waldstücken, der sich über den ganzen breiten Höhenzug zwischen Pease Pottage und Horsham zieht.

Ein ausgezeichnetes Gelände zum Leichenverschwindenlassen, erklärte PC Slatt, da leicht über Forst- und Spazierwege zugänglich und bar jeglicher Verkehrsüberwachungskameras. Was auch immer Robert Weil dort getrieben hatte, er war erst über fünf Stunden später wieder am Kreisverkehr aufgetaucht, konnte also überall in dem Wald gewesen sein. Dann aber war den Ermittlern das Glück hold: Lynda hatte ihren Mann um Viertel vor zehn angerufen, vermutlich um ihn zu fragen, wo zum Teufel er steckte, und das ermöglichte es der Polizei von Sussex, die Position des Handys bis zu einem Sendemast kurz vor dem Dorf Colgate zurückzuverfolgen. Dann mussten sie nur noch den entsprechenden Straßenabschnitt absuchen, bis sie etwas entdeckten – in diesem Fall Reifenspuren von einem Volvo V70.

Als wir den Tatort erreichten, ging das Grau des Himmels gerade in ländliches Tiefschwarz über. Da der hier abzweigende Waldweg nicht mit dem Auto befahrbar war, parkte ich ein Stück weiter die Straße entlang, und wir gingen zu Fuß zurück.

PC Slatt erklärte uns, dass der Eigentümer den Waldweg erst kürzlich blockiert hatte. »Wahrscheinlich kannte Weil den Weg von einem früheren Spaziergang und hatte nicht damit gerechnet, dass er nicht mehr zugänglich war.« Sicherheitshinweis für Serienkiller: Vor dem Leichendeponieren immer die aktuellen Gegebenheiten vor Ort überprüfen.

Wir mussten über einen künstlichen Wall aus gelbem Lehm und Reisig klettern, weil der kaum sichtbare Pfad daneben noch Spurensicherungsterrain war.

»Er musste die Leiche ziehen«, meinte PC Slatt. »Es gibt eine Schleifspur.«

»Klingt nicht sonderlich gut vorbereitet«, sagte ich. Silberne Regenstreifen glitzerten im Licht meiner Taschenlampe, als ich sie nach hinten richtete, um Nightingale bei seiner Wallbesteigung zu leuchten.

»Vielleicht war es sein erstes Mal«, sagte er.

»Himmel, ich hoffe es«, sagte PC Slatt.

Der Pfad dahinter war matschig, aber ich schritt mit der Unbekümmertheit eines Mannes aus, der in weiser Voraussicht ein Paar Doc Martens in den Kofferraum gepackt hatte. Ob Stadt oder Land, an einem Tatort trägt man nicht gern sein bestes Paar Schuhe. Außer man heißt Nightingale – er schien über einen unerschöpflichen Vorrat an hochwertigen handgefertigten Schuhe zu verfügen, die nach jedem Gebrauch von irgendwem wieder auf Hochglanz poliert wurden. Ich vermutete, von Molly – aber wer weiß, vielleicht waren es auch irgendwelche Heinzelmännchen oder sonstige unspezifische Hausgeister.

Beidseits des Weges standen Grüppchen schlanker Bäume mit heller Rinde, die Nightingale als Weißbirken identifizierte. Bei dem düsteren Haufen spitz zulaufender Bäume direkt vor uns handelte es sich offenbar um Douglasien mit der ein oder anderen Lärche dazwischen. Meine botanische Ahnungslosigkeit schockierte Nightingale.

»Ich begreife nicht, wie Sie fünf verschiedene architektonische Ziegelverbandarten auf den ersten Blick auseinanderhalten können, aber nicht einmal die häufigsten Baumarten kennen.«

Tatsächlich konnte ich ungefähr dreiundzwanzig verschiedene Ziegelverbandarten benennen, falls man den Tudor- und die anderen Verbände der frühen Neuzeit mitzählte, aber das behielt ich für mich.

Irgendeine vernünftige Person hatte den Weg den Hügel hinunter markiert, indem sie Reflektorband von Baum zu Baum gespannt hatte. Von unten hörte man das Brummen eines tragbaren Generators. Ich sah das blauweiße Blitzen einer Kamera, hochreflektierende gelbe Westen und die geisterhaften Umrisse von Leuten in Plastikanzügen.

In grauer Vorzeit hatte man ein Opfer, kaum war es von allen Seiten fotografiert worden, eingetütet, mit einer Nummer versehen und flugs ins Leichenhaus geschafft. Heutzutage baut man ein Zelt darüber auf und richtet sich erst mal häuslich ein. In zivilisierten Gebieten ist man zum Glück trotzdem recht schnell fertig. Auf dem Land hingegen gibt es alle möglichen abgedrehten Insekten und Sporen, die sich an der Leiche gütlich tun. Und die, so wird behauptet, massenhaft Informationen über den Todeszeitpunkt liefern und darüber, in welchem Zustand die Leiche war, als sie abgelegt wurde. Das alles zu katalogisieren kann anderthalb Tage dauern, und als wir kamen, hatten sie gerade erst angefangen. Man merkte der Pathologin deutlich an, wie wenig es sie freute, dass schon wieder irgendein Polizeiteam anrückte und mitten in ihren schönen wissenschaftlichen Untersuchungen herumkrabbelte. Dabei hatten wir brav unsere Plastikoveralls angezogen, samt Kapuzen und Gesichtsmasken.

Auch DCI Manderly, der vor uns eingetroffen war, wirkte nur mäßig beglückt. Allerdings schien er sich auszurechnen, dass wir umso schneller wieder verschwinden würden, je früher wir anfingen, denn er winkte uns sofort herüber und stellte uns der Pathologin vor.

Seit ich für das Folly arbeitete, hatte ich in Sachen Leichen einiges gesehen, und nach dem aus dem Fenster geworfenen Baby und dem Hare-Krishna-Mönch mit dem explodierten Kopf hatte ich eigentlich geglaubt, ziemlich abgehärtet zu sein. Aber, wie es so schön heißt, ganz abgehärtet bist du nie. Diese Leiche war weiblich, nackt und über und über mit Lehm bekleistert. Die Pathologin erklärte, sie sei oberflächlich im Boden verscharrt gewesen. »Nur zwölf Zentimeter tief. In kürzester Zeit wären die Füchse an ihr dran gewesen.«

Anzeichen eines wie auch immer gearteten Bestattungsrituals gab es keine. Robert Weil – falls er es gewesen war – hatte sie einfach in das Loch gelegt und Erde draufgeschüttet. In dem grellen künstlichen Licht sah sie so grau und farblos aus wie die Holocaust-Fotos, an die ich mich aus der Schule erinnerte. Außer dass sie weiß war, kein Teenager mehr, aber noch nicht alt genug, um schlaffe Haut zu haben, konnte ich nicht viel erkennen.

»So schlampig sie verscharrt wurde«, sagte die Pathologin, »es wurden definitiv Maßnahmen getroffen, um eine Identifizierung zu verhindern. Das oberste Fingerglied aller Finger wurde abgehackt, und dann ist da natürlich das Gesicht …«

Beziehungsweise sein Fehlen. Vom Kinn aufwärts bestand es nur noch aus einer roten Masse, gefleckt mit weißen Knochensplittern. Nightingale ging in die Hocke und beugte sich so dicht darüber, dass es aussah, als wollte er sie küssen, da, wo die Lippen gewesen waren. Ich schaute weg.

»Nichts«, sagte er zu mir, als er sich wieder aufgerichtet hatte. »Und es war auch nicht Dissimulo.«

Ich holte tief Atem. Also nicht der Zauber, der Lesleys Gesicht zerstört hatte.

»Was glauben Sie, was das verursacht haben könnte?«, fragte er die Pathologin.

Sie zeigte auf die Kopfhaut, auf der winzige rote Furchen zu sehen waren. »Ich habe es noch nie sozusagen von Angesicht zu Angesicht gesehen, aber es wirkt wie ein Schuss mit einer Schrotflinte aus nächster Nähe.«

In meiner Kehle drängten sich die Worte »Vielleicht hat jemand sie für einen Zombie gehalten« mit solcher Macht nach oben, dass ich rasch die Hand auf meine Maske pressen musste, damit sie drinnen blieben.

Nightingale und die Pathologin bedachten mich beide mit einem verwunderten Blick, ehe sie sich wieder der Leiche zuwandten. Ich rannte aus dem Zelt, die Hand immer noch auf den Mund gedrückt, und blieb erst stehen, als ich die forensische Kernzone hinter mir hatte, so dass ich mich gegen einen Baum lehnen und die Maske abnehmen konnte. Die mitleidigen Blicke einiger älterer Polizisten ignorierte ich – besser, sie dachten, mir wäre schlecht, als dass sie mitbekamen, dass ich mir das Kichern verkneifen musste.

PC Slatt kam herüber und reichte mir eine Flasche Wasser.

»Sie wollten ja eine Leiche«, sagte sie, während ich mir den Mund ausspülte. »Ist das jetzt Ihr Fall?«

»Nein, ich glaube nicht«, sagte ich. »Gott sei Dank.«

Nightingale glaubte es auch nicht, also kehrten wir nach London zurück, sobald wir die Overalls abgestreift und DCI Manderly für seine Kooperation gedankt hatten. Nightingale fuhr.

»Es gab keine Vestigia, und auch auf mich wirkte es eindeutig wie eine Schrotflintenwunde«, sagte er. »Aber ich spiele mit dem Gedanken, Dr. Walid zu fragen, ob er nicht hinfahren und sie sich anschauen möchte. Nur zur Sicherheit.«

Der hartnäckige Regen hatte nachgelassen, und die Wolken jenseits der nördlichen Downs reflektierten schon die Lichter von London.

»Also ein ganz normaler Serienkiller«, sagte ich.

»Sie ziehen voreilige Schlüsse. Bisher gibt es nur ein Opfer.«

»Soweit wir wissen. Wie auch immer, die ganze Aktion war reine Zeitverschwendung.«

»Wir mussten es überprüfen«, entgegnete Nightingale. »Außerdem tut es Ihnen gut, auch einmal aufs Land hinauszukommen.«

»Oh ja. Es geht nichts über einen netten Ausflug zu einem idyllischen Leichenfundort. Das ist doch sicher nicht Ihr erster Fall mit einem Serienmörder.«

»Wir wissen nicht, ob er einer ist.«

»Falls er einer ist, ist er bestimmt nicht Ihr erster.«

»Leider korrekt. Allerdings war ich noch nie der leitende Ermittler.«

»War einer von den berühmten übernatürlich?« Das würde einiges erklären, dachte ich.

»Wäre dem so gewesen, dann hätten wir dafür gesorgt, dass er nicht berühmt wurde.«

»Was war mit Jack the Ripper?«

»Nein. Und glauben Sie mir, es wäre geradezu eine Erleichterung gewesen, wenn er sich als Dämon oder so etwas herausgestellt hätte. Ein Zaubererkollege, der der Polizei bei den Ermittlungen geholfen hat, sagte, sie hätten alle viel ruhiger geschlafen, hätten sie gewusst, dass es nicht ein Mensch war, der solch schreckliche Dinge tat.«

»Peter Sutcliffe?«

»Den habe ich selbst verhört. Nichts. Und er war auch keinesfalls ein Praktizierender oder unter dem Einfluss eines bösen Geistes.« Er hob die Hand, bevor ich die nächste Frage stellen konnte. »Und soweit ich es beurteilen konnte, auch nicht Dennis Nilsen oder Fred West oder Michael Lupo oder sonst irgendeiner aus der Parade der abscheulichen Individuen, denen ich in den letzten fünfzig Jahren auf den Zahn fühlen musste. Absolut menschliche Monster, jeder Einzelne von ihnen.«

2Die Söhne Wielands

Falls Robert Weil auch ein solches Monster war, schwieg er sich eisern darüber aus. Über HOLMES hielt ich mich über die Verhöre auf dem Laufenden. Die erste Verhörrunde lief wie zu erwarten. Er stritt ab, eine Leiche im Auto gehabt zu haben, behauptete, nur auf einen Spaziergang ins Grüne gefahren zu sein und keine Ahnung zu haben, woher das Blut kam. Von toten Frauen mit weggeschossenen Gesichtern habe er nicht die geringste Ahnung. Als ihm aufging, dass die Beweislage überwältigend war – an seiner Kleidung war Blut und unter seinen Fingernägeln Lehm gefunden worden –, hörte er auf, Fragen zu beantworten. Und nachdem man ihn formell angeklagt und in Untersuchungshaft genommen hatte, redete er mit gar niemandem mehr – nicht einmal mit seinem Anwalt, der daraufhin riet, ihn psychologisch begutachten zu lassen. Schon beim oberflächlichen Überfliegen der zu ergreifenden Maßnahmen konnte ich den Frust der Kollegen richtiggehend spüren, denen nichts anderes übrig blieb, als in langwieriger, zäher Arbeit jede Spur zu feinem Staub zu zermahlen und nach Hinweisen zu durchsieben. Das Opfer verweigerte sich stur der Identifikation und die Obduktion brachte auch nicht mehr Erkenntnisse als dass es weiblich, weiß und Mitte dreißig gewesen war und mindestens achtundvierzig Stunden vor dem Tod nichts mehr gegessen hatte. Die Todesursache war mit großer Wahrscheinlichkeit ein Schuss mit einer Schrotflinte aus solcher Nähe gewesen, dass Pulververbrennungen entstanden waren.

Dr. Walid, die Antwort der Gastroenterologie auf Cat Stevens und, soweit wir wussten, der einzige praktizierende Kryptopathologe der Welt, kam auf dem Heimweg mit seinem eigenen Autopsiebericht bei uns vorbei. Wir machten es uns also in den Ledersesseln im Atrium zur Fünf-Uhr-Pathologiestunde gemütlich. Das Folly war zuletzt in den dreißiger Jahren renoviert worden, als das britische Establishment noch der festen Überzeugung war, Zentralheizungen seien ein Werk des Teufels oder zumindest das arglistiger Ausländer, deren perfides Ziel es war, den unbeugsamen britischen Geist durch Verweichlichung zu untergraben. Erstaunlicherweise war es im Atrium trotz seiner Größe und der Glaskuppel oft wärmer als im Kleinen Speisezimmer und jeder der Bibliotheken.

»Wie Sie sehen«, sagte Dr. Walid, während er Fotos von in dünne Scheiben geschnittenem Gehirn auf dem Tisch auslegte, »gibt es keine Anzeichen hyperthaumaturgischer Zersetzung.« Die Proben waren mit grellen Farben koloriert worden, um den Kontrast zu verstärken, trotzdem sah alles, wie Dr. Walid leicht enttäuscht bemerkte, ganz normal aus. Ich glaubte es ihm einfach mal. »Auch die Gewebeproben ließen keine Spur chimärischer Modifikation erkennen.« Er nahm einen Schluck Kaffee. »Doch ich habe einige davon zur Sequenzierung eingeschickt.«

Nightingale nickte höflich, aber ich wusste genau, dass er nur eine äußerst vage Vorstellung von Genetik hatte – er war immerhin alt genug, um Cricks und Watsons Vater zu sein.

»Dann können wir diesen Fall wohl als abgeschlossen betrachten. Jedenfalls aus unserer Perspektive«, sagte er.

»Ich würde den Fall gern weiter beobachten«, sagte ich. »Zumindest, bis das Opfer identifiziert ist.«

Nightingale trommelte mit den Fingerspitzen auf den Tisch. »Sind Sie sicher, dass Sie die Zeit dazu haben?«

»Solange die Ermittlungen laufen, gibt das Major Crime Team Sussex-Surrey jede Woche eine Zusammenfassung raus. Das kostet mich zehn Minuten.«

»Ich fürchte, er nimmt mich nicht ausreichend ernst«, sagte Nightingale zu Dr. Walid. »Er schleicht sich immer noch davon und veranstaltet illegale Experimente, sobald er glaubt, ich sähe nicht hin.« Er sah mich an. »Worin liegt derzeit Ihr Interesse?«

»Ich versuche herauszufinden, wie lange unterschiedliche Materialien Vestigia speichern.«

»Wie messen Sie denn die Vestigia?«, erkundigte sich Dr. Walid.

»Er nimmt den Hund«, sagte Nightingale.

»Ich stecke Toby zusammen mit dem Material in eine Kiste und messe seine Bellfrequenz und -lautstärke. Eigentlich genau wie bei einem Drogenhund.«

»Und wie stellen Sie sicher, dass die Ergebnisse konsistent sind?«, fragte Dr. Walid.

»Ich habe Kontrollexperimente gemacht, um die Variablen auszuschalten.« Toby allein in der Kiste um neun Uhr morgens und dann stündlich wieder, um die Basislautstärke zu ermitteln. Dann Toby in der Kiste mit verschiedenen garantiert unmagischen Materialien für die Basislautstärke unter diesen Bedingungen. Am dritten Tag versteckte Toby sich bei Molly unter dem Küchentisch und musste mit Würstchen herausgelockt werden.

Dr. Walid beugte sich während meiner Ausführungen immer weiter vor – wenigstens einer, der einen empirischen Ansatz zu schätzen wusste. Ich erklärte, dass ich jede Materialprobe mittels eines Werlichts – dem einfachsten und kontrollierbarsten Zauber, den ich kannte – einer identischen Menge Magie ausgesetzt hatte, sie sodann gemeinsam mit Toby in die Kiste gesteckt und beobachtet hatte, was passierte.

»Und gab es signifikante Erkenntnisse?«, fragte er.

»Toby hat leider keine sehr gute Feinabstimmung, wir müssen also von einem großen Fehlerspielraum ausgehen. Aber es war ungefähr, wie ich erwartete. Und im Einklang mit meinen bisherigen Beobachtungen. Stein speichert Vestigia am besten, gefolgt von Beton. Bei den Metallen war die Reaktion zu ähnlich, um sie zu unterscheiden. Aber Holz kam erst danach, und Fleisch war am schlechtesten.« In Form einer Schweinshaxe, die von Toby verspeist wurde, bevor ich ihn davon abhalten konnte. »Die einzige Überraschung waren einige der Kunststoffe. Bei denen schlug das Wuffometer fast so hoch aus wie bei Stein.«

»Kunststoffe?«, fragte Nightingale. »Das ist höchst erstaunlich. Ich hatte immer angenommen, vor allem natürliche Materialien nähmen das Unheimliche auf.«

»Können Sie mir die Ergebnisse mailen?«, fragte Dr. Walid.

»Klar.«

»Haben Sie schon mal darüber nachgedacht, es mit anderen Hunden zu versuchen? Vielleicht sind verschiedene Rassen unterschiedlich empfindlich.«

»Abdul, bitte«, sagte Nightingale. »Bringen Sie ihn nicht auf Ideen.«

»Er macht Fortschritte in der Kunst«, sagte Dr. Walid.

»Kaum«, sagte Nightingale. »Außerdem vermute ich, dass er nur Versuche repliziert, die schon andere vor ihm unternommen haben.«

»Wer denn?«, fragte ich.

Nightingale nippte an seinem Tee und lächelte. »Ich schlage Ihnen einen Handel vor, Peter. Wenn Sie deutlichere Fortschritte in Ihren eigentlichen Studien machen, verrate ich Ihnen, wo Sie die Notizen des letzten Gehirnakrobaten finden, der Experimente anstellte mit … ich glaube, es waren hauptsächlich Ratten, aber ich meine mich zu erinnern, dass bei seiner Menagerie auch ein paar Hunde waren.«

»Wie viel deutlicher?«, fragte ich.

»Deutlicher als momentan.«

»Ich hätte auch nichts dagegen, diese Notizen zu Gesicht zu bekommen«, sagte Dr. Walid.

»Dann sollten Sie Peter ermuntern, sich ordentlich ins Zeug zu legen.«

»Was für ein gemeiner Mensch«, sagte ich.

»Aber gerissen«, sagte Dr. Walid.

Nightingale betrachtete uns gelassen über den Rand seiner Tasse hinweg.

»Gemein und gerissen«, sagte ich.

Am nächsten Morgen fuhr ich zur Polizeischule in Hendon und brachte Teil eins des obligatorischen Sicherheitstrainings für Polizeibeamte hinter mich, das im Prinzip jeder Beamte bis einschließlich Chief-Inspector-Rang halbjährlich absolvieren muss – aber ich bezweifle, dass irgendjemand je erleben wird, dass Nightingale an so was teilnimmt. Wir hörten einen spaßigen Vortrag zum Thema Hyperaktives Delirium beziehungsweise Was tun wir mit Leuten, die sich so zugedröhnt haben, dass sie völlig durchdrehen. Dann Rollenspiele im Fitnessraum, wo wir übten, Verdächtige in den Griff zu kriegen, ohne dass sie aus Versehen die Treppe hinunterfielen. Zwei der Teilnehmer waren mit Lesley und mir in der Ausbildung gewesen, und beim Mittagessen setzten wir uns zusammen an einen Tisch. Sie erkundigten sich nach Lesley, und ich erzählte ihnen die offizielle Version: sie sei während der Unruhen in Covent Garden tätlich angegriffen worden und der Angreifer habe Selbstmord begangen, ehe ich ihn verhaften konnte.

Nachmittags versteckten wir abwechselnd diverse Waffen an unserem Körper und durchsuchten einander, ein Wettspiel, das ich auf beiden Seiten gewann, weil ich weiß, wie man eine Rasierklinge im Bund einer Jeans versteckt, und mich auch nicht scheue, einem Verdächtigen gründlich die Schenkelinnenseiten abzutasten. Nach all der körperlichen Betätigung war ich ziemlich aufgedreht, also ging ich mit, als einer der Kollegen vorschlug, noch durch die Clubs zu ziehen. Wir landeten in einem schwarzlichtgesättigten umgebauten Kuhstall in Romford, wo ich möglicherweise – oder auch nicht – die Göttin des Flusses Rom abschleppte. Aber nicht weit, wirklich, es kam bloß ein bisschen harmlose Fummelei dabei heraus. Wie es halt so geht, wenn man zu viel Wodka intus hat. Am nächsten Morgen wachte ich in einem der Lehnsessel im Atrium auf, erstaunlicherweise fast katerfrei, während sich Molly mit missbilligendem Blick über mich beugte. Ein Kater wäre mir lieber gewesen.

Mein treuer Ford Asbo stand wohlbehalten in der Garage, und nach Katzenwäsche und Frühstück brach ich wieder nach Hendon auf. Als ich mich auf den Fahrersitz fallen ließ, überrollte mich eine Woge von Vestigia. Ich schmeckte Wodka, roch Maschinenöl und spürte glatten Lippenstift. Da waren Rufe und wildes Jauchzen und Gasgeben bis zum Anschlag, das einen in den Sitz drückte, während der Motor aufbrüllte wie ein großes, vom Aussterben bedrohtes Tier.

Auf dem Armaturenbrett lag ein offener Lippenstift – knallpink.

Göttin des Rom oder nicht, mit irgendwas Übernatürlichem war ich letzte Nacht in Berührung gekommen – nicht nur mit Wodka.

Okay, das war’s, dachte ich. Keine abendlichen Streifzüge durch die Clubs mehr ohne Anstandswauwau.

Ich ließ den Asbo aufheulen, aber obwohl ich den Motor nach besten Kräften getunt hatte, klang er kein bisschen wie eine Raubkatze.

Immerhin brachte er mich pünktlich zum Beginn des zweiten Teils nach Hendon, in dem die Handhabung unserer Ausrüstung im Vordergrund stand. Die Morgenvorlesung handelte von Personenkontrollen, Schwerpunkt »Bemerken verdächtigen Verhaltens«. Der Referent mit dem großartigen Namen Douglas Douglas demonstrierte das seltsame, als »Roboterhaltung« bezeichnete Versteifen der Glieder bei Ladendieben und das übertrieben theatralische Gebaren wirklich schuldiger Personen, wenn sie unerwartet auf die Polizei treffen. »Es ist immer eine gute Idee«, sagte er, »jemanden, der ein Gespräch mit Ihnen anfängt, zu durchsuchen.« Weil niemand freiwillig die Polizei in ein Gespräch verwickelt, außer er will von etwas ablenken. Er riet uns allerdings, bei Touristen diese Regel zurückhaltend anzuwenden, da London auf ausländisches Geld schlecht verzichten konnte.

Die nächste Station war der Fitnessraum, wo unsere Kenntnisse im Umgang mit unseren Handschellen aufgefrischt wurden. Wir verwenden die Sorte mit solidem Verbindungsteil, das man packen und drehen kann, um Druck auf die Arme des Verhafteten auszuüben und so seine Kooperation zu gewährleisten, wie der Ausbilder es ausdrückte. Nachmittags zog einer der Ausbilder einen gepolsterten Anzug an und setzte ein zähnefletschendes Grinsen auf, und unsere Aufgabe war es, ihn mit unseren ausziehbaren Schlagstöcken zu überwältigen. Früher nannte man diesen Trainingsabschnitt »Beklopptenkloppen«, aber inzwischen heißt es »Bändigung auffälliger und ausfälliger Personen«. Alles höchst nützlich. Schließlich weiß man nie, wann man vielleicht mal die Kooperation einer auffälligen oder ausfälligen Person durch Bändigung gewährleisten muss, sei es im Zustand eines hyperaktiven Deliriums oder nicht.

Abends wurde ich wieder zu einer Kneipentour eingeladen, aber ich lehnte ab und fuhr stattdessen langsam und gemessen nach Hause.

Lesley wurde aus dem Krankenhaus entlassen und platzte herein, als ich gerade versuchte, eine Forma zu perfektionieren, die sich Aqua nannte. Für diejenigen unter Ihnen, die keine klassische Bildung genießen durften: Das ist die Basisformel, um Wasser zu manipulieren. Einst war sie gemeinsam mit Lux, Aer und Terra unter dem Begriff Empedoklion zusammengefasst, allerdings kamen zwei der Zauber außer Mode, als die Vier-Elemente-Lehre in der Ära der Aufklärung auf der Strecke blieb.

Der Zauber funktioniert ganz ähnlich wie Lux: Man baut im Geist die Forma auf, öffnet die Hand und findet darin im Idealfall eine tischtennisballgroße Sphäre aus Wasser. Nightingale behauptete, nicht zu wissen, woher das Wasser kam, aber ich nahm an, dass es der Luft ringsum entzogen wurde. Als Alternative kam nur in Frage, dass es aus einer Paralleldimension, dem Hyperraum oder einem noch abgefahreneren Ort stammte. Ich hoffte, es war nicht der Hyperraum – damit hätte ich mich etwas überfordert gefühlt.

Was mich anging, hatte ich bisher ein Wölkchen, einen gefrorenen Regentropfen und eine kleine Pfütze zustande gebracht. Und zwar nach vier Wochen Üben, in denen überhaupt nichts passiert war. Unter Nightingales kritischem Blick im Übungslabor im ersten Stock geschah es dann, dass sich der feuchte Dunst über meiner Handfläche zu einer wackligen Kugel zusammenballte. Das Problem in diesem Lernstadium ist, dass man so gut wie nie erkennen kann, warum das, was man momentan macht, besser funktioniert als das, was man vor zwei Sekunden gemacht hat. Darum muss man unendlich viel üben, und darum ist eine Forma, die man noch nicht gut beherrscht, nur schwer aufrechtzuerhalten – vor allem, wenn vor der Tür plötzlich jemand lautstark und einen Viertelton daneben den Refrain von Rehab anstimmt.

Die Kugel zerplatzte wie eine Wasserbombe und spritzte mich, die Werkbank und den Boden davor klitschnass. Nightingale, der mein besonderes Geschick dafür, Formae in die Luft fliegen zu lassen, inzwischen nur zu gut kannte, hatte klugerweise Abstand gehalten und einen Regenmantel angezogen.

Ich starrte Lesley, die sich im Türrahmen in Pose warf, finster an.

»Hab meine Stimme wieder«, sagte sie. »Mehr oder weniger.« Inzwischen trug sie die Maske im Folly nicht mehr, daher konnte ich jetzt trotz ihres zerstörten Gesichts wenigstens erkennen, wenn sie lächelte.

»Mehr«, sagte ich. »Du hast schon immer schief gesungen.«

Nightingale winkte Lesley herein. »Das freut mich. Gut, dass Sie da sind. Ich habe Ihnen beiden etwas zu zeigen und wollte warten, bis Sie gleichzeitig anwesend sind.«

»Kann ich zuerst meine Sachen in mein Zimmer bringen?«, fragte sie.

»Selbstverständlich. Inzwischen kann Peter im Labor aufwischen.«

»Gut, dass es nur Wasser war«, sagte Lesley. »Wasser zum Explodieren zu bringen, das schafft nicht mal Peter.«

»Fordern Sie das Schicksal nicht heraus«, sagte Nightingale.

Eine halbe Stunde später versammelten wir uns wieder, und er führte uns in eines der unbenutzten Labore weiter hinten im Flur. Er zog die Staubschutzlaken herunter und enthüllte zernarbte Werkbänke, eine Drehbank und mehrere Schraubstöcke. Es war wie der Werkunterrichtsraum in der Schule, nur dass dieser hier seit dem Zeitalter von Dampfmaschinen und Kinderarbeit unverändert geblieben war. Unter dem letzten Laken kam ein massiver schwarzer Amboss zum Vorschein, wie ich sie bisher nur kannte, wenn sie Zeichentrickfiguren auf den Kopf fielen.

»Denkst du das Gleiche wie ich, Lesley?«, fragte ich.

»Ich glaube schon, Peter. Aber wie kriegen wir das Pony hier rauf?«

»Ein Pferd zu beschlagen ist eine sehr nützliche Fertigkeit«, sagte Nightingale. »Und als ich ein Junge war, gab es unten im Hof tatsächlich noch eine Schmiede. Dies hingegen ist der Ort, an dem wir Jungen zu Männern machen.« Er hielt inne und sah Lesley an. »Und junge Mädchen zu Frauen, nehme ich an.«

»Schmieden wir jetzt den Einen Ring?«, fragte ich.

Nightingale hielt einen Spazierstock hoch. »Erkennen Sie das hier?«

Oh ja. Es war ein Herren-Spazierstock mit leicht angelaufenem Silberknauf. »Das ist Ihr Stock«, sagte ich.

»Und was noch?«

»Ihr Zauberstab«, sagte Lesley.

»Sehr gut«, sagte Nightingale. »Die Quelle der Macht eines Zauberers.«

Der Magie ist eine sehr spezifische Grenze gesetzt. Wenn man es damit übertreibt, verwandelt sich das Gehirn in Schweizer Käse. Hyperthaumaturgische Zersetzung nennt das Dr. Walid, und er bewahrt ein paar solcher Gehirne in einer Schublade auf, die er mit Vorliebe bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit herauszieht, um sie arglosen Zauberlehrlingen unter die Nase zu halten. Die Faustregel für magiebedingte Gehirnschäden ist: Spürt man etwas, ist es schon zu spät. Daher gehen Praktizierende generell lieber auf Nummer sicher. Dies kann allerdings problematisch werden, wenn, sagen wir mal, in einer regnerischen Nacht im Jahre 1945 plötzlich zwei Tiger-Panzer vor dir aus dem Wald hervorbrechen. Um dann Held des Tages und Schlagzeile im Pfadfinderblatt zu werden und trotzdem nicht als sabbernder Idiot zu enden, trägt der kluge Praktizierende einen Stab bei sich, den er vorher ordentlich mit Macht aufgeladen hat.

Fragen Sie mich nicht, was das für eine Macht ist – ich habe außer Toby dem Hund kein Instrument, um sie zu messen. Ich würde zu gern mal Material mit hoher Vestigia-Konzentration  in ein Massenspektrometer stecken, aber dazu müsste ich mir erstens ein Massenspektrometer organisieren und zweitens genug Physik lernen, um die verflixten Ergebnisse interpretieren zu können.

Nightingale legte seinen Spazierstock auf eine der Werkbänke, schraubte den Knauf ab und klemmte den Stock in einen Schraubstock ein. Mit Hammer und Meißel hebelte er ihn der Länge nach auf. Zum Vorschein kam ein graublauer Metallkern, etwa so dick wie ein Bleistift.

»Das ist das Herz des Stabes.« Er holte eine Lupe aus einer Schublade. »Schauen Sie es sich genau an.«

Nacheinander nahmen wir die Lupe. Die Oberfläche des Metallstabs hatte ein schwaches, aber deutlich sichtbares spiralförmiges Wellenmuster.

»Woraus besteht er?«, fragte Lesley, während sie den Stift studierte.

»Stahl«, sagte Nightingale.

»Gefalteter Stahl«, sagte ich. »Wie ein Samuraischwert.«

»Man nennt es Damaszenerstahl«, sagte Nightingale. »Verschiedene Stahllegierungen, die nach genauen Vorgaben zu einem Muster zusammengeschweißt werden. Führt man das korrekt aus, entsteht daraus eine Matrix, die Magie speichert, auf welche ein Kundiger zu einem späteren Zeitpunkt zurückgreifen kann.«

So dass seinem Gehirn unter Umständen einiges erspart bleibt, dachte ich.

»Und wie bekommt man die Magie da rein?«, fragte Lesley.

»Während des Schmiedevorgangs.« Nightingale deutete ein Klopfen mit einem imaginären Hammer an. »Durch einen Zauber dritter Ordnung erhöht man die Schmiedetemperatur, und mit einem weiteren erhält man sie aufrecht, während man mit dem Hammer daran arbeitet.«

»Und die Magie?«, fragte ich.

»Meines Wissens wird sie aus den Zaubern gezogen, die man während des Schmiedens einsetzt.«

Lesley rieb sich das Gesicht. »Und wie lange dauert das alles?«

»Einen Stab wie diesen zu schmieden? Mindestens drei Monate.« Er bemerkte unsere entsetzten Mienen. »Wenn man täglich, sagen wir, ein bis zwei Stunden daran arbeitet. Man muss vermeiden, es mit der Magie zu übertreiben, sonst erledigt sich der Zweck des Stabes von selbst.«

»Heißt das, wir werden auch jeder einen Stab schmieden?«, fragte sie.

»Eines Tages ja. Aber zunächst werden Sie dabei zusehen, wie ich es mache.«

In der Ferne hörten wir schwach das Telefon klingeln. Wir alle drehten uns zur Tür um in der Erwartung, dass gleich Molly auftauchen würde. Tatsächlich kam sie und bedeutete Nightingale mit einem Nicken, dass das Gespräch für ihn war.

Lesley und ich folgten ihnen diskret in der Hoffnung, etwas mithören zu können.

»Ich hätte beim Werken besser aufpassen sollen«, sagte Lesley.

Wir waren auf dem Treppenabsatz, als Nightingale uns zu sich nach unten rief. Er stand mit dem Hörer in der Hand da, auf seinem Gesicht zeichnete sich größte Verwunderung ab.

»Mir wurde soeben ein außerhalb der Legalität operierender Magier gemeldet.«

Ich und der illegale Magier starrten einander in wechselseitiger Perplexität an. Er fragte sich, warum zum Henker neben seinem Bett ein Polizist saß, und ich fragte mich, was zum Henker es nun wieder mit diesem Burschen auf sich hatte.

Sein Name war George Nolfi, und er war ein ganz durchschnittlich aussehender weißer Mann Ende sechzig – siebenundsechzig meinen Notizen zufolge. Sein Haar war schütter, aber immer noch größtenteils braun, er hatte blaue Augen, und sein Gesicht war eins von denen, die mit dem Alter hagerer statt fülliger werden. Seine Hände steckten vom Handgelenk abwärts in Verbänden, nur die Fingerspitzen schauten heraus. Ab und zu hob er sie und betrachtete sie mit dem Ausdruck tiefen Staunens. Laut meinen Notizen hatte er bei dem »Vorfall« Verbrennungen zweiten Grades an den Händen erlitten, aber sonst gab es keine Verletzten, nur ein paar kleine Kinder waren wegen Schocks behandelt worden.

»Erzählen Sie mir doch, was passiert ist«, sagte ich.

»Sie werden mir nicht glauben.«

»Sie haben aus dem Nichts eine Feuerkugel erschaffen«, sagte ich. »Sehen Sie, ich glaube Ihnen. Mit so was haben wir tagtäglich zu tun.«

Er glotzte mich verdattert an. Das passiert oft, selbst bei Leuten, die Erfahrung mit dem Übernatürlichen haben – ach was, selbst bei Leuten, die übernatürlich sind.

Er lebte in Wimbledon und war pensionierter Landvermesser. Er stand nicht auf unserer Liste Kleiner Krokodile. Studiert hatte er in Leeds, und der Name Nolfi tauchte weder in den Verzeichnissen von Nightingales alter Schule noch in denen des Folly auf. Und dennoch hatte er im Wohnzimmer seiner Tochter einen Feuerball heraufbeschworen – sie hatten alles mit dem Camcorder gefilmt.

»Haben Sie so etwas früher schon mal gemacht?«, fragte ich.

»Ja. Aber da war ich noch ein Kind.«

Ich notierte mir das. Nightingale und Lesley durchsuchten zu diesem Zeitpunkt sein Haus nach einschlägigen Büchern, Vestigia, Lacunae, Hausgöttern und bösen Geistern. Mir hatte Nightingale genaue Instruktionen erteilt: zunächst herausbekommen, was Mr. Nolfi getan hatte, dann, warum er es getan hatte, und schließlich, woher er wusste, wie man es tat.

»Es war Gabriellas Geburtstagsfeier«, erklärte er. »Meine Enkelin. Sechs Jahre jetzt, ein süßes Ding, aber ziemlich lebhaft. Haben Sie Kinder?«

»Noch nicht.«

»So ein ganzer Haufen Sechsjährige – das kann einem schon Respekt einflößen. Kann sein, dass ich mich mit etwas mehr Sherry als geplant dagegen gewappnet habe. Und dann ging irgendwas mit der Torte schief.«

Noch schlimmer: Das Licht war schon ausgeschaltet worden, die Gesellschaft wartete gespannt auf den feierlichen Einzug der Geburtstagstorte mit den brennenden Kerzen, das inbrünstige »Happy Birthday to you, Marmelade im Schuh« bereits auf den Lippen.

Also war Mr. Nolfi in seiner Funktion als Großvater aufgefordert worden, die Kinder zu unterhalten, bis das Tortenproblem gelöst war.

»Und da erinnerte ich mich an diesen Trick, den ich als Junge draufhatte«, sagte er. »In diesem Moment kam es mir wie eine gute Idee vor. Ich lenkte die Aufmerksamkeit auf mich – was nicht einfach war, kann ich Ihnen sagen –, krempelte die Ärmel hoch und sprach das Zauberwort.«

»Was war das Zauberwort?«, fragte ich.

»Lux. Das ist Latein für Licht.«

Das war keine Neuigkeit für mich. Diese Formel ist die erste, die ein klassisch ausgebildeter Zauberer lernt. Ich fragte Mr. Nolfi, was er denn erwartet hatte, was passieren würde.

»Damals konnte ich ein Feenlicht erschaffen«, sagte er. »Meine kleine Schwester fand das großartig.«

Einige weitere Fragen enthüllten, dass er nur diesen einen Zauber kannte und ihn nicht mehr angewandt hatte, seit er aufs Internat gekommen war.

»Es war eine katholische Schule. Dort wurde es nicht gern gesehen, wenn jemand sich in den okkulten Künsten versuchte. Oder sich überhaupt in etwas versuchte. Nach Auffassung des Rektors sollte man etwas ganz oder gar nicht tun.« Er machte noch ein paar nähere Angaben zu der Schule, sagte aber gleich dazu, dass sie Ende der sechziger Jahre geschlossen worden war. »Der Rektor hatte Geld unterschlagen.«

»Und wo haben Sie diesen magischen Trick nun gelernt?«, fragte ich.

»Von meiner Mutter natürlich.«

»Von seiner Mutter«, sagte Nightingale.

»Behauptet er.«

Wir saßen im sogenannten Privaten Speisezimmer beim Essen – um ehrlich zu sein, wussten wir nicht genau, was es war, denn Molly machte gerade mal wieder eine experimentelle Phase durch. Lesley meinte, es sei geschmorte Lammkeule mit etwas Fischigem, möglicherweise Anchovis, vielleicht auch Sardinen. Dazu gab es zwei Schüsseln Püree – ich tippte auf Kohlrüben, aber Nightingale versicherte, mindestens eines davon bestehe aus Pastinaken.

»Ich weiß nicht, ob wir Sachen essen sollten, von denen wir nicht mal wissen, was es ist«, sagte Lesley.

»Ich hab ihr nicht dieses Jamie-Oliver-Kochbuch zu Weihnachten geschenkt«, sagte ich.

»Nein. Du wolltest ihr Heston Blumenthal kaufen.«

Nightingale, der – wie er betonte – von klein auf gewohnt war, zu essen, was auf den Tisch kam, langte mit Appetit zu. Da Molly im Türrahmen lauerte, hatten Lesley und ich keine Wahl als seinem Beispiel zu folgen.

Es schmeckte verblüffend nach Lamm in Sardinensoße.

Nachdem wir kurz abgewartet hatten, um sicher zu sein, dass wir keine Vergiftung davongetragen hatten, widmeten wir uns wieder der Diskussion um Mr. Nolfi.

»Das erscheint mir alles recht ungewöhnlich«, sagte Nightingale. »Zumindest ist mir dergleichen noch nie untergekommen.«

»In seinem Haus war gar nichts«, sagte Lesley.

»Selbst zu Ihrer Zeit muss es weibliche Praktizierende gegeben haben«, sagte ich.

»Es gab die eine oder andere Wald- und Wiesenhexe. Vor allem draußen auf dem Land, das gibt es immer. Aber ich wüsste von keiner mit formaler Ausbildung.«

»In Hogwarts waren natürlich nur Jungs«, sagte ich.

»Peter«, sagte er. »Sie können meine alte Schule gern weiter Hogwarts nennen, wenn Sie Lust haben, die nächsten drei Tage das Labor zu putzen.«

»Na gut, Casterbrook.«

»Schon besser.« Nightingale verzehrte den letzten Rest seines Steckrübenpürees – falls es Steckrübe war.

»Jedenfalls war es eine reine Jungsschule.«

»Zweifellos. Andernfalls hätte ich das mit Sicherheit bemerkt.«

»Und diese Jungs kamen aus den alten Zaubererfamilien?«

»Sie haben so amüsante Vorstellungen davon, wie es früher war. Es gab ein paar Familien, die in der Regel einen oder mehrere ihrer Söhne auf diese Schule schickten. Das ist alles.«

Traditionell hatte beim niederen englischen Adel der erste Sohn den Besitz geerbt, der zweite war zum Militär gegangen, der dritte war Pfarrer oder Jurist geworden. Ich fragte Nightingale, an welcher Stelle in der Rangfolge die Zauberei kam.

»Das Folly war bei der Aristokratie nie sonderlich beliebt. Wir entstammten eher dem stolzen Bürgertum. Am