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Kommissar Chens zweiter Fall: Zusammen mit einer attraktiven amerikanischen Kollegin ist der dichtende chinesische Kommissar einem Triadenmord und einer verschwundenen schwangeren Frau auf der Spur. Welches Schicksal hatte diese junge Frau, die während der Kulturrevolution zur Umerziehung aufs Land geschickt wurde?Das Rätsel um die männliche Leiche im weißen Seidenpyjama und die verschollene frühere Rotgardistin, deren Mann in New York als Kronzeuge vor Gericht steht, entführt den Leser von Qius Roman in die spannungsgeladene Welt des neuen China. Ein Muss für alle Krimi-Fans, denn "mit Qiu Xiaolong beginnt die moderne chinesische Kriminalliteratur".
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Seitenzahl: 501
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Zsolnay E-Book
Qiu Xiaolong
Die Frau mit
dem roten Herzen
EIN FALL FÜR
OBERINSPEKTOR CHEN
Aus dem Amerikanischen von
Susanne Hornfec
Paul Zsolnay Verlag
Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 2002 unter dem Titel A Loyal Character Dancer bei Soho Press in New York.
ISBN 978-3-552-05788-3
© Qiu Xiaolong 2002
Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe
© Paul Zsolnay Verlag Wien 2004/2016
Schutzumschlaggestaltung: Peter-Andreas Hassiepen, München, unter Verwendung einer Fotografie von © Sandi Fellmann1982
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Kreutzfeldt digital, Hamburg
Für Julia
1
Oberinspektor Chen Cao von der Shanghaier Polizei ging wieder einmal durch den Morgennebel Richtung Bund-Park.
Obwohl die Anlage mit ihren sieben Hektar eher klein war, machte ihre Lage am Nordende des Bund sie zu einem der beliebtesten Orte Shanghais. Der Vordereingang lag unmittelbar gegenüber dem Hotel Peace, der Hintereingang ging auf die Waibaidu-Brücke hinaus, deren Name sich seit ihrem Bau zu Kolonialzeiten nicht geändert hatte und so viel bedeutete wie: Übergang für weiße Ausländer. Der Park war außerdem berühmt für seine vielfarbig gepflasterte Promenade, die sich in elegantem Bogen entlang der schimmernden Wasserfläche am Zusammenfluß des Huangpu mit dem Suzhou Creek spannte. Vor dem Hintergrund des fernen Wusongkou konnte man von dort aus den Schiffsverkehr vom und zum Ostchinesischen Meer beobachten.
Die Wächterin am Haupteingang, die grauhaarige Frau Zhu mit der roten Armbinde, nickte Chen an diesem Aprilmorgen gähnend zu, während er eine grüne Plastikmarke in das dafür vorgesehene Kästchen warf. Viele der Parkaufseher kannten ihn gut.
An diesem Morgen war er unter den ersten Frühaufstehern, die den Park besuchten. Er ging zu dem von Pappeln und Weiden gesäumten Rondell in der Mitte des Parks. Der weiße, europäische Pavillon mit seiner ausladenden Veranda hob sich vorteilhaft von den frisch gestrichenen grünen Bänken ab. Die Tautropfen, die noch an den Blättern hingen, glitzerten im ersten Morgenlicht wie Myriaden blanker Augen.
Chens Vorliebe für den Park hatte unter anderem mit Erinnerungen an seine Kindheit zu tun. Bereits in der Grundschule hatte man ihm die Geschichte dieses Parks beigebracht. In seinem damaligen Lehrbuch stand, daß der Park um die Jahrhundertwende nur für Westler geöffnet gewesen sei. Damals gab es ein Schild mit der Aufschrift: Für Chinesen und Hunde verboten, und ein Sikh mit rotem Turban versperrte den Zutritt. Nach 1949 galt dies der kommunistischen Regierung als Paradebeispiel für das Auftreten der westlichen Mächte im vorrevolutionären China, das regelmäßig im Rahmen der patriotischen Erziehung angeführt wurde. War es tatsächlich so gewesen? Dies zweifelsfrei festzustellen war heute kaum mehr möglich, denn die Grenze zwischen Realität und Fiktion wurde von den jeweils Mächtigen in deren Sinne konstruiert und dekonstruiert.
Er stieg die Treppe zur Promenade hinauf und sog die frische Seeluft ein. Sturmvögel glitten über die Wellen; ihre Flügel schimmerten im grauen Licht, als flögen sie aus einem halbvergessenen Traum herüber. Die Trennlinie zwischen dem Fluß und dem einmündenden Suzhou Creek wurde sichtbar.
Doch Oberinspektor Chen mochte diesen Park nicht nur wegen seiner Schönheit oder seiner Geschichte; auch persönliche Erinnerungen waren damit verknüpft.
In den frühen siebziger Jahren, als er als Schulabgänger auf die Zuweisung eines Studien- oder Ausbildungsplatzes wartete, war er regelmäßig zum Tai-Chi hierhergekommen. An einem nebligen Morgen zwei oder drei Monate später hatte er, nach einem weiteren halbherzigen Versuch, die uralten Bewegungsabläufe einzuüben, auf einer Bank ein abgegriffenes Englischlehrbuch entdeckt. Wie es dort hingekommen war, blieb rätselhaft. Manchmal legten Leute alte Zeitungen oder Illustrierte auf die Sitze, um sich gegen Nässe zu schützen, niemals jedoch ein Lehrbuch. Mehrere Wochen lang brachte er das Buch immer wieder in den Park mit, in der Hoffnung, jemand vermisse es. Doch nichts geschah. Dann, als eine besonders komplizierte Bewegungsfolge ihn schier zur Verzweiflung brachte, öffnete er das Buch willkürlich und begann zu lesen. Von da an kam er nicht mehr zum Tai-Chi, sondern zum Englischlernen in den Park.
Seine Mutter war über diese Veränderung besorgt gewesen. Es zeugte nicht von guter politischer Gesinnung, Bücher zu lesen, die nicht Worte des Vorsitzenden Mao oder so ähnlich hießen. Sein Vater, ein neokonfuzianischer Gelehrter, war dagegen der Ansicht gewesen, daß das Lernen im Park ihm förderlich sein könnte. Er berief sich dabei auf die ehrwürdige Theorie von den Fünf Elementen – wuxing. Chen, so hatte er diagnostiziert, mangle es am Element Wasser, und so könne der Aufenthalt am Wasser ihm nur guttun. Als Chen sich Jahre später über diesen Aspekt der Theorie informieren wollte, konnte er nirgends etwas darüber finden. Vielleicht war sie ausschließlich zu seinem Nutzen entwickelt worden.
Diese Morgenstunden im Park brachten ihn durch die Jahre der Kulturrevolution. 1977 ging er ans Pekinger Fremdspracheninstitut, nachdem er in der neu eingeführten, zentralen Aufnahmeprüfung Bestnoten in Englisch erzielt hatte. Vier Jahre später landete er dann durch eine weitere Folge von Zufällen bei der Shanghaier Polizei.
Im Rückblick erschien Chens Leben wie ein ironisches Durcheinander aus fehlgeleitetem yin und yang, fehlgeleitet wie jenes Buch im Park oder wie die verlorenen Jahre seiner Jugend. Eines führte zum anderen und dieses zum nächsten, bis das Endergebnis kaum noch zu erkennen war. Eine solche Kette von Kausalitäten war sicherlich komplexer, als westliche Krimiautoren, von denen er in seiner Freizeit einige übersetzt hatte, das zugestehen würden.
Durch die kühle Aprilbrise klang die Melodie der großen Uhr von der Shanghaier Zollverwaltung herüber. Halb sieben. Während der Kulturrevolution hatte sie ein anderes Lied gespielt: »Der Osten ist rot.« Die Zeit verrann wie Wasser.
In den frühen neunziger Jahren, unter Deng Xiaopings Reformpolitik, hatte Shanghai sich dramatisch verändert. In der Zhongshan Lu, einer langen Straßenflucht mit imposanten Bauwerken, die zu Beginn des Jahrhunderts angesehene westliche Unternehmen beherbergt hatten und nach 1950 von der kommunistischen Partei und ihren Institutionen bezogen worden waren, versuchte man nun erneut, westliche Firmen anzusiedeln und den Status des Bund als Wall Street Chinas wiederzubeleben. Auch der Bund-Park hatte sich verändert, und Chen war mit einigen dieser Neuerungen gar nicht einverstanden. So ragte zum Beispiel neben ihm ein postmoderner Pavillon aus Beton auf, der wie ein Ungeheuer im grauen Morgenlicht lauerte. Und er, Chen, hatte sich von einem bettelarmen Studenten in einem prominenten Polizei-Oberinspektor verwandelt.
Trotzdem war es noch immer sein Park. Auch bei starker Arbeitsbelastung kam er mindestens ein- bis zweimal die Woche hierher. Es war nicht weit vom Büro, ein Fußweg von höchstens fünfzehn Minuten.
Ganz in seiner Nähe übte ein Mann in mittlerem Alter Tai-Chi. Er führte ein Folge von Figuren aus: den Schwanz des Vogels erhaschen, der weiße Kranich breitet die Schwingen, das wilde Pferd teilt die Mähne … Oberinspektor Chen überlegte, was aus ihm wohl geworden wäre, wenn er weiter Tai-Chi geübt hätte. Vielleicht wäre er heute einer dieser Enthusiasten, die nur noch in passender weißer Seidenkleidung ihre Übungen machten: Sie trugen Hemden mit weiten Ärmeln und roten, geflochtenen Knöpfen und immer einen friedfertigen Ausdruck im Gesicht. Diesen Mann hier kannte Chen; er arbeitete als Buchhalter in einem nahezu bankrotten Staatsbetrieb, doch augenblicklich war er ein Meister, der sich in perfekter Harmonie mit dem qi des Universums bewegte.
Chen setzte sich auf seinen Stammplatz, eine grüngestrichene Bank unter einer hoch aufragenden Pappel. In die Rückseite der Lehne war mit kleinen Schriftzeichen ein Slogan aus der Kulturrevolution geritzt: Lang lebe die Diktatur des Proletariats. Die Bank war seither schon mehrmals neu gestrichen worden, aber die Botschaft kam immer wieder durch.
Er nahm einen Band mit ci-Gedichten aus seiner Aktentasche und schlug einen Text von Niu Xiji auf: Der Nebel lichtet sich/vor den Frühlingsbergen,/die Sterne, karg und klein/am blassen Himmel,/ein sinkender Mond erhellt ihr Gesicht,/Dämmerung glitzert in ihren Tränen/beim Abschied … Das war zu sentimental für den frühen Morgen. Er übersprang mehrere Zeilen und kam zum letzten Vers:
Ich denke an deinen grünen Rock, und überall/wohin ich trete/setze ich meine Schritte ganz sachte auf das Gras.
Auch wieder so ein Zufall, grübelte er und trommelte mit den Fingern auf die Rückenlehne. Vor nicht allzu langer Zeit hatte er im Café Riverside am Bund diese Zeilen einer Freundin zitiert, die jetzt weit entfernt von ihm ihre Schritte auf das Gras setzte. Aber Oberinspektor Chen war nicht hergekommen, um nostalgisch zu werden.
Die erfolgreiche Lösung eines wichtigen politischen Falls, in den auch Baoshen, der Zweite Bürgermeister von Peking verwickelt gewesen war, hatte unerwartete Folgen für sein berufliches wie für sein privates Leben gehabt. Die Sache hatte ihn ziemlich mitgenommen, und das spürte er noch immer. In einem Brief, den er unlängst an seine Freundin Ling geschrieben hatte, hatte er es so formuliert: »Wie schon die Alten wußten: ›In acht oder neun von zehn Fällen laufen die Dinge schief in dieser unserer Welt.‹ Trotz seines absichtsvollen Bemühens ist der Mensch nichts als ein Spielball des Schicksals.« Daß sie nicht darauf geantwortet hatte, verwunderte ihn nicht. Auch ihre Beziehung war von besagtem Fall belastet worden.
Eine Gestalt in grauer Mao-Jacke tauchte hinter ihm auf und sprach ihn mit ernster, verhaltener Stimme an: »Genosse Oberinspektor Chen.«
Er erkannte Zhang Hongwei, einen der älteren Parkaufseher. In den siebziger Jahren hatte Zhang einen Mao-Button am Revers getragen und war durch den Park patrouilliert, als hätte er Sprungfedern unter den Sohlen. Immer wieder hatte er dem Englischlehrbuch in Chens Händen mißbilligende Blicke zugeworfen. Jetzt, kahlköpfig, faltig und jenseits der Fünfzig, schlurfte er durch den Park; die graue Jacke war die gleiche, nur der Mao-Button fehlte.
»Kommen Sie bitte mal mit, Genosse Oberinspektor Chen.«
Er folgte Zhang zu einer besonders düsteren Stelle des Parks etwa fünf Meter vom Hintereingang entfernt, die vom Ufer her mit immergrünen Büschen überwachsen war. Dort lag rücklings eine von zahlreichen Wunden entstellte Leiche, um die sich ein surreales Netz aus blutigen Rinnsalen spannte. Eine rote Spur zog sich vom Ufer zu dem Platz, an dem die Leiche lag.
Nie hätte Oberinspektor Chen sich träumen lassen, daß er im Bund-Park ein Mordopfer würde untersuchen müssen.
»Ich habe gerade meine Morgenrunde gemacht, und da habe ich ihn entdeckt, Genosse Oberinspektor Chen. Wir alle wissen, daß sie morgens oft hierherkommen«, erklärte Zhang entschuldigend, »deshalb …«
»Wann haben Sie heute morgen Ihre Runde gemacht?«
»So etwa um sechs. Gleich nachdem der Park geöffnet wurde.«
»Und wann haben Sie gestern abend zum letzten Mal nachgesehen?«
»Das war um halb zwölf. Wir kontrollieren dann immer besonders genau. Niemand ist hier zurückgeblieben.«
»Sie sind also sicher …«
Ihr Gespräch wurde von Gelächter unterbrochen, das vom Ufer nahe des Ausgangs herüberschallte. Dort posierte eine junge Frau mit japanischem Schirm für die Kamera eines jungen Mannes. Sie saß auf der Ufermauer und lehnte den Oberkörper auf den Fluß hinaus. Eine gefährliche Pose. Ihre Wangen glühten, die Kamera blitzte. Vermutlich Neuvermählte auf Hochzeitsreise. Ein romantischer Tag, der mit einem Fototermin im Bund-Park begann.
»Lassen Sie den Park räumen, und halten Sie ihn den Vormittag über geschlossen«, befahl Chen stirnrunzelnd. Dann schrieb er eine Nummer auf den Rand seines Lesezeichens. »Und rufen Sie von Ihrem Büro aus diese Nummer an. Da meldet sich Hauptwachtmeister Yu Guangming. Sagen Sie ihm, er möchte bitte sofort herkommen.«
Nachdem Zhang davongeeilt war, begann Chen, die Leiche zu untersuchen: ein Mann Anfang Vierzig, mittelgroß und von normaler Statur. Er trug einen teuer wirkenden weißen Seidenpyjama. Sein Gesicht war blutverschmiert und wies tiefe Schnittwunden auf, die linke Seite des Schädels war mit einem kraftvollen Schlag eingedrückt worden. Man konnte sich nur schwer vorstellen, wie er zu Lebzeiten ausgesehen hatte, doch es bedurfte keines medizinischen Fachwissens, um zu sehen, daß er mehr als ein Dutzend Mal mit einer spitzen Waffe, mit Sicherheit schwerer als ein Messer, traktiert worden war. Die Schnittwunden an der Schulter gingen bis auf den Knochen durch. Angesichts der vielen Verwundungen war erstaunlich wenig Blut auf den Boden geflossen.
Das Pyjamaoberteil hatte nur eine Tasche. Chen griff hinein. Er fand nichts und konnte auch kein Etikett mit einem Markennamen entdecken. Behutsam betastete er Unterkiefer und Hals der Leiche, die nicht mit Blut verschmiert waren. Hier hatte die Starre bereits eingesetzt, aber der übrige Körper war noch relativ weich. Die Beine zeigten eine bläulich-blasse Färbung. Unter dem Druck seines Fingers wurden die violetten Flecken weiß. Der Tod war vermutlich vor vier bis fünf Stunden eingetreten.
Er zog das Augenlid des Mannes hoch – ein blutunterlaufenes Auge starrte in einen Himmel, der mit Wolken gesprenkelt war. Die Hornhaut war noch nicht opak, was ebenfalls dafür sprach, daß der Mann noch nicht lange tot war.
Wie kam eine solche Leiche in den Bund-Park?
Was den Sicherheitsdienst im Park betraf, so war Oberinspektor Chen überzeugt, daß die Beamten und freiwilligen Rentner ihre Abendrunden immer besonders gründlich durchführten. Sie schreckten mit ihren Taschenlampen die Liebespaare in den entlegensten Ecken auf und riefen in ihre Megaphone: »Beeilen Sie sich! Der Park wird gleich geschlossen!« Einmal hatten sie einen Sonderbericht eingereicht, um bessere Bezahlung für die Abendschicht zu fordern. Angesichts der dramatischen Wohnungsnot in Shanghai zog der Park viele Liebespaare an, die zu Hause keinerlei Privatsphäre hatten und leicht einmal die Zeit oder den öffentlichen Charakter des Ortes vergaßen. Aber der Sicherheitsdienst tat zuverlässig seine Arbeit. Zhang hatte darauf beharrt, daß nach der Schließung niemand sich im Park versteckt haben konnte, und Chen glaubte ihm.
Allerdings konnte jemand sich nach der Schließung eingeschlichen haben; über die Mauer zu klettern war nicht weiter schwierig. Jemand konnte einen anderen getötet und dann die Flucht ergriffen haben. Aber in dieser Gegend waren zu allen Nachtzeiten Autos und Fußgänger unterwegs. Ein solcher Vorfall wäre sicher bemerkt und gemeldet worden. Auch der Fundort in den Büschen sprach nicht für diese Vermutung; die Stelle wies keinerlei Kampfspuren auf. Zwei oder drei abgebrochene Äste waren alles, was Oberinspektor Chen entdecken konnte. Auch wies die Tatsache, daß die Leiche einen Pyjama trug, auf eine nächtliche, wohl in einem Zimmer verübte Tat hin, von wo aus man die Leiche in den Park geschafft hatte. Vielleicht war sie vom Fluß aus an Land geworfen worden. Die Ufermauer war an dieser Stelle nicht hoch. Bei hohem Flutpegel nachts konnte ein aus einem Boot geworfener Leichnam durchaus hier gelandet und in die Büsche gerollt sein. Das würde auch die Reihe dunkler Flecken erklären, die am Ufer zurückgeblieben waren.
Doch etwas irritierte Chen. Wer hier eine Leiche zurückließ, mußte mit ihrer unmittelbaren Entdeckung rechnen. Der Park lag im Herzen Shanghais und wurde täglich von Tausenden Menschen besucht. Warum legte man einen Toten ausgerechnet hier ab?
Da sah er die vertraute Gestalt von Hauptwachtmeister Yu, der mit einer Kamera über der Schulter durch den morgendlichen Dunst auf ihn zumarschiert kam. Ein großer, kräftiger Mann mit markanten Gesichtszügen und tiefliegenden Augen. Er war Chens bewährter Assistent, obwohl er einige Jahre älter war als sein Vorgesetzter. Außerdem war er der einzige unter den Kollegen, der nicht hinter Chens Rücken über dessen Karrieresprung lästerte. Dieser war auf Deng Xiaopings neue Kaderpolitik zurückzuführen, die Beamte mit Universitätsausbildung bevorzugte. Seitdem sie gemeinsam den Fall der nationalen Modellarbeiterin gelöst hatten, betrachtete Chen ihn als Freund.
»Hier?« fragte Yu ohne förmliche Begrüßung.
»Ja, hier.«
Yu begann aus verschiedenen Winkeln Fotos zu machen. Er kniete neben der Leiche, machte Nahaufnahmen und betrachtete die Wunden genau. Mit einem Maßband aus seiner Hosentasche maß er die Schnitte auf der Vorderseite der Leiche, bevor er sie umdrehte und die Wunden am Rücken untersuchte. Dann blickte er über die Schulter zu Chen hinauf.
»Irgendein Hinweis auf die Identität?«
»Nein.«
»Ich fürchte, wir haben es mit einem Triaden-Mord zu tun«, sagte Yu.
»Wie kommen Sie darauf?«
»Schauen Sie sich die Verletzungen an. Das sind Axtwunden. Siebzehn oder achtzehn Stück. So viele wären nicht nötig gewesen. Die Zahl könnte etwas bedeuten. Das ist bei diesen Gangstern nicht unüblich. Der Schlag auf den Kopf war schon mehr als genug.« Yu stand auf und ließ das Maßband zurück in seine Tasche gleiten. »Schnittlänge zwischen sechzig und fünfundsiebzig Millimeter. Das spricht für eine ruhige Hand mit enormer Kraft. Keine Amateurarbeit.«
»Gut beobachtet.« Chen nickte. »Wo glauben Sie, hat der Mord stattgefunden?«
»Überall, bloß nicht hier. Der Typ hat ja noch seinen Schlafanzug an. Der Mörder muß die Leiche hierhergebracht haben. Als besondere Warnung. Auch das ist typisch für die Triaden. Sie hinterlassen eine Botschaft.«
»An wen?«
»Vielleicht an jemanden hier im Park«, sagte Yu. »Oder an einen, der rasch davon erfahren wird. Wenn sich das schnell herumsprechen soll, dann gibt es keinen besseren Ort als diesen Park.«
»Sie meinen also, die Leiche wurde hier abgelegt, damit sie gefunden wird?«
»Genau das.«
»Und womit sollen wir Ihrer Meinung nach anfangen?«
Yu antwortete mit einer Gegenfrage: »Ist das überhaupt unser Fall, Chef? Ich sage nicht, daß wir ihn nicht übernehmen sollten, aber eigentlich ist unsere Abteilung nur für politische Fälle zuständig.«
Chen konnte die Reserviertheit seines Assistenten durchaus verstehen. Normalerweise mußte seine Abteilung einen Fall nur dann übernehmen, wenn er vom Präsidium als »speziell« klassifiziert war, und zwar aus offenkundigen oder verdeckt politischen Gründen. Dieses Etikett wurde einem Fall also immer dann angehängt, wenn sich das Präsidium gezwungen sah, auf politische Notwendigkeiten zu reagieren.
»Na ja, es ist die Rede davon, daß ein Sonderdezernat für Triaden-Morde eingerichtet werden soll. Es kann durchaus sein, daß dieser Fall klassifiziert wird. Schließlich wissen wir noch nicht, ob es sich tatsächlich um einen Triaden-Mord handelt.«
»Wenn es einer ist, dann ist das eine ganz schön heiße Kartoffel. Eine, an der man sich die Finger verbrennt.«
»Da mögen Sie recht haben«, erwiderte Chen und merkte sehr wohl, worauf Yu hinauswollte. Kaum ein Polizist wollte mit einem Fall zu tun haben, in den die Geheimgesellschaften verstrickt waren.
»Mein linkes Augenlid zuckt schon den ganzen Morgen. Das ist kein gutes Zeichen, Chef.«
»Also wirklich, Hauptwachtmeister.« Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen, die jedesmal das I Ging befragten, bevor sie einen Fall übernahmen, war Oberinspektor Chen nicht abergläubisch. Und falls er Aberglauben in seine Erwägungen mit einbeziehen würde, dann spräche vieles für diesen Mordfall, denn in diesem Park hatte sein Schicksal einst eine positive Wendung genommen.
»In der Schule habe ich gelernt, daß Chiang Kai-shek mit Hilfe der Shanghaier Gangster an die Macht gekommen ist. Einige seiner Minister waren Mitglieder der Blauen Triade.« Yu machte eine kurze Pause, bevor er fortfuhr: »Nach 1949 wurden die Gangster verfolgt, aber in den achtziger Jahren hatten sie, wie Sie wissen, ihr Comeback.«
»Das ist mir klar.« Die ungewöhnliche Beredsamkeit seines Assistenten überraschte Chen. Normalerweise berief Yu sich nicht auf Bücherwissen oder historische Fakten.
»Diese Gangster sind inzwischen vielleicht sehr viel mächtiger, als wir ahnen. Sie haben ihre Organisationen in Hongkong, Taiwan, Kanada, den Vereinigten Staaten und sonstwo in der Welt. Ganz zu schweigen von den guten Verbindungen, die sie zu den führenden politischen Kreisen hier haben.«
»Ich habe Berichte darüber gelesen«, sagte Chen. »Aber wozu gibt es schließlich die Polizei?«
»Ein Freund von mir hat einen Job als Schuldeneintreiber für einen Staatsbetrieb in der Provinz Anhui bekommen. Er sagt, auf legalem Weg geht da gar nichts mehr; er ist völlig auf die Triaden angewiesen. Heutzutage scheint kaum noch jemand Vertrauen in die Gesetzeshüter zu haben.«
»Aber jetzt, wo mitten im Herzen von Shanghai, im Bund-Park, ein Verbrechen geschehen ist, können wir doch nicht tatenlos zusehen«, sagte Chen. »Ich war zufällig heute morgen hier im Park. Mein Pech. Lassen Sie mich mit Parteisekretär Li darüber reden. Zumindest werden wir einen Bericht machen und eine Meldung mit dem Foto des Toten rausschicken. Er muß identifiziert werden.«
Als die Leiche endlich abtransportiert worden war, gingen Oberinspektor Chen und sein Assistent zum Ufer und lehnten sich an die Mauer. Der entvölkerte Park wirkte befremdlich. Chen holte eine Schachtel Zigaretten heraus, es waren »Kent«. Er steckte eine für Yu an, dann eine für sich selbst.
»›Man weiß, daß es nicht machbar ist, aber man muß es trotzdem tun.‹ Das ist eine der konfuzianischen Maximen meines verstorbenen Vaters.«
Yu erwiderte in verbindlichem Ton: »Was immer Sie entscheiden, ich bin dabei.«
Chen konnte Yus Erwägungen nachvollziehen, wollte seine eigenen jedoch nicht diskutieren. Die emotionale Bedeutung, die der Bund-Park für ihn hatte, war Privatsache. Es gab gewisse politische Gründe, diesen Fall zu übernehmen. Wenn das organisierte Verbrechen an diesem Mord beteiligt war, wie er vermutete, so würde dies das Image der Stadt schädigen. Auf Postkarten, in Filmen, sogar in seinen eigenen Gedichten symbolisierte der Bund-Park das Herz Shanghais, und als Polizei-Oberinspektor hatte er den Ruf seiner Stadt zu schützen. Es lief schlicht und einfach darauf hinaus, daß im Park ein Mord geschehen und er als erster vor Ort gewesen war.
»Danke, Hauptwachtmeister Yu«, antwortete er dem Kollegen. »Ich weiß, was ich an Ihnen habe.«
Als sie den Park verließen, sahen sie, daß sich am Vordereingang eine Menschentraube gebildet hatte. Ein Aushang informierte die Besucher, daß der Park wegen Verschönerungsarbeiten für den Rest des Tages geschlossen bliebe.
Wenn die Wahrheit verschwiegen werden mußte, war jede Entschuldigung recht.
In der Ferne glitt eine weiße Möwe über das gelbliche Wasser. Ihre Silhouette schien die aufgehende Sonne auf den Schwingen zu tragen.
2
»Sie haben es weit gebracht, Genosse Oberinspektor Chen.« Parteisekretär Li Guohua vom Shanghaier Polizeipräsidium begrüßte ihn lächelnd und ließ sich dann in seinen dunkelbraunen Lederdrehstuhl zurücksinken, der am Fenster stand. Von seinem geräumigen Büro aus überblickte man die ganze Shanghaier Innenstadt.
Oberinspektor Chen saß auf der anderen Seite des Mahagonischreibtischs und blies in eine Schale grünen Drachenbrunnentees, ein Genuß, wie er im Büro des einflußreichen Parteisekretärs nur wenigen zuteil wurde.
Als aufstrebender Kader mit Aussicht auf weitere Beförderungen war Chen seinem Mentor in vielfacher Weise verbunden. Li hatte bei Chens Parteieintritt als Bürge fungiert, hatte ihm die internen Machtverhältnisse entschlüsselt und ihn auf seinen derzeitigen Posten gehievt. Als ein mittlerweile fünfzigjähriger Polizist, der seine Arbeit von der Pieke auf gelernt hat, hatte Li im Präsidium alle Ebenen durchlaufen, bevor er seine jetzige leitende Position übernahm. Dabei hatte er viele politische Bewegungen und Parteikämpfe hinter sich gebracht und offenbar immer auf die Sieger gesetzt. Daß er Chen nun als seinen Nachfolger aufbaute, werteten die Kollegen als weiteren klugen Schachzug, zumal nachdem einige Eingeweihte von dessen Beziehung zu Ling, der Tochter eines Pekinger Politbüromitglieds, erfahren hatten. Doch fairerweise mußte man Li zugestehen, daß er selbst erst nach Chens Beförderung davon gehört hatte.
»Vielen Dank, Parteisekretär Li. Wie der Weise sagt: ›Ein Mann ist bereit, sein Leben zu opfern für jemanden, der ihn schätzt; eine Frau dagegen macht sich schön für denjenigen, der sie schätzt.‹«
Nach wie vor galten Konfuzius-Zitate nicht gerade als politisch korrekt, doch Chen vermutete, daß Li durchaus Gefallen daran fand.
»Die Partei hatte immer eine hohe Meinung von Ihnen«, sagte Li in bestem Kaderton. Seine Mao-Jacke war trotz des warmen Wetters bis zum Kinn geknöpft. »Das ist eine Aufgabe für Sie, Oberinspektor Chen, und für keinen anderen.«
»Sie haben also schon davon gehört?« Es überraschte Chen nicht, daß jemand seinem Vorgesetzten den Mordfall des heutigen Morgens bereits gemeldet hatte.
»Sehen Sie sich dieses Foto an.« Li zog einen Abzug aus einem braunen Umschlag auf dem Schreibtisch. »Das ist Inspektor Catherine Rohn, eine Mitarbeiterin des U.S. Marshals Service.«
Das Bild zeigte eine hübsche junge Frau Ende Zwanzig, deren intelligente blaue Augen in die Sonne blitzten.
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