Die Gabe - Thomas Meßenzehl - E-Book

Die Gabe E-Book

Thomas Meßenzehl

5,0

Beschreibung

Lavaudieu – ein kleines Dorf im Süden Frankreichs. Während einer stürmischen Herbstnacht gebärt eine junge Nonne ein Kind. Als „Teufelsbalg“ und „Frucht der Sünde“ verschrien, befiehlt die Äbtissin die Verstoßung des neugeborenen Lebens. Die barmherzige Krankenmeisterin des Konvents bringt das Mädchen heimlich zu Bäckersleuten. Das Ehepaar nimmt das Findelkind bei sich auf. Die Frau des Bäckers empfindet den unerwarteten Familienzuwachs gar als ein „Gottesgeschenk“. Bei der Taufe gibt sie dem Mädchen den Namen Madeleine. Diese wächst an der Seite ihres Stiefbruders Jaques auf. Mit der Zeit empfindet sie ihm gegenüber eine innige Zuneigung. Da sich um das Geheimnis ihrer wahren Herkunft alles in Schweigen hüllt, sieht sich ihre Liebe unter keinem guten Stern. Während einer Wallfahrt nach Le Puy en Valey erfährt Madeleine plötzlich eine ganz besondere Gabe. Als „Werkzeug Gottes“ vollbringt sie an einem kranken Mädchen ein Wunder. Die Heilung bleibt den Augen eines Gesetzlosen nicht verborgen. Da er durch den wundersamen Engel ein gutes Geschäft wittert, bringt er sie heimlich in seine Gewalt. Als sich ein weiteres Wunder ereignet, dringt die Kunde bis in den Vatikan. Madeleine wird nun erneut das Opfer einer Entführung. Nun soll sie den Papst Pius V. von seiner schlimmen Krankheit heilen…

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Gerlf

Man kann sich nicht von der Lektüre losreißen

Sehr gut geschrieben, ich habe es sehr schnell durchgelesen.
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Dieses Buch ist meiner lieben Frau Iris gewidmet, ohne ihre tatkräftige Unterstützung wäre mein hiermit letztes Werk nie zustande gekommen.

Auch meiner lieben Mutter Maria möchte ich danke sagen, für alles was sie für mich getan hat.

Meine liebe Oma Franziska darf ich an dieser Stelle auch nicht vergessen. Sie war es schließlich, die den Keim des Schreibens in mich pflanzte, als sie mir auf unserer alten Gartenbank schöne Geschichten erzählte und aus tollen und spannenden Büchern vorgelesen hat.

Dieses Buch möchte ich auch meinem allergrößten Fan widmen.

Marliese Voith aus Elsenfeld.

Sie hat alle meine Bücher gerne mit Freude und Spaß gelesen. Oft begleitete sie mich auch bei vielen meiner Stadtführungen in Aschaffenburg und in Hörstein oder sie besuchte mich bei meinen Lesungen. Ebenfalls half Marliese mir, gemeinsam mit ihrem Ehemann Siegfried, bei den Auslieferungen der Bücher in die Buchhandlungen.

Leider war es ihr vom Schicksal nicht vergönnt, mein letztes Buch lesen zu dürfen. Sie verstarb leider allzu früh und völlig unerwartet im Alter von nur 69 Jahren im Mai 2018.

Erwähnen möchte ich auch meinen Firmpaten Alfons Sauer aus Johannesberg, dessen Seele sich im furchtbar heißen Sommer 2018 ebenfalls in eine bessere und schönere Welt aufmachte.

Auch mein verstorbener Schulfreund und Fußballkamerad Matthias Patzelt aus Johannesberg soll nicht unerwähnt bleiben.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Prolog

Prolog

„…und die Gefährtin von Christus ist Maria Magdalena. Der Herr liebte sie mehr als alle anderen Jünger. Und er küsste sie oftmals auf den Mund. Die übrigen Jünger sagten zu ihm: Weshalb liebst du sie mehr als uns alle? Es antwortete der Erlöser: Weshalb liebe ich euch nicht so wie sie…?“

(Aus dem Phillipus Evangelium. Ein unbekannter Autor verfasste vermutlich im 2. oder auch 3. Jahrhundert in griechischer Sprache, eine Sammlung gnostischer Sprüche. So wie der obige Spruch „55“, sind einige weitere der insgesamt 127 Sprüche zum Teil unvollständig.)

Ein stürmischer Südwestwind des Jahres 40 n. Chr. peitschte den heißen Staub und Sand in Richtung des Meeres. Selbst die Wipfel der dunklen und mächtigen Zypressen bogen sich. In der Glut der gleißenden Sommersonne blitzten auf dem blauen Wasser die weißen Segel der Schiffe. Das Ziel zahlloser Segelfrachter war Askalon 1, eine große Hafenstadt an den Gestaden des östlichen Mittelmeeres. Zahllose Segelfrachter, Galeeren, große und kleinere Boote, lagen hier vor Anker und warteten darauf, dass man sie entlud. Um sie hinterher mit Waren, welche von den Karawanen aus Ägypten oder aus dem fernen Orient hierherkamen, wieder neu zu beladen. Ehe man sie dann auf eine lange und oftmals auch gefährliche Seereise, abermals über das weite Meer hinausschickte.

Unweit der großen Hafenstadt stand auf einem hohen Hügel, die kleine Schar von acht Personen. Hinter ihren Rücken tat sich eine dichte Wand aus Sand und Staub auf, die als heiße Asche vermischt, aus Richtung Judäa, stur auf die Felder und Hügel in Richtung Askalon zuhielt.

Lazarus aus Bethanien und Maximinus der Jünger, waren die einzigen Männer unter den durstigen und völlig erschöpften, von Verzweiflung und Angst erfüllten Leuten. Sah man einmal von dem siebenjährigen David in ihrem Kreis ab. Ob der Junge mit seinen kurzen schweißverklebten Haaren, es jemals in ein stolzes Mannesalter bringen würde, stand sprichwörtlich auf des Messers Schneide. Mit seiner linken Hand versuchte sich der Junge gegen die Sandkörner zu schützen, die ihm die Windstöße in die Augen, Nasenlöcher und den Mund bliesen. Seinen Vater hatte David nie kennenlernen dürfen, dieser war kurz vor seiner Geburt gestorben.

Vertrauensvoll ruhte seine Rechte in der Hand einer Frau. Sie war seine Mutter. Maria aus Magdala 2 musste ihre langen rotblonden Haare festhalten, damit der Wind sie ihr nicht ständig ins Gesicht blies. Die Rinnsale des Schweißes zeichneten bizarre Linien in das Antlitz ihrer staubverschmutzten Haut. Ihre schönen und ebenmäßigen Gesichtszüge sahen sich von der Spur eines schweren Leids, welches sie einst hatte ertragen müssen, durchzogen. Dies ließ sie wesentlich älter erscheinen, als sie es in Wirklichkeit war.

Die Kreuzigung des jüdischen Wanderpredigers Jesus aus Nazareth war nicht spurlos an ihr vorrübergegangen. Jene schrecklichen Bilder, vom Hügel des Golgatha, bekam sie selbst nach all den Jahren nicht mehr aus ihrem Kopf. Sie, die erste Zeugin und Verkünderin der Auferstehung ihres geliebten „Rabbuni“, 3 vermisste ihn doch sehr. Schließlich hatte Maria Magdalena nicht nur zum engsten Kreis seiner Jünger gezählt.

An ihrer Seite standen die Geschwister Martha und Lazarus aus Bethanien, sowie die Maria des Kleophas, Maria Salome und deren Dienerin Sara. Außer ihren völlig durchgeschwitzten Gewändern, die der zusehends an Stärke zunehmende Wind um ihre ausgemergelten Leiber blies, führten sie nur wenig Gepäck wie einfache Umhängetaschen oder Bündel mit sich, das sie auf ihren Armen trugen. Eine völlig überstürzte Flucht, in buchstäblich letzter Sekunde, hatte die acht Leute auf einen äußerst beschwerlichen und mühsamen Weg, hinweg aus Jerusalem, schließlich hierher auf einen der südlichen Hügel von Askalon geführt.

Ihre unbarmherzigen Häscher waren ihnen, gleich einer Meute von Bluthunden, stets auf den Fersen geblieben. Sollten sie den Teufeln in Menschengestalt in die Hände fallen, dürfte es um sie geschehen sein.

Selbst vor dem kleinen David würden die Speere und Dolche nicht zurückschrecken. Bei ihren Verfolgern handelte es sich nicht etwa um römische Soldaten, sondern um den blindwütigen Mob und Pöbel ihres eigenen Volkes. Als Gotteslästerer verschrien, trachtete der Sanhedrin 4 aus Judäa den Urchristen, den Anhängern einer neuen Glaubenslehre, unbarmherzig nach dem Leben.

„Hoffentlich reichen die paar Schekel, damit wir alle gemeinsam einen Platz auf einem der Schiffe bekommen!“ In Lazarus Stimme wurde unverhohlene Besorgnis laut. Zwischen seinen Zähnen knirschte der Sand. An seinem Leibriemen hing ein kleiner Beutel, der mit einer Handvoll lausiger Münzen aus Kupfer und Bronze, von geringem Wert, gefüllt war. Lediglich ein paar wenige römische Denare aus Silber, 5 die das Abbild des Kaisers Tiberius trugen, zählten zum spärlichen Inhalt.

„Lieber Bruder, sieh doch nicht immer gleich so schwarz“, sprach Martha. „Der Mensch denkt und Gott lenkt.“

„Pah, erspare mir deine Sprüche“, gab er unwirsch zurück. „Unser ganzes Gottvertrauen, wohin hat es uns nur gebracht…“ Ein Hauch von Verzweiflung und Zynismus schwang in seinen Worten. „Stephanus hat es mit seinem Leben bezahlt, als ihn die Mitglieder des Synedriums steinigen ließen.“

„Ja, ich muss Lazarus Recht geben“, pflichtete Maximinus bei.

„Versündigt euch nicht“, erwiderte Martha. „Gerade du Lazarus, hast es nötig zu zweifeln. Du vergisst allzu schnell, dass Jesus dir ein zweites Leben schenkte. Und dir Maximinus gab der Messias das Augenlicht.“ Betroffen sahen die beiden Männer zu Boden.

„Schweigt“, warf Maria Magdalena dazwischen, „zum Streiten ist jetzt keine Zeit. Lasst uns viel lieber auf dem schnellsten Wege zum Hafen runtergehen. Seht nur die vielen Schiffe. Eines davon bringt uns die Rettung. Dessen bin ich mir sicher.“ Zielstrebig wandte sie sich zum Gehen.

Die acht aus Judäa machten sich gemeinsam auf den Weg zum Hafen. Lazarus warf noch einen flüchtigen Blick in Richtung des Sandsturmes, der Askalon bald erreichen würde und mit ihm die Häscher, die ihnen nach dem Leben trachteten. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. Gleich einem Blitz aus heiterem Himmel durchfuhr es ihn siedend heiß. Mitten im nahenden Sandsturm erkannte er ihre Verfolger.

„Lauft, sie kommen!“ Mehr als dieser schreckerfüllte Ruf aus Lazarus Munde brauchte es nicht. Die Flüchtenden begannen loszurennen. Ihnen blieb keine Zeit den Weg über die Landstraße zu suchen. Von da aus, wo sie gerade standen, nahmen sie schnurstracks den nähesten Weg, über Fels, Geröll und durch dorniges Strauchwerk, runter zum Hafen. Je öfter Lazarus sich nach den Häschern umsah, umso mehr glaubte er, sie würden mit jedem Schritt rasch näherkommen. Der Mob musste sie zweifellos erkannt haben. Die jähe Erkenntnis, die Verfolger im Nacken zu haben, schien den Flüchtenden zusehends Kräfte zu verleihen. Mit dem Mute der Verzweiflung rannten sie um ihr Leben. Mit fliegendem Atem und heftig schlagenden Herzen stießen sie sich mit ihren Füßen an Steinen und Wurzelwerk. Fetzen von Haut und ihre Gewänder verfingen sich an dornigem Gestrüpp. Manche stürzten, standen aber wieder auf. Es blieb keine Zeit, sich um die Wunden zu kümmern. Ihre letzten Kräfte aus sich herausholend, stolperten sie weiter.

Heftig keuchend und erschöpft tauchten die acht aus Judäa bald in das bunte Treiben des Hafens ein. In einem dichten Gedränge feilschten Kaufleute, aus vielen Ländern des Orients, mit ihrer Kundschaft. Nicht nur um Weine, Gewürze, Fische, Getreide, Seide, Teppiche oder ganze Holzladungen.

Reisende suchten ihren Weg zu den Schiffen. Matrosen machten ihre Segler klar zum Auslaufen. Sklavenhändler trieben die Unglücklichsten unter der Sonne mit Peitschen zum nächsten Sklavenmarkt. Ochsengespanne, Packpferde und Kamele, hatten die schweren Lasten der Waren zu ziehen. Scharen von Bettlern flehten an allen Ecken um Almosen. In finsteren Winkeln verkauften Dirnen ihre Körper.

Zielstrebig bahnte sich Maria Magdalena den Weg, vorbei an den Basaren, zu den Schiffen hin zum Kai. Die anderen blieben ihr dicht auf den Fersen.

Einer der Segelfrachter stand bereits unter vollen Segeln. Gleich würde er vom gemauerten Ufer ablegen.

Zwei heftig schwitzende Matrosen waren damit beschäftigt, einen an einem festen Tau befestigten eisernen Anker aus dem Wasser an Bord zu ziehen.

„Poseidon schenke euch eine gute Überfahrt!“ Ein breitschultriger, in ein kostbares Gewand gekleideter langbärtiger Hüne stand bereit und wünschte dem Schiff, samt dessen Besatzung, eine gute Reise.

Mit einem Petatos 6 in der Rechten winkte er zum Abschied.

„Halt, wartet!“, schrie Maria Magdalena.

„Was wollt ihr?“ Der griechische Kaufmann wirbelte erschrocken herum. Erstaunt warf er seinen Blick in Richtung der herbeieilenden Flüchtlinge. „Warum soll mein Schiff nicht lossegeln?“, erboste er sich.

„Weil wir mit ihm fahren wollen“, entgegnete ihm Maria Magdalena wild keuchend. „Ihr habt doch sicher noch einige Plätze frei.“

„Nichts da, es gibt keine Zeit zu verlieren, ein Sturm kommt genau auf uns zu. Da zählt jeder Moment.“ Der Kaufmann machte mit seiner Rechten eine abschätzige Geste, so als wollte er einen Schwarm lästiger Fliegen verscheuchen. Plötzlich, hinterher wusste er selbst nicht warum, lenkte er seinen Blick mitten in Maria Magdalenas leuchtend blaue Augen. Der Grieche fühlte sich in sonderbarer Weise davon angezogen. Ihm erschien es als bohrte sich ihr stechender Blick bis auf den Grund seiner Seele. Er glaubte, er stünde auf einmal unter einem merkwürdigen Bann. Von einer tiefen, unverhofften Gemütsregung ergriffen, brachte er kein weiteres „Nein“ mehr über die Lippen. Der Grieche musste sich förmlich davon losreißen. „Matrosen, wartet mit dem Ablegen!“ Danach wandte er sich wieder den Flüchtlingen zu. „Wohin wollt ihr denn eigentlich? Ihr müsst wissen, mein Schiff segelt in Richtung Griechenland. Es hat viele Amphoren, gefüllt mit kostbarem Wein geladen.

„Uns ist es völlig gleichgültig, wohin die Reise geht.

Hauptsache es führt uns weit von hier fort“, erwiderte Maria Magdalena.

„Habt ihr denn auch genug Geld bei euch?“ Ihn beseelte unversehens ein gieriges Verlangen, um nebenbei ein weiteres gutes Geschäft abzuschließen.

Im Bereich des Hafens wurde es urplötzlich laut. Wildes Geschrei ertönte. „Haltet uns nicht auf, macht Platz!“, schrie eine schrille Männerstimme voller Ungeduld.

„Lasst die Gotteslästerer nicht entkommen. Wir wollen sie ihrer gerechten Strafe zuführen!“

„Los, mach schon, gib ihm das Geld“, sprach Maria Magdalena mit gehetzter Stimme zu Lazarus. „Auf was wartest du denn noch?“

Mit fahrigen Fingern löste er den Beutel von seinem Leibriemen und warf ihn dem Griechen zu. Derweil nahm einer der Matrosen eine lange Holzplanke und schob sie, in aufreizend langsamen Bewegungen, von Bord des Segelfrachters in Richtung Kaimauer.

„Wartet, erst muss ich nachsehen, ob das Geld auch reicht…“ Die rechte Hand des Kaufmanns versperrte gebieterisch den nahen Weg zur Rettung. „Bedenkt, ich habe zuhause Frau und sieben Kinder zu ernähren.“ Einzig was zu seinem elendigen Gejammer noch fehlte, waren Tränen. Sollte es nötig sein, würde er auch die als Zugabe, mühelos vergießen.

Plötzlich spürte Maria Magdalena auf ihrer rechten Stirnseite ein leichtes Brennen. Es war jene Stelle, wo sie von Jesus zum letzten Mal berührt worden war. Seitdem trug sie genau dort einen winzig kleinen Fleck, der einem Muttermal ähnelte. „Ihr könnt euch das Nachzählen getrost sparen“, erwiderte Maria Magdalena entschieden, gleich einer unvermuteten Eingebung, ohne dass sie mit der Wimper zuckte.

Lazarus zeigte sich sichtlich erstaunt. Warum war sich die „reuige Sünderin“ ihrer Sache nur so verdammt sicher? Trotz der spärlichen Münzen, hütete er den Geldbeutel wie einen Schatz. Seit ihrer Flucht trug er ihn stets an seinem Leibriemen. Nie und nimmer vermochte Maria Magdalena vom tatsächlichen Inhalt etwas zu wissen, geschweige denn erahnen.

„Da vorne sind sie!“ Die Stimme des Anführers der Häscher glich dem eines wahren Triumphgeschreis. Die wilde Horde hatte die Glaubensabtrünnigen erkannt. Da zeigten sie sich auch schon. Mitten aus dem Volk der Handeltreibenden schälten sich die Verfolger, mit ihren wut- und hassverzerrten Fratzen. Wer von den Kaufleuten nicht schnell genug Platz machte, der wurde von den Rohlingen kurzerhand recht rüde beiseitegestoßen. In ihren Händen hielten sie Speere, Schwerter und dicke Knüppel bereit, um damit auf die acht aus Judäa loszugehen. Es war zum nervenzerreißen. Der Grieche begann den Inhalt des Beutels in seine rechte Hand auszuschütten. Es schien, als hätte er alle Zeit der Welt. Unheimlich langsam, mit der Schnelligkeit einer Schnecke, zählte er das Geld nach. Lazarus sah sich schon in seinem eigenen Blute liegen, durchbohrt von einem Spieß.

Alle Mühen und Entbehrungen waren umsonst gewesen.

Er glaubte sich bereits verloren. Zu Tode betrübt schloss er die Augen.

„Reicht es euch denn nicht?“, fragte Maria Magdalena und verdrehte dabei verwundert ihre Augen.

„Bei Zeus, und ob das reicht!“ Mit fieberndem Glanz in den Augen als habe er soeben das beste Geschäft seines Lebens getätigt, starrte der Kaufmann gebannt auf die vielen Silberstücke, die in seiner Hand funkelten.

„Ich habe es euch doch gesagt, dass das Geld genug sein wird!“

„Aber soll das alles auch mir gehören?“ Ungläubig kratzte er sich an seinem schwarzen buschigen Backenbart.

„Ja, das soll es!“ Maria Magdalena schob sich an dem überraschten Kaufmann vorbei. Die anderen drängten ihr sofort nach. Lazarus staunte, er konnte sich nicht daran erinnern, dass er jemals so viel Geld in seinem Beutel gehabt hätte. Ihm blieb jedoch keine Zeit, sich länger über das wundersame Geschehen den Kopf zu zerbrechen.

„Aber dafür könntet ihr euch ja ein eigenes Schiff…“

Seine übrigen Worte gingen im tobenden Lärm der Häscher unter. Ungläubig und freudestrahlend bestaunte und wog der Grieche die vielen Silberstücke in seinen Händen. „Lasst die Leute an Bord!“, gebot er den Matrosen so als gelte es einem hohen Tribun Platz zu machen.

Er war so sehr mit seinem Geld beschäftigt, dass er überhaupt nicht bemerkte, dass sich die Flüchtenden längst an Bord des Schiffes befanden. Plötzliche heftige Windböen blähten die Segel, sie waren zum Zerreißen gespannt.

Keinen Augenblick zu früh, schaffte es der schlafmützige Matrose die Holzplanke an Bord zu ziehen.

Ein ganz ungestümer Häscher, mit der Fratze eines Dämons, war in seinem Sturmlauf nicht zu bändigen. Wie es aussah, würde er das ablegende Schiff noch erreichen.

Angst und Schrecken stand in den Gesichtern der Flüchtlinge geschrieben. Doch plötzlich, mitten im Sprung, brach der ungestüme Teufel jäh ab. Einen wild gellenden Aufschrei ausstoßend, riss er beide Hände schützend vor die Augen. Irgendetwas schien ihn zu blenden. Haltlos stürzte er ins Hafenbecken. Von wüstesten Beschimpfungen und Drohungen der übrigen Verfolger begleitet, legte der Segelfrachter schließlich ab. Vor der Besatzung und den Flüchtlingen lag eine lange, mit vielen Gefahren verbundene Reise ins Ungewisse…

1 Aschkelon; eine der ältesten Städte der Welt, auch als „Braut Syriens“ bezeichnet. Geburtsort von Herodes dem Großen.

2 Fischerdorf a. westl. Ufer des See Genezareth

3 „Mein Meister“

4 Hohe Rat

5 „Zinsgroschen“

6 flacher Filzhut mit einer runden flachen Krempe

„Der geringste Engel übertrifft alle menschliche Kraft ganz unvergleichlich. Die Gründe ergeben sich aus vielen Dingen. Erstens, weil die geistige Kraft stärker ist als die körperliche, so wie die Kraft eines Engels oder auch die Seele der körperlichen Kraft überlegen ist.“ „

(Malleus Maleficarum, „Hexenhammer“)

1.

Spätherbst 1558.

Es war merklich kälter geworden in der Auvergne-Rhone-des Alpes. Der Wind blies scharf in das „Tal Gottes“, wie man das Tal der Senouire 7, wegen des Klosters von Lavaudieu 8, liebevoll nannte. Bis dicht an die Kante eines steil abfallenden Talhanges, drängte sich der dichte Mauerring jener gleichnamigen kleinen Ortschaft.

Schützend legte sich die Wehrmauer mit den befestigen Toren um die hohen und schmalen, aus Bruchsteinen errichteten und teils dicht gedrängt stehenden Häuser, mit ihren flachen Dächern. Die verwinkelten, engen und krummen Ecken und Gässchen, boten allesamt eine verträumte malerische Kulisse.

Dabei eingebettet von den steilen Hügeln, Bergen und längst erloschenen Kratern eines einstigen Vulkangebietes. Im Mittelpunkt stand das Nonnenkloster Priorat Saint-Andre, mit seiner Kirche und den zum Konvent dazugehörigen Gebäuden und dem Kreuzgang. Schon aus der Ferne war der trutzige Wächter, der achteckige Vierglockenturm, mit seinem gotischen steil zugespitzten steinernen Turmhelm der Klosterkirche, im schwindenden Tageslicht zu erkennen. Mit dem Wind kamen schnell schwere nasse Wolken ins Tal.

Dicke Regentropfen trommelten gegen das farblose Fensterglas des Infirmariums.9 Das Kaminfeuer und ein brennender Kerzenleuchter warfen ein schummriges Dämmerlicht auf die Gesichter der „schwarzen Nonnen“. 10 Das schwarzgefärbte Habit ihrer schlichten enggeschnittenen Tracht, aus grober Schafswolle, zählte sie zu dem Orden der Benediktinerinnen. Ihre Haare hielten sie durch eine weiße Haube verhüllt und darüber trugen sie einen schwarzen, ebenfalls wollenen Schleier.

„Schwester Adrienne wird das Licht des nächsten Morgens wohl nicht mehr sehen.“ In der Stimme von Gabrielle, der Krankenmeisterin des Klosters, wurde tiefste Besorgnis laut. „Es käme schon einem Wunder gleich, sollte sie ihr Kind überhaupt lebend zur Welt bringen.“

Von ihren Mitschwestern umringt, keuchte Adrienne erschöpft und schweißüberströmt nach Luft. Sie war gerade dabei ein Kind zu gebären. Eine verschwitzte Haarsträhne hing über ihrem rechten Auge. Adrienne war der eigentliche Stolz ihres Konvents.

Keine andere verstand sich so gut wie sie, als „Herrin des Scriptoriums“11, in der Abschrift alter Handschriften, dem Schreiben von Urkunden und dem Verfassen von den Wundertaten und dem Leiden der Heiligen und Märtyrer.

Zudem vermochte sie, dank ihres Talents und ad maiorem Dei gloriam12, die Stundenbücher der Adligen herrlich zu illustrieren. Was dem Konvent ebenfalls einige Livres 13 einbrachte. Ferner unterrichtete sie ihre Mitschwestern im Schreiben und Lesen. Nebenbei betrieb sie zudem das Studium der „sieben freien Künste“. 14

Die Gebärende war nicht aus freien Stücken in die Abtei Saint-Andre gekommen. Einzig ihren „verehrten“ Brüdern, hatte es Adrienne zu verdanken, dass sie hinter dicken Klostermauern ein gottgefälliges Leben führen sollte. Es war der Streit ums Erbe, wegen des „lieben Geldes“ des verstorbenen Herrn Vaters - einem reichen Landgrafen, weshalb sie im zarten Alter von elf Jahren, aus der Geborgenheit ihrer Familie ausgestoßen wurde.

Adriennes „Eintritt“ ins Kloster, hatten ihre Brüder, mittels einer großzügigen Mitgift und eines wertvollen Hofguts, zusammen mit weiten Feldern erkauft. Dennoch war für die „Freunde des Mammons“ noch mehr als genügend Reichtum übriggeblieben. Dies lag allerdings schon über ein ganzes Jahrzehnt zurück. Obwohl sich Adrienne längst an die strenge Klausur des Klosteralltags gewöhnt hatte und Armut, Gehorsam und Keuschheit ihre ständigen Begleiter waren, hatte sie sich vor neun Monaten einen Fehltritt „fleischlicher Gelüste“ geleistet.

„Auf die Frucht der Schande kann die Menschheit getrost verzichten“, gab die Äbtissin bissig zurück. „Die Welt ist ohnehin schon schlecht genug. Da gäbe es wenigstens einen Taugenichts, Lüstling oder Halsabschneider weniger. Oder einen von den vielen Hungerleidern, denen wir tagtäglich an der Pforte ein Almosen schenken müssen.“

„Wollen wir nicht jemanden nach La Chaise - Dieu 15 schicken, damit einer der Mönche kommt, um Schwester Adrienne mit der letzten Ölung zu versehen?“, fragte Josephine, die Messnerin 16 des Klosters.

„Dafür ist es zu spät“, sprach die Äbtissin, „außerdem hat das schwarze Schaf unseres Konvents nicht die geringste Barmherzigkeit verdient. Sie hat den Einflüsterungen des Teufels gehorcht und somit ihr heiliges Gelübde gebrochen.“

Adrienne windete sich vor Schmerzen, die durch den gepeinigten Körper rasten. Der Druck in ihrem Unterbauch nahm zu.

„Du Ungehorsame vor dem Herrn, am liebsten würde ich dich unten im Kellergewölbe lebendig einmauern lassen. Gemeinsam mit deinem verdammten Balg. Ein räudiges Schaf soll nicht die ganze Herde anstecken. Ich hätte dich öfter zur Ader lassen sollen, dann hätte ich dir die fleischliche Begierde schon vertrieben.“ Die Äbtissin spürte vor lauter Rage nicht wie ihr das geschmolzene Kerzenwachs auf den Handrücken lief.

„Gleich hast du es geschafft!“ Die Krankenmeisterin sprach Adrienne Mut zu. „Du musst nur etwas mehr pressen…“

„Auuuh, ich zerreiße!“ Von unsäglichen Schmerzen erfüllt, krallte Adrienne ihre Finger ins strohgefüllte Laken ihrer Bettstatt.

„Das Köpfchen ist schon zu sehen!“, rief die Krankenmeisterin.

Plötzlich war es soweit. Der ohrenbetäubende Schrei der Gebärenden brach sich an den Wänden der Krankenstube. Von einem heftigen Wehschrei begleitet, kam das Neugeborene zum Vorschein. Auf seinem Kopf spross der erste zarte Flaum rotblonden Haares. Umgeben von Blut und Fruchtwasser, hob die Hand der Krankenmeisterin die neue Frucht des Lebens in das schummrige Licht.

„Der Himmel steh uns bei. Die Frucht deiner Schande ist über uns kommen.“ Entsetzt schlug sich die Äbtissin ihre Linke vor den Mund. Vergeblich hatte sie auf eine Totgeburt gehofft.

Adrienne schenkte der Schimpfenden keinerlei Gehör.

Die junge Mutter stand einzig unter ihrem ureigenen Bann. Für sie zählte allein ihr Kind. „Was ist es denn?“ hauchte sie schwach zur Krankenmeisterin.

„Ein Mädchen!“

Über Adriennes verquollenes und von Schmerzen gezeichnetes Gesicht huschte ein merkliches Lächeln.

„Gebt mir mein Kind“, hauchte sie schwach.

Nachdem die Krankenmeisterin die Nabelschnur abgetrennt hatte, hüllte sie das Neugeborene sorgsam in ein sauberes Tuch und gab es der Mutter.

Adrienne hatte ihre ganze Kraft verbraucht und viel Blut verloren. Mit schwachen und zitternden Armen hielt sie ihr Kind fest. Unendliche Freude durchströmte ihren erschöpften Leib.

„Wenn unser Bischof von deinem Fehltritt erfährt. Nicht auszudenken, was dann geschieht. Er wird unser Konvent schließen lassen und uns alle davonjagen wie eine Meute verlauster Hunde.“ Die Hasstiraden der Äbtissin wollten einfach kein Ende nehmen. Der Stachelgürtel, den sie auf der bloßen Haut um ihre Hüften trug, schien sie heute besonders arg zu peinigen.

Adriennes Gesicht sah sich plötzlich in wächserne Bleiche getaucht. Sie tat einen tiefen Seufzer. Nur mit Mühe vermochte sie ihre Augenlider offen zu halten.

„Du Unglückselige, nenne mir den Namen des Vaters?“

Adrienne bewegte ihre Lippen. Doch niemand konnte sie verstehen. Sie war einfach zu schwach, um ihre Stimme zu heben.

Von irgendwoher brachte ein heftiger Windzug die Flammen der Kerzen zum Flackern.

„Mutter, bedenkt doch unserer Caritas. 17 Selbst der größte Sünder vor dem Herrn, hat es verdient, dass wir ihm als Christen vergeben“, warf Josephine dazwischen.

„Schweig, dich hat niemand nach deiner Meinung gefragt“, gab die Äbtissin wutschnaubend zurück. „Und dir möchte ich am liebsten die Haare einzeln herausreißen.

Sag mir endlich den Namen des Vaters deines unheiligen Balgs!“ Die Äbtissin wandte sich wieder Adrienne zu.

Sie war so außer sich vor Zorn, dass sie selbst ihren Respekt vor der „Schatzmeisterin“ des Konvents verlor. Mit Augen, die vor Feuer loderten, starrte sie mit hasserfüllter Miene auf das Kind nieder. Ihre beiden Augenpaare begegneten sich.

Plötzlich löste sich von den Lippen des Neugeborenen ein lauter Schrei. Der dämonische Blick der Äbtissin schien das Mädchen erschreckt zu haben. Es begann aus vollen Kräften zu plärren. Adrienne war viel zu schwach, um ihr Kind zu beruhigen. Mit glasigen Augen sah sie es an. Sie spürte wie ihr zunehmend die Arme schwerer wurden. Auf ihrer Stirn perlte kalter Schweiß.

„Nach der „Regula Sancti Benedicti“ heißt es: was du nicht erleiden willst, das tue auch keinem anderen an.“ Josephine versuchtes alles, um den Zorn der Äbtissin zu besänftigen.

„Hast du denn nichts anderes zu tun als ständig Weisheiten von dir zu geben, die jetzt niemand hören will“. Die Äbtissin rollte gefährlich ihre Augen. „Kümmere dich gefälligst nachher um das Komplet!“ Die Gescholtene senkte demütig ihr Haupt und ging ein paar Schritte zurück.

„Ich habe einen schweren Fehler gemacht“, seufzte die Äbtissin, „ich hätte Adrienne mehr arbeiten lassen sollen, dann hätte sie auch weniger Zeit für Sünden gehabt. Ihr wäre die Lüsternheit schon noch vergangen.

Zum letzten Mal, sag mir den Namen des Vaters?“

Adriennes Seele stand bereits an der Schwelle zu einer anderen Welt, aus der es für niemanden ein Zurück gibt.

Ein letzter Lebensfunke brachte ihr der Gedanke ans Kind. Es schmerzte sie tief in der Seele, weil sie es mutterseelenallein zurücklassen musste. Hatte das Neugeborene in der Welt, wo so viel Böses und Schlimmes geschah, überhaupt eine Zukunft? Was geschah nur mit dem kleinen Wurm? Sie selbst hatte in ihrem Leben nur wenig Freude erfahren dürfen. Lediglich die wenigen Stunden mit ihrem Liebsten und der kurze Augenblick der Geburt, wo sie glücklich die Frucht ihrer gemeinsamen Liebe in den Armen halten durfte, hatte ihr das Schicksal im irdischen Jammertal geschenkt. Nein, sie hatte wirklich nichts zu bereuen.

„Herr, unser Gott, sei unserer lieben Schwester gnädig.

Nimm sie auf in dein Reich, lege deine Hände auf ihr Haupt…“ Die Stimme der Krankenmeisterin versagte, ihr erschien es als habe sie plötzlich einen dicken Kloss im Hals. Gabrielle wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln.

„Die starrsinnige Sünderin wird nie die Herrlichkeit des himmlischen Paradieses erblicken.“ Die von Hass und Häme erfüllten Worte der Äbtissin hörte die Sterbende nicht mehr. Über ihr wachsbleiches Gesicht geisterte ein sanftes Lächeln. Vielleicht schaute ihre Seele in eine bessere und schönere Welt… Einen letzten Atemhauch ausstoßend, fiel ihr Kopf zur Seite. Adriennes Bewusstsein tauchte in eine tiefe Schwärze.

„Am Ende ist dein verfluchter Balg wohl gar vom Teufel…“ Die Gehässigkeit der Äbtissin kannte einfach keine Grenzen.

*

Der Herbststurm blies das abgefallene Laub durch die engen Gassen und Winkel des kleinen Dorfes. Gleich einem riesigen schwarzen Leinentuch hatte sich die Dunkelheit über Lavaudieu gelegt. Mittlerweile war es stockfinster.

Die Ortschaft schien wie ausgestorben zu sein. Hinter den Fenstern der Häuser erstrahlte kaum ein Licht. Auch in der Auberge 18 des einäugigen Wirtes Michel, hatte längst die Weinglocke geläutet und die Zecher und „Teufelskinder“ 19 nach Hause geschickt. Eine einsame Gestalt hielt zielstrebig auf den großen Dorfplatz zu, der genau in der Mitte von Lavaudieu lag.

Von dort aus führten die Gassen bis in die entlegensten Winkel. Aber der Weg, den Gabrielle, die Krankenmeisterin der Abtei, zu nachtschlafender Zeit zu gehen hatte, war nicht allzu weit. Vergebens hatte die erboste Äbtissin auf das Ableben des „Teufelsbalgs“ gehofft. Mit einem herrischen „schafft mir die Frucht der Sünde aus den Augen“ und einem unmissverständlichen Fingerzeig, hatte die Despotin die Verstoßung des Neugeborenen aus dem Konvent befohlen.

Die „schwarze Nonne“ lief in gebückter Haltung. Ihre Sandalen tauchten tief in das regendurchweichte Erdreich. Die Schlammspritzer reichten fast bis zu den Knien ihrer Tunika. Schützend schlug sie ihre Arme um den Weidenkorb, den sie bei sich trug. Das Waisenkind verhielt sich vollkommen ruhig. Seitdem sie die Abtei verließen, hatte es nicht ein einziges Mal geweint oder geschrien. Anscheinend spürte Adriennes Tochter, dass ihr jetzt keine Gefahr mehr drohte. Eigentlich gab es keinen besseren Schutz als die Geborgenheit eines Konvents. Aber was nutzte es, wenn die “Frucht der Sünde“, dort nun einmal nicht geduldet wurde. Doch auch außerhalb des Klosters, gab es rechtschaffene Leute, denen man durchaus ein Findelkind anvertrauen und in gute Obhut geben konnte.

Gleich hatte es Gabrielle geschafft, unweit des Dorfbrunnens wuchs das Haus von Maitre 20 Mathieu Aurand, dem Dorfbäcker, aus dem Boden. Spornstreichs hielt sie darauf zu. Nur noch einige Schritte und sie hatte ihr Ziel erreicht.

Vom Nachtwächter, dem alten Bernhard, hatte sie nichts zu befürchten. Irgendwo verlor sich am anderen Ende des Dorfes das Kläffen eines Hofhundes. Vielleicht drehte dort gerade Bernhard seine einsame Runde durch die Nacht. Einäugig und fußlahm wie er war, hatte er bislang noch keinen einzigen nächtlichen Ruhestörer auf frischer Tat ertappt.

Gabrielle verharrte reglos an der Pforte. Angestrengt horchte sie in die Nacht. Auf einmal war es mucksmäuschenstill. Auch im Haus war nichts zu hören. Wahrscheinlich nahm sich der Bäcker schon beizeiten eine Mütze voll Schlaf, bevor er am nächsten Morgen, schon vor dem ersten Hahnenkrähen, das erste frischgebackene Brot aus dem Backofen schob. Gabrielle legte den Weidenkorb mit dem Neugeborenen auf der obersten Stufe der Haustreppe ab. Ein kurzer Augenblick des Zögerns, ehe sie schließlich mit ihrer linken Hand am Seil der Glocke zog. Sie tat es gleich mehrmals, selbst auf die Gefahr hin, dass dabei der Bäcker vor Schreck aus dem Bett fiel.

So schnell wie Gabrielle auftauchte, ebenso schnell verschwand sie auch wieder in der Schwärze der Nacht.

Niemand sollte erfahren, wer das Kind auf diese keineswegs feine Art loswerden wollte. Im Hause des Bäckers tat sich nichts. Alles blieb dunkel. Nervös spielte Gabrielle mit dem Rosenkranz in ihrer Rechten. Als die Nonne beinahe vor Verzweiflung zerging, erstrahlte plötzlich hinter einem der Fenster ein schummriger Lichtschein. Gott sei Dank, der Bäcker war wach geworden. Über Gabrielles regennasses Gesicht huschte ein zufriedenes Lächeln. Hinter einer Hausecke versteckt, wartete sie, um das Haus zu beobachten.

Nur bei den Eheleuten Aurand war das Kind gut aufgehoben. Denn schließlich hatte Colette, die Frau des Bäckers, erst vor wenigen Tagen selbst einen Jungen geboren. Die Muttermilch würde da auch leicht für zwei hungrige Säuglingsmäuler reichen, dachte Gabrielle hoffnungsvoll. Wenn der Bäcker jetzt noch die Pforte öffnete, war ihr Plan gelungen…

Geduldig wartete Gabrielle ab. Und tatsächlich, da kam auch jemand. Gekleidet in Zipfelmütze und Schlafrock, gab sich Mathieu Aurand an der Pforte zu erkennen.

Wilde Beschimpfungen ausstoßend, suchten seine Augen nach dem nächtlichen Störenfried. „Merde, wenn ich euch erwische ihr verfluchten Hundsfotte, dann gerbe ich euer Fell, dass euch hören und sehen vergeht.“

Mathieu Aurand schrie seine Drohung in den nächtlichen Regen hinaus. Vergebens suchten seine Augen nach den Übeltätern, die ihn um seinen wohlverdienten Schlaf brachten.

Plötzlich weiteten sich Gabrielles Augen vor Entsetzen.

Der Bäcker hatte in seiner ganzen Aufregung, das abgelegte Bündel auf der Treppe gar nicht bemerkt. Er machte einen Schritt zurück ins Haus. Der Lichtschein der brennenden Kerze sah sich jeden Moment von der Dunkelheit verschluckt.

Die Haustüre stand vielleicht noch einen Spalt offen als plötzlich ein heftiges Plärren einsetzte. So als würde es seine letzte Chance spüren, machte das Findelkind instinktiv auf sich aufmerksam.

„Bei der Schwarzen Madonna von Le Puy 21, wo kommst du denn her?“ Der völlig erstaunte Bäcker bückte sich und leuchtete mit der Kerze über die Haustreppe.

„Mathieu was hast du?“, rief eine Frauenstimme tief aus dem Inneren des Hauses.

„Cherie, ich glaube, wir sind zum zweiten Mal Eltern geworden…“

*

Wenige Wochen später wurden die beiden Kinder der Bäckersleute in der Abteikirche Saint-Andre getauft.

Dass Colette plötzlich über Nacht zum zweiten Mal Mutter wurde, erklärte die Hebamme des Dorfes den neugierigen Dorfratschen und Lästermäulern mit einer unerwarteten „Nachgeburt“. Eine solche sei zwar sehr selten, aber der geheimnisvolle Körper einer Frau vermochte jederzeit eine zusätzlich verspätete Leibesfrucht zu gebären.

Die alte liebenswerte Madame Celes, die mithalf die halbe Bevölkerung von Lavaudieu auf die Welt zu bringen, verzichtete auf ein Schweigegeld.

Stattdessen ließ sie sich von der überglücklichen Bäckersfrau allwöchentlich für ein „vergelts Gott“ einen Laib Brot in den Korb legen. Da Madame Celes noch alle Zähne im Mund hatte und vor allem in ihrer Brust ein kräftiges Herz schlug, sollte sie sich noch über eine lange Zeit hinweg ihres Almosens erfreuen dürfen. Wegen ihrer Notlüge, dessen war sich diese brave Frau sicher, würde der liebe Herrgott gerne getrost lächelnd beide Augen zudrücken.

Die braven gottesfürchtigen Bäckersleute hatten sich seit etlichen Jahren sehnlichst ein Kind gewünscht.

Beide hatten eigentlich die Hoffnung daran schon aufgegeben. Dass ihre Wallfahrten zur Schwarzen Madonna und das Stiften zahlloser Kerzen, eines Tages bei einer höheren Macht Gehör finden sollte, war mehr als ein Wunder. Ohne zu zögern nahm Colette das zweite „Gottesgeschenk“ mit Freuden an und gab dem Neugeborenen schon in der ersten Nacht die Brust.

Im Überschwang ihres ganzen Glücksgefühls verschwendete sie keinen einzigen Gedanken daran, wer wohl das Neugeborene, inmitten nachtschlafender Zeit, bei ihnen auf der Haustreppe abgelegt haben mochte.

Auch was das Schicksal der Mutter betraf, so berührte dies ihr Herz keineswegs. Colette war jetzt die Mutter des kleinen Erdenwurms.

Gleich am nächsten Morgen war Mathieu Aurand zu Abbe´ Macon gegangen, damit jener das Findelkind ins Geburtsregister von Lavaudieu eintrug, aber als das seinige. Denn für gewöhnlich wurde ein jedes Findelkind mit dem Nachnamen: Trouve - für Findling bedacht.

Keinesfalls ein Name, auf den ein Mensch stolz sein konnte. An ihm haftete ein Leben lang ein gewisser Makel. Was den Rufnamen seiner Tochter betraf, so war er sich mit seiner Frau nicht so richtig einig, sagte der Bäcker zum Dorfpriester. Dies würde man spätestens bei der Taufe nachholen.

Als Einzige aus ihrem Konvent, wohnte die Krankenmeisterin Gabrielle den Kindstaufen bei. Sie empfand größte Genugtuung und Freude, dass der verstoßene „Teufelsbalg“ ein Heim von Geborgenheit und Liebe gefunden hatte. Auch sie, als Schlüsselfigur, nahm sich vor, bis zu ihrem Lebensende über jene dramatischen Stunden für immer schweigen zu wollen, die sich in jener stürmischen Herbstnacht zugetragen hatten. Und so blieb es eben bei einem „Geschenk Gottes“, das den Bäckersleuten widerfuhr.

Beide Täuflinge, die Monsieur Aurand stolz in seinen Armen hielt, trugen weiße Taufkleidchen.

Unweit der Vierung gesellten sich neben den Eltern ein paar wenige Verwandte. Nicht nur diese freuten sich bereits auf die anschließende Feier in der Auberge von Maitre Michel.

Auch der leicht ergraute Abbe´ Macon, war nur ein von allzu menschlicher Schwäche geplagtes Wesen. In seinen Augen lag ein Hauch zufriedener Gelassenheit.

Auch sein Gaumen lehnte weder eine leckere Saucisson Brioche noch die herrlich mundenden Hechtklößchen ab. Die Creme de Cerise 22 glich für Hochwürden einer einzig wahren himmlischen Ambrosia. Dass er jederzeit dem Schoppen eines Beaujolois zugetan war, verriet seine rote Nasenspitze. Die schwarze Soutane, die sich weit über seinen dicken Bauch spannte und sein Beffchen, 23 zeigte ihn als katholischen Priester. Seine Tonsur hielt er unter einem schwarzen, glatt anliegenden Scheitelkäppchen verborgen.

So reglos wie sie dastanden, glichen die Messdiener Leon und Nicolas, die Söhne des Kerzenziehers Bouzouc, eher den Figuren aus Stein, als einem lebendigen Zwillingspaar aus Fleisch und Blut. Keiner der Anwesenden nahm den beiden kleinen Jungen deren brave Unschuldsmienen ab. Die zwei scheinheiligen Patrone waren regelrechte Filous, die beinahe tagtäglich neue Streiche ausheckten, um ihre Mitmenschen zu ärgern.

Ihre Hände umklammerten jeweils eine Taufkerze, das Symbol des „Licht Gottes“, das einen Täufling ein Leben lang begleiten sollte.

Weder sie, noch die anderen Anwesenden, hatten einen Blick für die schmuckvollen Kapitelle der Pfeiler übrig oder für die prächtigen Fresken an der Wand, die über dem Triumphbogen der Vierung die Kreuzigung des Gottessohnes darstellten. Auch das aus Eschenholz geschnitzte Kruzifix, mit dem Leib des Gekreuzigten 24, verschmolz sanft mit dem Dämmerlicht.

„Auf welchen Namen soll euer Sohn denn getauft werden?“, fragte der Abbe am Taufbecken, mit sonor klingender Stimme. Seine rechte Hand tauchte ins Weihwasser.

Mathieu Aurand hielt zuerst seinen eigenen Stammhalter über das runde Taufbecken, welches auf einem hohen Steinsockel fußte.

„Jaques, ja er soll Jaques heißen“, antwortete er mit gebotenem hochheiligen Ernst. Gleich einem Honigkuchenpferd strahlte er stolz über beide Wangen. „So wie sein Großvater, der unsere schöne Bäckerei gegründet hat.“

„Ich taufe dich auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“, sprach der Abbe´. Sobald der Täufling die ersten Tropfen des Weihwassers auf seinem Kopf spürte, stieß er augenblicklich ein ohrenbetäubendes Gebrüll von sich.

Monsieur Aurand hatte seine Mühe und Not den strampelnden Täufling wieder zu beruhigen. Er gab seiner Gattin den plärrenden Jaques in die Arme. Schließlich war auch der zweite Täufling an der Reihe.

„Wie soll nun eure Tochter genannt werden?“ Auf diese Frage des Geistlichen hatte Colette bereits gewartet. Schon seit dem Moment, wo sie ihr „Gottesgeschenk“ glücklich in den Armen hielt, hatte sie sich darüber den Kopf zerbrochen wie das Neugeborene denn heißen sollte.

Selbst in diesem Augenblick wusste sie es nicht so recht, welchen Namen sie dem Mädchen eigentlich geben sollte. Vielleicht Janine, Isabelle oder doch Geneviere?

Sie war hin und hergerissen. Colette konnte es sich nicht erklären, warum sie auf eine plötzliche Eingebung hin, auf eine der zahlreichen Fresken sah. Die herrliche Wandmalerei zeigte die „Erhebung“ Maria Magdalenas durch zwei Engel.

„Madeleine“, schoss es ihr aus dem Mund, schneller als ein Bolzen überhaupt von der Armbrust fliegen konnte. Sobald das Weihwasser über den zarten Flaum ihres rotblonden Haares floss, stieß Madeleine ein vergnügtes Lachen aus. Freudig zappelte sie mit ihren kleinen Händchen. Ihre hellblauen Augen strahlten vor Glück. Im krassen Gegenteil zu ihrem „Bruder“, schien ihr das christliche Ritual mit dem Weihwasser, sichtlich Freude zu bereiten. Zum Schluss zeichnete der Abbe´ mit seinem rechten Daumen ein Kreuzzeichen über Madeleines Stirn.

„Madame Aurand, was hat eure Tochter so schöne Augen.“ Fasziniert betrachtete er Madeleines strahlendblauen Augen. Am liebsten wäre er in ihnen versunken.

Dabei überflog er das kleine unscheinbare Muttermal auf ihrer rechten Stirnseite.

*

7 Länge 63 km; fließt über die Allier und Loire i. d. Atlantik.

8 bis 1487 Comps gen.; erstmals erwähnt im Jahre 909. Wurde als eines der schönsten Dörfer Frankreichs ausgezeichnet. Heute leben dort 234 Menschen. Lavaudieu liegt i. d. Haute Loire; i. d. Mitte der Region Auvergne - Rhone - des Alpes.

9 Krankenstube

10 schwarz i. d. Farbe von Buße, Demut und Einfachheit.

11 Schreibstube

12 Zur höheren Ehre Gottes

13 Franz. Einheit der Silberwährung. 1 Livres entsprach dem Wert von 1 Pfund englischen Silbers. Im18. Jdt. d. Franc abgelöst.

14 Arithmetik, Astronomie, Dialektik, Geometrie, Grammatik, Musik und Rhetorik

15 benachbartes Benediktinerkloster, 23 km v. Lavaudieu entfernt.

16 ihr obliegt die Aufsicht über das Gotteshaus.

17 Nächstenliebe

18 Dorfgasthof

19 Im Mittelalter bezeichnete die Geistlichkeit die Würfel- und Kartenspieler abschätzig als „Teufelskinder“.

20 Meister

22 Kirschspeise

23 „Halsbinde“, ein weißes rechteckiges Leinenstück welches am Halsausschnitt getragen wurde.

24 aus dem 12. Jdt.

„Auch kennt der Mensch seine Zeit nicht, sondern wie die Fische gefangen werden mit dem verderblichen Netz und wie die Vögel mit dem Garn gefangen werden, so werden auch die Menschen verstrickt zur bösen Zeit, wenn sie plötzlich über sie fällt.“

(Salomo 9,12

2.

Kaum zwei Jahre später.

Das Feuer von brennenden Holzscheiten und Reisig sorgte in der Backstube für eine angenehme Wärme.

Draußen auf den Gassen ließ ein ungemütlicher Schneeregen die Leute mächtig frösteln. Der Geruch nach gesäuertem Teig und Gewürzen hielt sich in der Luft. Die Backstube von Mathieu Aurand schien völlig verwaist zu sein. Niemand war da, der mittels einer Feuerschippe die Glut in den gefräßigen Bauch des Ofens nachschob, geschweige denn, einen Teig rollte.

Von keinem Auge beachtet tapste ein kleines Mädchen, mit noch etwas unsicheren Schritten, in die Backstube.

Bis vor wenigen Wochen noch, war sie mit allen Vieren über den Boden gekrabbelt. Ihr rotblondes Haar fiel ihr in Locken bis auf die Schultern. Es war zum ersten Mal überhaupt, wo Madeleine die Stätte aufsuchte, in der ihr Ziehvater sein Brot verdiente. Neugierig und staunend zugleich schweifte ihr blaues Augenpaar über all die fremden Dinge, die sie bislang noch nie zuvor zu Gesicht bekam. Über dem Eingang der Backstube hing ein mit Perlen verzierter Holzrahmen. Das auf ein Tuch gestickte „Pater Noster“ kündete von der Frömmigkeit der Bäckersleute. Während gleich mehrere prall gefüllte Mehlsäcke sich in einer Ecke stapelten, lehnte in einer anderen ein großer Brotschieber, gleich daneben ein Schürhaken. Auf den Regalen, längs der Wände, stand ein wildes Sammelsurium. Eben alles unverzichtbare Sachen wie Brotkörbe, Gärkörbe, Pfannen, Töpfe, Rollhölzer, Mehlschaufeln, Teigrädchen, Rührlöffel, Spatel, Teig- und Brotmesser oder auch Waagen - auf die ein Bäcker nicht verzichten konnte. Madeleine stellte sich erst gar nicht die Frage, was der Sinn und Zweck des großen Mehlsiebs war, welches an einer der Wände hing. Es war auch gar nicht lange von Interesse für sie, da sie mit ihren Händen ohnehin nicht danach greifen konnte.

Sie hüstelte als sich der Mehlstaub auf ihre Lunge legte. Langsam aber zielstrebig näherte sie sich schließlich dem großen Backofen. Doch die Hitze trieb sie rasch wieder davon weg. Dafür hielt sie mit ihren kleinen Beinchen auf einen der Tische zu. Madeleine entdeckte einen Holzhocker. Trotz ihres zarten Alters war sie doch schon ein recht aufgewecktes Wesen. Sie schob den Hocker genau vor den Tisch. Trotz einiger Mühe und ungelenker Bewegungen, schaffte sie es, auf den Hocker zu kommen. Und schon konnte sie über die Tischplatte sehen. Schwupp, ihre kleinen Händchen begannen nach der großen Schüssel zu greifen. Schade, sie war zu weit weg. Madeleine stellte sich auf die Zehenspitzen und streckte ihre Arme ganz weit nach vorne. Endlich, sie bekam das Objekt ihrer Begierde mit den Fingerspitzen zu fassen, ohne zu ahnen, was sich eigentlich darin befand. Madeleine zog sich langsam daran hoch.

Plötzlich begann die Schüssel zu wackeln. Es lag beileibe nicht an den Kräften des Kindes, sondern vielmehr trug daran das ziemlich schiefe und wacklige Holzbrett Schuld, auf dem die bedrohlich schwankende Schüssel stand. Madeleine verlor auf einmal den Halt. Sie stieß einen erstickten Schrei des Erschreckens aus. Das arme Ding versuchte sich festzuhalten. Vergebens. Rücklings stürzte sie auf den Fußboden. Das Entsetzen über das Unglück überwog den Schmerz, der ihr durch die Glieder fuhr. Gleichzeitig ergoss sich der Inhalt der hohen Schüssel genau über ihren Kopf. Der unverhoffte Segen von oben lief bis auf ihr hübsches geblümtes Kleidchen herunter. Die dickflüssige, blasige und leicht säuerlich riechende Masse, des ein paar Tage alten Sauerteigs, verklebte ihre Augen.

Blind wie ein Maulwurf irrte Madeleine durch die Backstube. Mit weit ausgebreiteten Händen suchte sie der Backstube zu entkommen. Doch anstatt den Ausgang zu finden, stieß das arme Ding zu allem Übel gegen einen anderen Tisch. Dabei kippte gleich die volle Ladung eines halben Mehlsacks auf sie herunter. Von Kopf bis Fuß war sie nun voll des weißen Mehlstaubs. Völlig ahnungslos tapste sie von der Backstube hinaus in den angrenzenden Bäckerladen. Doch auch hier war Madeleine mutterseelenallein. Weit und breit war kein Mensch in Sicht.

Ohne, dass sie irgendwo dagegen stieß, lief sie durch die offen stehende Ladentüre, geradewegs hinaus auf die Gasse in Richtung der Dorfwaage…

Der Weinhändler Christophe Baudrie zählte zu den wirklich ganz wenigen Menschen, welchen man die Arbeit nachtragen musste. Er war schlichtweg „so faul wie eine ein paar Tage alte Leiche“. Er wäre an diesem Tag am liebsten daheim geblieben, auf der Ofenbank, da wo die fünf Katzen seiner Frau ihr Fell wärmten. Allzu gerne gaben die fauchenden Stubendrachen ihren Platz nicht frei, was die zahllosen Kratzspuren auf seiner Haut zeigten. Madame Natalie zeigte sich recht unleidlich über ihren faulen Gatten. Sie musste ihn schon mit einem Reisigbesen an die Arbeit treiben. In Brioude 25 wartete Wein darauf abgeholt zu werden.

Leider gehörte Christophe Baudrie zu den ganz wenigen Finsterlingen in Lavaudieu, die ihren Mitmenschen „einen strohernen Bart flochten“. 26 Denn der Wein, den er an diesem Tag bei seinem Händler, einem weiteren Schlitzohr, einkaufen wollte, war kein echter Roter. Der billige Gesindewein, den der nichtsahnende Wirt seinen Gästen ausschenkte, war schnell gefärbt. Bislang war den beiden Halunken niemand auf die Schliche gekommen. Doch bekanntlich „geht der Krug so lange zum Brunnen, bis er bricht“. Wehe ihm und seinem Komplizen. Die beiden würde man „mit Skorpionen züchtigen“. Da Christophe Baudrie spätestens bei Einbruch der Abenddämmerung wieder daheim auf seiner geliebten Ofenbank liegen wollte, gab der alte Griesgram seinem braunen Ross des Einspänners, tüchtig die Peitsche. So sehr, dass die leeren Weinfässer und die Schläuche aus Bockshaut auf dem zweirädrigen Wagen miteinander um die Wette tanzten. Mit ziemlich rasanter Fahrt näherte sich das Gefährt der Ortsmitte. Und somit auch dem Hause des Bäckers. Genau gegenüber stand die Töpferei von Arthur Faucher. Er war genau das Gegenteil des Weinhändlers. In jedem Haushalt des Dorfes fand sich Steingut aus seiner kleinen Manufaktur. Durch sein langes Sitzen an der runden hölzernen Töpferscheibe, die niemals aufhörte sich zu drehen, war Arthur schon richtig krumm und bucklig geworden. Zum Leidwesen seiner Frau schien er mit der Töpferscheibe verheiratet zu sein. Anstatt des Nachts gemeinsam mit seiner Angetrauten unter die Bettdecke zu kriechen, drehte er die Scheibe im Kerzenschein, Runde für Runde weiter. Von schier unglaublichem Arbeitseifer beseelt, hatte der tüchtige Töpfermeister schon so viele Waren hergestellt, dass er das ganze Zeug unmöglich in einem Leben verkaufen konnte. Seine Hände formten soeben wieder einen rötlichen Tonklumpen, als plötzlich…

Derweil irrte Madeleine, blind wie ein Maulwurf, auf der Gasse umher. Nichtsahnend lief das arme Geschöpf schnurstracks in sein Verderben.

„Allmächtiger - ein Geist!“ Christophe Baudrie fiel fast vom Kutschbock, als er das weiße Gespenst zu Gesicht bekam. Verzweifelt riss er an den Zügeln. Es gab kein Halten. Er war auf dem besten Weg das Kind zu überfahren. In Bruchteilen weniger Sekunden war das große Unglück geschehen…

Es ging plötzlich alles ganz schnell. So rasch, dass jeglicher menschlicher Verstand Mühe hatte, den Ablauf des Geschehens zu erfassen. Erst jetzt nahm Madeleine beide Hände und begann sich den Teig von den Augenlidern zu kratzen. Sie drehte ihren Kopf in die Richtung, wo der Tod im höllischen Tempo direkt auf sie zuraste.

Dem armen Mädchen blieb keine Zeit auf das schier Unfassbare zu reagieren. Noch ehe sie eigentlich begriff, in welch schrecklicher Situation sie eigentlich schwebte, durfte es um sie geschehen sein…

Da - auf einmal begannen ihre hellblauen Augen ganz merkwürdig zu leuchten. Sie selbst wurde sich dessen gar nicht bewusst.

Dafür aber umso mehr das Pferd. Ein heftiges Wiehern ausstoßend bäumte sich das scheue Ross auf. Seine wild auskeilenden Vorderhufe verfehlten Madeleine nur um Haaresbreite. Höchstens zwei, drei Schritte, lagen zwischen dem Tier und dem Mädchen.

Blut und Wasser schwitzend, versuchte Christophe Baudrie das Pferd zu bändigen. Plötzlich machte der Wagen einen weiten Schlenker. Sein Entsetzen konnte nicht größer sein, als er sah, wie die Deichsel mit einem lauten Krachen auseinanderbrach. Während das Pferd vor dem Mädchen zum Stehen kam, wurde der Wagen, samt dem Kutscher, in einem ohrenbetäubenden Klirren des berstenden Glases und splitternden Holzes, durch die große Ladentüre und samt dem großen Schaufenster direkt in den Töpferladen geschleudert. Ihm blieb nicht einmal die Zeit einen Schrei des Schreckens auszustoßen. Erst die recht unsanfte Landung inmitten der zahllosen Teller, Vasen, Schüsseln und Töpfe, ließ ihn in ein jämmerliches Wehgeschrei ausbrechen. Doch er hatte trotz des ganzen Unglücks, noch mordsmäßiges Glück auf seiner Seite. Außer ein paar blauen Flecken und blutigen Schrammen war ihm kein Leid geschehen.

Derweil saß, wie vom Donner gerührt, der Töpfermeister Arthur Faucher, leichenblass an seiner Töpferscheibe. In seinen Händen drehte sich eine unfertige Vase. Außer dem Schreck, der ihm gewaltig in die Glieder fuhr, hatte er nicht einen Kratzer abbekommen. Die beiden Männer brauchten eine Weile, ehe sie begriffen, was da überhaupt rings um sie geschehen war. Beide starrten sie einander drein wie Ölgötzen.

„Merde, das Kind. Da war doch das Kind auf der Gasse…“ Christophe Baudrie fand als erster zur Sprache zurück. In seinem Kopf wallte ein Gefühl von blankem Entsetzen.

„Zum Kuckuck, von was redest du denn da?“

„Komm mit und frag mir nicht lange Löcher in den Bauch“, erwiderte Christophe Baudrie. Erregte Atemzüge ausstoßend, bahnte sich der Weinpanscher hinkend einen Weg durch das viele zerschlagene Steingut und die Glassplitter aus der Töpferstube, hinaus ins Freie.

Der Töpfermeister trennte sich endlich von seiner Scheibe und folgte ihm auf dem Fuß.

„Ich denke, mich laust der Affe!“ Christophe Baudrie und Arthur Faucher begegneten sich mit verwunderten und fassungslosen Gesichtern. „Ich hatte schon mit dem Schlimmsten gerechnet“, erleichtert atmete Christophe Baudrie auf.

„Du Esel, beinahe hättest du die Kleine überfahren“, sagte der Töpfer vorwurfsvoll.

Der Adamsapfel des Weinhändlers zuckte merklich.

Mitten auf der Gasse stand Madeleine, so als sei überhaupt nichts passiert. Aus dem Mund des Kindes gab es weder ein Heulen noch ein Wehklagen. Unbekümmert streichelte ihre rechte Hand zärtlich über die weiße Blesse des Pferdes, das seinen Kopf tief zu ihr hinab gesenkt hielt und ihr den Teig aus dem Gesicht leckte.

„Mein `Balduin´ wird mir auf seine alten Tage hin zusehends fremder“, bemerkte Christophe Baudrie. „Für gewöhnlich würde er jetzt herumtollen wie ein Wildpferd aus der Camarque und mit seinen Hufen alles kurz und klein schlagen…“