Die Spessarträuberin - Thomas Meßenzehl - E-Book

Die Spessarträuberin E-Book

Thomas Meßenzehl

0,0

Beschreibung

In einer stürmischen Herbstnacht wird Katharina als Neugeborenes vor dem Portal der Kapuzinerkirche abgelegt. Bruder Johannes nimmt sich des Kindes an und sorgt dafür, dass keiner seiner Mitbrüder von ihrer wahren Identität erfährt. Jeder glaubt, es handelt sich bei ihr um einen Jungen. Nach seinem Tod muss sie das Kloster verlassen. Mittellos steht sie plötzlich auf der Straße. Katharina fällt in die Hände einer Jugendbande. Um zu überleben, bleibt ihr nur ein Ausweg. An der Seite der jugendlichen Straftäter überfällt sie Passanten, geht der Bettelei nach und gräbt zu nächtlicher Stunde auf dem Friedhof Leichname aus. Als die Rote Ruhr ausbricht und einige der Jungen erkranken, gelingt ihr die Flucht in den Spessart …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 415

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Eigenverlag - 2014

Thomas Meßenzehl, geb. 1960 in Oberafferbach / Johannesberg.

Er lebt seit 1984 gemeinsam mit seiner Frau Iris in Hörstein

(dem „Tor zum Kahlgrund“).

Autor der Bücher:

„Schicksalsstürme“,

„Hexenfeuer“, „Schwedenmond“,

„Das Grab des Spessarträubers“,

„Das Bild des Fabulus“ „Der Ring des Schicksals“,

„Kahlgrundzauber“ Band 1 und Band 2“,

„Der Hexenkönig von Aschaffenburg“,

„Bilder und Geschichten aus Hörstein“ (Mitautor Heinrich Ortner) und weitere Veröffentlichungen z. B. im Heimatjahrbuch – „Unser Kahlgrund“.

Autor des erfolgreichen Theaterstücks:

„Kahlgrundsaga“ (aufgeführt in Kahl a. M. – März 2014)

Dieses Buch ist meiner lieben Frau Iris und meiner lieben Mutter Maria gewidmet.

***

„…aus der Menge der Missetäter schloss er, dass Galgen und Rad den wahren Bösewicht von Verbrechen nicht abhatten können. Jeder denkt… wenn er bei einem Galgen oder Rad vorbei geht, wo sein `Amtsbruder´ den Lohn seiner Taten fand; du Narr da oben, warum warst du nicht so vorsichtig wie ich.“

(P. A. Winkopp: Faustin oder das philosophische Jahrhundert. Zweites Bändchen, 1784.)

***

Inhaltsverzeichnis

1. Der Galgenpater

1. Kapitel

2. Die Bande des Schreckens

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

3. Die alte Glashütte im Spessart

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

4. Die Spessarträuberin

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

1.

Der Galgenpater

1.

Aschaffenburg, Allerseelen 1778.

Mitternacht war längst vorbei. Die Nacht hüllte den epochalen Prachtbau des Schlosses Johannisburg in tiefe Dunkelheit. Hinter den Fenstern der Sandsteinfassaden, des vierflügeligen symmetrischen Bauwerks, herrschte gähnende Finsternis. Nur in einer kleinen Stube, im oberen Teil des Lakaienturmes brannte noch Licht.

Der ohrenbetäubende Schrei der Gebärenden brach sich an den engen Wänden. Von einem heftigen Wehgeschrei begleitet kam das Neugeborene zum Vorschein. Auf seinem Kopf spross der erste zarte Flaum roten Haares. Umgeben von Blut und Fruchtwasser, hob die Hand des Arztes die neue Frucht des Lebens in das schummrige Dämmerlicht des brennenden Kerzenleuchters. So als fürchte sich das Kind vor Gott und der Welt, stieß es einen lauten Schrei aus. Sein Wehklagen fand kein Ende.

„Was ist es denn?“, fragte der graubärtige Mann, der den Kerzenleuchter hielt. Seine Augen waren nicht mehr die besten. Er trug den Rock eines Lakaien. Ungeachtet tropfte ihm das Kerzenwachs auf die Hand.

„Das dürfte wohl jetzt von geringster Bedeutung sein!“ Der Arzt bedachte ihn mit einem strengen Blick. Auf seiner hohen Stirn stand eine steile Unmutsfalte.

„Ich meinte nur…“, kam es leise zurück.

„Danach fragt euch aber niemand“, blaffte der Arzt. „Denkt stattdessen an eure Aufgabe!“

„Ja, Herr.“ Der Gescholtene senkte in kriecherischer Gestik sein schütteres Haupt.

Die Anwesenheit von Gevatter Hein lag mit spürbarer Schwere in der Luft. Schweißüberströmt und erschöpft lag die junge Mutter in ihren Kissen. Eine verschwitzte Strähne ihres roten Haares hing ihr über das rechte Auge.

„Ich kann nicht mehr“, hauchte sie kaum vernehmlich. Sie hielt ihre Augen geschlossen, sie hatte ihre letzte Kraft verbraucht. Ihre schwache Stimme wurde vom Wind, der wild um das dicke Gemäuer des Turmzimmers heulte, beinahe verschluckt. Das verquollene und von Schmerzen entstellte Gesicht sah sich bereits in die wächserne Bleiche des Todes getaucht. Sie tat einen tiefen Seufzer. Ihr Kopf fiel zur Seite. Kurz darauf verlor sie das Bewusstsein.

„Es geht mit ihr zu Ende.“ Die Stimme des Arztes war völlig emotionslos. Er fühlte ihren Puls. In seinen hageren Gesichtszügen spiegelte sich grenzenlose Gleichgültigkeit wider. Er machte sich gar nicht erst die Mühe den Kampf mit dem Sensenmann aufzunehmen. Keine irdische Macht vermochte die Ärmste zu retten. Ihr Schicksal schien ihm irgendwie in die Karten zu spielen. Sie war schließlich nur eine von Vielen, die sich am Hof des Mainzer Kurfürsten tummelten. Jene Damen kamen und gingen wie die Tage. Sie waren so zahlreich wie die aus Sandstein gehauenen Gesichter und Köpfe, welche die vier Ecktürme des Renaissanceschlosses zierten. Diese Frau, die vor ihm auf dem Bett ihrer Kammer lag, war aber etwas Besonderes. Nicht nur wegen ihrer betörenden Schönheit. Sie hätte einigen Leuten und einer gewissen Person durchaus gefährlich werden können. Ihre Niederkunft, sofern sie bekannt wurde, warf viele unbequeme Fragen auf. Zum Beispiel diese: Wer war der Vater des Kindes?

Der Arzt kam hierfür nicht in Betracht. Da musste sich ein anderer ganz bestimmter Herr Sorgen machen. Der Arzt rang kurz nach Atem. Dies lag jedoch keineswegs an der kleinen stickigen Kammer. Auf seinen Schultern lag eine schwere Last. Heute schloss er erstmals mit Gevatter Hein Freundschaft. Ausgerechnet mit seinem erbittertsten Feind. Wenn auch nur für einen Tag oder wenige Stunden. Schließlich nahm ihm der Totenkramer eine große Sorge ab.

Das Schreien des Kindes ging plötzlich in ein leises Wimmern über. Vielleicht ahnte es, welch unfassbares Drama sich gerade um seine Mutter abspielte. Anscheinend spürte das Neugeborene um die Nähe des Todes. Vielleicht ließ sich Gevatter Hein damit hinters Licht führen, wenn man sich möglichst still verhielt und er dann an einem vorbeiging, ohne dass er auf einen aufmerksam wurde. Nein, der Totenkramer vergaß keinen. Mit einer solchen Vorgehensweise konnte man lediglich einer drohenden Gefahr erfolgreich begegnen. Doch hatte das Neugeborene überhaupt eine Zukunft, oder sollte es binnen eines Augenzwinkerns das schreckliche Schicksal seiner Mutter teilen?

In wenigen geschickten Handgriffen durchtrennte das Skalpell in der Rechten des Arztes die Nabelschnur. Gekonnt schlug er am Bauch des Neugeborenen einen Knoten.

Ohne, dass die junge Mutter noch einmal das Bewusstsein wiedererlangte, schied sie mit einem kaum merklichen Schnaufer aus dem Leben. Ihre Lider würden sich niemals wieder öffnen. Niemals würden ihre Augen das Kind sehen, das sie soeben unter großer Pein geboren hatte.

„Seht zu, dass die unleidige Sache rasch zum Abschluss kommt.“ Der Arzt hüllte das Neugeborene in ein Tuch und reichte es dem Lakaien. Außer den beiden Männern und dem Kind befand sich niemand im Zimmer. Der Arzt hatte vorgesorgt. Je weniger Augenzeugen, desto besser. Es gab schließlich keine hundertprozentige Sicherheit, dass eine Zunge sich eines Tages nicht doch noch lösen würde, trotz aller Beteuerungen und Schwüre.

„Was geschieht mit dem Leichnam?“, fragte der Lakai und nahm das Kind behutsam in seine Hände. Vorsichtig, als sei es sein eigenes Fleisch und Blut, drückte er es an seine Brust.

„Der Totengräber wird noch heute Nacht drüben auf dem Friedhof von Sankt Agatha ein Loch ausheben“, antwortete der Arzt und wusch seine blutverschmierten Hände in einer Schüssel mit heißem Wasser. „Niemand wird je erfahren, dass sie dort begraben wurde. Es gibt weder ein Kreuz noch einen Grabstein. Ihr Name wird in keinem Totenbuch verzeichnet sein. Ihr wird morgen Früh auch keiner ein Allerseelenbrot auf das Grab legen. Aber was erzähle ich euch das alles. Es soll euch nicht kümmern.“ Seine Züge verfinsterten sich. „Wehe euch, wenn ihr auch nur ein Sterbenswörtchen darüber verliert!“ Wie gut, dass du schon so alt bist, dachte der Arzt, lange wirst du dieses dunkle Geheimnis nicht mit dir herumtragen. Auf einen Becher vergifteten Weines konnte man hier getrost verzichten…

Mit der unmissverständlichen Drohung in den Ohren verließ der alte Lakai die Kammer.

*

Der bitterkalte Herbstwind trieb die letzten Blätter den Karlsberg hinab. Die Luft roch nach Schnee. Irgendwo verlor sich im Viertel um St.Agatha das Gekläffe eines Hofhundes. Eine einsame Gestalt hielt in Richtung des Gasthauses „Zum goldenen Ochsen“ zu. Der Wirt, Christian Rausch, hatte aber längst die „Weinglocke“ geläutet und die Zecher auf den Heimweg geschickt. Der Lakai hatte aber kein Verlangen nach einem Schoppen Wein. Den Mantelkragen hochgestellt, lief er in gebückter Haltung. Schützend schlugen sich seine Arme um das Bündel, das er bei sich trug. Das Kind verhielt sich völlig ruhig. Seitdem sie das Schloss verließen, hatte es nicht ein einziges Mal geweint oder geschrien. Die Gefahr in der es schwebte war keineswegs gebannt. Kurz vor dem Gasthaus bog der Lakai zur linken Seite hin ab. Geradewegs lenkte er seine schweren Schritte ins Kapuzinergässchen. Er musste sich mucksmäuschenstill verhalten. Niemand durfte erfahren wer er war und woher er kam. Sein eigenes Leben stand auf dem Spiel. Plötzlich glaubte er ein Geräusch zu hören. Er hielt inne. Ihm war, als würde das Herz aus seiner Brust springen. Nein, da war nichts. Er lief weiter. Noch ein paar Schritte und er hatte die Klosterpforte erreicht. Wie gut, dass auch die Mitglieder des „Ordo Fratrum Minorum Capucinorum“ *1) ihren Schlaf brauchten. So würde es auch eine Weile brauchen, ehe jemand von ihnen schlaftrunken aus seiner Zelle kam, um nachzusehen, wer denn zu solch unchristlicher Zeit die Pfortenglocke läutete.

Der Lakai legte das Neugeborene mitten auf der Stufe ab. Er fühlte sich auf einmal seltsam beobachtet. Linkerhand, nur einen Steinwurf von der Klosterpforte entfernt, verloren sich in der Dunkelheit die Umrisse zweier kleiner Gestalten. Beide prangten genau über dem Portal der Kapuzinerkirche. Sie waren reglos. Die zwei Figuren verhielten in völliger Erstarrung. Die Heilige Elisabeth von Thüringen, die Namensgeberin dieses Gotteshauses, reichte einem durstigen Bettler einen Becher. Diese beiden stummen Zeugen aus Sandstein würden ewig schweigen. Angestrengt horchte der Lakai in die Nacht, bevor er dann am Seil der Glocke zog und sich klammheimlich aus dem Staub machte.

*

Elf Jahre später.

Der Wind trug die Wärme des Septembertages in den großen Klostergarten. Ein strahlendblauer Himmel spannte sich darüber hinweg. „Auf dem Schutz“, wie dieses Gelände entlang der alten Stadtmauer genannt wurde, gediehen Obstbäume, Gemüse, Kräuter und Pflanzen aller Art. An den Weinstöcken hingen die prallen Bündel der Trauben. Seit etwa einhundertfünfzig Jahren sorgten hier Pater und Brüder im Angesicht ihres Schweißes dafür, dass dieses große Grundstück nicht brach lag.

Die Männer in ihren braunen mit Stricken gegürteten Kutten lebten schließlich auch davon. Es lag einzig an ihren spitzen Kapuzen, weshalb man sie liebevoll als „Kapuziner“ titulierte. Das Volk mochte jene „gemäßigten Eremiten“. Dieser Orden sah sich – als Helfer in der Seelsorge – um die wortgetreue Einhaltung, der vom Heiligen Franz von Assisi aufgestellten Ordensregel verpflichtet. Ihre Sprache erklärte das Evangelium des Allmächtigen so, dass es selbst der einfache Mann verstand. Von der Kanzel der Kapuzinerkirche ergoss sich so manche feurige „Kapuzinerpredigt“ auf das sündige Volk. Trotzdem waren die Kirchenbänke beim nächsten Gottesdienst wieder voll besetzt. Vielleicht bedurften die „Schäfchen“ der Zurechtweisung ihrer „Hirten“.

Keiner wurde an der Klosterpforte abgewiesen, egal sei er nun krank, arm und schwach, oder bitterster Not ausgesetzt. Der Klostergarten, mit dem großen Ziehbrunnen *2) warf eine große Ernte ab, so dass es auch für die Speisung der Armen reichte. Und dies noch in ständiger Regel.

„Matthias!“ Die laute sonore Stimme des Rufers erfüllte auch den letzten Winkel des Klostergartens. Graue Schläfen zogen sich vom lichten Haupt in sein braunes wettergegerbtes Gesicht. Für Letzteres hatten die Sonne und die beinahe tägliche Arbeit inmitten der Gemüsefelder und Weinreben gesorgt. Der große graue Bart verlieh Bruder Johannes das Aussehen eines ehrwürdigen Patriarchen. Seit über sechzig Jahren gehörte er diesem Konvent an. Er mochte und wollte sich auch kein anderes Leben vorstellen. Anfangs trugen ihn seine Füße jahrelang in den Sandalen als Bettelmönch, mit dem Almosensack auf den Schultern, durch die Dörfer. Ehe er, des vielen Laufens müde, hier im Kloster eine feste Bleibe fand. Trotz seiner kleinen sehr eng und bescheiden eingerichteten Zelle, mit den paar Brettern als Nachtlager, liebte er es ein Kapuziner zu sein. Auch wenn er damit das strenge Leben eines armen Büßers wählte. Erfüllt von unbedingtem Gehorsam, Keuschheit und Besitzlosigkeit. Allein das schlichte Holzkreuz, welches die schmucklose Wand seines Zimmerchens zierte, reichte aus, um ihm Kraft, Stärke und Zufriedenheit zu geben. Das Leben jenseits der Klostermauern war ihm dagegen fremd. Er mochte es nicht. Es stieß ihn förmlich ab. All der Neid, Hass, Missgunst und Grausamkeit unter den Menschen hatten ihn zu einem Eremiten gemacht. Gottlob waren die Notleidenden, die an die Klosterpforte klopften, oder in den Gottesdienst kamen, nicht mit derlei tiefen Abgründen menschlicher Seele gesegnet. Unverdrossen und in unermüdlichem Eifer half er in der Seelsorge mit. Doch neben seiner Arbeit im Klostergarten fiel ihm eine weitere Aufgabe zu, die ihn jedes Mal zutiefst erschütterte, sobald er sie ausführen musste. Aber der Gehorsam zu seinem Guardian -Pater Leopold- machte ihn zu einem demütigen Werkzeug. „Matthias!“

Der Angerufene sah auf. Seine großen Augen blickten neugierig in die Welt. Er kniete inmitten eines großen Kartoffelfeldes. In seinen dreckverschmierten Händen hielt er ein paar dicke Knollen, die er soeben aus dem Erdreich grub. Er warf sie in den großen geflochtenen Reisigkorb und stand auf. Der schmale Hänfling trug ebenfalls das Ordenskleid der Kapuziner. Seine Haartracht im kurzen Pagenschnitt war in leuchtendes Rot getaucht. Er fuhr sich mit dem rechten Handrücken über seine verschwitzten und weichen Gesichtszüge. Weder die ebenmäßigen Wangen noch das schmale zarte Kinn würden jemals einen Bart tragen…

„Matthias!“

„Ich bin hier!“ Seine hohe Stimme ähnelte sehr der eines Mädchens. Und das war sie auch, seit der Geburt vor nunmehr elf Jahren. Warum sie ausgerechnet auf den Namen eines Jungen hörte, blieb ein besonderes Geheimnis.

„Hast du denn das Schlagen auf die Ziegelplatte nicht gehört?“

„Nein!“

„Vielleicht warst du auch zu sehr in deine Arbeit vertieft“, gab Bruder Johannes in seiner ewigen Sanftmut zurück. „Im Refektorium steht bereits das Essen auf dem Tisch.“

„Ich komme ja schon.“

„Aber wasch dir bitte vorher die Hände. Du hast sicher Schaufeln wie ein Maulwurf.“

Sie folgte ihm.

Auch sie liebte die Arbeit im Klostergarten. Das Erste an was sich ihre Sinne erinnern konnten, war der Geruch nach geschmolzenem Kerzenwachs und getrockneten Kräutern. Und das Erste was das Mädchen sah, war die braune Kutte von Bruder Johannes. Mit ihm teilte sie sich die Zelle, wo sie in einem eigenen, mit Stroh aufgeschütteten Bett schlafen durfte. Vom kleinen engen Fenster aus, konnte man einen klitzekleinen Blick auf das nahe Schloss erhaschen. Ihre Welt bestand seitdem sie denken konnte einzig aus der des Klosters. Der Schritt jenseits der Mauern war ihr bislang nicht vergönnt gewesen. Bruder Johannes wich ihr, gleich einem persönlichen Schutzengel, nie von der Seite. Er befand sich in steter Sorge um sie. Deshalb nahm er sie von früh bis spät mit hinaus in den großen Klostergarten, sofern es das Wetter erlaubte. Hier in der von Gott gegebenen Natur wuchs sie letztlich auf.

Unter seiner Aufsicht lernte sie alle wichtigen Kräuter und Heilpflanzen kennen. Im Hochsommer war in der „Herrgottsapotheke“ Erntezeit. Man sollte jedoch nie ernten, wenn es regnete. Hierfür musste es schon kühl und sonnig sein. Zum Trocknen eignete sich am besten der warme und luftige Dachboden des Klosters. Nach dem Zerreiben mit bloßen Fingern verwahrte man die Heilkräuter in dunklen Schachteln, damit sie länger haltbar blieben. Auch deren Nutzen und Anwendung bei allerlei Krankheiten und Verletzungen blieben ihr nicht fremd. Aber auch um die Gifte wusste sie Bescheid. Anstatt der erhofften Heilung konnte ein Kraut einen Unglücklichen allzu früh ins kühle Grab schicken. Das Wermutkraut bot das beste Beispiel, wie nahe Heilwirkung und Schaden in der Natur beieinander lagen. Trotz ihrer Jugend, verstand sie es meisterhaft mittels Tee, Salben oder Öle die Mitglieder des Konvents zu kurieren.

Während der Wintermonate half sie mit bei der Verrichtung häuslicher Arbeiten und in der Schneiderei. Einzig an was sie sich nicht gewöhnen konnte, war das mitternächtliche Chorgebet. Auch die Allerheiligenlitanei um fünf Uhr morgens rang ihr keineswegs Begeisterung ab.

*

„Bruder Johannes, ich muss sterben!“ Es war kurz nach der Meditation, als sie wenige Tage später zu ihm in die Zelle gerannt kam. Sie war in haltloser Aufregung und weinte „Rotz und Wasser“.

„Was um Christi Willen, ist mit dir geschehen?“, fragte er besorgt.

„Ich verblute“, schluchzte sie. Ihre Miene war kreidebleich.

„Hast du dich mit der Sichel geschnitten?“

„Nein.“ Sie senkte ihren Blick. Schamröte stieg in ihr Gesicht. „Es blutet weiter unten, im Schritt. Ich habe mir ein Tuch dazwischen gebunden, damit das Blut nicht ständig heraustropft.“

Er packte sie sanft an ihren bebenden Schultern und setzte sie vorsichtig auf ihr Bett. Bevor er zu ihr ging, warf er rasch einen musternden Blick hinaus in den beinahe lichtlosen dämmrigen Flur, der die einzelnen Zellen im Obergeschoß des Klosters miteinander verband. Weder ein Pater noch ein Bruder waren zu sehen oder zu hören.

Leise zog er die Holztür hinter sich zu und verschloss sie mit einer einfachen mit Lederschnur versehenen Holzschnalle. Anschließend setzte er sich neben sie auf das Bett.

„Du armes Ding, du zitterst ja wie Espenlaub.“ Er drückte sie tröstend an seine Brust. „Du brauchst keine Angst zu haben. So schnell stirbt es sich nicht.“ Für diese Lüge hätte er sich am liebsten die Zunge abgebissen. Wie rasch es mit jemandem zu Ende ging, dies hatte er oft genug mit ansehen müssen. Die armen Leute, seufzte er tief in sich hinein. Schaudernd dachte er dabei an ganz bestimmte Menschen.

„Was ist mit mir?“ Ihre verheulten blaugrauen Augen bohrten sich hilfesuchend tief in sein Augenpaar.

„Du wirst langsam eine Frau“

Wortlos starrte sie ihn an.

„Erschrecke nicht, das ist ganz normal“, erklärte er mit leiser Stimme. „Du hast keine Krankheit und du bist auch nicht verletzt. Du hast deine erste Regel…“

Sie spürte wie sie auf einmal ruhiger wurde. Seine einfühlsamen Worte spendeten Wärme und Zuversicht. Sie nahmen ihr alle Ängste. „…das ganze wird sich alle vier Wochen wiederholen.“

„Woher weißt du das alles?“

„Du kennst doch die große Klosterbibliothek. Sie umfasst mehrere tausend Bücher. Dort habe ich dir das Lesen beigebracht.“

Sie nickte.

„Ich sage dir das alles, damit du dich das nächste Mal nicht mehr so furchtbar erschreckst. Du bist ein gesundes Mädchen…“ Er stutzte. Gespannt hob er sein Ohr in Richtung der Zellentüre.

„Was hast du?“, fragte sie erstaunt. „Dürfen die anderen unser Gespräch denn nicht hören?“

„Das was wir miteinander zu bereden haben, ist nicht für andere Ohren bestimmt.“

Sie spürte den ernsten Ton in seiner Stimme.

Er legte mahnend den Zeigefinger auf seine Lippen.

„Aber warum denn?“

„Weil du ein Mädchen bist. Du dürftest eigentlich gar nicht hier sein. Nur Männer sind hier erlaubt.“

„Wie kam ich denn hierher? Du hast mir all die Jahre über nichts davon erzählt“, sagte sie vorwurfsvoll.

Bruder Johannes suchte nach den richtigen Worten. „Man hat dich als Neugeborenes heimlich des Nachts an der Pforte abgegeben.“

„Hat mich denn meine Mutter nicht haben wollen?“

Bruder Johannes tat das arme Ding in der Seele leid, als sie ihm mit traurigem Blick erneut bis auf den Grund seiner Seele blickte. „Ich weiß es nicht, vielleicht ist sie auch bei deiner Geburt gestorben.“ Er wusste es wirklich nicht, obwohl es hier zufällig stimmte. Davon abgesehen erschien ihm eine Lüge besser als jede Wahrheit.

„Und du hast dich seitdem um mich gekümmert?“

„Ja, das habe ich“, antwortete er voller Stolz. „So, als wärest du mein eigenes Kind.“

„Ich möchte niemals weg von hier.“ Schluchzend legte sie ihre Arme um seinen Hals.

Diese Geste ging ihm stark an die Nieren. Er musste sehr an sich halten, damit er am Ende nicht selbst wie ein Schlosshund losheulte. „Das brauchst du auch nicht.“ Er nahm sie an den Händen. „Aber wir beide müssen weiterhin so tun, als wärest du ein Junge, sonst…“ Er stockte.

„Sonst?“ Sie starrte ihn an. „Was willst du damit sagen?“

„…musst du fort von hier.“ Die Ernsthaftigkeit seiner Worte drangen ihr tief ins Mark und Bein.

Ihr fuhr ein fröstelnder Schauer über den Rücken. Sie nickte stumm.

„Pater Leopold, der Obere unseres Konvents gab sein Einverständnis, dass ich mich damals ganz alleine deiner annehme. Er ist wie all die anderen des festen Glaubens, dass du ein Junge bist. Damit es nicht auffällt, habe ich dir eben den Namen Matthias gegeben.“

„Damit komme ich klar“, meinte sie.

Während er sprach, musterte er sie heimlich von Kopf bis zu den Füßen. Noch hatte das Wachsen ihrer Brüste nicht eingesetzt. Dies würde noch eine Weile dauern. Was geschah jedoch, wenn es damit soweit war? Er versuchte den Gedanken zu verdrängen. Es gelang ihm aber nicht. Das Schreckgespenst der Entlarvung stand mitten unter ihnen. Allgewaltig und felsenfest. Bruder Johannes hatte sich über elf lange Jahre hinweg gefürchtet und alles Mögliche dafür getan, dass keiner seiner Brüder hinter das Geheimnis des Findelkindes kam. Nun aber gestaltete sich das Ganze zusehends schwerer. Er und „Matthias“ mussten fortan mächtig auf der Hut sein und zwar mehr denn je.

*

Im ewigen Spiel der Gezeiten hielt der Dezember seine Einkehr im Land längs des Mains. Vor einem Jahr hatten Eis und Schnee für einen der schlimmsten Winter des ganzen Jahrhunderts gesorgt. Damals hatte die klirrende Kälte unter den Menschen und Tieren viele Opfer gefordert. Die alte Steinbrücke in Aschaffenburg, welche die Stadtseite mit dem Leiderer Feld verband, wurde durch schweren Eisgang zerstört. Zum Glück sorgten heuer starke Südwinde für eine frühlingshafte Witterung.

Zwei Tage vor Sylvester 1789.

Im Kapuzinerkloster herrschte Mittagsruhe.

„Bruder Johannes, du sollst zu Pater Leopold kommen!“ Hart klopfte es an die Zellentüre. „Nimm auch Matthias mit. Es eilt!“ Kurz darauf entfernten sich die Schritte.

Bruder Johannes zuckte zusammen. Ihm war, als träfe ihn ein heftiger Keulenschlag. Das Klopfzeichen von Bruder Dominicus sorgte in seinem Inneren mächtig für Unruhe. Als dessen Orden der Jesuiten vor einigen Jahren aufgelöst wurde, hatte er hier bei den Kapuzinern eine neue Heimat und Aufgabe gefunden. Jener war durchaus ein liebevoller Mitbruder, aber er hatte eine recht seltsame Angewohnheit an sich. Bruder Johannes hasste ihn dafür. Immer wenn seine Fingerknochen im merkwürdigen Klang eines Trommelwirbels anklopften, zeigte er damit an, dass man Bruder Johannes zu seiner gefürchteten und verhassten Aufgabe rief. Aber was hatte es mit Matthias auf sich, was wollte der Guardian von seinem Schützling? War denn jemand hinter ihr Geheimnis gekommen…

*

„Die Füchse haben ihre Höhlen, die Vögel den Himmet und ihre Nester, der Menschensohn aber hat nichts, wo er sein Haupt hinlegen kann…“

Mit gottversunkenem Blick schaute der Leser auf die Seiten des aufgeschlagenen Buches, das vor ihm auf dem Pult lag. Leise murmelten seine Lippen ein Zitat des Heiligen Franz von Assisi.

Pater Leopold, der Guardian des Kapuzinerklosters hatte es sich in einem geflochtenen Korbsessel bequem gemacht. Seine Rechte tauchte den Kiel einer Schreibfeder in ein Tintenfass. Der Papierbogen war erst zu einem Viertel mit steilen Buchstaben beschrieben. Er war gerade mit dem Abfassen seiner nächsten Predigt beschäftigt. Das Fenster war geöffnet. Mit dem einströmenden Hauch ungewöhnlich milder Luft fiel der Sonnenschein in das bescheiden eingerichtete Arbeitszimmer. Neben einem kleinen Stapel an Büchern und einem dreiarmigen Kerzenleuchter fand gerademal ein Kruzifix einen Platz auf dem schlicht gezimmerten Schreibtisch. Die vormals weiß getünchten Wände sahen sich längst in ein hässliches Grau getaucht, lediglich geziert von einem geschnitzten Bildnis der Heiligen Elisabeth von Thüringen und zwei, drei kleinen, halb mit Büchern gefüllten Regalen. Es klopfte an.

„Ja, herein!“

Bruder Johannes musste seinen Kopf einziehen, damit er diesen nicht am niedrig gesetzten Türstock anstieß. An seiner Seite trat „Matthias“ ins Zimmer.

„Lieber Mitbruder, deine betrüblich dreinschauende Miene spricht Bände“, empfing ihn der Guardian mit einfühlsamen Worten, ohne dass er sich dabei von seinem Platz erhob. „Ich verstehe deine Beweggründe, aber unser Dienst der Vertiefung, Ausbreitung, Verteidigung und Erhalt des Reiches Gottes auf Erden, erfordert von jedem von uns große Opfer. Das Volk da draußen braucht unseren Beistand, nötiger denn je. All unser Eifer und Kampf gilt der Errettung jeder Seele. Ich betone ausdrücklich – jeder Seele. Auch die eines Abtrünnigen oder des größten Sünders!“

Bruder Johannes senkte seinen Blick. Er biss die Zähne zusammen. Ihm war bewusst, jeglicher Einwand seinerseits, stieß beim Guardian auf taube Ohren. Absolute Gehorsamkeit bis zum Tod gehörte mit zu den wichtigsten Tugenden eines Kapuziners. „Wann soll es losgehen?“, fragte er.

„Schon heute Abend, nach dem Komplet *3) musst du die Beichte abnehmen.“ Die Stimme des Guardians duldete keinen Widerspruch.

In Bruder Johannes´ Gesicht zuckte es merklich.

„Und morgen Früh folgt dann alles Weitere.“

„Weshalb wolltest du eigentlich Matthias sprechen?“, fragte er vorsichtig.

„Ach ja, ihn hätte ich beinahe vergessen.“ Der Guardian räusperte sich. Die Arbeit an seiner Predigt machte ihn kopflos. „Matthias wird dich begleiten. Ihr beiden könnt euch jetzt wieder in eure Zelle zurückziehen.“ Der Guardian sah wieder auf sein Buch und den Papierbogen. Für ihn war damit die Angelegenheit beendet.

Bruder Johannes drohten die Augäpfel aus den Höhlen zu fahren. Das blanke Entsetzen packte ihn. „Ist…ist das wirklich… nötig?“ Nur stockend kamen ihm seine Worte über die Lippen.

„Hast du noch ein Anliegen, Bruder?“ Der Guardian warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu.

„Aber unser Matthias ist doch dafür noch viel zu klein, dass er an einer…“

„Ach, Papperlapapp!“ Der Guardian machte eine wegwerfende Handbewegung. „Bedenke, du bist längst nicht mehr der Jüngste. Dein Schützling ist inzwischen alt genug, er kann dir gar nicht früh genug unter die Arme greifen. Du weißt, dass der Sturm der Säkularisation *4) unsere Existenz bedroht. Wir dürfen keine neuen Novizen mehr in unserem Konvent aufnehmen. Außerdem ist es an der Zeit, dass Matthias endlich mit der Welt jenseits unserer Klostermauern konfrontiert wird.“

*

Der Lindwurm zahlloser Menschenleiber säumte die Sandgasse. Der Zug hielt auf das Sandtor mit der gleichnamigen Sandkirche zu. Doch dies war längst nicht sein Ziel an diesem frühlingshaften Dezembermorgen des Jahres 1789.

Heute war es tatsächlich das erste Mal, an dem das kleine Kapuzinermädchen seinen Fuß in die Stadt setzen durfte. Sie war schon ganz neugierig. Ihr Herz klopfte wie wild. Seit der Allerheiligenlitanei um fünf Uhr in der Früh war sie schon auf den Beinen. Obwohl sie sich noch einmal aufs Ohr legen durfte, fand sie keinen rechten Schlaf. Ihre Neugier war grenzenlos. Sie hatte nicht den blassesten Schimmer was sie an diesem Tag da draußen, außerhalb der Klostermauern erwarten sollte. Sie konnte es sich nicht in den kühnsten Träumen ausmalen.

Im gleichen Augenblick, als sie an der Seite von Bruder Johannes das Viertel von Sankt Agatha betrat, öffnete sich vor ihren großen staunenden Augen eine völlig andere und neue Welt. Alles war viel größer. Es war unvorstellbar. Die vielen Häuser, das Gewirr der vielen Gassen und all die vielen Menschen, in den bunten und verschiedensten Kleidern, Röcken, Hosen und Jacken zeigten ihr etwas ganz Neues. Nie zuvor Erlebtes. Bislang kannte sie nur die braunen Kutten der Kapuziner. Zudem war hier alles vielmals lauter, als im Kloster. Aufregung packte sie. Wagen aller Art, gezogen von Pferden oder Ochsen fuhren mit rumpelnden Rädern über das Straßenpflaster. Hunde sprangen bellend hinterher. Sie konnte diese Fremde und das Neue, was sie auf einmal umgab, gar nicht fassen.

Plötzlich drangen ihr einige Laute ans Ohr, welche ihren Kopf jäh herumwirbeln ließen.

Schon von weitem kündete das frohe unbeschwerte Lachen spielender Kinder. Voll ausgelassener Spielfreude sprang ein ganzer Kinderschwarm jauchzend und vergnügt durch die Gassen. In den Augen des Mädchens spiegelte sich grenzenloses Staunen wider. Plötzlich spürte sie ein ungeheures Verlangen durch ihre Adern rasen. Es war wie ein innerlicher Trieb, der fest nach ihr griff. Sie wollte den anderen Kindern hinterherspringen. Am liebsten wäre sie ihnen nachgelaufen. Ihr Herz hüpfte vor Freude.

Sie verhielt auf der Stelle. Ihr Mund stand sperrangelweit auf. Bruder Johannes spürte um ihre heftig aufgewühlte Seele. Ihr Innerstes war aufgepeitscht gleich einer stürmischen See. Sie merkte wie Bruder Johannes seine rechte Hand sanft aber bestimmt auf ihre Schulter legte. Sie erschrak regelrecht, derart war sie vom Fieber und den Eindrücken der „neuen Welt“ ergriffen. Er nahm sie sanft am Arm und zog sie mit sich fort. Sie sah den Kindern hinterher, wie diese schreiend und lachend die Herstallgasse hinunterrannten. Ungehemmt ergötzten sie sich am Spaß und Vergnügen ihres Spieles. Sie warf noch einen schnellen Blick über ihre Schulter und sah dabei die Kinder unten am Salzmarkt („Scharfes Eck) in Richtung des Landings verschwinden. Verstohlen wischte sie sich eine Träne aus dem Auge. Das arme Ding stand kurz davor draufloszuheulen. Ihre kummervolle Miene sprach Bände. Ein Schatten von tiefer Traurigkeit legte sich auf ihr Gemüt.

Bruder Johannes empfand Mitleid mit ihr. Auch ihn befiel ein Hauch von Wehmut. Gestern noch, wollte sie um nichts in der Welt ihre „alte Welt des Klosters“ verlassen. Spätestens seit heute durfte sich die Meinung darüber gewaltig verändert haben. Er hasste den Guardian dafür, dass er ihm den Auftrag gab, dass „Matthias“ ihn begleiten sollte. Er versuchte sich damit zu trösten, dass sein Zögling und Schützling halt eben an einem anderen Tag, den Schritt außerhalb der Klostermauern getan hätte.

Damit das Mädchen auf andere Gedanken kam, gab ihr Bruder Johannes das große Kruzifix in die Hände. Mit jedem Schritt, den sie tat, wurde das Kreuz schwerer und ihre Arme länger. Ohne zu Murren hielt sie durch.

Der große schier endlos erscheinende Lindwurm der Massen zog vom Sandtor weiter in Richtung des Schmerlenbacher Wegs. *5)

Am Fuße dieses Weges angekommen, verharrte der Zug, bevor es dann die zunächst sanft ansteigende und dann zusehends länger und steiler werdende Strecke hinaufging.

Auf der rechten Seite des Weges stand ein übermannshoher, mit Ziegeln gedeckter vierkantiger Bildstock. Die Nische barg eine Holztafel. Die darauf gemalte Darstellung zeigte „Jesus´ Abschied von seiner Mutter“. An diesem Tage mussten in Bälde drei Menschen Abschied aus dieser Welt nehmen.

„Bereut eure schwere Schuld, die ihr auf euch geladen habt.“ Bruder Johannes hatte sich neben das „Beichtmarterl“ in Position gestellt. Seine Stimme klang brüchig. Er musste sich sehr am Riemen reißen, damit Gott und die Welt von seinem ganzen Unbehagen nichts mitbekam. Schon gar nicht „Matthias“. Das Mädchen stand neben ihm. Mit großen Augen starrte sie in die zahllosen Gesichter der fremden Menschen. Vergebens suchte sie nach anderen Kindern. Sie fragte sich, warum sie das Einzige war. Noch wusste sie nicht, was sie in Kürze erwarten sollte.

„Pater Noster.“ Bruder Johannes wurde nicht müde und wiederholte seine Gebete. Doch die Blicke der vier Männer auf dem großen Schinderkarren waren leer. Sie schenkten weder seinen Worten noch dem geschnitzten Corpus Christi, auf dem Kreuz irgendeine Beachtung. Schwere Ketten schlugen sich um ihre Arme, Füße und Hälse. Ihre bärtigen Gesichter und schmutzigen Hälse hatten schon lange kein Wasser mehr gesehen. Ihre Jacken und Hosen glichen wahren Lumpen. Man hatte ihnen die Stiefel und Schuhe ausgezogen. Manche trugen nicht einmal mehr Strümpfe. Bei diesen Männern musste es sich wohl um ganz schlimme Schurken handeln. Und dies waren sie in der Tat.

Johannes Bauer, Sebastian Heidelmaier und Johann Bopp, genannt Klemm hatten zusammen mit ihrem jüngeren Spießgesellen namens Fischer vor fast genau zwei Jahren im November 1787 die Kutsche, der damals neueröffneten Postwagenstrecke Spessart – Chaussee überfallen und ausgeraubt. Doch allzu lange durften sich die Spessarträuber ihrer fetten Beute, in Höhe von fünftausend Gulden, nicht erfreuen. Bereits ein Jahr nach ihrem spektakulären Überfall wurden die Verbrecher dingfest gemacht. Nun sollten sie ihre irdische Strafe erfahren.

„Wollt ihr noch eine letzte Beichte ablegen, bevor ihr vor das Antlitz unseres Herrn tretet?“ Bruder Johannes versah in diesem Moment seine ungeliebte Aufgabe als „Galgenpater“.

„Verfluchter Pfaffe, halt endlich das Maul!“, brummte einer der Galgenvögel grimmig in seinen Bart. „Behalte deine Weisheiten gefälligst für dich.“ Es war der Räuberhauptmann Johann Bopp, genannt Klemm der seinen ganzen Unmut zum Ausdruck brachte. Sein Kopf wirkte gedrungen. Nur die unmittelbar in der Nähe stehenden Leute verstanden seine Worte. Allzu viele würde er wohl kaum noch verlieren.

Das Mädchen erschrak angesichts der schweren Beleidigung. Sie starrte Bruder Johannes an. Er tat ihr furchtbar leid. Nie zuvor hatte sich ein Mensch erdreistet, so mit ihm oder einem seiner Mitbrüder umzuspringen. Im Schutz der Klostermauern gab es derlei Grobheiten und schmutzigen Ausdrücke nicht. Dies hier war jedoch eine völlig andere Welt.

„Schweig du elender Lump!“, plärrte eine zornige Stimme aus dem Volk der schaulustigen Gaffer. Einige Fäuste streckten sich in Drohgebärden in die Höhe.

Bruder Johannes verzog nicht eine Miene. Für ihn war dieses Schauspiel nichts Neues. Allzu viele Delinquenten hatte er in der Vergangenheit auf ihrem letzten Gang zum Hochgericht begleitet. Früher war der „Galgenbuckel“ die Richtstätte der Cent Aschaffenburgs gewesen. Ehe die kurfürstliche Hohe Landesregierung zu Mainz, nach nunmehr fünfhundert Jahren, dort den Galgen niederlegen ließ. Erst seit diesem Jahr gab es auf der Anhöhe des Schmerlenbacher Weges einen neuen Rabenstein. Dort erwartete die Todgeweihten entweder die Schlinge eines sogenannten „mobilen Schnappgalgens“, das Schwert, oder im schlimmsten Fall gar das Rad.

Nur wenige, der verurteilten Gesetzesbrecher waren dazu bereit, angesichts des nahen Todes ihre Untaten auf Erden zu bereuen. Es gab sogar welche, die dem „Galgenpater“ ins Gesicht spuckten oder gar das Kreuz besudelten. Und just ereignete sich ein solch hässlicher Moment. Einer der vier Frevelknaben spie ihm mitten ins Gesicht.

Das Mädchen hielt das Kreuz. Obwohl ihr bisher die Anwendung jeglicher Grobheiten und Gewalt fremd war, hätte sie beinahe instinktiv damit nach dem gemeinen Rohling geschlagen. Stattdessen starrte sie ungläubig Bruder Johannes an. Warum um Himmels Willen ließ er sich dies gefallen? In stoischer Ruhe nahm er ein Tuch aus seiner Kutte und wischte sich damit übers Gesicht.

Durch die Menschenmenge ging ein Aufschrei der Empörung.

„Macht das Scheusal doch gleich an Ort und Stelle einen Kopf kürzer!“, forderte eine Frauenstimme.

„Dafür kann es nur eine Strafe geben - die Pforten der Hölle werden sich auftun, sobald sein Kopf in den Sand rollt“, erzürnte sich einer der Soldaten, die den Armesünderzug begleiteten.

Der Gefangene packte nach seinen Ketten und zerrte an ihnen aus Leibeskräften. Durch die Eisenglieder fuhr ein lautes Rascheln. Erschrocken wichen einige der Schaulustigen zurück.

Die Spessarträuber stießen ein höhnendes Gelächter aus. Bis auf einen. Ein Jüngling von kräftiger Gestalt lag stumm im aufgeschütteten Stroh des Schinderkarrens. Um seinen Mund zog sich die Miene der Bitterkeit.

An was mochte er gerade denken? Das Mädchen fragte sich auch, welch schlimme Sünde er sich wohl aufs Kerbholz geladen hatte. Sie sollte es noch früh genug erfahren.

„Los, es geht weiter!“ Am Kopf des Armesünderzuges ertönte ein lautes Kommando.

Langsam setzte sich der Armesünderzug in Bewegung.

„Seid standhaft im christlichen Glauben und sterbt wie Christenmenschen.“ Auf Bruder Johannes Stirn klebte der Schweiß. Aller Beleidigungen und Demütigungen zum Trotz wurde er nicht müde, um für die Delinquenten zu beten. Getreu seines Auftrages, galt es die Seele eines Menschen zu retten, auch wenn diese längst dem Teufel verfallen war.

Das Mädchen bewunderte seine unermüdliche Mühe die Halunken in ihren letzten Momenten auf Erden zur Buße und Reue zu bringen. „Sprecht mir nach: Jesus Nazarenus, rex Judäorum - erbarme dich unser…“

Je näher der Zug und der Schinderkarren der Anhöhe des Richtplatzes kamen umso stiller wurden die Spessarträuber. Längst spuckte keiner mehr von ihnen nach dem Kapuzinerpater oder schimpfte ihn einen „verfluchten Pfaffen“.

Der Armesünderzug hatte den Hinrichtungsplatz erreicht. Jeden Augenblick konnte das „Theater des Schreckens“ beginnen. Die Hauptdarsteller – die Delinquenten standen vor ihrem einzigen und letzten „Auftritt“. Allein ihretwegen hatten sich so viele Menschen auf den weiten Weg gemacht. Die Plätze und Ränge ringsum waren mehr als gut besetzt. Die Menschenmasse war kaum zu bändigen. Das blutgeile Publikum schob und drängte sich um die Anhöhe des Steinbuckels. Jeder wollte die beste Sicht. Diese hatten immer noch die Soldaten. In einer dicht stehenden Reihe, Gewehr bei Fuß, umschlossen sie die Richtstätte. Niemand sollte die Gelegenheit beim Schopfe packen, um die Exekution zu stören. Das Volk des Pöbels und des Mobs liebte das Schauspiel des Tötens. Besonders dann, wenn der Scharfrichter mit sicherer Hand richtete. Wenn er jedoch „butzte“, wäre es unweigerlich um ihn geschehen. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Henker bei einer missglückten Hinrichtung vom Publikum an Ort und Stelle gelyncht wurde. Deshalb war die Obrigkeit eifrig darum bemüht sein Leben zu schützen.

Ein greller Trommelwirbel ertönte. Die letzten Schmährufe, das Geschimpfe und die Spottgesänge verstummten. Sobald die Obrigkeit das Wort ergriff, hatte das Volk zu schweigen.

Die schneidende Stimme eines Uniformierten verkündete den Urteilsspruch:

„Johann Bopp genannt Klemm, Johannes Bauer, Sebastian Heidelmaier – ihr seid beschuldigt, gemeinsam mit weiteren Komplizen, am 13. November 1787 zwischen Esselbach und Rohrbrunn auf der Nürnberger Straße die Postkutsche überfallen zu haben…“

„Hast du dir den Weg gemerkt?“ Bruder Johannes nahm das Mädchen zur Seite. Ihm brach der Schweiß aus allen Poren. Gleich würde Blut fließen.

„Du meinst zurück ins Kloster?“

„Ja, geh bitte“, drängte er, „das was gleich geschieht, ist nichts für dich.“

„…angesichts der Schwere eures Verbrechens und weiterer Delikte in zwölf Fällen, die euch nachweislich zur Last gelegt werden…“ Der Uniformierte fuhr mit seiner Litanei fort.

„Nein, ich möchte bei dir bleiben“, sagte sie und drängte sich dicht an seine Seite.

„Dann schließt du ab jetzt deine Augen und du öffnest sie erst wieder wenn ich es dir sage. Versprichst du mir das?“

„Ja“, hauchte sie kurz und sie schloss die Lider.

„…sollt ihr nun, zur Strafe und den anderen zum abschrecklichen Exempel, vom Leben zum Tode hingerichtet werden.“

Während der Urteilsverkündung, wurden zwei der Delinquenten die Eisenketten abgenommen und auf Stühle gesetzt und mit festen Stricken gefesselt. Es gab keinen Richtblock mehr, auf dem der Missetäter sein Haupt auflegen musste, bis es vom Schwert des Scharfrichters abgetrennt wurde. Die Delinquenten sollten aufrecht sitzend sterben. Selbst angesichts des nahen Todes empfand keiner der Galgenvögel Furcht. Zumindest stellte keiner von ihnen diese nach außen hin zur Schau. Durch die Reihen des Publikums ging ein merkliches Raunen. Neuerlich setzte ein hektisches Gedränge ein. Jeder versuchte im letzten Moment einen noch besseren Blick zu erhaschen. Das blutige Spektakel trieb allmählich seinem Höhepunkt entgegen.

„Das hohe Gericht der Mainzer Landesregierung hat befunden, dass der Maleficant namens Fischer wegen seines noch jungen Alters und der geringfügigen Schwere seiner Mittäterschaft die Exekution erspart bleibt. Er ist jedoch dazu verurteilt, den Tod seiner Komplizen mitanzusehen. Anschließend ist er zur Verbüßung einer langen Haftstrafe unverzüglich ins Zuchthaus einzuweisen.“ Der Uniformierte rollte den steifen Pergamentbogen zusammen.

Der Spessarträuber, welcher auf den Namen Fischer hörte, wurde ebenfalls nach vorne geführt. Hautnah musste er die Exekution seiner Spießgesellen mitansehen. Obwohl ihm als Einziger ein grausiges Schicksal erspart blieb, packte ihn plötzlich ein heftiges Zittern. Das Klappern seiner Zähne war bis in die zweite Reihe der blutgeilen Gaffer zu hören.

Nun kam der Räuberhauptmann an die Reihe, er war es gewesen der vorhin Bruder Johannes einen „verfluchten Pfaffen“ geschimpft hatte. Gepackt von zwei „Eisendienern“ – den Gehilfen des Scharfrichters wurde er in die Mitte geführt. Er musste sich mit dem Rücken auf den Boden legen. Seine Arme und Beine wurden seitlich gespreizt und an Pflöcken, die tief in der Erde steckten festgebunden. Willenlos ließ er alles über sich ergehen.

„Hochwohlgeborene Herren Richter, wollt ihr das Urteil?“ Bislang hatte er sich im Hintergrund gehalten. In sein unverkennbares Habit gekleidet trat ein weiterer Hauptakteur nach vorne. Eine Ledermaske verbarg das Gesicht des Scharfrichters. Ihr Zweck diente einzig und allein zum Schutz des Trägers vor dem bösen Blick. Einem jener gefährlichen, fürchterlichen Blicke, wie ihn Todgeweihte demjenigen zuwarfen, der ihnen etwas Schlimmes antat. Sei es alte Tradition oder ewiger Aberglauben, auch dieser „Peinmann“ oder „Angstmann“, wie der Henker vom Volk respektvoll tituliert wurde, hielt daran fest. So wie es die Zeremonie vorschrieb, trat er zu den Richtern.

Völlige Stille hielt das weite Rund des Richtplatzes umschlossen. Unweit davon, saß eine Schar Krähen auf den kahlen Ästen eines Baumes. Neugierig beobachteten sie mit ihren schwarzen Augen das Geschehen. Selbst ihre ewig krächzenden Schnäbel waren verstummt. Die Welt ringsum hielt ihren Atem an…

„Ja, Meister, es ist euch erlaubt und auferlegt das Urteil zu vollstrecken“, sprach der oberste der drei Richter. In seiner Stimme lag eisige Gefühlskälte. „Doch höre, weil der Anführer der Bande Johann Bopp, genannt Klemm im Verhör sein Verbrechen zugab, sollt ihr ihm Gnade erweisen und ihn mit nur einem einzigen Stoß töten. Richte mit sicherer Hand und dem richtigen Maß, damit das Verbrechen gesühnt werde, vor Gott und den Menschen.“

Das Kapuzinermädchen hielt die Augenlider nach wie vor fest geschlossen.

„Christi, Blut und Gerechtigkeit…“ Bruder Johannes nahm das Kruzifix und segnete die todgeweihten Gesetzesbrecher. Doch keiner der Spessarträuber verzog auch nur eine Miene.

Der Scharfrichter ging zur Seite und bückte sich. In diesem Augenblick öffnete das Kapuzinermädchen seine Augen. Sie war wie gelähmt. Sie sah, wie er ein großes eisenbeschlagenes Wagenrad vom Boden aufhob. Sie hatte sich schon gefragt, was damit sei. Niemand würde irgendwo ein Rad ablegen oder dies einfach vergessen haben.

Er tat zwei, drei Schritte zum Räuberhauptmann, stellte sich mit den Füßen genau vor ihn. Seine Hände nahmen das Wagenrad weit in die Höhe, ehe er es dann mit voller Wucht auf die Brust des Delinquenten fallen ließ. Johann Bopp, genannt Klemm stieß einen lauten Wehschrei aus. Der gutgezielte Stoß saß genau auf dem Herzen.

Plötzlich platzte es los. Die ganze Anspannung entlud sich. Geformt aus unzähligen Kehlen folgte ein ohrenbetäubender Jubelschrei. Getragen von Häme, Hass, Freude und Blutgier lärmte es über die Richtstätte hinweg. Für eine Weile in der Luft stehend, brach der tausendfache Schrei plötzlich ab, als würde eine Welle gegen ein Kliff donnern und dabei zerbersten.

Das Kapuzinermädchen wusste nicht wie ihr geschah. Ihr Herz pochte ganz wild, so als wolle es zerspringen. Das blanke Entsetzen stand ihr ins Gesicht geschrieben. Ihre Augen starrten weit aufgerissen auf die grausige Szenerie, an der die Menschen so großen Gefallen fanden. Unfassbar, wie konnte man sich am Tode eines anderen derart ergötzen und erfreuen?

Dieser einzige Stoß mit dem Wagenrad genügte um den Chawweruschen-Chef *6) Johann Bopp, genannt Klemm zu töten. Der Scharfrichter hatte ihm den Gnadenstoß versetzt, so wie es die Richter verlangten. Jetzt musste er dem Toten noch die Glieder zerschlagen. Er fuhr mit seinem blutiges Handwerk fort…

Der junge Räuber namens Fischer übergab sich.

Nun brachen bei ihr alle Dämme. Das Mädchen lief mit leichenblasser Miene auf und davon. Bruder Johannes versuchte sie aufzuhalten. Der Griff seiner Hand ging ins Leere. Er durfte ihr nicht nacheilen. Sein „Dienst – der Errettung einer sündhaften Seele“ war noch nicht zu Ende.

Es war ihr fast unmöglich, sich einen Weg durch die dicht gedrängten Menschenleiber zu bahnen. Wilde Panik ergriff das arme Ding. Sie trat mit ihren Füßen gegen zahllose Beine und stieß, heftige Puffer austeilend gegen die Körper der Gaffer.

„He, bist du denn verrückt geworden?“Eine Hand packte sie an ihrer Kapuze. „Hiergeblieben Rotschopf, so kommst du mir nicht davon…“ Sie handelte instinktiv wie ein Tier. Ein schneller Biss in die Hand des fremden Mannes und sie war wieder frei.

„Auuuh!“ Der Kerl ließ los. „Du bist schlimmer als eine Wildkatze.“

„Na Galgenpater, dein Gehilfe hat wohl kalte Füße bekommen“, spottete ein Umstehender.

Bruder Johannes biss sich auf die Zähne. Warum hatte es der Guardian verlangt, dass „Matthias“ an einem solch schrecklichen Schauspiel teilnahm. Sein Hass auf Pater Leopold wuchs ins Grenzenlose. Vielleicht sollte sein Schützling von der Welt jenseits der Klostermauern so verängstigt werden, dass er niemals aus freien Stücken das Kloster verlassen wollte. Auch er mochte es nicht gerne leiden, andere sterben zu sehen, erst recht nicht, wenn dabei Gewalt angewendet wurde.

„Das Jüngelchen ist gar zu zart besaitet“, höhnte es von einer anderen Seite. Einige spöttische Lacher folgten.

Mit schnellen Schritten eilte das Mädchen vom Richtplatz, als wären die wilden Furien hinter ihr her.

Keuchend rannte sie den Schmerlenbacher Weg hinab. Sie hatte gerade die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht, als plötzlich von Neuem ein infernalisches Freudengeschrei über den Richtplatz brandete. In diesem Moment rollte das Haupt des Spessarträubers Johannes Bauer über den Erdboden. Kurz darauf folgte auch der Kopf von Sebastian Heidelmaier. Die grausame Justiz hatte ihr Recht gefordert und bekommen. Der Pöbel und Mob hatte seinen Spaß gehabt. Man begab sich wieder auf den Heimweg, bis zum nächsten Mal.

*

Am „Fest der Erscheinung des Herrn“, dem 6. Januar 1790. Im Refektorium des Kapuzinerklosters.

„Als Herodes merkte, dass ihn die Sterndeuter getäuscht hatten, wurde er sehr zornig, und er ließ in Bethlehem und der ganzen Umgebung alle Knaben bis zum Alter von zwei Jahren töten…“*7)

Das Mittagsmahl der Kapuziner sah sich durch die geistige Lesung eines Bruders begleitet. Unterstützt vom genüsslichen Schmatzen der Esser. Man merkte es seiner gehetzten Stimme an, dass er es eilig hatte, die Worte aus der Heiligen Schrift seinen Mitbrüdern zu verkünden. Sein leerer Bauch knurrte vor Hunger. Erst wenn sie alle ihre tönernen Schüsseln geleert hatten und ihre Bäuche gesättigt waren, durfte auch er den Löffel in die Hand nehmen.

„Matthias“ hatte seine Speise kaum angerührt. Ihr war das schreckliche Ereignis auf dem Richtplatz ordentlich auf den Magen geschlagen. Seit über einer Woche bekam sie kaum einen Brocken runter. Wenn es so weiterging, konnte sie sprichwörtlich „den Bock zwischen den Hörnern küssen“. Auch die köstliche Gänsekeule und das Gericht aus Brot und Milch hatte sie kaum angerührt.

In der Mitte des Refektoriums stand auf einem breiten Tisch eine holzgeschnitzte Krippe. Das Mädchen liebte die Darstellung des Weihnachtswunders. Vor etlichen Jahren hatte sie einst ein gewisser Graf Maximilian von Ostein dem Konvent geschenkt.

Seitdem die Aufstellung der Krippe in der Kirche durch das Generalkommissariat Würzburg als „Kinderkram“ abgetan und verboten wurde, durften sich die Kapuziner wenigstens in ihren eigen Räumen an ihrem Anblick erfreuen. Seit dem blutigen Geschehnis vermochte selbst die Krippe keinen Freudenstrahl in die verstörte Seele des Mädchens zu schicken. Nein, freiwillig würde sie kein zweites Mal mehr den Schmerlenbacher Weg hochgehen.

Viel anders sah es sich bei Bruder Johannes, der wie immer an ihrer Seite saß, auch nicht bestellt. Auch ihm schlug die Hinrichtung mächtig aufs Gemüt. Die Appetitlosigkeit war noch das geringste Übel. Es lag einzig an den Nächten, jene bescherten ihm wahre Albträume. Immer wieder sah er sich von den hingerichteten Spessarträubern heimgesucht. Sein zart besaitetes Wesen brauchte jedes Mal lange, um den Anblick von einem im Sonnenlicht blitzenden Richtschwert und spritzendem Blut zu verdauen.

„…damals erfüllte sich, was durch den Propheten Jeremia gesagt worden ist: Ein Geschrei war in Rama zu hören, lautes Weinen und Klagen. Rahel weinte um ihre Kinder…“*8)

Plötzlich mitten in die Worte des Sprechers griff sich Bruder Johannes an die Brust. Das Kapuzinermädchen ließ den Löffel in ihre längst erkaltete Suppe fallen. Ehe sie begriff, was vor sich ging, fiel Bruder Johannes in einem lauten Aufstöhnen rückwärts von der Holzbank. Dumpf schlug sein lebloser Körper auf die Holzdielen.

„Was ist mit dir?“ Entsetzt sprang sie von ihrem Platz auf und eilte ihm zur Seite. „Sag doch was!“

Bruder Johannes Lippen blieben stumm.

*

Die strahlende Januarsonne warf einen hellen Lichtschein durch das farblose Fensterglas ins Innere des Infirmariums.*9) Die „materia medica“ verströmte sich in wohlriechenden Pulvern, Kräutern und Gewürzen. Auf den Regalen entlang der Wände häufte sich eine Vielzahl von Dosen, Schachteln, Salbentöpfen, Schalen, Uringläsern, Löffeln, Tiegeln, kleinen Kübeln, medizinischen Gläsern, Salbenspateln, Mörsern und Stößeln sowie einer Feinwaage, zu einem ungeordneten Sammelsurium an. Ein Skalpell für den Aderlass, welcher das „Gift der Krankheit“ aus dem Körper eines Kranken fließen lässt, durfte hierbei nicht fehlen. Die Schubkästen eines hölzernen, mit Eisen beschlagenen Apothekerkastens hielten ebenfalls wertvolle Arzneien aus der „Gottesapotheke des Klostergartens“ bereit. Ein großer dicker Codex, eingebunden in dunkelfleckiges Leder mit Messingschließen versehen, barg unschätzbare Werke der Heilkunde.

Für den Mann auf dem Bett, kamen all jene Heilkräuter und jedes Heilwissen zu spät.

Seit Stunden lag Bruder Johannes völlig reglos darnieder. Ein schwerer Schlaganfall hatte fast alle Glieder des Ärmsten gelähmt. Seit seinem Zusammenbruch im Refektorium war er nicht zu Bewusstsein gelangt. Sein röchelnder Atem ging ganz leise. Der Unglückliche war nicht alleine. Das Kapuzinermädchen befand sich an seiner Seite. Sie war die ganz Zeit über in seiner Nähe geblieben. Der „Caritas“ *10) seiner Mitbrüder bedurfte es nicht mehr. Die Mitglieder des Konvents hatten sich in der Kirche eingefunden, um für sein Seelenheil zu beten. In seinen matten Gesichtszügen lagen graue Schatten.

Das Mädchen hatte sich längst die Seele aus dem Leib geheult. Mittlerweile waren ihre Augen wegen der zahllosen Tränen entzündet. Sie hielt ihren Kopf dicht an seine rechte Schulter. Ihr Verstand konnte es nicht fassen, dass ihr geliebter Ziehvater ein derart grauenhaftes Los getroffen hatte. Ihr Schmerz war maßlos.

Plötzlich ging eine leise, kaum spürbare Regung durch seinen Körper. Sie sah auf. Durch die Schleier ihrer verweinten Augen erkannte sie, wie Bruder Johannes seinen Kopf ein kleines Stück zu ihr hin bewegte. Er öffnete die Lider.

„Ahhh… ich habe gewusst, dass du… an meiner Seite…bist“, flüsterte er ganz leise. Ein flüchtiges Lächeln glitt ihm übers Gesicht.

Sie hob ihr Ohr dicht an die Lippen des Sterbenden, sonst hätte sie ihn nicht gehört. „Quäl dich nicht so“, sprach sie und streichelte ihm zärtlich über die Wange.

„Da… wo ich bald hingehe…“ Er stöhnte schwer.

„…habe ich genug Zeit… mich auszuruhen…“

Ihre Lippen bebten. Sie spürte sein nahes Ende. Nur mit Mühe vermochte sie einen neuerlichen Weinkrampf zu unterdrücken. „Bevor ich gehe… muss ich dir etwas… Wichtiges sagen.“ Sein Körper streckte sich. Jeden Augenblick musste er seinen letzten Lebensfunken aushauchen. „Geh in unsere Zelle… in meinem Bett…“ Schweißtropfen perlten auf seiner Stirn.

„Schon dich doch bitte“, bat sie.

Er schüttelte den Kopf.

„Tief im Stroh meines Bettes… habe ich… etwas versteckt… es gehört dir.“

„Ich habe nie etwas besessen“, erwiderte sie erstaunt.

„Da täuschst du dich…“ fuhr er mit brüchiger Stimme fort. „Es handelt sich um… ein goldenes Medaillon. Man hat es damals… zu dir ins Bündel gelegt, als man dich… zu uns brachte.“ Seine letzten Kräfte schwanden. „Das Medaillon ist… von allergrößtem Wert. Aber du musst das Medaillon aufklappen…du musst wissen…“ Durch seinen Leib fuhr ein heftiges Zittern. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit, sein letztes Geheimnis zu offenbaren.

Sie barg den Kopf des Sterbenden in ihre Arme.

Er schenkte ihr ein gequältes Lächeln. „Eines der beiden Bilder zeigt…“ Ein heftiges Schnaufen unterbrach seine Worte, „…eine Frau sie…“ Er war noch nicht zu Ende, als plötzlich mitten im Satz seine Lippen verstummten. Den wohl wichtigsten Teil seines Geheimnisses nahm er mit in sein Grab. Ein gnädiger Tod hatte Bruder Johannes von viel Leid und Qualen erlöst.

Noch am selben Abend wurde das Kapuzinermädchen zum Guardian Pater Leopold gerufen.

„Da unser lieber Bruder nicht mehr unter uns weilt, sehe ich mich gezwungen…“

An seinem missmutigen Tonfall und dem todernsten Gesichtsausdruck spürte sie, dass ihr gleich einiges an Unheil bevorstand.

„…dass du unser Konvent verlässt.“ Seine Worte glichen dem Klopfen eines schweren Eisenhammers auf ein Stück Blech.

Ihr klappte der Kinnladen herunter. Es schien, als riss ihr jemand den Boden unter den Füßen weg. Sie wollte nicht glauben, welch schreckliche Ungeheuerlichkeit, ihr da in die Ohren stach. W-a-s, sie sollte ihre Welt – ihre Heimat verlassen?

„Warum?“, hauchte sie mit trockener Kehle. Sie brachte fast keinen Ton heraus.