Die Gartenparty - Katherine Mansfield - E-Book

Die Gartenparty E-Book

Katherine Mansfield

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Beschreibung

Große weibliche Erzählkunst von der Meisterin der modernen Short Story

Mit dieser exklusiven Auswahl lässt sich die Meisterin der kleinen Form (wieder)entdecken. Es war der kurze, oft alles entscheidende Lebensmoment, der Katherine Mansfield faszinierte. Ganz bewusst konzentrierte sie sich auf die detaillierte Beschreibung des Augenblicks: Die junge Hutverkäuferin, die am Fenster sitzend von Pelzmänteln und Sportcoupés träumt. Der Schock einer Sippe aus der High Society, als man vom gewaltsamen Tod eines Anwohners hört, dann aber doch darauf verzichtet, die Gartenparty abzusagen. Der Moment, in dem die Ehefrau begreift, dass ihr Mann die Hand ihrer Freundin um eine Sekunde zu lang gehalten hat. Wie kaum einer anderen Autorin gelingt es Katherine Mansfield, stets jenen Zeitpunkt einzufangen, der die ganze Wahrheit offenbart.

Mit ihren Erzählungen schuf sie eine moderne Form der englischen Kurzgeschichte und gleichzeitig ein Werk, das dank seiner psychologischen Raffinesse bis heute nichts von seiner Anziehungskraft eingebüßt hat. Wer moderne Literatur liebt, die unterhaltsam und raffiniert zugleich ist, kommt an dieser Autorin, die selbst Virginia Woolf als "die beste aller Schriftstellerinnen" bezeichnete, nicht vorbei.

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Seitenzahl: 490

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Mit dieser exklusiven Auswahl lässt sich die Meisterin der kleinen Form (wieder)entdecken. Es war der kurze, oft alles entscheidende Lebensmoment, der Katherine Mansfield faszinierte. Ganz bewusst konzentrierte sie sich auf die detaillierte Beschreibung des Augenblicks: Die junge Hutverkäuferin, die am Fenster sitzend von Pelzmänteln und Sportcoupés träumt. Der Schock einer Sippe aus der High Society, als man vom gewaltsamen Tod eines Anwohners hört, dann aber doch darauf verzichtet, die Gartenparty abzusagen. Der Moment, in dem die Ehefrau begreift, dass ihr Mann die Hand ihrer Freundin um eine Sekunde zu lang gehalten hat. Wie kaum einer anderen Autorin gelingt es Katherine Mansfield, stets jenen Zeitpunkt einzufangen, der die ganze Wahrheit offenbart.

Katherine Mansfield

DIE GARTENPARTY

Short Storys

Aus dem Englischen übersetzt von Irma Wehrli

Nachwort von Julia Schoch

MANESSE VERLAG

Die Frau im Laden

Den ganzen Tag lang herrschte eine fürchterliche Hitze. Der Wind wehte nah am Boden; er wurzelte im Tussockgras1 und taumelte die Straße hinunter, dass der weiße Bimsstaub, den es uns in die Gesichter trieb, auf uns liegen blieb und uns einpuderte und am ganzen Leib juckte. Die Pferde stolperten hustend und prustend vorwärts. Das Packpferd war krank – da war ein großer kahler Fleck, wundgescheuert am Bauch. Immer wieder blieb die Mähre abrupt stehen, warf den Kopf zurück, sah uns an, als wollte sie losheulen, und wieherte. Hunderte von Lerchen gellten, der Himmel war schieferfarben, und das Zirpen der Lerchen erinnerte mich an Griffel, die über die graue Schiefertafel kratzten. Nichts war zu sehen als Welle um Welle von Tussockgras, dazwischen purpurrote Orchideen und Manukabüsche2, dick von Spinnweben überzogen.

Jo ritt voraus. Er trug ein blaues Baumwollhemd, Cordhose und Reitstiefel. Ein weißes Taschentuch mit roten Flecken – wie von Nasenbluten – war um seinen Hals geknüpft. Weiße Haarsträhnen sahen unter seinem Schlapphut hervor – auch Schnurrbart und Brauen waren sozusagen weiß –, und er hing murrend im Sattel. Nicht einmal hatte er an dem Tag gesungen:

«Is mir egal, und wisst ihr, warum?

Weg’n Schwiegermama, fragt nicht so dumm!»3

Es war der erste Tag seit einem Monat, dass wir darauf hatten verzichten müssen, und jetzt kam uns sein Schweigen unheimlich vor. Jim ritt neben mir, weiß wie ein Clown; seine schwarzen Augen glitzerten, und er streckte ständig die Zunge heraus und befeuchtete seine Lippen. Er trug eine «Jaeger»-Weste und eine blaue Segeltuchhose, mit einem geflochtenen Ledergürtel um die Mitte. Wir hatten seit dem frühen Morgen kaum ein Wort miteinander gewechselt. Am Mittag hatten wir neben einem sumpfigen Bach Rosinenkekse und Aprikosen gegessen.

«Mein Magen fühlt sich an wie ein Hühnerkropf», sagte Jo. «Also, Jim, du bist der Hellste von uns – wo isn dieser Laden, von dem du die ganze Zeit faselst? ‹Aber ja›, sagstu, ‹ich weiß ’nen tollen Laden mit ’ner Koppel für die Pferde und ’nem Bach mittendurch von ’nem Freund von mir, der dir noch vor seiner Hand ’ne Flasche Whisky gibt.› Den Ort würd ich gern mal sehn … aus reiner Neugier … nicht dass ich dir je nicht glauben würd … das weißtu … bloß …»

Jim lachte. «Und vergiss nicht, dass da auch noch ’ne Frau ist, Jo, mit blauen Augen und blondem Haar, die dir noch vor ihrer Hand sonst was geben will. Schreib dir das hinter die Ohren!»

«Die Hitze macht dich plemplem», sagte Jo. Aber er presste seinem Pferd die Knie in die Flanken. Wir trotteten weiter. Ich nickte ein und träumte schlecht, dass die Pferde überhaupt nicht vorankämen … und dann, dass ich auf einem Schaukelpferd säße und meine alte Mutter mich ausschimpfte, weil ich so viel grässlichen Staub vom Wohnzimmerteppich aufgewirbelt hätte. «Du hast das Teppichmuster ganz abgenutzt», hörte ich sie schimpfen, und sie riss an den Zügeln. Ich schniefte und sah mich beim Erwachen Jim gegenüber, der sich mit einem boshaften Lächeln über mich beugte.

«Das war knapp», sagte er. «Ich konnte dich grad noch auffangen. Was ist los? Bistu weggetreten?»

«Nein!» Ich hob den Kopf. «Gott sei Dank sind wir irgendwo angekommen.»

Wir waren nun auf der Hügelkuppe, und unter uns befand sich ein whare4 mit Wellblechdach. Es stand in einem Garten, ein ganzes Stück von der Straße entfernt – gegenüber war eine große Koppel, und ein Bach, gesäumt von jungen Weiden, floss hindurch. Ein dünnes Räuchlein stieg kerzengerade aus dem Schornstein des Whare, und während ich gerade hinschaute, kam eine Frau heraus, gefolgt von einem Kind und einem Schäferhund – die Frau hatte etwas in der Hand, was ich für einen schwarzen Stock hielt. Sie fuchtelte damit in unsere Richtung. Die Pferde legten einen Schlussgalopp hin, Jo nahm seinen Schlapphut ab, warf sich jauchzend in die Brust und stimmte an: «Ist mir egal, wisst ihr, warum …?» Die Sonne brach durch die blassen Wolken und warf ein helles Licht auf das Geschehen. Es fiel auf das blonde Haar der Frau, auf ihre flatternde Schürze und auf die Flinte in ihrer Hand. Das Kind versteckte sich hinter ihr, und der gelbe Hund, ein räudiges Tier, trabte mit eingezogenem Schwanz ins Haus zurück. Wir zogen die Zügel an und stiegen ab.

«Hallo», schrie die Frau. «Ich dachte, es sind drei Raubvögel. Meine Kleine kommt zu mir gerannt. ‹Mama›, sagt sie, ‹da kommen drei braune Dinger übern Hügel›, sagt sie. Und ich raus wie der Blitz, kann ich euch sagen. ‹Das wern Raubvögel sein›, sag ich zu ihr. Oh, diese Raubvögel hier, kaum zu glauben.»

Die «Kleine» gewährte uns einen Blick auf ein Auge hinter der Schürze der Frau – und zog sich wieder zurück.

«Wo ist dein Alter?», fragte Jim.

Die Frau blinzelte flüchtig und verzog das Gesicht. «Auf der Schur. Schon seit ’nem Monat. Sie wern doch nich bleiben wolln? Ein Sturm zieht auf.»

«Da könn’ Se Gift drauf nehmen», sagte Jo. «Also sind Se ganz allein, Missus?»

Sie stand da, zupfte an den Rüschen ihrer Schürze und blickte uns reihum an wie ein hungriger Vogel. Ich lächelte beim Gedanken daran, was Jim Jo vorgeflunkert hatte von ihr. Ja, ihre Augen waren blau, und ihr schütteres Haar war blond, aber es war kein schönes Blond. Sie war eine Witzfigur. Wenn man sie anschaute, vermutete man, sie sei unter der Schürze nur Haut und Knochen – ihre Vorderzähne waren ausgeschlagen, ihre Hände rot und aufgedunsen, und sie trug ein Paar schmutzige Halbschuhe.

«Ich bring die Pferde auf die Weide», sagte Jim. «Ham Se was zum Einreiben? Poi hat sich furchtbar wundgescheuert!»

«Sekunde!» Die Frau stand einen Moment lang stumm da, und ihre Nasenlöcher weiteten sich beim Atmen. Dann brauste sie auf: «Mir wär’s lieber, Sie würden nicht bleiben … Und Sie können auch nicht, basta. Ich vermiete diese Koppel nicht mehr. Sie müssen weiterreiten; ich hab nix!»

«Na, da soll mir doch einer!», polterte Jo. Er nahm mich beiseite. «Hatse nicht mehr alle», flüsterte er. «Zu viel allein, weißtu», sagte er mit Nachdruck. «Verleg dich aufs Schöntun, sie gibt schon noch nach.»

Doch es war gar nicht nötig – sie gab von selber nach.

«So bleim Se eben!», brummte sie achselzuckend. Und zu mir: «Ich geb Ihnen den Balsam, wenn Se mitkommen.»

«In Ordnung, ich bring ihn dann raus.» Wir gingen zusammen den Gartenweg hinauf. Er war auf beiden Seiten mit Kohlköpfen bepflanzt. Sie rochen wie abgestandenes Spülwasser. Auch Blumen gab es: Schlafmohn und Nelken. Ein kleines Beet war mit Paua-Muscheln5 eingefasst – vermutlich gehörte es dem Kind, denn es lief seiner Mutter davon und begann mit einer schadhaften Wäscheklammer darin zu graben. Der gelbe Hund lag auf der Schwelle und schnappte nach Flöhen; die Frau gab ihm einen Tritt.

«Gr-rr, verpiss dich, du Vieh … es ist nicht aufgeräumt. Hab keine Zeit dafür gehabt heute … war am Bügeln. Komm rein.»

Es war ein großer Raum, die Wände waren mit alten Seiten aus englischen Zeitschriften tapeziert. Königin Victorias Thronjubiläum6 schien das neuste Blatt zu sein. Ein Tisch mit Bügelbrett und Waschzuber, ein paar Holzbänke, ein schwarzes Pferdehaarsofa und ein paar geborstene Rohrstühle, an die Wände geschoben. Der Sims über dem Ofen war in rosa Papier eingeschlagen und mit getrockneten Gräsern und Farnen und einem Farbdruck von Richard Seddon7 ausgeschmückt. Es gab vier Türen – eine davon führte, dem Geruch nach zu urteilen, in den «Laden», eine zum «Hof», und durch eine dritte sah ich das Schlafzimmer. Fliegen summten im Kreis um die Decke, und Honigstreifen und Säckchen mit getrockneten Nelken waren an die Vorhänge geheftet.

Ich befand mich allein im Zimmer; sie war im Laden den Balsam holen gegangen. Ich hörte sie herumstapfen und vor sich hin murmeln: «Ich hab doch welchen, aber wohin hab ich diese Flasche getan? … Hinter dem Eingemachten … nein.» Ich räumte mir auf dem Tisch einen Platz frei, setzte mich darauf und ließ die Beine baumeln. Von der Koppel drüben hörte ich Jo singen und das Geräusch der Hammerschläge, als Jim die Zeltpflöcke einschlug. Die Sonne ging unter. Es gibt keine Dämmerung in unserem Tageslauf in Neuseeland, nur eine seltsame halbe Stunde, in der alles bizarr wirkt – und erschreckend –, als ginge der wilde Geist des Landes um und feixte über das, was er sah. Allein in dem hässlichen Raum bekam ich es mit der Angst zu tun. Die Frau da nebenan war ja schon endlos am Suchen. Was trieb sie bloß dort drin? Einmal meinte ich zu hören, dass sie mit den Händen auf den Ladentisch schlug, und einmal stöhnte sie leise, machte ein Hüsteln daraus und räusperte sich. Am liebsten hätte ich «Beeilung!», gerufen, aber ich hielt mich still.

«Guter Gott, was für ein Leben!», dachte ich. «Tagein, tagaus hier zu sein, mit dieser Göre und einem räudigen Hund, man stelle sich das vor! Und dann gab sie noch was aufs Bügeln. Verrückt, natürlich muss sie verrückt sein! Nimmt mich wunder, wie lang sie schon hier ist … und ob ich sie vielleicht zum Reden bringe.»

In diesem Moment streckte sie den Kopf durch die Tür. «Was wollten Se schon wieder?», fragte sie.

«Balsam zum Einreiben.»

«Hab’s wieder vergessen. Aber ich hab welchen, er stand vor den Einmachgläsern.» Und sie reichte mir die Flasche. «Meine Güte, Sie sehn vielleicht müde aus. Soll ich euch ’n paar Scones zum Abendessen machen? Zunge gibt’s auch im Laden, und ich dämpfe euch ’nen Kohl, wenn ihr wollt.»

«Sehr gut.» Ich lächelte sie an. «Kommen Sie zur Koppel zum Tee, und nehmen Sie die Kleine mit.»

Sie schüttelte den Kopf und schürzte die Lippen. «O nein. Lieber nicht. Ich schick euch die Kleine runter mit den Sachen und ’nem Kessel Milch. Soll ich noch ’n paar Extra-Scones backen für morgen, zum Mitnehmen?»

«Danke.»

Sie kam und trat unter die Tür.

«Wie alt ist die Kleine?»

«Sechs … wird sechs an Weihnachten. Ich hab immer irgendwie Mühe mit ihr gehabt. Ich hatt keine Milch im ersten Monat nach ihrer Geburt, und sie hat gekränkelt wie ein Kalb.»

«Sie ist nicht wie Sie – kommt wohl nach ihrem Vater?»

Sie brauste wieder auf wie bei unserer Ankunft und schrie mich an. «Nein, überhaupt nicht! Sie ist ganz die Mutter. Das sieht jeder Dummkopf. Komm jetzt, Else, hör auf, dort im Dreck rumzuwühlen.»

Ich traf Jo, als ich über den Zaun kletterte.

«Was hat die alte Schlampe denn da im Laden?», fragte er.

«Weiß nicht … hab nicht nachgeschaut.»

«Wie kann man so dumm sein. Jim schimpft über dich. Was hast du denn so lange gemacht?»

«Sie konnte das Zeug nicht finden. Donnerwetter, du siehst gut aus!»

Jo hatte sich gewaschen, das nasse Haar adrett in die Stirn gekämmt und eine Jacke über dem Hemd zugeknöpft. Er grinste.

Jim schnappte sich den Balsam aus meiner Hand. Ich ging ans Ende der Koppel, wo die Weiden wuchsen, und badete im Bach. Sein Wasser war klar und samtig wie Öl. An den Ufern, wo er sich in den Gräsern und Binsen fing, strudelte und blubberte weißer Schaum. Ich lag im Wasser und blickte zu den Bäumen empor, die erst einmal still waren, sich dann leise regten und dann wieder still waren. Die Luft roch nach Regen. Ich dachte nicht mehr an die Frau und das Kind, bis ich zum Zelt zurückkehrte. Jim lag neben dem Feuer und sah dem brodelnden Kessel zu.

Ich fragte nach Jo und ob die Kleine das Essen gebracht habe. «Puh», sagte Jim, drehte sich auf den Rücken und sah zum Himmel empor. «Hast du nicht gesehen, wie Jo sich fein gemacht hat? Er hat zu mir gesagt, bevor er zum Whare ging: ‹Verflucht, was soll’s? Sie wird schon besser aussehen im Abendlicht … und so oder so, Junge, es ist Weiberfleisch!›»

«Du hast Jo reingelegt wegen ihres Aussehens … und mich auch.»

«Nein … weißt du. Ich versteh’s ja selber nicht. Vor vier Jahren kam ich mal hier vorbei und blieb zwei Tage. Ihr Mann war einst ein Kumpel von mir gewesen, damals an der Westküste – ein prächtiger, netter Kerl mit einer Stimme wie eine Posaune. Sie war Barmaid dort an der Küste – hübsch wie eine Wachspuppe. Die Postkutsche kam damals noch alle zwei Wochen hier vorbei, das war, bevor man die Eisenbahnlinie nach Napier eröffnete, und sie hatte mächtig viel Spaß. Hat mir mal in einem vertrauten Moment gestanden, dass sie auf hundertfünfundzwanzig verschiedene Arten küssen könne!»

«Jetzt hör aber auf, Jim! Das ist nicht dieselbe Frau!»

«Doch, natürlich … Ich begreif es ja auch nicht. Ich denk mir bloß, der Alte ist abgehauen und hat sie sitzengelassen; so versteh ich das mit dem Schafe scheren. Ade, süßes Leben! Die Einzigen, die hier noch vorbeikommen, sind Maori und Landstreicher!»

Durch die Dunkelheit sahen wir die Kinderschürze leuchten. Sie kam zu uns getrottet, mit einem Korb in einer Hand und dem Milchkessel in der anderen. Ich packte den Korb aus, und das Kind stand daneben.

«Komm her», sagte Jim und schnippte ihr mit den Fingern zu.

Sie kam, und die Lampe im Zelt warf ein helles Licht auf sie: ein ärmliches, ziemlich kleines Gör mit weißlichem Haar und schwachen Augen. Sie stand breitbeinig da, mit aufgedunsenem Bauch.

«Was tust du denn den lieben langen Tag?», fragte Jim.

Sie stocherte mit dem kleinen Finger im Ohr, besah sich den Erfolg und sagte: «Zeichnen.»

«Oh! Was zeichnest du denn? Lass deine Ohren in Ruhe!»

«Bilder.»

«Worauf?»

«Butterpapierfetzen, mit einem Stift von Mama.»

«Boah! Wie viele Wörter auf einmal!» Jim verdrehte die Augen. «Bählämmer und Muhkühe?»

«Nein, alles. Ich werde euch alle zeichnen, wenn ihr wieder fort seid, und eure Pferde und das Zelt, und die da» – sie zeigte auf mich – «ohne Kleider im Bach. Ich hab sie beobachtet, ohne dass sie mich sehen konnte.»

«Na vielen Dank. Das ist ja großartig von dir», sagte Jim. «Wo ist dein Dad?»

Das Kind schmollte. «Das sag ich dir nicht, denn ich mag dein Gesicht nicht!» Sie machte sich am anderen Ohr zu schaffen.

«Hier», sagte ich. «Nimm den Korb wieder, geh nach Hause, und sag dem anderen Mann, dass das Essen fertig ist.»

«Ich will nicht.»

«Ich zieh dir die Ohren lang, wenn du nicht willst», sagte Jim grimmig.

«Tu’s doch! Das sag ich Mama, das sag ich Mama.» Das Kind rannte davon.

Wir aßen uns satt und waren schon beim Rauchen, als Jo ganz erhitzt und aufgeräumt zurückkehrte, eine Whiskyflasche in der Hand.

«Trinkt was – ihr beiden!», rief er und schritt selbstzufrieden zur Tat: «Hier, gebt die Tassen weiter.»

«Hundertfünfundzwanzig verschiedene Arten», flüsterte ich Jim zu.

«Was war das? Ach, hör doch auf damit!», sagte Jo. «Was hastu mich die ganze Zeit auf dem Kieker? Du plapperst wie ’n Kind an einem Sonntagsschulfest. Wir sollen heute Abend zu ihr kommen und gemütlich schwatzen. Ich» – er machte eine lässige Handbewegung – «ich hab sie rumgekriegt.»

«Das wundert mich nicht», lachte Jim. «Aber hat sie dir erzählt, wo ihr Alter geblieben ist?»

Jo sah auf. «Auf der Schur! Hast es doch selber gehört, Dummkopf!»

Die Frau hatte das Zimmer hergerichtet und sogar ein Nelkensträußchen auf den Tisch gestellt. Sie und ich saßen auf der einen Seite des Tischs, Jo und Jim auf der anderen. Eine Öllampe wurde in die Mitte gestellt, dazu die Whiskyflasche mit Gläsern und ein Wasserkrug. Das Kind kniete sich vor eine Bank und zeichnete auf Butterpapier; ich fragte mich grimmig, ob sie sich wohl an der Szene am Bach versuche. Aber Jo hatte recht gehabt wegen des Abendlichts. Das Haar der Frau war zerzaust … zwei rote Flecke brannten auf ihren Wangen … ihre Augen glänzten … und wir wussten, dass die beiden unter dem Tisch ihre Füße aneinanderrieben. Sie hatte die blaue Schürze gegen ein weißes Baumwolljackett und einen schwarzen Rock getauscht – die Kleine war immerhin mit einer blauen Satinschleife im Haar geschmückt. In dem stickigen Raum mit den Fliegen, die gegen die Decke schwirrten und dann auf den Tisch fielen, betranken wir uns langsam.

«Jetzt hört mir mal zu», rief die Frau und schlug mit der Faust auf den Tisch. «Ich bin seit sechs Jahren verheiratet und hatte vier Fehlgeburten. Ich sag zu ihm, ‹was denkstu denn, dass ich hier tue? Wärstu noch dort an der Küste, würd ich dich wegen Kindsmords lynchen lassen.› Wieder und wieder sag ich zu ihm ‹du hast mir meinen Mut genommen und mein Aussehen verdorben, und wozu?› – darauf will ich hinaus.» Sie fasste sich mit den Händen an den Kopf und starrte zu uns herüber. «Oh, manchmal – monatelang – hör ich dieses Wort andauernd in mir gellen – ‹wozu›? Und manchmal koch ich Kartoffeln und nehm den Deckel ab, um reinzustechen, und hör’s plötzlich wieder: ‹wozu›? Oh, ich mein ja nicht bloß die Kartoffeln und die Kleine … ich meine … ich mein», sie hatte Schluckauf – «Sie wissen doch, was ich meine, Mr. Jo?»

«Ich weiß es», sagte Jo und kratzte sich am Kopf.

«Mein Problem is», sagte sie und beugte sich über den Tisch, «er hat mich zu oft allein gelassen. Als die Kutsche nicht mehr kam, ging er manchmal tagelang und manchmal wochenlang fort, und ich musste allein nach dem Laden sehen. Und plötzlich stand er putzmunter wieder da. ‹Oh, hallo›, sagte er dann. ‹Wie kommstu zurecht? Los, gib uns einen Kuss.› Manchmal wurde ich ein wenig gemein, und dann ging er wieder, und wenn ich es gelassen nahm, wartete er, bis er mich wieder um den Finger wickeln konnte, dann sagte er: ‹Also dann, ich bin jetzt mal wieder weg›, und glaubt ihr, ich hätte ihn aufhalten können? – keine Chance!»

«Mama», plärrte das Kind los. «Ich hab ein Bild gemacht von den Leuten auf dem Hügel und von dir und mir und von dem Hund hier unten.»

«Sei still!», sagte die Mutter.

Ein heller Blitz durchzuckte den Raum – wir hörten das Donnergrollen.

«Gut, dass es losgeht», sagte John. «Ich spür es schon seit drei Tagen im Kopf.»

«Wo ist denn dein Alter jetzt?», fragte Jim zögerlich.

Die Frau schluchzte und ließ ihren Kopf auf den Tisch fallen. «Jim, der ist auf Schafschur gegangen und hat mich wieder allein gelassen», klagte sie.

«Hier, pass auf die Gläser auf», sagte Jo. «Prost, nimm noch ’nen Schluck. Hat keinen Zweck, über verflossene Ehemänner zu jammern. Du, Jim, du bist ja total bekloppt!»

«Mr. Jo», sagte die Frau und trocknete sich die Augen an ihrem Jackensaum, «Sie sind ein Gentleman, und wenn ich Geheimnisse hätt, würd ich Ihnen jedes einzelne davon anvertrauen. Darauf können wir gern was trinken.»

Mit jedem Augenblick wurden die Blitze heller, und das Donnergrollen kam näher. Jim und ich schwiegen – und die Kleine regte sich nicht unter der Bank. Sie streckte die Zunge raus und blies ihr Papier beim Malen trocken.

«Es ist die Einsamkeit», sagte die Frau zu Jo – er schmachtete sie an –, «und hier eingeschlossen zu sein wie ’ne brütende Henne.» Er streckte die Hand aus über den Tisch und ergriff ihre, und obwohl es sehr unbequem aussah, wenn sie Wasser und Whisky weiterreichen wollten, blieben ihre Hände zusammen wie aneinandergeklebt. Ich stieß meinen Stuhl zurück und ging zur Kleinen hinüber, die sich sofort mitten auf ihre Kunstwerke setzte und mir eine Grimasse schnitt.

«Du sollst nicht schauen», sagte sie.

«Ach, komm schon, sei nicht so gemein!» Jim kam zu uns herüber, und wir waren gerade betrunken genug, um das Kind zu beschwatzen, uns die Zeichnungen zu zeigen. Sie waren in der Tat ganz außergewöhnlich und abstoßend vulgär. Das Werk einer Irren mit der Schläue einer Irren. Es gab keinen Zweifel: Das Kind war geisteskrank. Während es uns die Zeichnungen zeigte, steigerte es sich in eine aberwitzige Erregung hinein, lachte und zitterte und fuchtelte mit den Armen.

«Mama», kreischte sie. «Jetzt zeichne ich ihnen das, was du mir verboten hast – jetzt tu ich’s.»

Die Frau schoss vom Tisch auf und gab dem Kind mit der flachen Hand eine Ohrfeige. «Ich versohl dir den Hintern, wenn du das noch mal sagst», brüllte sie.

Jo war zu betrunken, um etwas zu bemerken, aber Jim fiel ihr in den Arm. Die Kleine gab keinen Mucks von sich. Sie schlenderte zum Fenster hinüber und begann Fliegen vom Honigstreifen abzulesen.

Wir setzten uns wieder an den Tisch – Jim und ich auf der einen Seite, die Frau und Jo, Schulter an Schulter, auf der andern. Wir lauschten dem Donner und sagten einfältig: «Das war aber nah», «Da kommt er wieder», und Jo meinte bei einem schweren Einschlag: «Jetzt geht‘s aber los», «Tritt auf die Bremse», bis es zu regnen begann, scharf wie Kanonenschüsse auf dem Wellblechdach.

«Ihr pennt besser hier», sagte die Frau.

«Genau», stimmte Jo zu, der offensichtlich über dieses Manöver Bescheid wusste.

«Holt eure Sachen aus dem Zelt. Ihr beide könnt mit dem Kind im Laden pennen – sie ist es gewohnt, dort zu schlafen, und es wird ihr nichts ausmachen.»

«Oh, Mama, das stimmt doch gar nicht», fiel ihr das Kind ins Wort.

«Schluss mit den Lügen! Und Mr. Jo kann das Zimmer hier haben.»

Die Sache klang lächerlich, aber Widerspruch war zwecklos, sie waren schon zu weit gegangen. Während die Frau erklärte, was sie vorhatten, saß Jo ungewöhnlich ernst und rotgesichtig da, mit vorquellenden Augen, und zupfte an seinem Schnurrbart.

«Gib uns eine Laterne», sagte Jim, «ich lauf zur Koppel hinunter.»

Wir beide gingen gemeinsam. Regen peitschte uns ins Gesicht, und das Land war hell, als ob ein Buschfeuer wütete. Wir benahmen uns wie zwei Kinder, die man mitten in ein Abenteuer gestürzt hat, und unter Gelächter und Zurufen kehrten wir in das Whare zurück und fanden das Kind schon auf den Ladentisch gebettet. Die Frau brachte uns eine Lampe. Jo nahm sein Bündel von Jim entgegen, und die Tür ging zu.

«Gute Nacht allerseits», rief Jo.

Jim und ich setzten uns auf zwei Kartoffelsäcke. Wir konnten beim besten Willen nicht aufhören zu lachen. Zwiebelschnüre und halbe Schinken baumelten von der Decke – wo wir auch hinsahen, entdeckten wir Werbung für «Camp Coffee» und Dosenfleisch. Wir zeigten darauf und versuchten die Inserate laut vorzulesen – überwältigt von Gelächter und Schluckauf. Das Kind auf dem Tresen starrte uns an. Es warf seine Decke ab und kletterte auf den Boden herunter, wo es in seinem grauen Flanellnachthemd dastand und die Beine aneinanderrieb. Wir schenkten ihm keine Beachtung.

«Worüber lacht ihr?», sagte es gereizt.

«Über dich!», rief Jim. «Über euch Hinterwäldlerpack, mein Kind.»

Sie empörte sich und schlug sich mit den Händen. «Ich lass mich nicht auslachen, ihr Köter, ihr.» Er stürzte sich auf das Kind und schwang es auf den Ladentisch.

«Schlaf jetzt, Miss Smarty … oder zeichne was … hier ist ein Stift … du kannst dafür Mamas Rechnungsbuch nehmen.»

Durch den Regen hörten wir Jo über die Bretter des Nebenzimmers schleichen – das Geräusch einer Tür, wenn sie aufging … und sich wieder schloss.

«Es ist die Einsamkeit», flüsterte Jim.

«Hundertfünfundzwanzig verschiedene Arten – oje! Mein armer Bruder!»

Das Kind riss eine Seite aus dem Buch und warf sie mir zu. «Da», sagte sie. «Jetzt hab ich’s getan, um Mama zu ärgern, weil sie mich hier mit euch beiden eingesperrt hat. Ich hab die genommen, die ich nie hätte nehmen dürfen. Und ich hab auch die genommen, bei der sie mir sonst mit dem Erschießen gedroht hat. Egal! Egal!»

Das Kind hatte das Bild einer Frau gezeichnet, die einen Mann mit einer Jagdflinte erschoss und dann ein Loch aushob, um ihn zu begraben.

Sie sprang vom Ladentisch, krümmte sich am Boden und kaute an ihren Nägeln.

Jim und ich blieben bis zum Morgengrauen dort sitzen, die Zeichnung zwischen uns. Der Regen hörte auf, die Kleine schlief ein und atmete laut. Wir standen auf, stahlen uns aus dem Whare und auf die Koppel hinaus. Weiße Wolken trieben über einen rosafarbenen Himmel – ein kühler Wind wehte, und die Luft roch nach nassem Gras. Als wir uns eben in den Sattel schwangen, kam Jo aus dem Whare – er bedeutete uns, weiterzureiten.

«Ich schließe mich euch später an», rief er.

Eine Straßenbiegung, und der ganze Ort war verschwunden.

Pearl Buttons Entführung

Pearl Button ritt auf dem Gartentörchen vor dem Reihenhaus. Es war frühnachmittags an einem sonnigen Tag, an dem die Lüftchen miteinander Verstecken spielten. Sie wehten Pearl Buttons Schürzenvolants in ihren Mund und pusteten den Straßenstaub über das Reihenhaus. Pearl sah ihm zu … er war wie eine Wolke … wie wenn Mutter ihren Fisch pfefferte und der Deckel vom Pfefferstreuer rutschte. Sie ritt ganz allein auf ihrem Törchen und sang ein Liedlein dazu. Zwei dralle Frauen kamen die Straße entlangspaziert. Eine war in Rot und die andere in Gelb und Grün gekleidet. Sie hatten sich rosa Taschentücher über den Kopf gezogen und hielten beide einen großen Flachskorb voller Farne in der Hand. Sie trugen weder Schuhe noch Strümpfe und kamen nur langsam voran, weil sie so dick waren, schwatzten und lachten die ganze Zeit. Pearl hielt inne, und als die beiden sie sahen, hielten sie auch inne. Sie konnten sich nicht sattsehen an ihr, und dann schwatzten sie miteinander, fuchtelten mit den Armen und klatschten in die Hände. Pearl musste lachen. Die beiden Frauen traten zu ihr hin, duckten sich unter die Hecke und warfen ängstliche Blicke zum Reihenhaus hinüber. «Hallo, kleines Mädchen!», sagte die eine.

Pearl sagte auch «Hallo!»

«Bist du ganz allein?»

Pearl nickte.

«Wo ist deine Mutter?»

«In der Küche, beim Dienstagsbügeln.»

Die Frauen lächelten sie an, und Pearl erwiderte das Lächeln. «Oh», sagte sie, «was für strahlend weiße Zähne ihr habt. Macht das noch mal!»

Die dunkelhäutigen Frauen lachten, und wieder wechselten sie komische Worte und gestikulierten. «Wie heißt du denn?», fragten sie sie.

«Pearl Button.»

«Kommst du mit uns, Pearl Button? Wir können dir schöne Dinge zeigen», flüsterte eine der Frauen. Also stieg Pearl vom Törchen und schlüpfte auf die Straße hinaus. Und sie ging zwischen den beiden dunklen Frauen die zugige Straße hinunter, hielt trippelnd mit ihnen Schritt und war neugierig auf das, was sie in ihrem Reihenhaus hätten.

Sie waren eine ganze Weile unterwegs. «Bist du müde?», fragte eine der Frauen und beugte sich zu Pearl herunter. Pearl schüttelte den Kopf. Sie gingen noch viel weiter. «Bist du nicht müde?», fragte die andere Frau. Und Pearl schüttelte wieder den Kopf, aber die Tränen schossen ihr dabei aus den Augen, und ihre Lippen bebten. Eine der Frauen gab ihren Farnkorb ab, nahm Pearl Button auf ihre Arme hoch und ging weiter, mit Pearl Buttons Kopf an ihrer Schulter, während ihre staubigen Beinchen herunterbaumelten. Sie war daunenweich und duftete süß – ein Duft, in den man den Kopf vergraben und nichts als atmen, atmen wollte …

… Sie setzten Pearl Button in einem Blockhaus ab, in dem viele andere Menschen ihrer Hautfarbe versammelt waren – und all diese Leute traten zu ihr hin und betrachteten sie nickend und lachend und verdrehten die Augen. Die Frau, die Pearl getragen hatte, löste ihr Haarband und schüttelte ihre Locken. Ein Aufschrei war von den anderen Frauen zu hören, und sie scharten sich um sie, und einige fuhren mit dem Finger ganz sanft durch Pearls blonde Locken, und eine andere, junge Frau hob die ganze Haarpracht an und küsste Pearl auf ihren schmalen weißen Nacken. Pearl war verlegen, aber auch glücklich. Auf dem Fußboden saßen ein paar Männer, in Decken und Federbehänge gehüllt, und rauchten. Einer zwinkerte ihr zu, zog einen großen, fleischigen Pfirsich aus der Tasche, legte ihn auf den Boden und schnippte ihn weg wie eine Murmel. Er rollte geradewegs auf Pearl zu, und sie hob ihn auf. «Darf ich ihn essen, bitte?», fragte sie. Darauf lachten sie alle und klatschten in die Hände, und der Mann zwinkerte ihr wieder zu und zog eine Birne aus der Tasche, die er über den Fußboden kullern ließ. Pearl lachte. Die Frauen setzten sich auf den Boden, und Pearl setzte sich auch. Der Fußboden war sehr staubig. Sie zog sorgsam ihr Schürzchen und Kleidchen hoch, setzte sich auf ihren Unterrock, wie man es sie für solche Fälle gelehrt hatte, und aß die Frucht, und der Saft rann an ihr herab.

«Oh!», sagte sie ganz erschrocken zu einer der Frauen: «Ich hab den ganzen Saft verschüttet!»

«Macht gar nichts», sagte die Frau und tätschelte ihr die Wange. Ein Mann betrat den Raum, mit einer langen Peitsche in der Hand. Er rief etwas, und alle standen schwatzend und lachend auf und hüllten sich in ihre Decken, Umhänge und Federbehänge. Pearl wurde wieder hochgehoben, diesmal in einen großen Wagen, und sie saß auf dem Schoß einer ihrer Frauen, neben dem Kutscher. Es war ein grüner Wagen, gezogen von einem roten und einem schwarzen Pony. Er fuhr sehr schnell aus der Stadt. Der Kutscher stand auf und ließ seine Peitsche knallen. Pearl spähte über die Schulter ihrer Begleiterin: Weitere Wagen folgten, wie in einer Prozession. Sie winkte ihnen zu. Dann wurde die Umgebung ländlich. Zuerst kamen Wiesen mit kurzem Gras, auf denen Schafe weideten, und niedrige Sträucher mit weißen Blüten und Heideröschenbüschel – dann mächtige Bäume beidseits der Straße –, und außer mächtigen Bäumen war gar nichts zu sehen. Pearl versuchte, zwischen ihnen hindurchzuspähen, aber es war zu dunkel. Vögel zwitscherten. Sie schmiegte sich enger an den mächtigen Schoß. Die Frau war warm wie eine Katze, und ihr Leib hob und senkte sich beim Atmen, als schnurrte sie. Pearl spielte mit ihrem grünen Schmuckanhänger, und die Frau nahm ihr Händchen und küsste einen Finger um den andern, dann drehte sie es um und küsste die Grübchen. Pearl war noch nie so glücklich gewesen. Zuoberst auf einem großen Hügel hielten sie an. Der Kutscher wandte sich nach Pearl um und sagte: «Schau, schau!» und wies ihr mit seiner Peitsche die Richtung.

Und da war zuunterst am Hügel etwas ganz anderes – ein mächtiges Stück blaues Wasser kroch da übers Land. Pearl schrie auf und klammerte sich an die dicke Frau: «Was ist das, was ist das?»

«Ach», sagte die Frau, «das ist doch nur das Meer.»

«Tut es uns etwas zuleide … kommt es zu uns?»

«Aber nein doch, es kommt nicht zu uns. Es ist wunderschön. Schau noch mal hin.»

Pearl schaute. «Bist du sicher, dass es nicht kommen kann?», fragte sie.

«Aber nein doch. Es bleibt, wo es ist», sagte die dicke Frau. Wellen mit weißen Schaumkrönchen hüpften über das Blau. Pearl sah, wie sie sich an einem langen Uferstreifen brachen, der mit Gartenwegmuscheln übersät war. Sie bogen um eine Ecke.

Ein paar Häuschen standen da, bis hinunter ans Meer, mit Holzzäunen rundherum und Gärten dahinter. Das munterte sie auf. Rosa und rote und blaue Wäsche flatterte über den Zäunen, und als sie näher kamen, traten noch mehr Leute vors Haus, gefolgt von fünf gelben Hunden mit langen, dünnen Schwänzen. All diese Leute waren fett und vergnügt, und nackte kleine Babys klammerten sich an sie oder tollten wie Welpen im Garten herum. Pearl wurde heruntergehoben und in ein Häuschen mit bloß einem Zimmer und einer Veranda gebracht. Da war ein Mädchen mit gescheiteltem schwarzem Haar, das ihr bis zu den Füßen reichte. Sie deckte auf dem Fußboden zum Essen auf. «Was für ein seltsamer Ort», sagte Pearl und staunte das hübsche Mädchen an, während die Frau ihr Höschen aufknöpfte. Sie war sehr hungrig und aß Fleisch, Gemüse und Früchte, und die Frau reichte ihr Milch in einer grünen Tasse. Und es war alles ganz still bis auf das Meeresrauschen und das Gelächter der beiden Frauen, die ihr zusahen. «Habt ihr keine Reihenhäuser?», sagte sie. «Lebt ihr nicht alle in einer Reihe? Gehen die Männer nicht ins Büro? Gibt es nichts Hässliches bei euch?»

Sie zogen ihr Schuhe und Strümpfe, Schürze und Kleidchen aus. Sie lief im Unterrock herum, und dann ging sie nach draußen, und das Gras schlüpfte ihr zwischen die Zehen. Die beiden Frauen erschienen mit anderen Körben als eben noch. Sie nahmen sie an der Hand. Über eine kleine Koppel, durch einen Zaun und dann über warmen Sand mit braunen Grasbüscheln gingen sie hinunter zum Meer. Pearl zögerte, als der Sand nass wurde, aber die Frauen redeten ihr gut zu: «Tut nicht weh, sehr schön. Kommen du.» Sie gruben im Sand und fanden Muscheln, die sie in die Körbe warfen. Der Sand war nass wie Schlammkuchen. Pearl vergaß ihren Schrecken und begann auch zu wühlen. Sie ereiferte und erhitzte sich, und auf einmal kroch Schaum über ihre Füße. «Uuh, uh!», kreischte sie und spritzte mit den Füßen: «Herrlich, herrlich!» Sie planschte im seichten Wasser. Es war warm. Sie wölbte ihre Hände und schöpfte ein wenig. Aber in den Händen war das Wasser nicht mehr blau. Sie war so aufgeregt, dass sie zu ihrer Frau hinübereilte, ihr die dünnen Ärmchen um den Hals warf und sie herzte und küsste …

Auf einmal stieß das Mädchen einen gellenden Schrei aus. Die Frau richtete sich auf, und Pearl rutschte auf den Sand hinunter und blickte landeinwärts. Da kamen kleine Blaukittel … kleine blaue Männchen angerannt, schreiend und pfeifend auf sie zugerannt … eine ganze Schar kleiner blauer Männchen, die sie zurückbringen sollten ins Reihenhaus.

Eine indiskrete Reise

Sie gleicht einer Heiligen Anna. Ja, die Concierge ist das Ebenbild der Heiligen Anna mit diesem schwarzen Tuch über dem Kopf, ihren grauen Haarsträhnen und der kleinen, rußenden Lampe in der Hand. Wirklich wunderschön, dachte ich und lächelte die Heilige Anna an, die streng verkündete: «Sechs Uhr. Sie haben eben noch genug Zeit. Auf dem Schreibtisch steht eine Schüssel Milch.» Ich hüpfte aus meinem Schlafanzug in ein Becken mit kaltem Wasser, wie die typische Engländerin in einem typischen französischen Roman. Die Concierge, überzeugt davon, dass ich in einer Gefängniszelle oder durch ein Bajonett enden würde, öffnete die Fensterläden, und das kalte, helle Licht drang herein. Ein kleiner Dampfer tutete auf dem Fluss, ein Karren mit zwei galoppierenden Pferden flog vorüber. Das schnell strudelnde Wasser, die hohen dunklen Bäume am anderen Ufer, die wie Schwarze8 im Gespräch beieinander standen. Sehr ominös, dachte ich, als ich meinen alten Burberry9 zuknöpfte. (Dieser Burberry war sehr bedeutsam. Er gehörte nicht mir. Ich hatte ihn mir von einem Freund geliehen. Mein Auge erspähte ihn im dunklen, kleinen Flur. Goldrichtig! Der perfekt passende Tarnanzug – ein alter Trenchcoat. Löwen wurde schon in einem Trenchcoat die Stirn geboten. Schiffbrüchige Damen wurden, in nichts anderes gehüllt, aus stürmischer See errettet. Ein alter Burberry ist das untrügliche Ehrenzeichen eines erwiesenermaßen bewährten Reisenden, fand ich, und ließ mein purpurrotes Karottenkleid mit Kragen und Manschetten aus echtem Seehundpelz hängen.)

«Sie werden es nie bis dorthin schaffen», sagte die Concierge und sah zu, wie ich den Kragen hochschlug. «Nie! Niemals!» Ich eilte die hallenden Stufen hinab – seltsam klangen sie, wie Klaviertasten, über die ein flüchtiger Staubwedel fährt – und auf den Quai hinunter. «Warum so eilig, ma mignonne10?», sagte ein hübscher Junge in bunten Socken, der vor den elektrischen Lotusknospen, die sich über den Eingang zur Métro wölben, herumtänzelte. Ach, ich hatte nicht einmal Zeit, ihm eine Kusshand zuzuwerfen. Als ich im großen Bahnhof ankam, blieben mir nur noch vier Minuten, und vor dem Bahnsteig scharten und drängten sich die Soldaten, mit ihren gelben Passierscheinen in einer Hand und ihrem unförmigen, unordentlichen Gepäck. Der Polizeikommissar stand auf der einen Seite, ein namenloser Beamter auf der anderen. Wird er mich durchlassen? Wird er? Er war ein alter Mann mit aufgedunsenem, feistem Gesicht voll großer Warzen. Eine Hornbrille saß auf seiner Nase. Zitternd riss ich mich zusammen. Ich zauberte mein schönstes frühmorgendliches Lächeln herbei und gab es ihm samt meinen Papieren. Aber das zarte Ding flatterte gegen seine Hornbrille und fiel in sich zusammen. Trotzdem ließ er mich passieren, und ich rannte, rannte in den Soldatentrupp hinein und wieder hinaus und die hohen Stufen hinauf in den gelb gestrichenen Wagen.

«Gibt es einen direkten Wagen nach X.?», fragte ich den Schaffner, der eine Zange in meinen Fahrschein grub und ihn mir wieder aushändigte. «Nein, Mademoiselle, Sie müssen in X. Y. Z. umsteigen.»

«In …?»

«X. Y. Z.»

Wieder hatte ich es nicht verstanden. «Und wann kommen wir dort an, bitte?»

«Um eins.» Aber das nützte mir nichts. Ich hatte keine Uhr. Doch man würde sehen.

Ah! Der Zug hatte sich in Bewegung gesetzt. Der Zug war auf meiner Seite. Er schwankte aus dem Bahnhof, und bald fuhren wir vorbei an Gemüsegärten, vorbei an hohen, leeren Häusern, die zu vermieten waren, vorbei an teppichklopfenden Dienstmädchen. Die Sonne war früh aufgestanden und über die Felder spaziert, rosig von den Flüssen und den rot gesäumten Teichen schien sie nun auf den schwankenden Zug, streichelte meinen Muff und bedeutete mir, meinen Trenchcoat abzulegen. Ich war nicht allein im Wagen. Eine alte Frau saß mir gegenüber, mit über die Knie hochgezogenem Rock und einer schwarzen Spitzenhaube auf dem Kopf. In ihren wulstigen Händen, die mit einem Hochzeitsring und zwei Trauerringen geschmückt waren, hielt sie einen Brief. Langsam, langsam nippte sie an einem Satz, blickte dann wieder auf und aus dem Fenster hinaus mit zitternden Lippen, nippte erneut an einem Satz, und wieder wandte sich das alte Gesicht dem Licht entgegen und kostete es … Zwei Soldaten lehnten sich aus dem Fenster, und ihre Hände berührten sich fast … der eine pfiff, der Mantel des anderen wurde von ein paar rostigen Sicherheitsnadeln zusammengehalten. Und jetzt waren da Soldaten überall, die an der Eisenbahnlinie arbeiteten, sich an die Loren lehnten und die Hände in die Hüften stützten, die Augen auf den Zug gerichtet, als erwarteten sie mindestens eine Kamera an jedem Fenster. Und jetzt fuhren wir an großen Holzbaracken gleich behelfsmäßigen Tanzböden oder Strandpavillons vorbei, und auf allen flatterte eine Fahne. Rotkreuzhelfer gingen dort ein und aus, und die Verwundeten saßen davor in der Sonne. Bei allen Brücken, Kreuzungen und Bahnhöfen ein petit soldat11, nichts als Stiefel und Bajonett. Verloren und einsam wirkte er, wie eine kleine Comicszene, die auf den Witz in der Bildunterschrift wartete. Gibt es wirklich so etwas wie einen Krieg? Ziehen all diese lachenden Stimmen tatsächlich in den Kampf? Diese dunklen Wälder, so geheimnisvoll von den weißen Stämmen der Birken und Eschen erhellt … diese triefenden Felder, über die große Vögel ziehen … diese grün und blau aufleuchtenden Flüsse … wurden an solchen Orten Schlachten geschlagen?

An welch schönen Friedhöfen kommen wir vorbei! Sie blitzen fröhlich auf in der Sonne. Kornblumen, Mohn und Maßliebchen scheinen dort überall zu blühen. Wie können dort zu dieser Jahreszeit so viele Blumen blühen? Doch es sind gar keine Blumen. Es sind Sträuße von Bändern, die auf den Soldatengräbern flattern.

Ich hob den Kopf und begegnete dem Blick der alten Frau. Sie faltete lächelnd den Brief zusammen. «Er ist von meinem Sohn – der erste, den wir seit Oktober bekommen haben. Ich bringe ihn meiner Schwiegertochter.»

«…?»

«Ja, sehr gut», sagte die alte Frau, zupfte an ihrem Rock und schob ihre Hand durch den Korbgriff. «Ich soll ihm ein paar Taschentücher und starke Schnur schicken.»

Wie heißt der Ort, an dem ich umsteigen muss? Vielleicht werde ich es nie erfahren. Ich stand auf und lehnte meine Arme über die Fensterbrüstung, mit überkreuzten Füßen. Eine Wange glühte wie damals als Kind, unterwegs ans Meer. Wenn der Krieg vorüber ist, werde ich ein Boot haben und all die Flüsse hinuntertreiben, und eine weiße Katze und ein Resedatopf werden mir dabei Gesellschaft leisten.

Die Hügelflanke hinab marschierten in einer Reihe die Truppen und blinkten rot und blau im Licht. Etwas weiter weg, aber deutlich sichtbar, flogen noch ein paar Soldaten auf Fahrrädern vorbei. Also wirklich, ma France adorée12, diese Uniform ist lächerlich. Deine Soldaten kleben an deiner Brust wie bunte, billige Abziehbildchen.

Der Zug wurde langsamer und hielt an … Alle bis auf mich stiegen aus. Ein großer Junge, die Holzschuhe mit Schnur am Rücken festgebunden und mit einem Weinbecher aus Zinn, der innen unwirklich rosa gefärbt war, sah ganz freundlich aus. Steigt man hier bitte nach X. um? Ein anderer, dessen Mütze wie einem feuchten Knallbonbon entsprungen wirkte, stellte meinen Koffer mit Schwung auf den Boden. Soldaten sind solche Schätze! «Merci bien, Monsieur, vous êtes tout à fait aimable …»13– «Nicht hier durch», befahl ein Bajonett. «Hier auch nicht», sagte ein zweites. Also folgte ich der Menge. «Ihren Pass bitte, Mademoiselle …» – «We, Sir Edward Grey …»14 Ich eilte über den schlammigen Platz ins Buffet.

Ein grüner Raum mit einem vorspringenden Ofen und Tischen zu beiden Seiten. Am schönen Tresen mit seinen bunten Flaschen lehnt eine Frau, die Arme über ihren Brüsten verschränkt. Durch eine offene Tür sehe ich eine Küche und den Koch mit weißer Schürze, der Eier in eine Schüssel aufschlägt und die Schalen in eine Ecke wirft. Die blauroten Mäntel der Männer, die gerade essen, hängen an den Wänden. Ihre Kurzschwerter und Gürtel stapeln sich auf den Stühlen. Himmel! Was für ein Lärm! Die sonnenhelle Luft war ganz erschüttert davon und schien zu beben. Ein sehr bleicher Junge schoss von Tisch zu Tisch, nahm die Bestellungen auf und goss mir ein Glas purpurroten Kaffee ein. Sssch, brutzelten die Eier in der Pfanne. Die Frau stürzte hinter dem Tresen hervor und begann dem Jungen zu helfen. «Tout de suite, tout’suite!»,15 zwitscherte sie den lauten, ungeduldigen Stimmen zu. Teller klapperten, und plopp-plopp knallten die Korken.

Da sah ich jemanden mit einem Eimer Fischen unter der Tür stehen – braun getüpfelte Fische, wie man sie im Aquarium sieht, wo sie durch ganze Wälder schönes getrocknetes Seegras schwimmen. Es war ein alter Mann in zerrissener Jacke, der ergeben dastand und darauf wartete, dass jemand auf ihn aufmerksam wurde. Ein schütterer Bart reichte ihm bis auf die Brust, und seine Augen unter den buschigen Brauen waren auf den Eimer in seiner Hand gesenkt. Er sah aus wie einem Heiligenbild entsprungen und als bitte er die Soldaten für seine bloße Anwesenheit um Verzeihung…

Aber was hätte ich tun können? Ich konnte nicht in X. ankommen mit zwei Fischen an einem Strohband; und dass es in Frankreich bei Strafe verboten ist, Fische aus einem Abteilfenster zu werfen, da bin ich mir sicher, dachte ich, als ich bedrückt in einen kleineren, schäbigeren Zug umstieg. Vielleicht hätte ich sie mitbringen können für – ah, mon Dieu – ich hatte schon wieder vergessen, wie mein Onkel und meine Tante hießen! Buffard … oder Buffon? Ich las den unvertrauten Brief in der vertrauten Handschrift noch einmal.

«Meine liebe Nichte,

nun, da das Wetter beständiger ist, würden Dein Onkel und ich uns über einen kleinen Besuch von Dir sehr freuen. Telegrafiere mir, wann Du ankommst. Ich werde Dich wenn möglich vor dem Bahnhof abholen. Andernfalls wird unsere liebe Freundin, Madame Grinçon, die im kleinen Zollhaus bei der Brücke wohnt, juste en face de la gare,16Dich zu unserem Heim begleiten. Je vous embrasse bien tendrement.

Julie Boiffard.»

Beigelegt war eine Visitenkarte: M. Paul Boiffard.

Boiffard – natürlich, so lautete der Name. Ma tante Julie et mon oncle Paul – plötzlich waren sie bei mir, wirklicher und echter als alle Verwandten, denen ich je begegnet war. Ich sah Tante Julie vor mir, wie sie trotzig den Kopf zurückwarf, die Suppenschüssel in der Hand, und Oncle Paul, der mit rotweiß karierter Serviette um den Hals bei Tisch saß. Boiffard … Boiffard … ich musste mir den Namen merken. Angenommen der Militärkommissar fragte mich, wer denn die Verwandten seien, zu denen ich wollte, und ich den Namen verwechselte … oh, das wäre fatal! Buffard … nein, Boiffard. Und als ich Tante Julies Brief zusammenfaltete, sah ich zum ersten Mal das Gekritzel in einer Ecke der leeren Rückseite: «Venez vite, vite.»17 Eine seltsam heißblütige Frau! Mein Herz begann zu pochen …

«Ah, jetzt ist es nicht mehr weit», sagte die Dame gegenüber. «Sie fahren nach X., Mademoiselle?»

«Oui, madame.»

«Ich auch. Sind Sie schon einmal dagewesen?»

«Nein, Madame. Das ist das erste Mal.»

«Eine seltsame Zeit für einen Besuch, wahrhaftig.»

Ich lächelte schwach und versuchte, nicht auf ihren Hut zu starren. Sie war zwar eine ziemlich gewöhnliche kleine Frau, aber sie trug ein schwarzes Samtbarett mit einer unglaublich verdutzt dreinblickenden Möwe, die zuoberst darauf thronte. Ihre runden Augen musterten mich dermaßen kritisch, dass es fast unerträglich war. Ich hatte einen schrecklichen Drang, sie zu verscheuchen oder mich vorzubeugen und der Dame ihre Anwesenheit mitzuteilen  …

«Excusez-moi, Madame, aber vielleicht haben Sie noch nicht bemerkt, dass un espèce de Möwe est couché sur votre chapeau.»18

War der Vogel etwa absichtlich da? Ich durfte nicht lachen … Ich durfte nicht lachen. Aber hatte sie sich je im Spiegel gesehen mit diesem Vogel auf dem Kopf?

«Es ist sehr schwierig momentan, nach X. zu gelangen, über den Bahnhof hinaus», sagte sie und schüttelte den Kopf mit der Möwe in meine Richtung. «Viel Scherereien. Man muss unterschreiben und den Zweck der Reise angeben.»

«Wirklich, so schlimm?»

«Aber natürlich. Der ganze Ort ist in der Hand der Armee, und» – sie zuckte die Achseln – «die müssen eben streng sein. Viele Leute gelangen gar nicht über den Bahnhof hinaus. Sie kommen an, werden in den Wartesaal verfrachtet, und dort bleiben sie dann.»

Bildete ich es mir nur ein, aus ihrer Stimme eine sonderbare, beleidigende Genugtuung herauszuhören?

«Ich nehme an, solche Strenge wird unbedingt nötig sein», sagte ich kalt und strich über meinen Muff.

«Nötig», rief sie aus. «Das will ich meinen. Ach, Mademoiselle, Sie können sich nicht vorstellen, was hier sonst los wäre! Von wegen Frauen und Soldaten, Sie wissen doch» – sie hob resolut die Hand –, «die sind verrückt nach ihnen, völlig verrückt. Aber …», und sie lachte leise triumphierend auf, «sie können nicht nach X. gelangen. Mon Dieu, nein! Das ist völlig unmöglich.»

«Ich nehme nicht an, dass sie es überhaupt versuchen», sagte ich.

«Ach wirklich?», sagte die Möwe.

Madame blieb einen Augenblick stumm. «Natürlich verfahren die Behörden sehr streng mit den Männern. Sie werden sofort eingesperrt und dann – kommentarlos ab an die Front.»

«Warum fahren Sie denn nach X.?», sagte die Möwe. «Was um Himmels willen haben Sie hier verloren?»

«Planen Sie einen längeren Aufenthalt in X., Mademoiselle?»

Sie hatte gewonnen, sie hatte gewonnen. Ich war ganz und gar verängstigt. Da glitt ein Laternenpfahl mit dem ominösen Namen darauf am Zug vorbei. Es verschlug mir fast den Atem – der Zug hatte angehalten. Ich lächelte Madame fröhlich zu und tänzelte die Stufen auf den Bahnsteig hinunter  …

Ein stickiger kleiner Raum, vollständig möbliert, mit zwei Obersten, die an zwei Tischen saßen, erwartete mich. Es waren korpulente Männer mit grauem Schnurrbart und roten Sonnenbrandflecken auf den Wangen. Prachtvoll und allmächtig sahen sie aus. Einer rauchte, was Damen gern eine schwere ägyptische Zigarette nennen, mit langer, cremiger Asche, der andere spielte mit einer vergoldeten Füllfeder. Ihre Köpfe rollten auf den eng anliegenden Kragen hin und her wie große, überreife Früchte. Ich händigte ihnen Pass und Fahrkarte aus und wurde vom Gedanken geplagt, ein Soldat würde vortreten und mich niederknien heißen. Ich hätte es ohne Zögern getan.

«Was ist das?», sagte Gott Nummer 1 missmutig. Mein Pass gefiel ihm gar nicht. Sein reiner Anblick schien ihn zu ärgern. Er machte eine wegwerfende Handbewegung, und seine Miene sagte: «Non, je ne peux pas manger ça.»19

«Nein, das geht nicht. Es geht überhaupt nicht, wissen Sie. Schauen Sie … lesen Sie selbst», und er betrachtete mit größter Abneigung mein Foto und richtete dann seine Augen wie Kiesel mit noch größerem Abscheu auf mich.

«Natürlich ist es ein jämmerliches Foto», sagte ich und atmete kaum vor Entsetzen, «aber ich kriegte ein Visum nach dem anderen damit.»

Er stemmte seine Leibesfülle hoch und ging zu Gott Nummer 2 hinüber.

«Mut!», sagte ich zu meinem Muff und drückte ihn fest: «Nur Mut!»

Gott 2 streckte einen Finger in meine Richtung aus, und ich zückte Tante Julies Brief und ihre Karte. Doch sie schien ihm vollkommen gleichgültig zu sein. Er stempelte gelangweilt meinen Pass und kritzelte etwas auf meine Fahrkarte, dann stand ich wieder auf dem Bahnsteig.

«Da lang … da lang geht’s raus.»

Schrecklich blass, mit einem leisen Lächeln auf den Lippen salutierend, stand da der kleine Korporal. Ich ließ mir nichts anmerken, ich bin sicher, dass ich mir nichts anmerken ließ. Er trat hinter mich.

«Und dann folgst du mir, als würdest du mich nicht sehen», hörte ich ihn halb flüstern, halb singen.

Wie rasch er ging und durch den schlüpfrigen Morast auf eine Brücke zuhielt. Er trug einen Postsack auf dem Rücken und hielt ein Paket und den Matin20in der Hand. Wir schienen uns durch ein Gewirr von Polizisten zu schlängeln, und ich konnte längst nicht Schritt halten mit dem kleinen Korporal, der zu pfeifen begann. Vor dem Zollhaus beobachtete «unsere liebe Freundin, Madame Grinçon», unsere Ankunft, und eine ausgebleichte kleine Droschke lehnte an der Hauswand. «Montez vite, vite!»,21 sagte der kleine Korporal und pfefferte meinen Koffer, den Postsack, das Paket und den Matin hinein.

«Ei, ei! Seien Sie nicht so verrückt. Fahren Sie nicht auch mit. Man wird Sie sehen», jammerte «unsere liebe Freundin, Madame Grinçon».

«Ah, je m’en f…»,22 sagte der kleine Korporal.

In den Kutscher kam Bewegung. Er gab dem klapprigen Pferd die Peitsche, und wir flogen davon, während beide Türen, die kompletten Seitenteile der Droschke, ständig auf und zu klappten.

«Bonjour, mon amie.»

«Bonjour, mon ami.»

Und wir stürzten uns auf die schlagenden Türen, doch sie wollten nicht zu bleiben. Dumme Türen waren das.

«Duck dich und lass mich machen!», rief ich. «Hier gibt’s Polizisten wie Sand am Meer…»

Bei der Kaserne bäumte sich das Pferd auf und blieb stehen. Lachende Gesichter drängten sich ans Fenster.

«Prends ça, mon vieux»,23 sagte der kleine Korporal und reichte das Paket hinaus.

«In Ordnung», rief jemand.

Wir winkten und waren wieder fort. Einen Fluss entlang und eine seltsame weiße Straße, gesäumt von kleinen Häuschen, die im späten Sonnenlicht glänzten.

«Spring ab, sobald er wieder anhält. Die Tür wird offen sein. Lauf gleich ins Haus. Ich komme nach. Der Kutscher ist schon bezahlt. Ich weiß, das Haus wird dir gefallen. Es ist ganz weiß. Und das Zimmer ist auch weiß, und die Leute sind …»

«Weiß wie Schnee.»

Wir sahen einander an. Und begannen zu lachen. «Jetzt», sagte der kleine Korporal.

Ich sprang hinaus und wieder hinein durch die Tür. Da stand mutmaßlich meine Tante Julie. Und weiter hinten lungerte wohl mein Onkel Paul herum.

«Bonjour, Madame!» – «Bonjour, Monsieur!»

«Alles in Ordnung, Sie sind in Sicherheit», sagte meine Tante Julie. Himmel, wie ich sie liebte! Und sie machte die Tür zum weißen Zimmer auf und hinter uns wieder zu. Koffer und Postsack und Le Matin flogen zu Boden. Ich warf meinen Pass in die Luft, und der kleine Korporal fing ihn auf.

II

Das gab es doch nicht. Jeden Tag hatten wir dort zu Mittag und zu Abend gegessen, aber jetzt, in der Dämmerung und allein, konnte ich es nicht finden. Auf meinen klipp-klappernden geliehenen sabots24stapfte ich durch den klebrigen Morast bis ans Dorfende, aber keine Spur. Ich wusste nicht einmal mehr, wie es aussah, ob es draußen angeschrieben war oder man Flaschen oder Tische durchs Fenster sah. Schon waren die Häuser des Dorfes mit schweren Holzläden gegen die Nacht verrammelt. Seltsam und geheimnisvoll wirkten sie im splitternden, wabernden Licht und Nieselregen, wie eine Bettlerschar, hingelagert an einem Hügel, ihre Brust gebläht von geraubtem Gold. Niemand war unterwegs, bis auf die Soldaten. Ein paar Verwundete standen unter einer Laterne und tätschelten einen räudigen, frierenden Hund. Die Straße herauf kamen vier große Jungs, sangen:

«Dodo, mon homme, fais vit’ dodo»25

und marschierten den Hügel hinab zu ihren Baracken hinter dem Bahnhof. Sie schienen den letzten Tageshauch mitgenommen zu haben. Ich kehrte langsam um.

Es musste eins von diesen Häusern gewesen sein. Ich weiß noch, dass es ein gutes Stück abseits der Straße lag – und keine Stufen hatte, nicht einmal einen Vorbau … man schien geradewegs durchs Fenster hineinzuspazieren. Und dann tauchte unvermittelt der Schankbursche aus exakt einem solchen Haus auf. Er grinste freudig, als er mich sah, und begann durch die Zähne zu pfeifen.

«Bonsoir, mon petit.»

«Bonsoir, Madame.» Und er folgte mir durch das Lokal bis zu unserem Tisch ganz am Ende neben dem Fenster, erkenntlich an einem Veilchenstrauß, den ich gestern in einer Vase dort stehen gelassen hatte.

«Für zwei?», fragte der Schankbursche und wedelte mit einem rotweißen Tuch über den Tisch. Seine langen, schwungvollen Schritte hallten über den Bretterboden. Er verschwand in die Küche und kam wieder, um die Lampe anzuzünden, die unter ihrem ausladenden Schirm von der Decke hing wie der Hut eines Heumachers. Warmes Licht erhellte das leere Lokal, das eigentlich eine Scheune war, in die man wackelige Tische und Stühle gestellt hatte. Ein schwarzer Ofen ragte in die Mitte des Raums. Daneben stand auf einer Seite ein Tisch mit einigen Flaschen darauf, hinter dem Madame saß, einkassierte und in einem roten Buch Eintragungen machte. Ihr gegenüber führte eine Tür in die Küche. An den Wänden hing eine cremeweiße Tapete, die über und über mit üppigen Bäumen bedeckt war – Hunderte und Aberhunderte reckten ihre Pilzköpfe gegen die Decke. Ich begann mich zu fragen, wer die Tapete wohl ausgesucht habe, und warum. Fand Madame sie schön oder dachte sie, es wecke die Lebensgeister, jahraus, jahrein mitten in einem Wald zu speisen? … Rechts und links von der Wanduhr hing ein Gemälde: Auf dem ersten machte ein junger Geck in schwarzen Strümpfen einer birnenförmigen Dame in Gelb über die Lehne eines Gartenstuhls hinweg den Hof – Premier Rencontre26 –, und auf dem zweiten waren Schwarz und Gelb liebevoll ineinander verschlungen: Triomphe d’Amour.27Die Uhr tickte friedlich: C’est ça, c’est ça.28In der Küche war der Schankbursche am Spülen. Ich hörte das geisterhafte Klappern des Geschirrs.

Und Jahre zogen vorüber. Vielleicht ist der Krieg schon lange vorbei … und es gibt gar kein Dorf mehr da draußen … die Straßen ruhen unter dem Gras. Mir kommt es so vor, als würde man ebendies tun am letzten aller Tage … in einem leeren Lokal sitzen und dem Ticken der Uhr lauschen, bis –

Madame kam durch die Küchentür, nickte mir zu und nahm ihren Platz hinter dem Tisch ein, ihre rundlichen Hände über dem roten Buch gefaltet. Pling, ging die Tür. Eine Handvoll Soldaten trat ein, zog die Mäntel aus und begann Karten zu spielen, neckte und hänselte den hübschen Schankburschen, der sein rundes Köpfchen in den Nacken warf, seine schweren Fransen aus der Stirn strich und sie in seiner gebrochenen Stimme seinerseits foppte. Manchmal dröhnte seine Stimme tief und harsch aus seiner Kehle, dann brach sie mitten im Satz und versiegte in einem komischen Piepsen. Es schien ihm zu gefallen. Man hätte sich nicht gewundert, wenn er auf den Händen in die Küche spaziert und einem das Essen radschlagend serviert hätte.

Pling, ging die Tür wieder. Noch zwei Männer kamen herein. Sie setzten sich an den Tisch gleich neben Madame, und sie neigte sich ihnen mit einer vogelähnlichen Bewegung zu und hielt den Kopf schräg. Oh, sie hatten zu klagen! Der Leutnant war ein Dummkopf … schnüffelte herum … und ging auf sie los … dabei hatten sie nur Knöpfe angenäht. Ja, das war alles – Knöpfe angenäht, und dann kommt dieser junge Schnösel. «So, so, was führt ihr denn im Schild?», äfften sie die idiotische Stimme nach. Madame zog die Mundwinkel herab und nickte mitfühlend. Der Schankbursche brachte ihnen Gläser. Er nahm eine Flasche mit orangefarbenem Inhalt und stellte sie auf die Tischkante. Ein Aufschrei der Kartenspieler ließ ihn jäh herumfahren, und rums! Die Flasche fiel um, ergoss sich über Tisch und Boden und zerbrach geräuschvoll in tausend Stücke. Fassungsloses Schweigen, und dazwischen das Tropf-Tropfen des Weins vom Tisch auf den Fußboden. Das langsame Tropfen sah sehr merkwürdig aus, als müsste der Tisch weinen. Dann ertönte ein Gegröle der Kartenspieler: «Die schnappst du dir, Junge! So geht das! Jetzt hast du’s geschnallt! – Sept, huit, neuf.»29Sie begannen ein neues Spiel. Der Schankbursche sagte kein Wort. Er stand mit gesenktem Kopf und gespreizten Händen da, dann kniete er nieder, las die Scherben Stück um Stück auf und wischte den Wein mit einem Tuch auf. Erst als Madame schadenfroh rief: «Warte nur, bis er es herausfindet», hob er den Kopf.

«Er kann nichts sagen, wenn ich dafür bezahle», murrte er mit einem Zucken im Gesicht und stapfte mit dem tropfnassen Tuch in die Küche.

«Il pleure de colère»,30höhnte Madame schadenfroh und strich sich mit ihren Patschhändchen das Haar glatt.

Das Lokal füllte sich allmählich. Es wurde sehr warm. Blauer Rauch stieg von den Tischen auf und waberte in nebligen Ringen um den Hut des Heumachers. Es roch penetrant nach Zwiebelsuppe, Stiefeln und feuchtem Tuch. Mitten im Lärm bimmelte die Türglocke wieder. Die Tür ging auf und ließ einen schlaksigen Kerl ein, der sich dagegen lehnte und sich eine Hand vor die Augen hielt.

«Hallo! Ist dein Verband weg?»

«Wie fühlt es sich an, mon vieux?»

«Lass mal sehen.»

Aber er antwortete nicht. Achselzuckend wankte er zu einem Tisch, setzte sich und lehnte sich gegen die Wand. Langsam ließ er die Hand sinken. In seinem weißen Gesicht glommen seine Augen rosig wie bei einem Kaninchen. Sie füllten sich und liefen über, füllten sich und liefen über. Er zog ein weißes Tuch aus seiner Tasche und rieb sie trocken.

«Es ist der Rauch», sagte jemand. «Es ist der Rauch, der sie dir reizt.»

Seine Kameraden beobachteten ihn eine Weile und sahen, wie seine Augen sich wieder füllten und erneut überliefen. Das Wasser rann ihm das Gesicht hinab und vom Kinn auf den Tisch. Er rieb die Stelle mit seinem Ärmel trocken und rieb sie dann wie abwesend immer weiter trocken, die Hand auf dem Tisch, und starrte vor sich hin. Da begann er im Takt zu seiner Handbewegung den Kopf hin und her zu wiegen. Er ächzte laut und befremdlich und zog das Tuch wieder hervor.

«Huit, neuf, dix»,31sagten die Kartenspieler.

«P’tit, mehr Brot bitte.»

«Zwei Kaffee».

«Un Picon!»32

Der Schankbursche eilte, einigermaßen wiederhergestellt, aber mit glühenden Wangen, hin und her. Ein hitziger Streit entzündete sich unter den Kartenspielern, tobte zwei Minuten lang und erstarb in irrlichterndem Gelächter.

«Uff!», stöhnte der Mann mit den Augen, wiegte sich hin und her und wischte.

Aber niemand achtete mehr auf ihn außer Madame. Sie sah ihre beiden Soldaten an und verzog das Gesicht.

«Mais vous savez, c’est un peu dégoûtant, ça»,33sagte sie streng.

«Ah, oui, Madame», antworteten die Soldaten und musterten ihren gesenkten Kopf und die schönen Hände, als sie zum hundertsten Mal an einem Spitzenbesatz ihres geschnürten Mieders zupfte.

«V’là, Monsieur!», krächzte der Schankbursche mir über die Schulter zu. Aus einem dummen Grund tat ich, als hörte ich nicht, und beugte mich über den Tisch, um an den Veilchen zu riechen, bis die Hand des kleinen Korporals sich um meine schloss.

«Nehmen wir un peu de charcuterie34für den Anfang?», fragte er zärtlich.

III