Die Gefährlichkeit der Dinge - Arno Strobel - E-Book

Die Gefährlichkeit der Dinge E-Book

Arno Strobel

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Beschreibung

Augenzwinkernde Geschichten, wie sie das Leben schreibt - »Die beliebtesten Zugaben bei meinen Lesungen.« Arno Strobel  Arno Strobel kann auch anders. Der Meister des Nervenkitzels hat 35 kurze Geschichten geschrieben – mal skurril, mal augenzwinkernd, mal hintergründig, mal überraschend. Und manchmal blitzt an der einen oder anderen Stelle dann doch der Thrillerautor durch. Beste Unterhaltung für alle Strobel-Fans, die ihren Lieblingsautor ganz neu entdecken möchten.

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Seitenzahl: 164

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Arno Strobel

Die Gefährlichkeit der Dinge

Kurze Geschichten

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Inhalt

Die FliegeHochzeitstagDer NachtmalerMach’s gut, EddaDie Gefährlichkeit der DingeManuReichEin Aufzug neuerer BauartFamilie spielenWas man nicht alles tutWie damalsSchildkrötentellerFeuerbestattungScheinweltWellenFeuerlandDer TanzWie aus heiterem HimmelRund ist die WeltDie Begegnung (Rund ist die Welt II)Die Couch seiner MutterP, PF oder UEin Manager von Kopf bis FußDie Antwort des PantomimenHahnenschreiDie Straße da obenVatertagEin dick belegtes BrötchenFischsterbenStunden der BefreiungEin erfülltes LebenEine Frage der AutoritätIst das nicht egal?Karins LeidenEin Fnurz, der dürpelt

Die Fliege

Wie aus dem Nichts tauchte sie plötzlich auf.

Ihr unbedeutendes Insektendasein kreuzte das streng geordnete Leben von Gerhard Kuhnert, während er am Frühstückstisch saß und eines seiner abgewogenen Butterstückchen auspackte.

Zwanzig Gramm, mit der Genauigkeit einer digitalen Küchenwaage portioniert, sauber in Papierbriefchen verpackt. Genau ausreichend, um die Oberfläche von zwei Scheiben Toast gleichmäßig zu bedecken, nachdem diese in einer Minute und fünfundzwanzig Sekunden exakt die hellbraune Tönung angenommen hatten, die sie haben mussten.

Als die Fliege auf seinem Handrücken landete und sich sofort zu einer kribbelnden Expedition über seinen Mittelfinger aufmachte, erstarrte Gerhard in der Bewegung.

Mit einer Mischung aus Abscheu und Verwunderung folgte sein Blick dem kleinen schwarzen Körper, bis der den Fingernagel erreicht hatte und dort ganz selbstverständlich einen winzigen dunklen Punkt platzierte: Fliegendreck!

Mit einer panischen Bewegung schüttelte Gerhard die Fliege ab, während der Ekel ihm die Kehle zuzuschnüren drohte, und hielt dann den geschändeten Finger in Brusthöhe vor sich, als wäre er schwer verletzt worden. Sein Blick blieb starr auf den Fleck gerichtet, während er mit der sauberen Hand hinter sich griff und den Stuhl etwas anhob, damit er beim Zurückschieben keine Streifen auf dem Bodenbelag hinterließ.

Gerhard ging mit weit von sich gestrecktem Arm auf die Spüle zu, als ein Schatten über sein linkes Auge huschte und er fast im gleichen Moment ein Kitzeln auf seiner Stirn spürte. Die Fliege. Sie saß in seinem Gesicht. Wenn sie nun auch dort …

Gerhard stieß ein kurzes »Äähh« aus und schüttelte sich wie ein Hund, der gerade aus dem Wasser gekrochen kam. Das Insekt drehte eine Runde um seinen Kopf, flog eine saubere Acht vor ihm und landete auf dem Rand der Spüle. Dort verharrte es reglos, als warte es auf seinen Applaus.

Gerhard spürte, wie Wut in ihm aufstieg.

Nicht genug damit, dass diese Kreatur ihm auf den Finger geschissen hatte, sie brachte seinen minutiösen Zeitplan und damit den gesamten Tagesablauf durcheinander. Sie würde ihre Exkremente überall in seiner Wohnung verteilen. Tage würde er brauchen, alles bis in die kleinste Ecke zu putzen. Allein der Gedanke an die kleinen Flecken … Er musste sie töten.

Als hätte sie ihr Todesurteil auf telepathischem Wege empfangen, startete die Fliege zu einem erneuten Kunstflug vor Gerhards Gesicht. Wie auf einer imaginären Achterbahn drehte sie Loopings, entfernte sich in Schlangenlinien von ihm, wendete und kam im Sturzflug auf sein Gesicht zu, um im letzten Moment abzudrehen und das Spiel von neuem zu beginnen.

Sie schien ihn zu verhöhnen, ihm mit ihren Flugfiguren zu sagen: Versuch es nur, du wirst mich nicht erwischen. Gleich, wenn du aus dem Haus bist, werde ich hier mit meiner Arbeit beginnen und deine Wohnung in ein riesiges Fliegenklo verwandeln.

Gerhards Magen krampfte sich bei dem Gedanken zusammen. Ekel und Wut mischten sich in ihm zu einem explosiven Cocktail.

Mit hektischen Bewegungen begann er, nach der Fliege zu schlagen, doch jedes Mal, wenn seine Hand wirkungslos durch die Luft fuhr, quittierte das Insekt es mit neuen Loopings, Sturzflügen und Scheinangriffen gegen sein Gesicht.

Immer stärker wurde die Wut in ihm, verdrängte seine sonst so klaren Gedanken, bis nur noch Platz für dieses eine Wort in seinem Kopf war: Töten!

Mit einer hastigen Bewegung griff er nach dem frischen Geschirrtuch, das sauber an der Bügelfalte zusammengelegt über dem Griff des Backofens hing, und schlug damit nach dem Insekt. Ohne Erfolg. In einer schaukelnden Bahn steuerte die Fliege auf den Küchentisch zu und ließ sich auf dem Butterstück nieder. Ein roter Schleier schien sich über Gerhards Bewusstsein zu legen, als er auf den Tisch zulief und das Geschirrtuch mit aller Kraft niedersausen ließ.

Mit lautem Klirren kippte die Kaffeetasse um und ergoss ihren schwarzen Inhalt über den Tisch. Das Frühstücksbrettchen samt Messer fiel klappernd zu Boden, und die Fliege – drehte erneut ihre Runden.

Gerhard war außer sich. Schwer atmend sah er sich um, entdeckte sie im Gewürzregal, auf dem Deckel des süßen Paprikapulvers, machte einen schnellen Schritt nach vorne und schlug ein weiteres Mal zu.

Klirren und Scheppern, als die Hälfte der Dosen und Gläschen aus dem Regal gerissen wurden und sich auf dem Boden verteilten. Und die Fliege umkreiste ihn weiter, als beginne die Sache, ihr richtig Spaß zu machen.

»Ich kriege dich«, brüllte Gerhard und setzte ihr nach. Immer wieder sauste das Tuch durch die Luft, riss sauber aufgereihte Gegenstände von Schränken und Regalen. Bald sah der Küchenboden aus wie eine Müllkippe, und Gerhard schlug zu wie im Rausch, immer und immer wieder.

Plötzlich sah er die Fliege nicht mehr.

Reglos blieb er stehen, nur sein Brustkorb hob und senkte sich schnell. Hatte er sie endlich erwischt? Sein Blick tastete über Schränke, Ablagen und Wände. Nein! Da saß sie.

Ganz oben, neben einem Hängeschrank, hatte sie sich in die Ecke zwischen Decke und Wand gedrückt.

»Du hast Angst«, flüsterte er leise, und es hörte sich gefährlich an. »Du weißt, dass du gleich sterben wirst.«

Langsam, ganz langsam, zog er einen Stuhl heran und verschwendete keinen Gedanken an die Streifen auf dem Bodenbelag. Vorsichtig stellte er einen Fuß auf die Sitzfläche, verlagerte das Gewicht nach vorne und drückte seinen Körper hoch. Seine Augen waren wie das Visier eines Präzisionsgewehrs auf das Untier gerichtet. Als er auf dem Stuhl stand, den Kopf nur einen knappen Meter von der Fliege entfernt, verzog sich sein Mund zu einem hämischen Grinsen.

Jetzt! Jetzt erledige ich dich.

Weit holte er aus, konzentrierte sich. Und schlug dann mit aller Kraft zu. Bevor das Tuch auch nur in die Nähe der Fliege kam, war sie schon wieder unterwegs.

Gerhard wurde vom eigenen Schwung nach vorne gerissen, prallte mit der Stirn gegen den Hängeschrank und verlor das Gleichgewicht. Mit rudernden Armen kippte er zur Seite. Für den Bruchteil einer Sekunde schien sein Körper skurril verkrümmt in der Luft zu schweben, dann knallte er mit der Schläfe gegen die Kante der Arbeitsplatte und fiel polternd zu Boden.

 

Als die Polizeibeamten zwei Tage später die Wohnung aufbrachen und Gerhards Leiche fanden, sahen sie sich verwundert in der verwüsteten Küche um.

»Sieht aus, als hätte hier ein schwerer Kampf stattgefunden«, stellte einer der Beamten sachlich fest. Sein Kollege zuckte mit den Schultern. »Fragt sich nur, mit wem er gekämpft hat.«

Niemand achtete auf die Fliege, die in kunstvollen Figuren Gerhards Kopf umkreiste.

Hochzeitstag

Das Schaufenster reflektierte die schräg einstrahlende Septembersonne so stark, dass Pia gar keine andere Wahl blieb. Sie musste in das Geschäft gehen, wollte sie mehr als nur undeutliche Schemen von dem roten Kleid sehen, das die dürre Schaufensterpuppe mit ihrem stolzen, fast schon überheblichen Plastiklächeln zur Schau stellte.

Seit einer Stunde schlenderte Pia durch die Fußgängerzone der Innenstadt, und immer wieder war sie dabei – zufällig – an diesem Geschäft vorbeigekommen.

Ich möchte es mir wirklich nur ansehen, beschwichtigte sie gleich die vorwurfsvolle Stimme in ihrem Inneren, während sie die wahrscheinlich teuerste Boutique in der ganzen Stadt betrat. Sie wurde dabei von einem sanften Gong angekündigt, der beim Durchschreiten des Eingangs ausgelöst worden war.

Kaum hatte sie die ersten Schritte in das Ladenlokal gemacht, wurde sie sofort umfangen von der edlen, geradezu elitären Atmosphäre. Sanfte Musik, eben so laut, dass sie sich zart von ihr gestreichelt fühlte, schien sie von allen Seiten gleichzeitig zu umgarnen. Die Designer-Kleidungsstücke waren phantasievoll um antike Möbelstücke drapiert oder hingen wie zufällig über den Lehnen hoher Stühle und Sessel.

Lächelnd schritt eine gepflegte Mittdreißigerin auf sie zu. Pia war fast versucht, auf dem Boden nachzusehen, ob dort vielleicht ein dünner Strich gezogen war, auf den die Dame beim Gehen ihre Füße setzte.

»Gnädige Frau, womit kann ich Ihnen dienen?«

Gnädige Frau? Wären noch andere Kundinnen in dem Geschäft gewesen, hätte Pia sich auf diese Anrede hin umgedreht, um zu sehen, wer wohl gemeint war. Sie, Zahnarzthelferin Pia Kurtz. Eine gnädige Frau. Das passte für sie nicht zusammen.

»Sie haben da dieses rote Kleid im Schaufenster …«

»Ginetto Galanti, aber natürlich. Dieses Kleid ist wie für Sie geschaffen. Darf ich Ihnen ein Glas Champagner und ein paar Erdbeeren anbieten, während ich die Garderobe für Sie herrichte?«

Noch während die Verkäuferin das sagte, kam eine junge, bildhübsche Frau mit einem Tablett auf Pia zu, auf dem ein halb gefülltes Champagnerglas und ein kleines Tellerchen mit einigen Erdbeeren standen. Wie ihre Kollegin schien sie auf dem gleichen unsichtbaren Strich zu schreiten. Glas und Teller wurden auf einem kleinen Tischchen direkt neben Pia abgestellt, dann entschwand die Schönheit wieder.

Etwas, von dem sie nicht wusste, was es war, kroch Pia langsam den Rücken hinunter und führte dazu, dass sich die kleinen Härchen aufrichteten, als der erste Schluck des kalten, prickelnden Getränkes wie ein Eisbach durch ihre Kehle rann. Am liebsten hätte Pia geschnurrt wie eine Katze, der man den Nacken krault. Als sie das Glas wieder abstellte, fühlte sie sich ertappt und sah die Verkäuferin verlegen an. »Also, das ist so: Ich wollte mir das Kleid eigentlich nur einmal ansehen. Mein Mann Gerd und ich, wir haben heute unseren zehnten Hochzeitstag wissen Sie, und da …«

»Ach, wie schön. Ein romantisches Fest der Liebe. Und Sie haben sich gedacht, Sie überraschen ihren Liebsten mit einem neuen Kleid, nicht wahr? Er wird sich gleich noch einmal unsterblich in Sie verlieben.«

Die Dame machte große Augen und faltete die Hände vor ihrem Kinn, als wolle sie beten, neigte den Kopf zur Seite und strahlte Pia an. »Ich möchte Ihnen ein Geheimnis über die Männer verraten. Wissen Sie, das Bild, das wir Frauen im Allgemeinen von ihnen haben, ist vollkommen verzerrt. Es heißt immer, sie sind oberflächlich und bemerken keine äußerlichen Veränderungen an uns.« Behutsam legte sie ihre Hand auf Pias rechten Oberarm. »Aber seien wir doch mal ehrlich – sind wir daran letztendlich nicht selbst schuld? Wir tauschen ein Kleid von der Stange gegen ein anderes von der Stange und erwarten, dass er es bemerkt? Wenn jemand eine Blechmünze gegen eine andere tauscht, die nur ein klein wenig anders schimmert, würde Ihnen das auffallen? Nein. Aber jetzt stellen Sie sich vor, es tauscht jemand diese Blechmünze gegen eine goldene mit einem Diamanten in der Mitte. Denken Sie, dass Sie das bemerken würden?«

Wenn die Dame tatsächlich eine Antwort erwartet hatte, ließ sie Pia keine Zeit dazu, denn sofort sprach sie weiter. »Natürlich würden Sie das bemerken. Und Sie wären demjenigen, der den Tausch vollzogen hat, obendrein noch sehr dankbar. Sehen Sie, mit einem Kleid ist es das Gleiche, gnädige Frau.«

 

Pia schloss die Haustür ganz leise hinter sich und huschte dann auf Zehenspitzen durch den Flur direkt ins Schlafzimmer. Dabei schlug sie sich die Ecke des Kartons mit dem Kleid darin gegen das Knie und hätte fast laut »Autsch« gerufen. Als sie die Tüte auf den Kleiderschrank gelegt und dann ganz nach hinten geschoben hatte, setzte sie sich auf die Bettkante und atmete durch. Gerd saß im Wohnzimmer und hatte sie nicht gehört.

Ihr Blick fiel auf die breite Leiste an der Oberkante des Schrankes, welche die Sicht auf den Karton versperrte.

Sie hatte sich ein neues Kleid gekauft und dafür mehr bezahlt, als sie in einem ganzen Monat verdiente. Wahnsinn. Sie hatte es von dem Konto bezahlt, das ihre Eltern ihr vor fünf Jahren zu ihrem dreißigsten Geburtstag geschenkt hatten. Bis heute hatte sie das Geld nicht gebraucht. Aber es war schließlich ihr zehnter Hochzeitstag, und diese Überraschung für Gerd war es ihr wert. Der würde Augen machen. Seine Pia in einem Kleid von Ginetto Galanti. Sie stellte sich sein Gesicht vor, wenn sie vor ihn treten würde.

Nur mühsam konnte Pia die fast euphorische Vorfreude verbergen, als sie das Wohnzimmer betrat und Gerd einen Kuss auf die Stirn gab, auf die Stelle, an der vor zwei Jahren noch Haare gewesen waren.

Er sah von seiner Zeitung auf. »Hallo, Schatz. Wo warst du denn so lange? Du weißt doch, dass ich für sieben Uhr einen Tisch im Rosengarten für uns reserviert habe.« Er sah demonstrativ auf seine Armbanduhr. »Noch eine Stunde. Schaffst du das?« Sie strahlte ihn an. »Aber sicher, Liebling. Ich werde mich doch nicht verspäten, wenn mein Mann mich in dieses tolle Restaurant ausführt. Ich gehe gleich ins Bad.«

 

Sie stand vor dem Spiegel, der auf der mittleren Tür des Schlafzimmerschrankes angebracht war, und hatte feuchte Augen vor Verzückung. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zum letzten Mal so gut ausgesehen hatte. Das schulterlange braune Haar hatte sie kunstvoll hochgesteckt, so dass die goldenen Ohrringe, ein Hochzeitsgeschenk von Gerd, besonders gut zur Geltung kamen. Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit hatte sie sogar etwas Rouge aufgetragen. Und dann dieses Kleid. Dieser Traum von einem Kleid. Gerade so weit ausgeschnitten, dass man den Ansatz ihres vollen Busens sehen konnte. Der Stoff legte sich um ihren Körper wie eine zweite Haut, und die dünnen Träger spürte sie kaum auf den nackten Schultern. Es war ihr unbegreiflich, wie der Designer es geschafft hatte, aber in diesem Wunder aus Stoff hatte sie eine Taille wie ein Fotomodell.

Nach einem letzten Blick nahm sie ihre kleine schwarze Handtasche und schritt dann aus dem Schlafzimmer wie eine Braut, die zum Traualtar geführt wird.

Vor der Wohnzimmertür atmete sie noch einmal tief durch, dann trat sie ein und bemühte sich, den würdevollen Gesichtsausdruck aufzusetzen, der diesem Kleid gerecht wurde.

Gerd stand gleich auf und sah dabei wieder auf die Uhr. »Ah, da bist du ja, und du bist sogar zeitig fertig geworden. Dann lass uns gehen. Wird bestimmt ein schöner Abend.« Pia blieb einfach im Türrahmen stehen und versperrte ihm den Weg nach draußen. Immer noch sah sie ihn mit einem würdevollen Lächeln an. Jetzt! Jetzt würde er die Augen aufreißen.

Gerd blieb vor ihr stehen und betrachtete sie verwundert. Als sie sich nicht regte, schüttelte er grinsend den Kopf. »Ich verstehe. Du möchtest Wegzoll haben, damit du mich durchlässt.« Er beugte sich nach vorne und gab ihr einen Kuss auf den Mund. Dann blickte er sie erwartungsvoll an. Als sie sich immer noch nicht regte, sondern lediglich das Lächeln langsam aus ihrem Gesicht wich, wurde sein Blick fragend. »Was ist denn? Warum bleibst du hier wie angewurzelt stehen? Schatz, wir müssen wirklich los.«

Er wollte an ihr vorbeigehen, aber Pia bewegte sich noch immer keinen Millimeter vom Fleck, sondern sah ihn nur stumm an, nun jedoch deutlich ernster. Gerd verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte den Kopf. »Pia, ich weiß nicht, welches Spiel wir gerade spielen, aber wenn es heißt ›Wetten, dass wir zu spät kommen‹, hast du wirklich gute Chancen zu gewinnen. Was ist denn los?«

»Was fällt dir an mir auf, Gerd?« Ihre Stimme war leise, fast flüsternd. Er machte einen Schritt zurück, betrachtete sie von oben bis unten und sagte dann: »Du siehst gut aus wie immer, mein Schatz. Aber können wir jetzt bitte gehen?«

Wie immer? Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Fällt dir sonst nichts auf?«

»Herrgott nochmal, Pia! Sag mir doch einfach, was du hören möchtest. Aber hör bitte auf mit dieser Erwachsenenversion von ›Ich sehe was, was du nicht siehst.‹ Also, noch einmal: Was ist los?«

Die Tränen hinterließen eine salzig-feuchte, kitzelnde Spur auf den Wangen, als sie ihr in den Ausschnitt tropften.

»Ich war heute den halben Tag in der Stadt unterwegs, um mir ein schönes Kleid für diesen Abend zu kaufen. Am Ende bin ich in einer unglaublich teuren Boutique gelandet und habe mir das, was du hier siehst, oder besser, was du nicht siehst, für einen astronomisch hohen Preis gekauft, weil die Verkäuferin meinte, es würde dich geradezu umwerfen. Und du, du stehst vor mir, und es fällt dir rein gar nichts auf. Ich hätte mir, wahrscheinlich eine Kühltasche auf den Kopf setzen können, und du hättest es nicht bemerkt. Ich bin enttäuscht, Gerd. Einfach nur unheimlich enttäuscht.«

Sie machte auf dem Absatz kehrt und rannte ins Schlafzimmer, wo die Tür hinter ihr mit einem lauten Knall ins Schloss fiel.

Gerd fasste sich an die Stirn und rief ihr nach: »Aber Pia, jetzt warte doch. Du siehst das völlig falsch.«

 

Pia lag auf dem Bett und starrte an die Decke. Natürlich, sie sah alles falsch. Dieser Ignorant.

Die Schlafzimmertür öffnete sich, und Gerd streckte vorsichtig den Kopf herein. Er verharrte einige Sekunden lang an der Tür, als wolle er sich erst ein Bild vom Ernst der Lage machen. Dann kam er ins Zimmer, setzte sich neben Pia und streichelte ihr über den Kopf.

»Es tut mir leid, Pia, dass ich nicht gleich etwas gesagt habe. Natürlich habe ich das neue Kleid bemerkt. Das muss man doch sofort sehen, so toll ist es. Genauso wie ich gesehen habe, dass du heute Abend Rouge trägst. Und die Ohrringe, die ich dir zur Hochzeit geschenkt habe. Mir entgeht keine Veränderung an dir, und sei sie noch so klein. Ich wollte dich doch nur ein wenig auf die Folter spannen. Ich konnte doch nicht ahnen, dass du so schnell aufgibst …«

Langsam hob sie den Kopf. »Das hast du alles bemerkt? Ehrlich?« Er nickte lächelnd. Mit einem Ruck richtete sie sich auf und warf sich in seine Arme.

»O Liebling, es tut mir leid. Ich war nur so enttäuscht.«

»Schon vergessen. Aber jetzt lass uns gehen. Schließlich sollen alle sehen, wie toll meine Frau aussieht.«

Mit dem Handrücken wischte sie sich die Tränen weg und lächelte. »Ich muss mich nur schnell wieder etwas zurechtmachen. Nur fünf Minuten, ja?«

»Natürlich. Aber beeil dich bitte.« Gerd stand auf und ging aus dem Schlafzimmer.

Pia hätte sich selbst ohrfeigen können für ihre Ungeduld. Sie hatte ihm wirklich kaum eine Chance gelassen, etwas zu sagen. Sie hatte ja gleich weglaufen müssen, als er nicht innerhalb einer Sekunde ein Loblied auf ihr Aussehen angestimmt hatte. Aber nun war alles gut.

Sie stand auf, und im gleichen Moment fiel etwas zu Boden. Ihr Ohrring. Als sie sich bückte, um ihn aufzuheben, gab es ein ratschendes Geräusch. Ihr war sofort klar, was das zu bedeuten hatte. Das neue, sündhaft teure Kleid war gerissen.

»So ein Mist«, entfuhr es ihr.

Nachdem sie sich den Schaden im Spiegel angesehen und festgestellt hatte, dass ein riesiger Spalt in der Rückennaht klaffte, durch den man die Haut sehen konnte, überlegte sie fieberhaft, was sie tun sollte. Das Kleid konnte sie am nächsten Tag zurückbringen. Die würden das – hoffentlich – in Ordnung bringen können. Wenn sie aber nun nicht bald fertig war, würde Gerd sauer sein, und ihr Hochzeitstag wäre wirklich gelaufen.

Schnell stieg sie aus dem Kleid und warf es auf das Bett. Der knallrote Stoff sah auf der weißen Bettwäsche aus wie ein großer Blutfleck. Aus dem Schrank nahm sie ihr schon älteres, aber ganz nettes dunkelblaues Kleid und streifte es über. Sie stand gerade vor dem Spiegel und zog es an den Hüften zurecht, als die Tür sich öffnete und Gerd lächelnd das Schlafzimmer betrat.