Die geheime Seele - Magdalena Kloibhofer - E-Book

Die geheime Seele E-Book

Magdalena Kloibhofer

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Beschreibung

"Behutsam hob Tian die Hand und streckte sie der Seele entgegen. Er wollte sie nur einmal berühren. Sie sollte wissen, dass er da war und ihr zur Seite stand." Im Leben des zurückhaltenden, 16-jährigen Tian dreht sich alles um die Schule und das Geheimnis seiner Familie. Sie helfen den Seelen Verstorbener mit dem Leben abzuschließen. Doch plötzlich verhalten sich seine Schwestern eigenartig: Coletta lässt ihre schlechte Laune an ihm aus, Ava nutzt jede Gelegenheit, um zu rebellieren und die jüngste, Runa, spricht kein Wort. Und dann lernt Tian Nele kennen. Er ahnt nicht, dass er sich schon bald zwischen ihr und der Gemeinschaft der Seelendiener entscheiden muss.

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Inhaltsverzeichnis

Tian

Tian

Ava

Tian

Coletta

Runa

Coletta

Tian

Tian

Coletta

Ava

Runa

Tian

Tian

Tian

Ava

Tian

Coletta

Ava

Tian

Runa

Tian

Tian

Coletta

Ava

Damian

Tian

Runa

Ava

Tian

Ava

Tian

Coletta

Tian

Runa

Ava

Tian

Coletta

Runa

Ava

Tian

Coletta

Tian

Tian

Der Wecker klingelte. Tian tastete mit der Hand zu seinem Nachttisch, um das Läuten auszuschalten. Es war 6.30 Uhr, der erste Schultag nach den Sommerferien.

Er schlug die Bettdecke zur Seite und setzte sich auf. Gähnend fuhr er sich mit der Hand über das Gesicht. Am Vorabend hatte er lange gelesen und war nun dementsprechend müde. Das Buch hatte er achtlos auf den Boden gelegt, untypisch für ihn, doch das Ende hatte in ihm ein Gefühl der Unvollkommenheit hinterlassen. Es war ihm nicht wert gewesen, extra aufzustehen und es wegzuräumen. Nun aber nahm er das Buch in die Hand, strich sorgfältig über den Einband und ordnete es in sein Regal ein.

In seinem Zimmer hatte alles seinen Platz. Auf dem Nachttisch befanden sich sein Wecker und eine Lampe, wobei dasselbe Modell auf seinem ordentlich aufgeräumten Schreibtisch stand. Ein blauer Teppich lag in der Mitte des Raumes, eine Topfpflanze stand in einer Ecke und ein Bild mit einem blaugrünen Farbverlauf hing am Kopfende seines Bettes. Das Zimmer wirkte nicht so, als würde ein sechzehnjähriger Junge darin wohnen. Tian wusste das, aber störte sich nicht daran. Schließlich brauchte er nicht mehr.

Er zog die Vorhänge zur Seite und blieb einen Moment am Fenster stehen, um in den Garten hinter dem Haus zu blicken. Ein schmaler, sandiger Weg schlängelte sich zwischen hohem Gras, wilden Blumen, überwuchernden Sträuchern und vereinzelten Bäumen hindurch. Tians Eltern pflegten den Garten nicht, einerseits hatten sie dafür keine Zeit, andererseits konnte aufgrund der hohen Mauer rundherum sowieso niemand einen Blick hereinwerfen.

Verschlafen rieb sich Tian die Augen und ging aus seinem Zimmer. Er begegnete seine Schwester Coletta, die gerade aus dem Badezimmer trat.

»Morgen«, begrüßte Tian sie verschlafen.

Coletta nickte ihm nur zu.

Bestimmt war sie schon eine Stunde wach, vor dem ersten Schultag konnte sie nie gut schlafen. Nur die Schatten unter ihren Augen zeigten das, ansonsten ließ sie sich von ihrer Müdigkeit nichts anmerken. Ihre langen, schwarzen Haare waren zu einem strengen Zopf nach hinten gebunden und sie strich ihre Kleidung glatt, obwohl das nicht nötig gewesen wäre. Durch das schwarze Hemd, das ordentlich in der dunklen Hose steckte, wirkte sie erwachsen, obwohl sie erst fünfzehn Jahre alt war.

Ohne etwas zu Tian zu sagen, nahm sie ihren Rucksack, der neben dem Treppengeländer stand und ging nach unten.

Tian schloss die Tür hinter sich und sah sich im Badezimmer um. Es war lange nicht erneuert worden, es wirkte mit den beigen Fliesen, der Duschbadewanne mit dem zart geblümten Duschvorhang und den abgegriffenen Armaturen des Waschbeckens altmodisch. Doch es funktionierte alles einwandfrei, nur die Toilettenpapierhalterung wackelte und quietschte.

Während Tian versuchte, seine kurzen, schwarzen Haare mit dem Kamm zu bändigen, betrachtete er sich im Spiegel. Er war unscheinbar und gewöhnlich, weder seine Statur noch seine etwas widerspenstigen Haare lenkten die Aufmerksamkeit anderer auf ihn. Nur seine blauen Augen waren außergewöhnlich. Sie überstrahlten seine Augenringe und stachen aufgrund seines blassen Gesichts hervor.

Nachdem er sich die Zähne geputzt hatte, spritzte er sich kaltes Wasser auf die Wangen und rubbelte sich den Schlaf aus den Augen. Als er aufblickte, und sein nasses und vom Wasser gerötetes Gesicht im Spiegel erblickte, seufzte er tief. Das war er, Tian, ein Einzelgänger, langweilig und scheinbar emotionslos.

Er wusste, dass das nicht alles war, doch er wollte nicht mehr von sich zeigen. Egal, ob er sich freute, weil er ein gutes Buch zu Ende gelesen hatte oder traurig war, weil er niemanden hatte, dem er das erzählen konnte, seine Mimik und Körperhaltung blieben immer neutral. Nur tief in seinem Inneren spürte er die Lebendigkeit der gegensätzlichen Gefühle, die sich vermischten, bis sie nicht mehr voneinander zu unterscheiden waren.

Tian schüttelte entschieden den Kopf, nun wollte er sich nicht darüber die Gedanken zerbrechen, es war schließlich der erste Schultag. Mit dem Handtuch trocknete er sein Gesicht ab und ging zurück in sein Zimmer.

Wie seine Schwester Coletta zog auch Tian dunkle Klamotten an, jedoch achtete er darauf, sich altersgemäß anzuziehen. In seinem schmalen Kleiderschrank war alles ordentlich zusammengelegt und von Grau bis Schwarz sortiert, andere Farben besaß er nicht. Bevor Tian in einfachen Jeans und T-Shirt aus dem Zimmer trat, kontrollierte er, ob er alles Nötige für die Schule in seinen schwarzen Turnbeutel aus Jute gepackt hatte.

Als er die Tür hinter sich ins Schloss zog, tapste seine zwölfjährige Schwester Ava verschlafen den Flur entlang. Ihre stufige Bobfrisur stand in alle Richtungen ab, ihre Brille saß schief auf der Nase und auf ihrem Gesicht und den schlanken Armen war deutlich der Abdruck der Bettwäsche zu sehen.

Typisch für sie stand sie absichtlich spät auf, um ihre Eltern zu ärgern. Sie wusste, wie viel Wert sie auf Pünktlichkeit und Schule legten und nutzte genau das, um zu rebellieren.

Beim Anblick von Tians Turnbeutel verdrehte sie die Augen.

»Hast du dir über den Sommer keinen neuen Rucksack gekauft? Ich habe dir schon oft genug gesagt, dass dieser hier nicht mehr im Trend ist«, meinte Ava und gähnte.

»Dir auch einen guten Morgen«, erwiderte Tian.

»Irgendwann werde ich mich nachts in dein Zimmer schleichen und deinen Beutel verbrennen«, sagte sie und kicherte.

Während Ava ins Badezimmer tapste, stieg Tian die Treppe nach unten. Im Flur stellte er seine Tasche neben den Rucksack von Coletta und schritt in das geräumige Esszimmer. Die dunkle Tapete, der Kronleuchter über dem Tisch und die Vitrine mit goldverziertem Porzellan ließen den Raum pompös und mysteriös wirken.

Bis auf Ava und Tian saßen die restlichen Familienmitglieder schon um den massiven Eichentisch und aßen stumm ihr Frühstück. Als sich Tian seinem Vater Damian gegenüber an das Kopfende setzte, blickte keiner auf. Ihm machte es nichts aus, denn er kannte es nicht anders.

Wie jeden Morgen las der Vater die Zeitung und nippte hin und wieder an seinem Kaffee. Neben ihm saß Tians Mutter Aislinn und aß stumm ihr Brötchen. Ihren Blick hatte sie auf nichts Bestimmtes gerichtet und ihre Stirn war krausgezogen, als würde sie nachdenken. Vielleicht hatte sie am Vortag lange gearbeitet, dachte Tian.

Sein Blick fiel auf Coletta. Ihr rechter Zeigefinger zuckte kaum merklich und sie hatte zwar schon ihr Brot mit Marmelade bestrichen, aber noch nicht angerührt. Sie wirkte nervös, doch wieso?

Eigentlich hatte nur Tians zehnjährige Schwester Runa Grund zur Aufregung. Sie hatte den ersten Schultag in der Unterstufe vor sich, doch davon ließ sie sich nichts anmerken. Wie immer saß sie aufrecht auf ihrem Platz, hatte den Kopf tief gesenkt und bewegte ihren Löffel im Müsli langsam, um so wenig Geräusche wie möglich zu verursachen.

Runa war außergewöhnlich. In der Familie hatten alle außer ihr pechschwarzes, fülliges Haar. Im Gegensatz dazu waren ihre dünn und schneeweiß. Runas Haut wirkte blasser als Tians, jedoch waren ihre Augen ebenso himmelblau, wobei in ihren immer ein trauriger Ausdruck innewohnte. Mit ihrer zarten Statur wirkte sie zerbrechlich und kleiner als sie eigentlich war. Zusätzlich erregte sie Aufmerksamkeit, weil sie noch nie ein Wort gesprochen hatte. Niemand wusste wieso.

Ava hüpfte mit Krach die Treppe herunter und riss Tian aus seinen Gedanken. Im Türrahmen erschien sie in einem roten Sommerkleid. Sie trug immer bunte und kräftige Klamotten, womöglich um ihr Anderssein zum Ausdruck zu bringen. Sie tat alles dafür, um sich von ihrer Familie abzuheben. Nicht nur zog sie sich anders an, sie sprach auch mehr als nur das Nötigste und pflegte bewusst Freundschaften. Dennoch war sie ihrer Familie ähnlicher, als ihr lieb war. Die stets aufrechte Haltung und der emotionslose Gesichtsausdruck waren nur Äußerlichkeiten, die sie von den anderen Menschen unterschied.

Schulfreunde hatten die Kinder, bis auf Ava, nicht. Nicht einmal mit den Nachbarn pflegten sie Kontakt. Außer Haus ließen sie sich nur blicken, wenn es sein musste. Für sie war es schon ungewöhnlich, dass Tian hin und wieder einen Spaziergang machte, obwohl er bewusst eine Route wählte, bei der er niemandem begegnete.

Etwas zog Damians Aufmerksamkeit von der Zeitung weg, die er nun ein Stück senkte. Er griff mit einer Hand in seinen Hemdkragen und holte eine silberne Kette mit einem achteckigen Anhänger hervor.

Nach einem kurzen Blick darauf sagte er nur: »Die Arbeit.«

Damit meinte er nicht den angeblichen Bürojob, den er sich als Alibi ausgedacht hatte, wenn ihn jemand nach seiner Arbeit fragte. Den eigenartig scheinenden Verhaltensweisen der Familie lag nämlich ihre eigentliche Berufung zugrunde, von der niemand jemals erfahren durfte: Sie waren Seelendiener. Neben Aislinn und Damian konnten auch die Kinder Seelen, die einen leblosen Körper verlassen, sehen. Aufgrund dieser Fähigkeit war es ihre Aufgabe, Seelen, die es nicht allein ins Licht schafften, zu helfen.

Der Vater faltete die Zeitung zusammen und reichte sie an Coletta, die aufschreckte, als hätte er sie aus ihren Gedanken gerissen. Dann schnappte er sich sein Sakko von der Rückenlehne des Stuhles und warf es über die schmalen Schultern.

Von der Statur ähnelte Tian seinem Vater, nur die Falten in Damians länglichen Gesicht und das grau-schwarze Haar zeigten sein Alter. Seine hohen Wangenknochen und das zurückgekämmte Haar deuteten auf seine Strenge, und seine knochigen Finger und die zurückgestreckten Schultern auf seine Bestimmtheit.

Damian bückte sich, nahm seinen Aktenkoffer in die Hand, der wie jeden Morgen neben dem Tischbein stand, und trat anschließend einen Schritt vor. Sein Fuß berührte jedoch nicht den Boden, stattdessen verwandelte sich Damian in einen hellgrauen Nebel, der mit einem Luftzug, den keiner im Raum spürte, verschwand. Er war teleportiert.

Tians Mutter Aislinn stand auf, nahm ihren Teller und die halb leere Tasse ihres Mannes und trug sie durch den offenen Türbogen in die Küche.

Als sie zurückkam, meinte sie: »Ihr müsst los zur Schule.«

Coletta legte augenblicklich die Zeitung beiseite, hüpfte auf und huschte mit ihrem Geschirr und dem unberührten Brot in die Küche. Runa rutschte mit gesenktem Kopf von ihrem Stuhl und folgte ihr leise. Und auch Tian stand auf, um seinen Teller wegzuräumen.

»Ava, trödle nicht!«, sagte Aislinn.

Ava verdrehte mit einem Schmunzeln die Augen, stopfte sich ihren Mund mit Joghurt voll und trottete anschließend in aller Ruhe Tian in die Küche hinterher.

»Und bitte habe heute ein Auge auf Runa, schließlich ist es ihr erster Schultag in der Unterstufe«, rief Aislinn ihr nach.

Mit vollem Mund erwiderte Ava: »Ich spiel sicher nicht ihre Babysitterin, sie kann schließlich auf sich selbst aufpassen.«

Als sie an ihrer Mutter vorbeiging, warf diese ihr einen mahnenden Blick zu. Deswegen gab Ava klein bei: »Na gut, aber nur ein Auge.«

Doch als sie zu Coletta und Tian in den Eingangsbereich trat, hatte sich Runa schon allein auf den Weg zur Schule gemacht.

»Dann kann ich nur euch beiden einen wunderschönen ersten Schultag wünschen«, meinte Ava motiviert.

Genervt wandte sich Coletta ab.

»Ich habe das Gefühl, dass es ein außergewöhnliches Schuljahr werden wird.« Ava zwinkerte Tian zu. »Ist nur so ein Gefühl.«

Tian

Als Tian durch die offene Schultür in die Aula ging, dachte er an den Tag zurück, als er dieses Gebäude zum ersten Mal betreten hatte. Es war sein erster Schultag in der Unterstufe gewesen. Doch die Vorfreude war sofort verschwunden, als er einen Schritt durch die große, gläserne Eingangstür gemacht hatte. Trotz der hohen Decke hatte der Lärm, die abgestandene Luft des Sommers und die dichte Schülermenge jene erwartungsvollen Gedanken verdrängt, die sich zuvor gebildet hatten. Das Quietschen der Schuhsohlen auf dem Boden und das Zuschlagen der Spindtüren hatten in seinen Ohren widergehallt. Er hatte sich unbedeutend und klein gefühlt. Überfordert hatte er sich beeilt, so schnell wie möglich seine Klasse zu finden.

Nun, sechs Jahre älter und Schüler der Oberstufe, erging es ihm kaum anders. Er sah sich nach Coletta um, sie beide gingen immer gemeinsam zu Schule. Zwar hatte ihr Gesichtsausdruck dieselbe gefasste Mimik wie immer, doch er wusste, dass sie das Gedränge, die ansteckende Unruhe und die freudigen Rufe des Wiedersehens nach dem Sommer genauso wenig mochte wie er. Es lag zu viel Hektik, Anspannung und Unsicherheit in der Luft. Die Schüler wuselten von links nach rechts und wieder zurück, keiner wusste wohin und alle waren voller Energie von den vergangenen Ferien und aufgebracht über die bevorstehende Schulzeit. Tian spürte, dass einige die Ungewissheit über das, was das Jahr bringen würde, liebten und dadurch noch aufgekratzter waren. Innerlich sehnte er sich bereits danach, dass der Schulalltag wie jedes Jahr die Vorfreude trüben würde und die Schüler mit faden Gesichtern durch das Schulgebäude trotteten.

Trotz dieser Unruhe mochte Tian die Schule. Da er seine Zeit meist zu Hause in seinem Zimmer verbrachte, war sie eine willkommene Abwechslung für ihn. Im Unterricht war es ruhig und er musste nur etwas sagen, wenn er dazu aufgefordert wurde. Seine knappen Antworten reichten den Lehrern meist aus, da sie immer korrekt waren. Für Tests musste Tian kaum lernen und es machte ihm Spaß, sein Wissen abprüfen zu lassen, trotzdem prahlte er nie mit seinen Noten.

Durch seine Zurückhaltung und Unscheinbarkeit ging er im Klassengemenge unter. Es würde ihn keineswegs wundern, wenn ein Klassenkollege seinen Namen nicht kennen würde.

Freunde hatte er keine. Es gab in den vergangenen Jahren immer wieder Schulkameraden, die ihn kennenlernen wollten, aber alle gaben nach wenigen Tagen auf. Für sie waren seine kurzen Antworten wohl zu langweilig. Tian selbst machte keine Anstalten, jemanden anzusprechen. Als Seelendiener hatte er sich vorgenommen, den Kontakt zu seinen Mitschülern so gut wie möglich zu meiden. Sein Vater hatte oft genug erklärt, wieso es besser war, keine Freunde zu haben. Zu hoch war das Risiko, dass die Menschen von seinen geheimen Fähigkeiten erfuhren. Und das musste er verhindern.

Coletta schlug die Richtung zu ihrem Klassenzimmer ein, ohne Tian zum Abschied anzusehen. Obwohl er normalerweise nicht stehen blieb, tat er es dieses Mal, um ihr nachzublicken. Mit zügigen, aber etwas verkrampften Schritten entfernte sie sich. Ihr strenger Zopf wippte dabei auf und ab. Die meisten Schüler beachteten sie nicht, für sie war Coletta genauso wie Tian unscheinbar. Doch diejenigen, deren Weg sie kreuzte, drehten sich zu ihr um und wunderten sich über ihren aufrechten, steifen Gang. Trotz ihres jungen Gesichts sah sie nicht wie eine Schülerin aus, sie wirkte um einiges älter als ihre Klassenkameraden. Tian erkannte, dass es nicht nur an dem Hemd lag, dass sie trug, auch die Art, wie sie ihren Kopf hochhielt, ein bisschen so, als würde sie sich für etwas Besseres halten, unterstrich diese Annahme. Im nächsten Moment verschwand sie in der Menschenmenge.

Tian wandte sich um und bahnte sich einen Weg durch die vollen Gänge, stets darauf bedacht, den aufgeregt zappelnden Schülern jederzeit ausweichen zu können. Angestachelt von der Unruhe seiner Mitschüler und ohne die Selbstbeherrschung seiner Schwester neben ihm, wurde schließlich auch er von der Stimmung des Schulbeginns erfasst. Er erinnerte sich an Avas Worte vom Morgen. Vielleicht, dachte er, hielt das Schuljahr wirklich etwas Besonderes für ihn bereit. Vielleicht wurde es das beste Jahr seines Lebens.

Als hätte ihn sein eigener Gedanke erschreckt, schüttelte er kaum merklich den Kopf. Es war Blödsinn, sich vom Schulalltag mehr als das bisher Gewohnte zu erwarten, und er wusste das. Dieses Jahr würde genauso werden wie das letzte. Und das war gut so. Tian wusste, was ihn erwartete, und konnte sich somit besser auf die wesentlichen Dinge seines Lebens konzentrieren: das Erlernen der Seelendieneraufgaben. Seine Mitschüler würden selbst in ein paar Wochen realisieren, dass es nur die Schule war, die mit ihrem wöchentlich gleichbleibenden Stundenplan einen Rhythmus schaffte, der sich durch das ganze Jahr zog. Tian schluckte seine Aufregung hinunter, aber zwischen seinen Rippen blieb ein Funke übrig. Entschieden drückte er mit seinen Fingern dagegen, doch das Gefühl ließ nicht nach.

Augenblicklich ging Tian etwas schneller, er sehnte sich nach der Stille und Sicherheit seines Klassenzimmers. Er wusste, dass er Raum und Ruhe zum Nachdenken brauchte, um das Gefühl zwischen seinen Rippen endgültig verdrängen zu können.

Tian trat einen Schritt nach links, um einen vorbeilaufenden Schüler auszuweichen, und zwängte sich anschließend durch ein Grüppchen, das den Weg zur Klasse versperrte. Dabei war er darauf bedacht, keinen zu berühren. Er betrat das Zimmer und fand sich im vorderen Teil des Raumes wieder. Sofort merkte er, wie der Lärm des Ganges in den Hintergrund rückte, aber dafür stieg nun der beißende Geruch von Putzmittel in seine Nase. Im Sommer waren der Fußboden und die Tischplatten auf Hochglanz poliert geworden und auch die Tafel strahlte in einem satten Dunkelgrün. Die weiß verputzten Wände wirkten mit den leeren Pinnwänden kühl, doch das würde sich in den nächsten Wochen schnell ändern, wenn sie von Plakaten, Landkarten und Schulzetteln übersät sein würden.

Tian war nicht der Erste im Klassenzimmer, vereinzelt hatten seine Mitschüler schon Platz genommen und sprachen miteinander. Keiner beachtete ihn, als er eintrat, somit hatte er kurz Zeit, sich nach einem geeigneten Sitzplatz umzusehen. Am liebsten wäre ihm ein Platz im hinteren Teil der Klasse, um sicherzugehen, dass er sich im Unterricht außerhalb des Blickfeldes seiner Mitschüler befand. Von den drei Zweiertischen in der letzten Reihe war nur noch der mittlere frei. Der Fensterplatz war zu seinem Bedauern schon von Dora belegt, die ihre Tasche absichtlich auf den Stuhl neben sich platziert hatte, um ihn für ihre Freundin zu besetzen.

Tian ging zügig zu seinem ausgewählten Platz und ließ sich dort auf einen Stuhl nieder. Dann zog er tief die Luft zu der Stelle zwischen seinen Rippen ein und versuchte, den immer noch vorhandenen Funken der Aufregung auszuatmen.

Dieses Gefühl hatte er schon ein paar Mal gehabt, aber noch nie in der Schule und das beunruhigte ihn. Wenn er ein gutes Buch zu Ende gelesen hatte oder der Vater ihn in einer Übungsstunde stolz lobte, was äußerst selten vorkam, dann begann es zwischen seinen Rippen zu brodeln. Doch es hielt nie lange an. Sobald Tian merkte, dass er das Buch nie wieder so wie beim ersten Mal lesen konnte, weil er das Ende nun kannte, oder sein Vater ihn anfuhr, dass er sich das dämliche Grinsen verkneifen sollte, verschwand augenblicklich der Funke zwischen den Rippen, als wäre er nie da gewesen.

Weder wusste Tian, woher das Gefühl an diesem Schultag kam, noch fiel ihm eine Möglichkeit ein, wie er es loswerden konnte. Er rutschte auf dem Stuhl hin und her, bis ihm auffiel, dass seine Mitschüler die Nervosität nun bemerken könnten. Sofort blieb er still sitzen, richtete seinen Rücken gerade, legte seine Arme auf den Tisch und achtete auf eine neutrale Mimik. Fest dachte er daran, dass dieser Tag nicht anders als die anderen werden würde, es gab keinen Grund zur Aufregung. Diesen Gedanken ließ er sich ein paar Mal durch den Kopf gehen, bis der Funke zwischen seinen Rippen allmählich verschwand. Zurück blieb ein Moment der Enttäuschung, den Tian konsequent ignorierte.

Entschieden, dass er sich nicht von seinen Gefühlen durcheinanderbringen lassen wollte, ließ er seinen Blick durch das Klassenzimmer schweifen. In den letzten Minuten waren immer mehr Schüler hereingekommen und hatten an den Tischen Platz genommen. Tian sah zur Uhr, die ihm verriet, dass es nicht mehr lange bis zum Unterrichtsbeginn dauern würde.

Gerade als sein Blick die Tür streifte, öffnete sich diese und Nele, Kiara und Steve traten herein. Kiara hatte sich bei den anderen beiden untergehakt und hielt sie kurz auf, um sich nach drei freien Plätzen umzusehen.

In ihrem dünnen, kurzen Haar hatte sie ein paar Spangen befestigt und trotz der warmen Spätsommertemperaturen trug sie über ihrem langen, etwas zu großen Sommerkleid eine Wolljacke. Ihr Grinsen reichte von einem Ohr zum anderen, weswegen die Blässe um ihre Nase kaum auffiel.

Steve trug mit seiner freien Hand Kiaras Handtasche. Er hatte im Laufe des Sommers etwas zugelegt, denn sein Shirt spannte über dem Bauch. Ansonsten sah er aus wie immer, die blonden Haare waren frisch geschnitten und auf seinen vollen Lippen zeichnete sich ein leichtes Lächeln ab. Gerade sah er zu seinen Freundinnen hinüber, als sie etwas sagten und nickte. Anschließend zog Kiara ihn und Nele schnurstracks in Tians Richtung.

Er schaute schnell zur Seite, damit ihnen nicht auffiel, dass er sie schon bemerkt hatte. Doch er wusste bereits, dass sie sich zu ihm setzen würden. Der Tisch vor ihm und der Stuhl neben ihm waren die einzigen freien Plätze in der Klasse, bei denen die Freunde beisammen sein konnten.

Während sich Kiara und Steve auf den Tisch vor ihm setzten, blieb Nele neben Tian stehen. Er spürte ihren Blick auf sich ruhen.

Sie fragte: »Ist der Platz noch frei?«

Obwohl dem offensichtlich so war, machte sie keine Anstalten sich hinzusetzen, bevor er nichts sagte. Ohne ihr in die Augen zu sehen, hob Tian den Kopf in ihre Richtung und nickte. Sie nahm seine stumme Antwort hin und schob den Stuhl zurück, um sich darauf niederzulassen.

Nachdem Nele sich nach vorne gebeugt hatte, um mit Kiara und Steve zu reden, konnte Tian sie unauffällig betrachten. Sie hatte dunkle Haut und braune Locken, die sie zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden hatte. Vereinzelt lösten sich ein paar Strähnen, doch sie machte sich nicht die Mühe, den Zopf neu zu binden. Stattdessen schob sie die widerspenstigen Haare hinter ihre Ohren.

»... und ein Wochenende haben wir dann noch in New York verbracht, bevor wir zurückgeflogen sind«, erzählte Steve.

»Ach, ich bin so neidisch«, meinte Kiara und verzog ihren Mund, als sie das Handy mit den Fotos an Steve zurückreichte. »Ich hätte auch gerne Großeltern in den USA.«

Schmunzelnd verdrehte Nele die Augen und meinte: »Jetzt stell dich nicht so an, Kiki. Du hast so viele Ausflüge mit deiner Familie gemacht, ich habe gar nicht mehr mitzählen können, so oft hast du mich versetzt. Ich habe schon gedacht, ich sehe dich nie wieder!«

Kiara lachte auf: »Ich wäre viel lieber bei dir geblieben, glaub mir.«

»Was habt ihr gemacht?«, fragte Steve genauer nach.

»Nichts so Aufregendes wie die ganzen Sommerferien in den USA«, meinte Kiara und winkte schnell ab. Nach einem Zögern fügte sie kleinlaut hinzu: »Wandern, Baden und so.«

In diesem Moment fiel Tian in ihr Blickfeld und sie drehte sich mit einem Ruck zu ihm um. »Und Tian, wie hast du deinen Sommer verbracht?«

Verwundert sah er auf. Zwar hatte er unbeabsichtigt das Gespräch mitgehört, hätte aber nicht gedacht, dass er angesprochen wurde. Noch nie hatte ihn jemand nach seinen Ferien gefragt.

Den Sommer hatte er hauptsächlich damit verbracht, zu lesen und Abendspaziergänge zu machen. Manchmal hatte er statt Aislinn gekocht, wenn sie noch Arbeit hatte, aber er wusste, dass das für die anderen zu unspektakulär sein würde.

Kiara zog ungeduldig die Stirn kraus und sagte mit einer extra Betonung auf seinen Namen: »Tian. Wie waren deine Ferien?«

Nele und Steve wandten sich ebenfalls ihm zu und betrachteten ihn abwartend.

»Ähm«, sagte Tian zögerlich, »gut.«

Kiara gab sich noch nicht zufrieden und fragte mit Nachdruck: »Was hast du so gemacht? «

»Gelesen habe ich«, meinte er und merkte, wie Kiara schmunzelte. »Und Spaziergänge habe ich gemacht.«

Wie erwartet, fand Kiara seine Antwort komisch. Doch anstatt sich wegzudrehen, wie es die anderen Schüler sonst taten, fing sie lauthals zu lachen an.

»Wie süß! Lesen«, rief sie und schnappte nach Luft, »und spazieren.«

Ein paar Klassenkameraden drehten sich fragend zu ihr um und Steve warf ihr einen warnenden Blick zu. Aber sie konnte sich vor Lachen nicht einkriegen, während Tian spürte, wie das Blut in seinen Kopf schoss. Hätte er doch besser nichts gesagt. Dann hätten die drei nur die Augen verdreht und ihn in Ruhe gelassen.

»Ich habe in den Ferien auch ein Buch gelesen«, warf Nele ein, aber Kiaras Lachen übertönte ihre Stimme.

Tian wandte sich ab und schob seine Hände unter die Oberschenkel, noch immer darauf bedacht, aufrecht zu sitzen und einen neutralen Gesichtsausdruck beizubehalten.

Obwohl es ihn ärgerte, zur Schau gestellt zu werden, trug er Kiara sein Bloßstellen nicht nach. Er vermutete nämlich, dass sie die Aufmerksamkeit absichtlich von sich auf ihn gelenkt hatte. Ihm fiel trotz ihrem Lachen die Blässe um die Nase auf und ihm war bewusst, dass ihr Kleid zu groß war, weil sie abgenommen hatte. Als Seelendiener spürte er Kiaras Schwäche. Die Kraft verließ allmählich ihren Körper, über den Sommer hatte sich ihr Zustand verschlechtert. Jedoch konnte Tian nicht sagen, welche Krankheit ihr zu schaffen machte. Schließlich hatte Kiara noch nie öffentlich über ihren Zustand gesprochen. Ihn würde es nicht wundern, wenn nicht einmal Nele und Steve davon wussten.

Die drei Freunde hatten das Gespräch über ihren Sommer wieder aufgenommen, als es zum Unterricht klingelte. Tian atmete erleichtert aus, griff in seinen Turnbeutel und zog einen Stift und einen Block hervor. Zwar wusste er noch nicht, ob er sie brauchen würde, doch er fühlte sich vorbereitet, als der Deutschlehrer Herr Olsen hereintrat.

Wie immer legte er seine Umhängetasche auf das Lehrerpult und fuhr sich über seine Halbglatze, bevor er sich der Klasse zuwandte. Manche Dinge würden sich nie ändern und Tian war sich sicher, dass Herr Olsen, egal was geschah, der gleiche bleiben würde. Er trug wie immer Khakihosen, braune Schuhe, einen Ledergürtel mit silberner Schnalle und ein hellblaues Hemd, bei dem der oberste Knopf offen war. Nur bei Veranstaltungen trug er eine altmodische Krawatte, jedes Mal dieselbe.

»Guten Morgen! Ich hoffe, ihr habt alle einen angenehmen Sommer gehabt«, begrüßte er die Schüler. »Ich trage euch gleich ein paar Ankündigungen für das kommende Schuljahr und die allgemeinen Schulregeln vor. Bitte schreibt mit, ich werde mich nicht wiederholen.«

Mit diesen Worten zog er einen Zettel aus seiner Umhängetasche. Im selben Moment begannen die Schüler Stifte und Papier hervorzukramen. Tian blickte nach vorne und wartete mit Herrn Olsen darauf, dass wieder Ruhe einkehrte.

Jemand tippte sanft gegen Tians Arm und Neles Stimme ertönte: »Kannst du mir einen Stift borgen?«

Tian schielte zu ihrem Platz hinüber, zwar hatte sie ein Blatt Papier vor sich liegen, doch nichts zu schreiben. Wortlos griff er in seinen Jutebeutel, holte einen Kugelschreiber hervor und legte ihn auf Neles Tischseite.

»Danke«, flüsterte sie und ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen.

Bei ihrem Anblick zuckten Tians Mundwinkel unwillkürlich nach oben und zwischen seinen Rippen flammte wieder der Funke von vorhin auf.

Herr Olsens Stimme erklang und Tian wandte sich rasch von Nele ab. Noch bevor er sich fragen konnte, was das Gefühl zwischen seinen Rippen dieses Mal zu bedeuten hatte, war der Funke schon verschwunden. So als wäre er nie da gewesen.

Ava

»Ich muss jetzt los«, rief Ava und verabschiedete sich von ihren Mitschülern.

Sie hatten nach dem Unterricht im Schulhof Fangen gespielt. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie sich nun beeilen musste, um rechtzeitig zum Mittagessen zu Hause zu sein.

»Ich komme mit!«, sagte ihre beste Freundin Franzi und holte ihr Fahrrad.

Sie verließen den Schulhof und machten sich auf den Heimweg. Seitdem sie befreundet waren, gingen sie immer gemeinsam zur Schule und nach Hause. Morgens trafen sie sich bei einer Parkbank etwas die Straße runter bei Avas Haus. Franzi hatte einen etwas längeren Schulweg und fuhr deswegen mit ihrem alten Rad bis zum Treffpunkt. Das letzte Stück ging sie mit Ava, um vor dem Unterricht noch zu plaudern.

Ava hatte Franziska, auch Franzi genannt, in der dritten Volksschulklasse kennengelernt. Sie war gerade erst mit ihrer Mutter Jessica hergezogen. Weil neben Ava der einzige freie Platz in der Klasse war, setzte sich Franzi zu ihr. Ihre Bekanntschaft war anfangs holprig, da Ava damals sehr zurückhaltend war. Doch etwas an Franzi zog sie in ihren Bann. Allein ihr Aussehen, die roten Haare, die buschigen Augenbrauen und die Sommersprossen, die sich vom Gesicht bis zu den Fingerspitzen zogen, waren auffällig. Ohne Scheu rief sie im Unterricht die Antworten heraus, ohne sich darum zu kümmern, ob sie falsch waren. Und wenn Ava sich nicht traute, etwas zu sagen, betrachtete Franzi sie mit einem kritischen und verspielten Blick, der sie rot werden ließ. Franzi war anders als die Menschen, die Ava bis dahin kennengelernt hatte, nicht zu vergleichen mit ihrer Familie. Trotzdem fühlte sie ihre Verbundenheit.

Also nahm sich Ava vor, Franzi jeden Tag einmal anzusprechen. Am nächsten Morgen fragte sie leise nach ihrem Wochenende. Leider war es so laut in der Klasse, dass es Franzi nicht hörte. Am darauffolgenden Tag fragte sie, wie es ihr ginge. Zuerst sah Franzi sie nur an, so als müsste sie überlegen, ob sie sich verhört hatte. Aber dann begann sie zu erzählen, ganz ausführlich antwortete sie. Dadurch hatte Ava genug Zeit, weitere Antworten und Fragen festzulegen, um das Gespräch am Laufen zu halten. Seitdem musste sie sich nie wieder vornehmen, Franzi anzusprechen, jeden Tag erzählten sie sich etwas Neues, so als würden sie das schon jahrelang machen.

Mit der Zeit kam Ava immer mehr aus sich heraus. Sie begann, im Unterricht aufzuzeigen, auch wenn ihre Hand in den ersten Wochen dabei fürchterlich zitterte. Als sie beim ersten Mal kein Wort hervorbrachte, bemerkte Franzi das und rief mit voller Überzeugung eine falsche Antwort heraus und lenkte somit die Aufmerksamkeit auf sich. Irgendwann traute Ava sich, mit weiteren Schulkollegen zu sprechen, doch keinen hatte sie so gerne wie Franzi.

Freudig erzählte sie ihren Eltern von ihrer Freundschaft. Ava glaubte, sie wären erleichtert, dass wenigstens eines ihrer Kinder eine Freundin hatte, doch sie wurde enttäuscht. Sie sagten nichts. Erst nach einem Moment der unangenehmen Stille schickte der Vater die anderen Kinder in ihr Zimmer. Dann erklärte er Ava, dass ihre Familie keine Freunde hatte und er ihr den Kontakt zu Franzi verbot. Denn nichts war ihm wichtiger, als die Fähigkeiten der Seelendiener geheim zu halten. Sie nickte nur und ging anschließend in ihr Zimmer. Die Tränen wischte sie schnell weg. Sie wollte nicht, dass jemand bemerken könnte, wie traurig sie war.

Die darauffolgende Nacht konnte sie nicht schlafen, die ganze Zeit dachte sie an ihre Freundin und wie sehr sie ihr fehlen würde.

Als sie am nächsten Morgen vor der Schule aufeinandertrafen, nahm Ava Franzi zum ersten Mal in den Arm und ließ sie lange nicht los. Schließlich begann ihre Freundin, Witze über die Umarmung zu reißen, und da war Ava klar, dass sie nicht auf ihren Vater hören würde.

Dass sie ihre Freundin weiterhin sah, konnte sie lange geheim halten. Weder verlor sie ein Wort über Franzi, noch lud Ava sie zu sich nach Hause ein. Aber ihre Eltern wurden misstrauisch, als ihnen das häufige Fernbleiben von Ava nach der Schule auffiel. Sie waren verärgert, als sie herausfanden, dass Ava die Freundschaft nie beendet hatte. Doch selbst langes Zureden und Hausarrest hielten Ava nicht auf, Franzi weiterhin zu treffen. Sie versprach Aislinn und Damian, ihrer Freundin nie von den Seelendienern zu erzählen, aber ihren Eltern genügte das nicht. Der Streit über die Freundschaft dauerte immer noch an.

Vertieft in ein Gespräch erreichten Ava und Franzi den Park, wo sich ihre Wege trennten.

»Möchtest du am Nachmittag vorbeikommen?«, schlug die Freundin vor.

»Ja, ab wann passt es für dich?«, fragte Ava.

»Du kannst jederzeit kommen«, meinte Franzi. »Ich habe nichts anderes vor.«

»Gut, dann sehen wir uns später!«

»Tschüss«, verabschiedete sich Franzi und setzte ihren Fahrradhelm auf. Sie stieg auf ihr Rad und fuhr los.

Ava sah ihr kurz hinterher, bevor sie loslief, um das Mittagessen nicht zu verpassen.

Kurz darauf kam das Haus ihrer Eltern in Sicht. Mit der weißen Fassade und dem dunklen Dach fiel es nicht auf. Es hatte große Fenster, eine Veranda vor dem Haus und eine Hecke am Grundstücksrand. Der Rasen war säuberlich gemäht und das blumige Gebüsch gründlich gestutzt worden, der Vorgarten gehörte zu den Gepflegtesten in der Nachbarschaft.

Dennoch mochte Ava den Anblick des Hauses nicht. Es war

ein vergeblicher Versuch ihrer Eltern, den Nachbarn zu zeigen, dass sie eine gewöhnliche Familie waren. So als würden sie sich gerne Gedanken um die Gartenarbeit machen. Zwar mähte

Damian regelmäßig den Rasen und stutzte sorgfältig die Hecke, doch er tat es nur ungern. Danach verschwand er nämlich immer in der tiefen Polsterung des Ohrensessels im Wohnzimmer und las nochmals die Zeitung vom Morgen. Ava wusste, dass es die Art ihres Vaters war, mit seiner Unzufriedenheit umzugehen. Aislinn kaufte Blumenstöcke für die Veranda, vergaß aber jedes Mal, sie zu gießen. Also landeten die Pflanzen nach nur wenigen Wochen im Müll und wurden durch neue ersetzt, denen es genauso erging.

Ava trat in den Eingangsbereich des Hauses. Zwar wirkte er mit der Holztapete, dem dunklen Fußboden, dem olivgrünen Teppich mit einem verschnörkelten Muster und dem massiven Kleiderständer für Avas Geschmack überwältigend, doch sie wusste, dass ihre Eltern den pompösen Stil mochten.

Sie ging ins Esszimmer. Aus der Küche duftete es nach Kürbissuppe und Tian und Coletta deckten den Tisch. Runa saß stumm an ihrem Platz, den Blick auf ihren leeren Teller gesenkt.

Aislinn schritt mit einem Korb voll Brot aus der Küche und stellte ihn auf den Tisch ab.

»Das Essen ist fertig«, verkündete sie.

Die Kinder setzten sich, während ihre Mutter die Suppe holte und austeilte.

»Wo ist Vater?«, fragte Ava, als sie ihren Teller hinhielt.

Aislinn sagte: »Bei der Arbeit.«

»Noch der Auftrag von heute früh?«

Ava hörte, wie Coletta laut ausatmete. Die ständige Fragerei störte sie, besonders, wenn die Antwort offensichtlich war. Ihr Vater übernahm selten die komplizierten Aufträge, er war zu ungeduldig. Er teleportierte öfter für kürzere Zeit weg. Hingegen kam es immer wieder vor, dass sich Aislinn den ganzen Tag nicht blicken ließ, nur um eine einzige Seele ins Licht zu bringen. Dennoch fragte Ava nach, schließlich bestand immer die Möglichkeit, dass ein Auftrag langwieriger war als zuerst gedacht.

Ihre Mutter antwortete: »Nein, ein weiterer Auftrag. Er müsste jederzeit zurückkommen.«

»Hast du heute auch schon eine Seele eingesammelt?«, wollte Ava wissen.

»Nein, noch nicht.«

Dann herrschte wieder Stille, nur das Schlürfen der Suppe und das Klirren der Löffel waren zu hören. Das gemeinsame Essen war für Avas Eltern sehr wichtig, vielleicht lag es daran, weil sie sonst kaum Kontakt zu anderen Menschen hatten.

Ava ergriff erneut das Wort. »Wie war euer Schultag?«

Sie schaute in die Runde. Nur Tian sah auf, der Rest der Familie ignorierte sie. Das war meistens so, denn solche Themen zählten zu den unnötigen Gesprächen. Trotzdem stellte Ava jeden Tag die Frage, manchmal aus Interesse, manchmal aus Provokation.

Ava fing Tians Blick auf und lächelte.

Er antwortete knapp: »Gut.«

Zwar gab er die Frage nicht an sie zurück, doch sie störte sich nicht daran. Sie sagte: »Meiner auch.«

Ava schenkte sich Suppe nach, als sich Coletta dem Eingangsbereich zuwandte. Sie folgte dem Blick ihrer Schwester und sah, wie sich eine hellgraue Wolke bildete, die größer wurde und anschließend Damian daraus hervortrat.

Der Vater nickte der Familie zur Begrüßung zu und legte seinen Mantel ab. Mit zügigen, großen Schritten marschierte er zu seinem Stuhl am Kopfende des Tisches, drehte sich schwungvoll und setzte sich.

Während er sich etwas zu Essen nahm, fragte Ava: »Wie war es bei der Arbeit? Ein spannender Fall?«

Damian richtete sich zu seiner vollen Größe auf. »Eine Seele, die sich aufgrund von mangelhafter Auseinandersetzung mit dem Tod nicht vom menschlichen Körper trennen wollte. Die Angst vor dem Sterben hat das Loslösen erschwert«, berichtete er belehrend. Als hätte ihn Avas Frage an etwas erinnert, machte er eine öffnende Armbewegung und sagte zu seinen Kindern: »Am Nachmittag werde ich mit Runas Unterricht beginnen, bitte sei pünktlich nach dem Essen im Arbeitszimmer. Anschließend werden Coletta und Tian weiter trainieren, unsichtbar zu werden, danach wird Avas Unterricht fortgesetzt.«

Coletta nickte gewissenhaft, während sich Ava kurz auf die Lippen biss. Sie hatte Franzi versprochen, sie zu besuchen. Leider sagte ihr Vater nie, zu welchen Uhrzeiten der Unterricht beginnen würde, weil er wusste, dass Ava sich andere Freizeitpläne machen würde.

Runa aß weiterhin stumm ihre Suppe und reagierte nicht auf die Ankündigung von Damian. Vor ein paar Wochen hatte ihr Unterricht über die Allgemeinkunde begonnen. Es war der erste Schritt zur Aneignung des Wissens als Seelendiener.

Als Tian, Coletta und Ava zehn Jahre alt geworden waren, hatten sie es kaum geschafft, ihre Aufregung über den bevorstehenden, lang ersehnten Unterricht im Zaum zu halten. Es war ein Meilenstein in ihrem Leben gewesen, denn endlich waren sie ihrem Ziel, als Erwachsene Seelen einzusammeln, ein kleines Stück näher gekommen. Im Gegensatz dazu hatte Runa keine Reaktion gezeigt, als sie von ihrem Unterrichtsbeginn erfuhr. Sie schien es einfach hinzunehmen und war stets pünktlich im Arbeitszimmer erschienen.

In den nächsten vier Jahren würde sie alles Wissenswerte über die Seelendiener erfahren, ebenso wie Ava, die beim Aneignen dieser Themen zurzeit mittendrin ist.

Hingegen übten Coletta und Tian bereits, unsichtbar zu werden, eine Fähigkeit, die für die Arbeit als Seelendiener besonders wichtig war. Obwohl Coletta ein Jahr jünger war als Tian, hatte sie mit ihm gemeinsam den Unterricht gestartet. Sie war nicht nur strebsam, sie überzeugte auch mit ihrer selbstbeherrschten Art. Ava konnte sich noch daran erinnern, als Coletta eines Abends beim Essen höflich und professionell erklärt hatte, dass sie mit Tian den Unterricht starten wollte. Sie hatte nicht gebettelt, sondern die Vorteile argumentativ aufgezeigt, beispielsweise wie viel Zeit übrig bliebe, wenn zwei Kinder gleichzeitig unterrichtet werden und nicht getrennt. Ein paar Tage später hatte der Vater sie und Tian nach dem Essen ins Arbeitszimmer gebeten und ohne weitere Ausführungen erklärt, dass er ihr zustimmte.

Tian

Später am Nachmittag klopfte es sanft an Tians Zimmertür. Er legte sein Buch beiseite, stand auf und öffnete sie. Dahinter stand Runa, die nun stumm zu Colettas Zimmer ging und dort ebenfalls leicht mit ihrem schlanken Fingerknöchel gegen das dunkle Holz pochte. Augenblicklich trat Coletta heraus und marschierte zielstrebig die Treppe hinunter. Nun schlich Runa zu ihrem eigenen Zimmer und verschwand geräuschlos darin.

Tian folgte seiner Schwester die Treppe hinunter und ging in den hinteren Teil des Erdgeschosses. Coletta drückte die schwere Flügeltür aus Eichenholz auf und trat mit ihm in das Arbeitszimmer ein. Sein Vater war noch nicht da, trotzdem schloss Tian die Tür.

Er ließ seinen Blick über die Wände des Arbeitszimmers schweifen, an denen Regale bis zur Decke ragten, gefüllt mit Büchern aus den unterschiedlichsten Genres und Zeiten. Die Scheiben der Fenster waren aus Ornamentglas, um zu verhindern, dass neugierige Nachbarn einen Blick hereinwerfen konnten. Über dem Fensterrahmen hing eine hölzerne Pendeluhr mit römischen Ziffern, deren goldenes Pendel bei jedem Schlag tickte. Auf dem Holzboden zierte ein großer, roter Teppich mit orange-weißem Muster die Mitte des Raumes. Darauf stand ein massiver Eichentisch mit mehreren Laden an der Seite. Auf der glänzenden Tischplatte befanden sich eine Lampe, ein schwarzes Telefon und ein vollgestopfter Stifthalter. Der rotbraune Ledersessel war an den Schreibtisch geschoben, auf der anderen Seite befanden sich zwei Stühle mit Holzlehnen, aber derselben ledernen Polsterung.

Das Arbeitszimmer war eines der schönsten Räume des Hauses, in dem es immer angenehm nach alten Büchern roch. Die Sonnenstrahlen, die durch die Fenster fielen, unterstrichen die ruhige und ausgeglichene Stimmung. Wenn Tian seinen Blick über die Buchrücken schweifen ließ, konnte er sich darin verlieren.

Die goldene Türklinke wurde hinuntergedrückt und Damian trat ein.

»Coletta, Tian«, sagte er wohlwollend, aber mit strengem Unterton, und streifte kurz ihren Blick.

Er ging mit großen und schnellen Schritten an ihnen vorbei, um den Schreibtisch herum und baute sich dahinter auf.

Mit bestimmendem Ton begann er zu sprechen: »Wir fahren im heutigen Unterricht damit fort, so lange wie möglich im unsichtbaren Zustand zu verweilen. Die Zeit rückt näher, in der wir mit der Teleportation beginnen werden. Deswegen verlange ich von euch, eure Konzentration gänzlich darauf zu legen, die erste Fähigkeit zu perfektionieren.« Er sah zuerst Tian und dann Coletta an. »Deswegen macht ihr heute die Einstimmung, um unsichtbar zu werden, selbst. Später werde ich auch nicht bei euch sein, um euch das abzunehmen.« Mit diesen Worten wandte er sich ab.

Bisher hatte der Vater sie immer angeleitet, den Körper zu spüren und die Konzentration ganz auf sich selbst zu legen, bevor unsichtbar wurden. Es war ein wichtiger Teil für die Fähigkeit, denn wenn sie zu vorschnell vorgingen, konnte es leicht passieren, dass das rechte Bein nicht unsichtbar wurde oder das T-Shirt sichtbar blieb. Bei den ersten Versuchen war Tians linke Hand nie verschwunden und es war gruseliger, eine Hand ohne Körper in der Luft schweben zu sehen als an sich selbst hinunterzuschauen und nichts zu erkennen.

Tian schloss die Augen und konzentrierte sich zuerst auf seine einzelnen Körperteile. Von den Haaren bis zu den Zehenspitzen spürte er jedes Fleckchen Haut und jedes noch so kleine Härchen. Dafür nahm er sich bewusst Zeit, bevor er sich daran erinnerte, welche Kleidung er trug. Er spürte den Atem und wie sich seine Brust gegen das T-Shirt hob und senkte, bis seine Haut und die Baumwolle miteinander zu verschmelzen schienen. Den Stoff der Unterhose spürte er kaum, doch die Jeans fühlte sich hart an. Nach ein paar Atemzügen verschwand auch dieses Gefühl. Die Socken zwickten etwas an den Zehen. Tian musste dem Drang widerstehen, sie zurechtzurücken, um seine Konzentration auf sich selbst nicht zu verlieren. Zum Schluss widmete er sich seinen Schuhen. Es war der schwierigste Part, weil sie nicht direkt auf der Haut auflagen.

»Wenn ihr bereit seid, werdet unsichtbar«, hörte Tian die Stimme seines Vaters von Weitem.

Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, was ein gutes Zeichen war, denn daraus konnte er schließen, dass er völlig bei sich war.

Nun gab sich Tian dem letzten Schub Konzentration hin und löste damit ein Kribbeln aus, das über seinen ganzen Körper zog. Er versank in dem Gefühl und nahm für einen kurzen Augenblick nichts anderes mehr wahr. Doch schließlich drehte es sich in seinem Kopf und im nächsten Moment verlor er beinahe den Boden unter seinen Füßen. Sein Körper schien kurz außer Kontrolle. Seine Kleidung drückte sich an ihn, so fest, als würde sie in ihn eintauchen wollen. Das Blut rauschte in seinen Ohren und er spürte das starke Pochen seines Herzens in seiner Brust.

Plötzlich verschwand das Kribbeln, zurück blieb eine leichte Anspannung, die Tians ganzen Körper durchzog. Für einen Moment stand er ruhig da und lauschte nur seinen eigenen Atem.

»Gut gemacht, Tian«, hörte er die Stimme von Damian, die mit jeder Silbe lauter zu werden schien.

Als Tian die Augen öffnete und zu seinem Vater sah, nickte dieser ihm anerkennend zu. Dann wanderte Tians Blick weiter und fiel auf die Uhr. Es waren nur wenige Minuten vergangen, seitdem er das Arbeitszimmer betreten hatte.

Bevor sich ein Lächeln auf seine Lippen schlich, das zum Glück niemand aufgrund seines unsichtbaren Zustands bemerken konnte, blickte Tian an sich hinunter. Er wollte sich vergewissern, dass nichts von ihm zu sehen war. Weder erkannte er seinen Körper noch ein Stoffstück seiner Kleidung. Doch ihm fiel eine kleine Staubwolke am Boden auf. Vorsichtig hob er seinen linken Fuß an und schob den Staub zur Kante des Bücherregals. Auch diese Bewegung funktionierte, ohne dass sich die Anspannung, die seinen ganzen Körper und die Kleidung verband, verflüchtigte.

»Bleib so lange unsichtbar, wie du kannst«, meinte Damian an Tian gerichtet, ohne aufzusehen.

Gerade notierte er etwas in einem Buch, das er aus einer Schublade des Tisches gezogen hatte. Tian wusste, welches es war, einmal hatte er aus Neugierde über die Schulter seines Vaters geblickt, als er unsichtbar gewesen war. Damian führte darin Protokoll über den Fortschritt seiner Kinder, beispielsweise wie viel Zeit verging, bis sie gänzlich unsichtbar waren und wie lange sie den Zustand aufrechterhalten konnten. Für jedes Kind gab es ein eigenes Buch, doch aus Respekt hatte Tian nicht in die anderen geblickt.

Er sah zur Seite und erkannte, dass Coletta noch sichtbar war. Vor lauter Konzentration zog sie die Stirn kraus, ein schlechtes Zeichen. Daraus schloss Tian, dass sie ihre Mimik noch nicht unter Kontrolle hatte. Das war für seine Schwester unüblich. Neben Runa, die weder in der Übungsstunde noch im Alltag Reaktionen zeigte, war Coletta unter den Geschwistern diejenige, die ihre Gefühle am besten im Griff hatte. Sie wirkte erwachsen, wenn sie ihre Emotionen mit einem lauten Luftzug ausatmete und nahm immer eine aufrechte Haltung mit einem gefestigten Gesichtsausdruck ein. Nur wenn sie über sich selbst verärgert war, beispielsweise wenn sie eine Aufgabe nicht perfekt erledigen konnte, wurde sie mürrisch.

Tian ging im Büro auf und ab, blieb anschließend bei einem Bücherregal stehen und studierte die Einbände. Manchmal hatte er sich nach dem Unterricht ein Buch mitgenommen, um es im Anschluss zu lesen.

Vorsichtig zog er ein altes Poesiealbum heraus. Tian fand es faszinierend, wie er den ledernen und abgenutzten Einband unter seinen Fingern spürte, ohne zu sehen, dass er es wirklich berührte. Wahllos blätterte er das Poesiealbum durch. Die Gedichte darin waren handgeschrieben, manche in Kurrent, verziert mit zarten Zeichnungen.

Ein Blick zu Coletta verriet Tian, dass sie immer noch Schwierigkeiten hatte, unsichtbar zu werden. Zwar stand sie wie immer aufrecht, doch ihr Körper wirkte verspannt. Eine Falte bildete sich auf ihrer Stirn, bevor sie laut ausatmete. Aus dem Augenwinkel sah Tian, wie sich Damian etwas aufrichtete und mit strengem Blick Coletta musterte. Mit Mühe versuchte sie, unsichtbar zu werden. Allmählich gelang ihr das Vorhaben, aber es hatte länger als üblich gedauert. Langsam verblasste ihre Haut, bis Tian mehrmals blinzeln musste, um sie noch zu erkennen. Dann war sie verschwunden.