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Wie kaum ein anderes Volk haben wir Deutschen Schwierigkeiten, uns selbst anzunehmen. Hinter der Last, deutsch zu sein, steckt mehr als eine kollektive Befindlichkeitsstörung: Die Familientherapeutin Gabriele Baring sieht die Ursachen in geerbten und übernommenen Anteilen unserer Seele. Weil wir uns unbewusst mit den Schicksalen unserer Vorfahren verbinden, prägen uns die Schrecken des vergangenen Jahrhunderts bis heute. Doch wir können uns befreien – wenn wir dazu bereit sind, uns diesem tieferen Zusammenhang zu stellen. Gabriele Baring wirft einen völlig neuen Blick auf die deutsche Seelenlage: Die Traumata des Zweiten Weltkriegs wurden von Generation zu Generation weitergegeben. Sie wirken u. a. in Form von Scham- und Schuldgefühlen nach. Die Zunahme psychischer Erkrankungen, der Zerfall familiärer Bindungen und unsere Unfähigkeit zur Identifikation mit der eigenen familiären Herkunft bestätigen den Befund. Viele verzichten freiwillig auf Glück. Welche Wege können wir beschreiten, um ein positives Selbstbild zu gewinnen? Wenn wir auf die tiefere Dynamik in der eigenen Familie eingehen, selbstzerstörerische Muster und Konflikte erkennen, können wir unsere Angst überwinden. Heilung ist möglich. Ein Plädoyer für die offensive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit – damit es uns gelingt, uns selbst und unsere traumatisierte Nation wieder zu lieben.
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Seitenzahl: 382
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Gabriele Baring
Die geheimen Ängste
eBook-Ausgabe
© 2011 Scorpio Verlag GmbH & Co. KG, Berlin · München
Umschlaggestaltung: David Hauptmann,
Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
Satz: BuchHaus Robert Gigler, München
Konvertierung: Brockhaus/Commission
ePub-ISBN 978-3-942166-76-8
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www.scorpio-verlag.de
EINLEITUNG
1. Kapitel
DAS VERDÄCHTIGTE VOLKWie die Angst uns zerstört
Rationale und irrationale Ängste
Was den Deutschen Angst macht
Angststörungen und Depression
Das »Tätervolk«
Lockerung der Redeverbote
Unterdrückte Gefühle
»Selbstabschaffung«
Psychische Störungen als Massenphänomen
Zukunftsangst und Kinderlosigkeit
Auslaufmodell Familie?
Subtile Kinderfeindlichkeit
Versäumte Trauer
2. Kapitel
OHNE WURZELN KEINE FLÜGEL
Warum wir unsere Familiengeschichte kennen sollten
Die Leiden der Kriegskinder
Das Erbe der Kriegskinder und Kriegsenkel
Ablehnung der »Tätereltern«
Folgen der Traumatisierung
Übertragung von Traumata
Frühe Prägungen
Das Konzept der Familienaufstellung
Erfahrungen in der Gruppe
Heilung durch Aussöhnung
Das Amfortas-Syndrom
Parentifizerung und Schuldgefühle
Verzichthaltungen
Unterdrückte Wut
Die Vorfahren verstehen
3. Kapitel
DIE MACHT UNSERER VORFAHRENWie Familiengeheimnisse uns formen
Verschwiegene Vorfälle und Familiengeheimnisse
Das Familiengewissen
Missbrauch
Stellvertreter des Leids
Unbewusste Familienaufträge
Familiäre Treuesysteme
Das Genogramm
Ambivalentes Familienerbe
Ungeklärte Elternschaft
Der verleugnete Vater
Rekonstruktion der Familie
Mutter-Sohn-Probleme und Homosexualität
Seelische Blockaden
Die Ausgrenzung der Vergangenheit
Identifikation
Anerkennung der Ausgegrenzten
4. Kapitel
DAS VATERLOSE JAHRHUNDERTAnmerkungen zu unserer politischen Kultur
Politische Schlammschlachten
Verbale Hinrichtungen
Die vaterlose Nation
Seelische Defizite
Abwesende Überväter
Vaterlose Politiker
Gerhard Schröder
Herkunft als Legende
Aufstiegswille und Diffamierung
Bindungsschwierigkeiten
Sehnsucht nach Mutterliebe
Vaterlose Nachkriegskinder
Vorpielen einer »heilen Familie«
Mutterlose Politiker
Der Fall Guttenberg
Kämpfe im alternativen Milieu
Auf der richtigen Seite?
Der Angriff auf Andersdenkende
Der Begriff der »Täterhaftigkeit«
Das Schweigen der Nachgeborenen
5. Kapitel
DER KRIEG IN UNS
Auf dem Weg zur Aussöhnung
Ehekrieg
Generationenkonflikte
Aussöhnung mit den Eltern
Die »deutsche Krankheit«
Unerfüllter Kinderwunsch
Tätermuster
Herkunft und Zukunft
Trauma Vergewaltigung
Gestörte Beziehungen
Übertragung von Vergewaltigungstraumata
Systemisches Ungleichgewicht
Das Drama Hannelore Kohls
Scham und Sprachlosigkeit
Flucht und Vertreibung
Fehlende Zugehörigkeit
Außenseiter
Aktive und passive Aggression
Kinder und Enkel der Vertriebenen
Unstete Beziehungen
Ohne festen Platz
Das Los der »hilflosen Helfer«
Ausgrenzung von Auffälligkeiten
Mut zur Trauer
6. Kapitel
DIE RENAISSANCE DER FAMILIE
Plädoyer für eine neue Kultur des Miteinanders
Auflösung fester Familienverbände
Emotionale Lernprozesse
Verkannte Mütter
Die Bedeutung mütterlicher Anwesenheit
Narzissmus
Mutterentbehrung
Erziehung im Dritten Reich
Die kalte Mutter
Die Doppelgesichtigkeit der Narzissten
Urvertrauen und Konfliktfähigkeit
Systemische Auswirkungen künstlicher Befruchtung
Verharmloste Abtreibung
Die große Gleichgültigkeit
Seelische Folgen der Abtreibung
Die abgetriebenen Geschwister
Vorgeburtliche Selektion
Anerkennung der Frauen
7. Kapitel
DIE ÜBERWINDUNG DER ANGST
Wie wir zu einem positiven Selbstbild finden
Wir leben in Zeiten großer Ängste. Seit die globale Finanzkrise das Vertrauen in ein funktionierendes internationales Wirtschaftssystem erschüttert hat, fürchten immer mehr Menschen weltweit um ihre Existenz. Doch es scheint ganz so, als seien die Deutschen davon in besonderer Weise betroffen. Die Verunsicherung ist groß, und nicht erst seit den Turbulenzen von Eurokrise und drohender Inflation bestimmen Zukunftsangst und Weltuntergangsstimmung das deutsche Lebensgefühl. Was macht uns so anders? Warum sind wir notorisch unzufrieden, klagen viel und malen die Zukunft in dunklen Farben?
Über den deutschen Nationalcharakter ist viel spekuliert worden. Über die sprichwörtliche deutsche Tüchtigkeit ebenso wie über Größenwahn und den Hang zu Grübelei und Melancholie. Durch den populären Begriff der »German Angst«, die sogar in der Diagnose einer »German disease« gipfelt, attestieren uns andere Länder gleichsam eine kollektive Störung: Angst, Depression und Mutlosigkeit seien die Kennzeichen dieser sogenannten deutschen Krankheit – und wir müssen zugeben, dass diese Symptome mittlerweile Massenphänomene sind. Woher aber rührt unser Hang zu Pessimismus und Negativität? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir den Blick auf die Vergangenheit richten. Denn es sind die Traumata des 20. Jahrhunderts, die bis heute nachwirken und in Gestalt von Ängsten und anderen ererbten Gefühlen in uns überdauern. Zwei Weltkriege und zwei Diktaturen sind an kaum einer deutschen Familie spurlos vorübergegangen. Wir alle sind mit den Erlebnissen unserer Vorfahren eng verbunden – ihr Leid und ihre Verfehlungen wirken bis in unsere Gegenwart. »Die Vergangenheit ist nicht tot, sie ist nicht einmal vergangen«, lautet der erste Satz in Christa Wolfs Erinnerungsbuch Kindheitsmuster. Es gibt keine Gnade der späten Geburt. Als seelisches Erbe tragen wir die Traumata tief in uns, Verlust und Todesangst ebenso wie die Scham einer als Tätervolk gebrandmarkten Gesellschaft. Sie wurden von Generation zu Generation weitergegeben und kommen durch diffuse Ängste, Depressionen, Gewaltneigung und Bindungsschwierigkeiten zum Ausdruck. Das betrifft den Einzelnen, die Familien und das gesellschaftliche Leben, bis hinein in die Spitzen der deutschen Politik.
Thematisiert wird das bisher nur am Rande. Ein unausgesprochenes Redeverbot über das Leid der Deutschen hatte sich in den Anfängen der jungen Bundesrepublik etabliert, auch ein Trauerverbot, das auf die Diagnose einer Kollektivschuld folgte. Noch immer ist es heikel, die Verletzungen zu benennen, die uns bis heute beschäftigen, oft im Verborgenen. Aber es ist höchste Zeit, dass wir uns aus der Erstarrung lösen. Zu schwerwiegend sind die Erfahrungen, die auf uns lasten, zu alarmierend die Zeichen, die signalisieren, dass etwas nicht stimmt mit uns.
Die Kriegsgeneration sowie die Kriegskinder, die während des Zweiten Weltkriegs geboren wurden, verstummten in der Phase des Wiederaufbaus. Sie wollten vergessen und richteten den Blick unverwandt auf die Zukunft. Ihre Kinder konnten nur ahnen, was ihre Eltern durchgemacht hatten. Sie spürten, dass es seelische Wunden gab, mit denen sich ihre Mütter und Väter insgeheim quälten. Erzählt wurde wenig, dennoch waren die Traumata präsent, bis in die feinsten Verästelungen des familiären Alltags hinein. So übernahmen die nächsten Generationen unbewusst die Lebensthemen ihrer Eltern und geben sie heute an ihre Kinder weiter.
Noch immer wird zu wenig gesprochen. Für viele ist das Dritte Reich eine tabuisierte Phase der deutschen Geschichte, in der das Böse aus den Menschen hervorbrach, gewalttätig, erschreckend, unbegreiflich. Viele grenzen aus, was sie beunruhigt. Solange aber verschwiegen und verdrängt wird, solange wir das ominöse »Böse« moralisch verurteilen und von uns weisen, haftet es uns umso hartnäckiger an.
Schon von Jugend an galt mein Interesse der Frage, warum wir so sind, wie wir sind. Ich wollte verstehen, warum wir uns manchmal so seltsam, unverständlich und widersprüchlich verhalten, woher die Blockaden kommen, die Ängste und Verunsicherungen. Meine jahrelangen Erfahrungen als Therapeutin führten mir vor Augen, dass wir in einem komplexen energetischen Geflecht agieren. Diese unsichtbare Matrix gibt uns Motive vor, die unser Verhalten und unsere Gefühle sowie unser Erleben steuern: Familiengeheimnisse, traumatische Erlebnisse der Vorfahren, Ausgrenzungen, die über Generationen hinweg im Einzelnen fortwirken.
In meiner familientherapeutischen Arbeit begegnen mir Klienten, deren gegenwärtige Anliegen weit zurück in der Vergangenheit wurzeln. Durch die Methode der systemischen Aufstellung zeigen sich dann häufig tief liegende, schmerzhafte Bindungen. Im Laufe der Zeit fiel mir auf, dass es oft Erlebnisse der Kriegszeit waren, die ihre langen Schatten auf das Leben meiner Klienten warfen: gefallene Väter, Brüder, Onkel, vergewaltigte Mütter und Großmütter, seelisch versehrte Familienmitglieder, die das Erlebte verschwiegen – meist aus Furcht und Scham, oft auch, weil die Erschütterung zu groß war.
In der systemischen Aufstellungspraxis werden Muster erkennbar. Alte, belastende Konflikte brechen hervor und können aufgelöst werden. Ganz bewusst verlasse ich dabei die Ebene der persönlichen Biografie und weite den Blick auf den familiären und historischen Kontext. Sosehr wir dazu neigen, uns als selbstbestimmte Individuen zu sehen, als Geschöpfe, die sich selbst erfinden, so illusionär ist diese Betrachtungsweise. Ohne den Blick auf die tiefere Dynamik der eigenen Familie, ohne die Einsicht in das dichte Gewebe von Individual- und Kollektivgeschichte sind weder Erkenntnis noch Heilung möglich.
Die Beschäftigung mit den Wurzeln geschieht allerdings noch viel zu selten. Viele Deutschen hadern mit ihrer Herkunftsfamilie und schneiden sich deshalb den tieferen Zugang zu sich selbst ab. Aus welcher verlässlichen Quelle aber sollen sie dann die Kraft holen, ihr Selbst zu befrieden und glücklich zu sein? Der Mechanismus der Verdrängung ist zu einer Normalität geworden, und damit die Unfähigkeit, inneren Widersprüchen auf den Grund zu gehen. Das führt zu emotionalen Störungen, deren Ursache uns oft nicht klar ist. »Ich weiß nicht, warum ich so traurig bin«, heißt es dann, »Ich kann meinen Ängsten nicht entkommen« oder: »Wohin mit meiner Wut?« Die Folgen äußern sich als psychische Störungen, oft auch als Krankheiten. Jede Krankheit aber ist gleichsam ein ungeöffneter Briefumschlag. Darin steckt in der Regel ein unbearbeitetes Thema aus dem Familiensystem, ein Mensch, dessen Verletzungen wir zu den unseren machen.
Dieses Buch enthält eine Fülle von anonymisierten Beispielen. Viele stammen aus meiner therapeutischen Arbeit, andere wurden mir privat anvertraut. Die Betroffenen sind mit der Veröffentlichung in der vorliegenden Form einverstanden. Ihr Vertrauen in mich machte das Buch erst möglich. Dafür gebührt ihnen mein tief empfundener Dank. Viele für die wesentliche Dynamik nicht relevanten Einzelheiten, die Hinweise auf Einzelne geben könnten, habe ich weggelassen oder verändert.
In den Beispielen spreche ich häufige Symptome an und zeige die verblüffenden Verbindungslinien zum Schicksal der Vorfahren. Dieses Schicksal ist das kollektive Massenschicksal der Deutschen und auch vieler Europäer. Die Klienten, die zu mir kommen, sind meist verstrickt mit den Lebensthemen von Familienangehörigen. Deren Schuld, deren Ängste, deren Leid vererben sich und hinterlassen in den Seelen der Nachkommen deutliche Spuren. Ohne dass es ihnen bewusst wäre, übernehmen sie Verhaltensweisen, unfähig, deren Ursache zu reflektieren. Angst, Depression, Krankheiten, Bindungsschwierigkeiten und Unwertgefühle empfinden sie als persönliches Problem und scheitern daran, selbstschädigende Strukturen zu verändern.
Sicherlich werden sich viele Leser dieses Buches in dem einen oder anderen Fallbeispiel wiedererkennen. Ich würde mich freuen, wenn dieses Buch dazu beitragen könnte, Perspektiven der Heilung aufzuzeigen. Ohne professionelle Hilfe können wir oft nur schwer begreifen, was uns ängstigt. Gewinnen wir jedoch Einsicht in unsere verborgenen Lebensthemen, haben wir die Chance, zu gesunden. In der intensiven Auseinandersetzung mit Familiengeschichten wurde mir klar: Es ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit gehabt zu haben. Und ich bin davon überzeugt: Die Zeit ist reif, dass wir reden und uns einander anvertrauen.
Dabei geht es um mehr als individuelle Befindlichkeiten. Die politischen Implikationen des Themas sind nicht zu übersehen. Ich beobachte nicht nur ein tief greifendes Unbehagen, das sich im Privaten zeigt, sondern eine gesellschaftliche Dimension der Traumatisierung, die als weitreichende Verunsicherung sichtbar wird. Unsere politischen Entscheidungsträger sind davon nicht ausgenommen. Was den Einzelnen krank macht, wiederholt sich im Makrokosmos der politischen Kultur. Die gesellschaftlichen Konsequenzen sind offensichtlich: Es werden immer weniger Kinder geboren, diffuse Ängste und Vereinsamung lähmen den Alltag. Bei vielen herrscht Verwirrung und Lebensangst. Angst und Schuldgefühle sind schlechte Ratgeber. Sie verhindern eine gesunde Identitätsbildung, auch der Gesellschaft. Solange es dabei bleibt, ist Deutschland auf dem unheilvollen Weg, sich selbst eine optimistische Zukunftsvision zu verbauen. Daher möchte ich eine neue Debatte über Schuld und Vergebung, Selbsthass und Selbstliebe anstoßen. Ich möchte dazu ermutigen, dass wir uns nicht nur mit der Geschichte auseinandersetzen, sondern sie anhand unserer Familienschicksale ganz konkret erfahren. Nur, wenn wir uns unserer Wurzeln bewusst werden, können wir Frieden mit uns selbst schließen. Und nur, wenn wir die Ursachen unserer geheimen Ängste ergründen, können wir aus dem Schatten der Vergangenheit treten und ein glücklicheres, selbstbestimmteres Leben führen.
1. Kapitel
Wie die Angst uns zerstört
Angst ist ein Begriff, der neuerdings wieder Konjunktur hat. Kein Wunder in einer Zeit, in der die ökonomische Instabilität vielen Menschen Sorgen bereitet. Sie bangen um ihre Existenz im Spannungsfeld von Staatsverschuldung und Eurokrise, sie fürchten den Ruin eines lange stabil geglaubten Wirtschaftssystems. Die Szenarien von Inflation und drohender Verarmung sind längst keine Schwarzmalerei mehr. Mit Händen ist zu greifen, dass unsere Finanzsysteme überdehnt sind und dass es vielleicht nur noch weniger kleinerer Krisen bedarf, bis ein großer Zusammenbruch Wirklichkeit wird.
Doch neben diesen konkreten Befürchtungen dringen noch ganz andere Ängste an die Oberfläche. Sie zeigen sich in allgemeiner Verunsicherung, in Zukunftsangst und mangelndem Selbstvertrauen. Gerade die Deutschen scheinen im Bann solch tief liegender Ängste zu stehen. Im angelsächsischen Sprachraum wurde dafür ein Etikett geprägt, das halb fasziniert, halb belustigt auf eine offenbar sehr deutsche Eigenart hinweist: die »German Angst«.
Mittlerweile erweist sich so manches lieb gewonnene Klischee als hinfällig, das noch viele Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg überdauerte. Mit Erstaunen stellt man im Ausland fest, dass das Bild des selbstbewussten und tatkräftigen Deutschen deutliche Risse bekommen hat. Schon bei den kleinsten Erschütterungen, so bescheinigt man uns, neigen wir zu Überreaktionen, zu Klage und Panik.
Die Diagnose ist nicht neu. Schon in den Achtzigerjahren attestierte der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt seinen Landsleuten zunehmende Angst, die tief in der Seele verankert sei. Dadurch, so seine Interpretation, seien die Deutschen unfähig, reale Gefahren richtig einzuschätzen und von Problemen zu unterscheiden, die politisch ohne Weiteres in den Griff zu bekommen seien. Als Beispiele nannte er damals die Nachrüstungsdebatte und die Angst vor Arbeitslosigkeit. Vor Kurzem wiederholte Schmidt diesen Gedanken, erweiterte ihn aber um die historische Dimension: »Die Deutschen haben die Neigung, sich zu ängstigen. Das steckt seit dem Ende von Nazizeit und Krieg in ihrem Bewusstsein.«
Ist diese »German Angst« wirklich eine »zivilisatorische Errungenschaft«, wie der ehemalige Regierungssprecher Thomas Steg vor Kurzem in einem Essay mutmaßte? Verdanken wir die Angst einem »Lernprozess nach der Nazibarbarei und den beiden verheerenden Weltkriegen des vergangenen Jahrhunderts«? Wäre es tatsächlich so, könnten wir stolz auf unsere Ängste sein. Dann hätten wir aus der Geschichte gelernt, dann würden Ängste unsere Psyche stärken und uns für politischen Extremismus sensibilisieren. Auf hohem Reflexionsniveau könnten wir gesellschaftliche Gefahren aller Art abwehren.
Angesichts der um sich greifenden Mutlosigkeit und Zukunftsangst der Deutschen ist das allerdings wenig plausibel. Die Erfahrung des Dritten Reiches hat uns nicht gestählt, sondern geschwächt. Jene, die den Begriff der »German Angst« prägten, sehen nicht eine geläuterte, selbstbewusste Nation, sondern ein Volk, das im Bann übertriebener Befürchtungen und Schuldgefühle steht. Salopp gesagt: Wir mögen uns nicht.
In einer Rede, die Thomas Mann 1945 in Washington hielt, fügt er den üblicherweise genannten typisch deutschen Eigenschaften Selbsthass hinzu: »Der Hang zur Selbstkritk, der oft bis zum Selbstekel, zur Selbstverfluchung ging«, sei »kerndeutsch.« Die deutsche Selbstkritk sei »böser, radikaler, gehässiger als die jedes anderen Volkes, eine schneidend ungerechte Art von Gerechtigkeit, eine zügellose, sympathielose, lieblose Herabsetzung des eigenen Landes«. Seither hat sich zwar einiges geändert, aber ein gesunder Stolz auf das eigene Land und seine Errungenschaften ist gesellschaftlich noch immer verpönt.
Angst ist ein Schutzmechanismus, der als Überlebensstrategie zu unserem evolutionären Erbe zählt. Hätten wir nicht die Fähigkeit, uns vor etwas zu fürchten, wären wir ernsthaft gefährdet. Erhebt jemand eine Waffe gegen uns, müssen wir uns schnell entscheiden: Angriff oder Flucht? Verhandeln oder Gegenwehr? Unsere Erfahrung leitet uns dabei, und so gleichen wir ähnliche Konstellationen mit der aktuellen ab. Wir lernen, Risiken einzuschätzen und gefährliche Situationen nach Möglichkeit zu meiden. Kennzeichnend ist dabei, dass es um konkrete Anlässe geht. In der psychologischen Terminologie ist hier von »Zustandsangst« die Rede, die nur situativ auftritt – etwa, wenn nachts ein Unbekannter neben dem Bett steht. Ist das einmal passiert, wird man fortan vorsorglich die Terrassentür abschließen. Insofern haben Ängste gewissermaßen eine präventive Funktion – sie helfen uns, Gefahren zu erkennen und zu vermeiden.
Nicht jede Angst ist allerdings rational begründet. Die Wahrscheinlichkeit beispielsweise, durch das Rauchen von Zigaretten lebensbedrohlich zu erkranken, ist statistisch gesehen ungleich höher als ein Flugzeugabsturz. Flugangst haben dennoch viele Menschen, die sich andererseits bedenkenlos eine Zigarette anzünden. Ängste entstehen also zuweilen entgegen aller Vernunft und entgegen aller Erfahrung. Sie folgen der seelischen Disposition, Dinge und Situationen mit Angst zu besetzen. Wird diese »Eigenschaftsangst« zur Obsession, sprechen wir von Angststörungen: Die Angst stellt sich auch dann ein, wenn keine Gefahr für Leib und Leben besteht. Wer eine Spinnenphobie hat, fürchtet schließlich nicht, von einer winzigen Spinne verletzt oder gar getötet zu werden.
Angststörungen und Phobien sind Verhaltensauffälligkeiten, die das Leben stark einschränken. Um Belastendes zu vermeiden, werden unaufhörlich neue Taktiken ersonnen, um bedrohlich empfundenen Situationen aus dem Wege zu gehen. Dennoch bleibt die Angst ein hartnäckiger Begleiter. Der Betroffene empfindet sich als ohnmächtig, weil er irrationale Ängste letztlich nicht mit sinnvollen, klärenden Handlungsweisen meistern kann. Er kann nicht aktiv werden, sondern bleibt seiner Angst und dem, was ihm Angst macht, ausgeliefert.
Was die »German Angst« betrifft, so handelt es sich um Eigenschaftsangst. Die Furcht ist da, auch ohne konkreten Anlass. Sicherlich wirken die kollektiven Ängste der Deutschen auf den ersten Blick durchaus begründet. Die Angst vor atomarer Verseuchung, vor dem Klimawandel, vor Datenmissbrauch, Terror und Gesundheitsgefahren hat schließlich jeweils ihren realen Kern. Doch immer wieder steigert sich die Furcht zur Hysterie, wie 2011 anlässlich der Atomkatastrophe von Fukushima zu beobachten war. Hamsterkäufe wurden getätigt, und die Nachfrage nach Geigerzählern stieg – obwohl Experten immer wieder beteuerten, dass keinerlei unmittelbare Gefahr für die Deutschen bestehe.
Noch deutlicher werden die Konturen der »German Angst«, wenn wir sie als Teil unseres Lebensgefühls betrachten. In einer Publikation der Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem Jahr 2006 mit dem Titel »Gesellschaft im Reformprozess« heißt es, Verunsicherung sei eine »dominante gesellschaftliche Grundstimmung in Deutschland«.
Das zerstörerische Gen, das wir ins uns tragen, lässt uns jederzeit bereitwillig an den Untergang glauben. Eine apokalyptische Stimmung macht sich breit, sobald sich auch nur winzigste Anzeichen einer Gefahr am Horizont zeigen.
Die R+V Versicherung fragt regelmäßig die größten Ängste der Deutschen ab. In der jüngsten Studie von 2008 steht an erster Stelle die Angst vor steigenden Lebenshaltungskosten, weit vor anderen Sorgen. 76 Prozent der Deutschen haben Angst vor materiellen Verlusten und sozialem Abstieg durch starke Preissteigerungen. An zweiter Stelle kommt die Furcht vor einer Verschlechterung der Wirtschaftslage, die 58 Prozent der Befragten äußerten. Ebenfalls 58 Prozent schätzen Naturkatastrophen als bedrohlich ein, 51 Prozent befürchten, dass unsere Politiker die Herausforderungen nicht mehr meistern könnten. Die Angst vor Terror dagegen rangierte auf den hinteren Plätzen. Was verraten diese Zahlen über die Deutschen?
Zunächst einmal ist anzumerken, dass eine Grundangst vor Existenzverlust besteht. Diese Ängste sind nicht ganz abwegig. Sie wurden durch die Eurokrise in Folge des verschleppten griechischen Staatsbankrotts sowie den drohenden Staatsbankrott der USA weiter genährt. Unsere Wirtschaftssysteme beruhen auf Schulden, und es ist abzusehen, dass die globale Ökonomie vielleicht schon bald kollabiert. Was manche heute noch als Wohlstand empfinden oder sogar preisen, beruht im Wesentlichen auf einer Fehleinschätzung. Viele zweifeln mittlerweile an der Aussage, wir lebten in einem der reichsten Länder der Erde. Wir haben zwar weltweit eines der modernsten Sozialsysteme, doch es ist erkauft mit weiterer Verschuldung – auf Kosten der nächsten Generation. Der Anteil der Sozialausgaben am Bundeshaushalt ist zusammen mit den Zinslasten so groß, dass wir schon lange an den Rand an der Handlungsunfähigkeit geraten sind. Wir haben kaum noch politischen Spielraum, unsere Gesellschaft zu gestalten. Das macht die Protagonisten der Politik im Grunde zu Statisten. Keiner von ihnen kann das Rad noch anhalten. Insofern würde ich in diesem Kontext weniger von Ängsten als von berechtigten Sorgen sprechen.
Doch wie erklären wir uns die großen Wellen der Verunsicherung, wenn etwa Seuchen wie BSE, Vogelgrippe oder Schweinegrippe punktuell zum Ausbruch kommen? Selbstverständlich sind diese Gefährdungen unserer Nahrungsmittel ernst zu nehmen. Aber rechtfertigen sie die Panik, die sie erzeugen? Der Sozialwissenschaftler Ortwin Renn hält wissenschaftlich fundierte Korrekturen für nötig: »Als Risikoforscher haben wir die Aufgabe zu sagen, dass wir sicherer leben und nicht unsicherer. Die Lebenserwartung steigt, die Unfälle gehen zurück. Nur unsere virtuelle Umwelt will uns das Gegenteil einbläuen. Wir müssen zu dem Bewusstsein kommen, zwischen einer abstrakten Gefahr, einer ständig gegenwärtigen virtuellen Realität und unserem tatsächlichen Lebensumfeld zu unterscheiden.«
Renns Unterscheidungen leuchten ein. Doch an den Symptomen der kollektiven deutschen Angst wird er wenig ändern, weil es hier nicht um Vernunft geht, sondern um ein emotionales gesellschaftliches Klima. Der Psychoanalytiker Michael J. Froese nennt »eine Neigung zur Ängstlichkeit, Umständlichkeit, Risikovermeidung« und »Empfindungen von Unterlegenheit und Minderwertigkeit« als Signale der deutschen Krankheit. Eine Atmosphäre macht sich breit, die Sabine Bode in ihrem Buch Die deutsche Krankheit – German Angst als ein Konglomerat »diffuser Gefühle des Bedrohtseins« definiert. Sie zweifelt nicht daran, dass unverarbeitete Kriegserlebnisse diese kollektiven Ängste verstärken.
Krieg zerstört. Kann er aber auch Menschen zerstören, die viele Jahre oder Jahrzehnte nach dem Krieg geboren wurden? Und könnte es sein, dass sie seelisch ebenso geschädigt sind, ja, oft sogar schlimmer als die Generationen, die den Krieg erlebt haben? Ganze Forschungszweige widmen sich diesen Fragen, Historiker, Psychologen, Soziologen, Genetiker. Sie sind sich einig: Nichts ist vergangen, was in den Annalen der Familien gespeichert ist, sei es durch Erzählen oder Verschweigen. Alles ist gegenwärtig, alles löst Reaktionen in den Nachgeborenen aus. »Wir haben eine Geschichte, und wir sind Geschichte«, sagt der Psychoanalytiker Hartmut Radebold, der sich seit vielen Jahren mit kriegsbedingten Traumata beschäftigt. Damit gehört er zu den ersten Vertretern seines Fachs, die dieses Thema überhaupt erkannten. Im Jahr 2004 stellte er fest: »Die psychischen Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges bei der deutschen Bevölkerung beginnen erst jetzt für die Psychoanalyse ›entdeckt‹ zu werden, nachdem sie vier Jahrzehnte lang mehr oder weniger redundant geblieben sind.«
Die ererbten Traumata sind mächtig. Wir Deutschen stehen psychisch auf brüchigem Boden. Deshalb ängstigen uns konkrete Bedrohungen weit intensiver, als es bei anderen Nationen der Fall ist. Äußere Anlässe vergrößern die Summe der Ängste. Ererbtes, Gegenwärtiges, Erlebtes und Erwartetes addieren sich zu einem angstbesetzten Grundgefühl.
Die wirtschaftliche Lage bereitet uns zu Recht Sorgen. Doch die Tatsache, dass die Gesellschaft bisweilen wie gelähmt von Ängsten scheint, hat andere Gründe. Als Volk sind wir nicht in unserer Mitte, weil wir die Ängste unserer Vorfahren übernommen haben. Wir haben ihre Erlebnisse tief in uns gespeichert, vor allem die belastenden Erfahrungen des vergangenen Jahrhunderts. Wir Nachfahren sollten wissen, dass Flucht, Vertreibung, Vaterlosigkeit, Gewalt und Vergewaltigung auch in den nächsten Generationen für Störungen sorgen können, als Lebensangst und Resignation. Die vererbte Angst, die keinen konkreten Anlass hat, zeigt sich durch Panikattacken, Phobien, Zwangshandlungen, auch durch Verzicht auf Lebensglück, auf Partnerschaft und Familie. Viele trauen sich einfach nichts mehr zu.
Der Verstand kann hier allerdings wenig ausrichten. Wir haben es mit Ängsten zu tun, die tief im Unterbewusstein eingelagert sind. Dort sind jene Gefühle gespeichert, die wir nicht einordnen können und die uns bedrohlich erscheinen. Dort entfalten sie ihre dunklen Kräfte, unbemerkt von Bewusstsein und Ratio. Der Psychoanalytiker Tilmann Moser verweist in diesem Zusammenhang auf das »Fortwirken von Holocaust, Krieg, Gewalt, Rassismus im Bereich des Unbewussten« und auf die »fortdauernde Anstrengung der Abwehr, der Verfremdung, der Kompensation«.
Alles, was uns ängstigt, wehren wir ab – die Psychoanalyse spricht in diesem Zusammenhang von Verleugnung, Verschiebung, Spaltung und Sublimierung. Auf diese Weise wollen wir bedrohliche Gefühle von uns fernhalten. Gleichwohl formen sich aus den Ängsten, die ins Unterbewusstsein verlagert werden, innere Bilder, die auf die bewussten und akzeptierten Gefühle Einfluss nehmen.
In meiner Arbeit stoße ich überwiegend auf Dynamiken, die weit in frühere Generationen zurückreichen. Es sind gleichsam Altlasten, die sich in den unterschiedlichsten Verkleidungen zeigen. Deshalb sind sie ohne Hilfe auch so schwer zu durchschauen. Wer würde schon bei der Angst, unter einer Brücke hindurchzufahren, an die Vergangenheit seiner Familie denken? An Flucht, Vertreibung, Bombenhagel, Gefallene, Konzentrationslager?
Angst hat viele Ausprägungen. Schlägt sie sich körperlich nieder, sind oft chronische Erkrankungen die Folge. Irgendwann wird der seelische Druck zu einem körperlichen Symptom, zu einer funktionellen Störung. In diesem Stadium können psychotherapeutische Interventionen noch helfen, organische Krankheiten zu verhindern. Allerdings geschieht das äußerst selten, denn sich mit den eigenen Gefühlen zu konfrontieren macht den meisten Patienten große Angst. Ärzte, die chronische Schmerzpatienten behandeln, verschreiben zuweilen lieber schwere Medikamente, als Hinweise darauf zu geben, dass eine Suche nach seelischen Ursachen sinnvoll sein könnte. Wahrscheinlich tun sie es auch, weil ihre Hinweise in den seltensten Fällen befolgt werden.
Angst und Scham der bereits Erkrankten sind groß. Die Patienten mögen nicht so genau hinschauen, und Ärzte, die aus derselben Generation wie ihre Patienten stammen und somit nicht dagegen gefeit sind, ähnliche Probleme zu haben, halten sich meist zurück. Dabei wissen sie meist: Medikamentöse Therapien allein können in vielen Fällen nur wenig ausrichten. Liegen schwere Ängste oder chronische Krankheiten vor, geht es oftmals um Traumata, um schmerzliche Erfahrungen, die wir körperlich ausdrücken. Da hilft nur Hinschauen, Annehmen, Trauern, Sprechen. Oder, um es mit Shakespeare in Macbeth zu sagen: »Der Kummer, der nicht spricht, nagt leise am Herzen, bis es bricht.«
Je intensiver wir unser Unbewusstes erforschen, desto größer wird die Kontrolle über uns, auch die Kontrolle über unsere Ängste. Gelingt die Integration des Unbewussten nicht, kann uns das Unterdrückte buchstäblich den Atem nehmen. Körperliche Störungen zeigen sich, von Asthma bis hin zu schweren Erkrankungen wie Krebs oder Alzheimer. Der Arzt und Psychotherapeut Ruediger Dahlke weist in seinen Publikationen eindringlich auf diese Zusammenhänge hin. Beeinträchtigungen wie Alzheimer sind Signale dafür, dass sich der Betreffende für den seelischen Rückzug aus dem Körper entschlossen hat. Er begibt sich in eine innere Welt, um sich vor übermächtig empfundenen äußeren Einflüssen zu schützen, denen er sich nicht mehr gewachsen fühlt.
Zum Wesen von Traumata gehört es, dass sie in ihrer Bedrohlichkeit als derart belastend empfunden werden, dass sie nur verdrängt, im Unterbewusstsein ertragen werden – bis möglicherweise von außen ein heilender Impuls kommt. Sobald jemand den Mut findet, sich der ererbten Traumata anzunehmen, verlieren sie ihre zerstörerische Kraft. Dann kann auch der Köper gesunden.
Was dem heute noch entgegensteht, ist die Tatsache, dass wir Deutschen eine tiefer gehende Auseinandersetzung mit dem Leid unserer Vorfahren ablehnen. Deshalb sind uns diese Zusammenhänge nicht bewusst, und die Ängste bleiben wirkmächtig. Warum aber sprechen wir so wenig darüber, dass Ängste aus den schlimmsten Phasen unserer Geschichte täglich neu aufleben und uns lähmen?
Unausgelebte Trauer führt zu Angst. Wir Deutschen haben verinnerlicht, dass wir uns nicht als Opfer des Nationalsozialismus sehen und deshalb auch nicht trauern dürfen. Nach wie vor gilt es als nicht opportun, daran zu erinnern, in welch dramatischem Ausmaß deutsche Familien von schrecklichen Schicksalen betroffen waren und sind. Es ist ein großes Hindernis für unsere seelische Entwicklung und für die Zukunft dieses Landes, dass wir uns bis zum heutigen Tag nicht auch als Opfer anerkennen dürfen. Dass wir die Tragödien nicht beweinen dürfen, die schuldige wie unschuldige Deutsche erleiden mussten. Diese Einschätzung ist heute Allgemeingut. Woher aber rührt sie?
Historische Zäsuren wie das Ende des Zweiten Weltkriegs ziehen Umbruchszeiten nach sich, in denen die gesamten Werte und Überzeugungen einer Gesellschaft neu verhandelt werden. Mit dem Wechsel des politischen Systems nach 1945 übernahm eine neue meinungsbildende Elite die Deutungsmacht in Deutschland. Gerade war die Kriegsgeneration den Schrecken ihrer leidvollen Erfahrungen entronnen, als sie auch schon mit den neuen Maßstäben politischer Moral konfrontiert wurden. Alles, was sie erlebt und erlitten hatten, sollte plötzlich bedeutungslos sein angesichts der vielen Millionen von Toten, die Hitlers »totaler Krieg« und die Vernichtung unendlich vieler Menschen hinterlassen hatten – Juden, Polen, Russen, Ukrainer, »Zigeuner«, Behinderte, alle, die den Nationalsozialisten lebensunwert erschienen.
Was die Aufarbeitung der deutschen Kriegstraumata so schwierig macht, ist ein Generalverdacht, der bis heute auf uns lastet: Wir seien ein, ja, das Tätervolk. Niemand wird die historische Schuld der Deutschen leugnen wollen. Weitgehend unberücksichtigt bleibt aber immer noch, dass auch Millionen von unschuldigen Deutschen bedroht, gedemütigt, verletzt und getötet wurden.
Die Demarkationslinie zwischen Tätern und Opfern wurde bald nach Ende des Zweiten Weltkriegs gezogen. Stellvertretend dafür steht ein Buch, das im Jahre 1969 erschien: Die Unfähigkeit zu trauern von Alexander und Margarete Mitscherlich. Es setzte einen moralischen Standard – und einen Spielraum erlaubter Reflexion. Mit der Unfähigkeit zu trauern war nicht etwa die individuelle Trauer um Väter, Mütter, Kinder, um Freunde und Verwandte gemeint. Es ging unter anderem um den Vorwurf, die Deutschen seien nicht in der Lage, angemessen um die Opfer des Naziterrors zu trauern. Ihnen fehle jenes humane Verhalten der Einfühlung, das Voraussetzung für das Eingeständnis von Schuld sei.
Die Autoren, beide Psychoanalytiker, gingen mit den Deutschen hart ins Gericht. Hin- und hergerissen zwischen Allmachtsfantasien und Minderwertigkeitsgefühlen, würden diese sich insgeheim nach der Autorität ihres Führers zurücksehnen, dessen Widersprüche sie nicht wahrnehmen wollten. Stattdessen sei ein »manischer Wiederaufbau« zu beobachten. Gleichzeitig wurde den Deutschen die Legitimation abgesprochen, sich selbst zu betrauern – den Ehemann, der im Kriegsgefangenenlager verhungerte, die Schwester, die in den Wirren der Flucht ihr Kind verlor, die Großmutter, die von den Russen vergewaltigt wurde. Dieses Leid wurde nicht anerkannt. Das düstere Bild des Menschen, das Alexander und Margarete Mitscherlich als Schlussfolgerung entwerfen, spricht für sich. Es sei keinesfalls entschieden, resümieren sie, ob der Mensch nicht »einen der folgenschwersten Fehlwege der Evolution darstellt, durch den das Prinzip des Lebendigen seiner Aufhebung entgegenstrebt«.
Ein Satz wie ein Todesurteil, geschärft an der Beschäftigung mit deutscher Schuld. Das negative Menschenbild, das hier ausgebreitet wird, erscheint als logische Folge der Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte. Psychoanalytische und moralische Kategorien vermischen sich dabei auf eine befremdliche Art und Weise. Es fehlt nicht viel, und man könnte den Eindruck gewinnen, hier würde einem ganzen Volk das Lebensrecht aberkannt. Der Deutungshoheit des Autorenpaars tat dieser überhebliche Satz keinen Abbruch. Auch wenn sich durchaus Kontroversen an dem Buch entzündeten, gehörte es zum stichwortgebenden Repertoire des Redeverbots, mit dem sich die Deutschen belegten. Tilmann Moser meint denn auch, die deutsche Nachkriegsanalyse habe »nur wenig dazu beigetragen, die seelische Aufarbeitung der NS-Zeit voranzutreiben«. Im Buch der Mitscherlichs sei überdies »die Vorwurfshaltung so stark, dass selbst viele Psychotherapeuten sich nicht mehr trauten, wenigstens vorübergehend mit verstrickten Tätern und deren Familien sich soweit fragend zu identifizieren, dass die Arbeit an Selbstmitleid, Verdrängung, Scham, Schuld und Trauer hätte beginnen können«.
Das politisch korrekte Denken diktierte eisernes Schweigen über das eigene Leid. Ein Tabu war errichtet, und es sollte Jahrzehnte dauern, bis es vorsichtig infrage gestellt wurde.
Erst im Jahr 2000 wurden erste ideologische Barrieren beiseitegeräumt. Der Schriftsteller Peter Schneider weist in diesem Zusammenhang auf den Essay Luftkrieg und Literatur von W. G. Sebald hin, der einen ganz neuen Ton anschlug, was die Bewertung der deutschen Literatur nach 1945 betraf. Sebald warf den deutschen Schriftstellern vor, sie hätten nach dem Krieg über das Leiden der Deutschen während der alliierten Luftangriffe geschwiegen. Und in der Tat: Dem selbstverordneten Vergessen hatten sich gut dreißig Jahre zuvor ausgerechnet zwei Amerikaner widersetzt: Kurt Vonnegut 1969 in Schlachthof 5, einem Roman über die Bombardierung Dresdens, und Thomas Pynchon in Die Enden der Parabel, 1973 erschienen.
Schneider erwähnt auch die heftig diskutierte Studie Der große Brand des Militärhistorikers Jörg Friedrich. Er thematisierte 2003 erstmals die Verheerungen der Bombardements deutscher Städte aus der Perspektive der Opfer. Ganz offen stellte er die Frage nach der Rechtfertigung einer Kriegstaktik, die seiner Einschätzung nach auf die Vernichtung der deutschen Zivilbevölkerung abgezielt hatte. Vor allem aber: Erstmals wurde die Aufrechnungslogik entkräftet, nach der jede noch so schreckliche Erfahrung der Deutschen zu ignorieren sei angesichts der Opfer des Nationalsozialismus.
Im selben Jahr, 2003, veröffentlichte Günter Grass seine Novelle Im Krebsgang. Offenbar hatte er in seinem Geschick, geschmeidig auf den Zeitgeist zu reagieren, die Relevanz des Themas erkannt. Im Krebsgang erinnert an ein Flüchtlingsdrama, den Untergang des NS-Kraft-durch-Freude-Passagierschiffs Wilhelm Gustloff. Mehr als neuntausend Flüchtlinge, die meisten von ihnen Frauen, Kinder und Greise, ertranken im Frühjahr 1945 in der eisigen Ostsee, als sowjetische Torpedos das Schiff trafen. Lange war dieses Ereignis weitgehend verdrängt worden. Zum Vergleich: Beim Untergang der Titanicertranken um die 1500 Menschen. Dennoch gilt diese Katastrophe immer noch als das größte Schiffsunglück der Welt.
Die Reaktionen auf die Novelle von Grass waren zwiespältig. Die taz witterte ein »gesellschaftstherapeutisches Unternehmen«, das selbstverständlich ein Geschmäckle habe. Neben der bemängelten literarischen Qualität zeigte sich die Kritik verstimmt vom vorsorglichen Bemühen des berühmten Autors, das heikle Thema durch Warnungen vor einer angeblich neu erstarkenden NS-Ideologie zu entschärfen. Sofort entbrannte aber auch eine Debatte darüber, ob man am Beispiel dieser Schiffskatastrophe derart konsequent die Deutschen als wehrlose, hilflose Opfer zeigen dürfe.
Ungeachtet dessen wurden die Fernsehanstalten aktiv. Sie kamen dem neuen Bedürfnis nach Enttabuisierung mit einigen TV-Filmen nach, die für höchste Einschaltquoten sorgten. 2006 thematisierte der Film Dresden die Luftangriffe auf die Stadt im Februar 1945. Auch wenn der Plot mit allerlei Ungereimtheiten und einer überaus kitschigen deutschenglischen Liebesgeschichte aufwartete, löste er beim Publikum Begeisterung und Erleichterung aus. Endlich dürften Deutsche als Leidende, als Opfer gezeigt werden, hieß es einhellig. In vielen Familien, so wurde berichtet, fühlte sich die Kriegsgeneration ermutigt, ihre Erfahrungen nach jahrzehntelangem Schweigen preiszugeben.
Ein anderer Film des neuen Historiengenres war Die Flucht. In bewegenden Bildern wird darin die fiktive Geschichte einer jungen adligen Gutsbesitzerin erzählt, die einen Flüchtlingstreck Richtung Westen führt, auf der Flucht vor der heranrückenden Roten Armee. Bei der Erstausstrahlung des ARD-Zweiteilers im Frühjahr 2007 saßen über elf Millionen Zuschauer vor den Fernsehern. Die deutsche Öffentlichkeit zeigte sich kollektiv erschüttert. Erstmals hatte eine öffentlichrechtliche Anstalt gewagt, das Thema Flucht und Vertreibung hochemotional zu inszenieren – ohne dass man eine Auftragsarbeit der Vertriebenenverbände vermuten musste. Freilich enthielt das Drehbuch auch deutliche Hinweise auf die Schuld der Deutschen.
Zahlreiche TV-Dokumentationen folgten, die über die schrecklichen Erlebnisse der Deutschen berichteten. Über das Grauen der eingekesselten deutschen Soldaten in Stalingrad, über das Elend deutscher Kriegsgefangener, die Nöte an der »Heimatfront«. Zeitzeugen wurden befragt, zuvor nie gezeigtes Filmmaterial aus den Archiven geholt. Die Zeit schien überreif für eine Korrektur der historischen Metaerzählung, kein Deutscher dürfe eine Anerkennung seines Leids beanspruchen.
Doch die Debatte dauert an. Das Redeverbot gehört zum Inventar des politisch korrekten Diskurses und wird immer wieder lautstark eingeklagt. Wer es nicht strikt befolgt, muss sich den Vorwurf des Revanchismus gefallen lassen. Ungeschehen macht man damit nichts. Gefühle lassen sich nicht entsorgen, nur weil ein moralischer Konsens es verordnet. Daher bleiben wir gefangen in dem Dilemma, dass wir mit den Schrecken der Vergangenheit leben müssen, ohne sie artikulieren zu dürfen.
Der Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz hat für solcherart gefesselte Emotionen den Begriff »Gefühlsstau« verwendet. In dem gleichnamigen Buch untersucht er die Folgen der DDR-Repression auf die emotionale Verfasstheit der Bevölkerung. Was er herausarbeitet, die Unterdrückung authentischer Gefühle durch den SED-Staat, lässt sich durchaus auf die verhinderte Aufarbeitung des Kriegsleids aller Deutschen übertragen. Der natürliche Impuls, einander zu betrauern und sich der Schrecken von Krieg, Diktatur und Massenmord zu erinnern, wurde systematisch unterdrückt.
Fast jeder Deutsche ist davon betroffen. In jeder Familie gibt es sie, die Ermordeten, die Gefallenen, die Vergewaltigten, die Verschollenen, jene, die auf der Flucht umkamen oder die Odyssee in den Westen nur unter entsetzlichsten Bedingungen überlebten. Unzählige mussten mit ansehen, wie ihr Haus in Schutt und Asche fiel. Unzählige lebten in nackter Angst, hungerten, sahen ohnmächtig zu, wie ihre Kinder starben. Es ist eine unfassbare Zahl von Schicksalen, die in der Geschichte der Bundesrepublik nicht gesehen und nicht gewürdigt werden durften.
Die Wortführer dieser »historical correctness« waren zahlreich. Mit dem Hochmut der moralisch Überlegenen machten sie jeden mundtot, der einen Anspruch auf Trauer um die Deutschen anmeldete. Zu den erbittertsten Apologeten des Trauerverbots zählten viele 68er. Ihr Protest gegen die Generation der Väter trug Züge blanken Hasses. Niemals hätten sie zugegeben, dass sie ähnlich undifferenziert vorgingen wie ihre Väter. Sie ignorierten, dass die Eltern eine Diktatur aushalten mussten, ein Klima der Unterdrückung und Denunziation. Mit ihrer Strategie der Entlarvung stellten sich die Nachgeborenen zugleich einen Unbedenklichkeitsschein aus. Sie taten so, als hätte ihnen nicht das Gleiche passieren können wie ihren Eltern: glühende Verehrung für den Führer, die Bereitschaft, sich für sein Morden instrumentalisieren zu lassen oder sich zumindest in lauem Mitläufertum einzurichten.
Den selbsternannten Wächtern über die politische Moral spreche ich eine ausreichende Fähigkeit zur Empathie ab. Sie multiplizierten das Böse, statt es zu eliminieren. Auch sie »mordeten« im übertragenen Sinne, wenn auch subtiler: Sie begingen einen Mord an den Seelen der Überlebenden und ihrer Kinder, sie unterbanden neue Identitätsbildungen, neue, positive Selbstbilder. Auch das ist Gewalt.
Ich verhehle nicht, dass mich dieses Thema auch persönlich betrifft. Das öffentliche Klima des Schweigens war einer der Gründe dafür, dass bei uns zu Hause nie über die beiden behinderten Kinder meiner Familie mütterlicherseits gesprochen wurde. Sie waren in der Nazizeit aus dem heimatlichen Dorf abtransportiert worden, und man hätte sie getötet, wenn nicht couragierte Mitarbeiter der Heilanstalt Bethel sie versteckt und gerettet hätten. Und ich bin noch immer tief erschüttert darüber, dass das Verbrechen an einer Tante aus der Familie meines Mannes totgeschwiegen wurde. Der größte Teil der Familie wusste nicht einmal, dass diese Tante unter den Nazis zwangssterilisiert worden war. Es empört mich, dass kaum Beachtung fand, dass der erste Mann meiner damals neunzehnjährigen Mutter drei Wochen nach der Hochzeit fiel – das Lebenstrauma meiner Mutter. Und auch das Schicksal meiner Schwester, die als Halbwaise aufwuchs, erfuhr kaum eine Würdigung. Ich bin traurig, dass mein Lieblingsonkel seine beiden Brüder im Krieg verlor und sich nie traute, darüber zu sprechen. Und ich bin entsetzt, dass die Qualen meines Vaters, der sein Studium auf einem Bein mit Krücken absolvierte und lebenslang unter Phantomschmerzen litt, als gerechte Kriegsfolgen angesehen wurden und kaum Mitgefühl hervorriefen. All das sind Demütigungen, die tiefe Wunden hinterlassen haben. Müssen wir uns wundern, wenn unsere Gesellschaft heute in vielem wie gebrochen wirkt? Dass wir vor schier unlösbaren Problemen stehen und ihnen wenig mehr entgegenzusetzen haben als unsere »German Angst«?
Nur allmählich werden Zweifel laut an der pauschalen Schuldzuweisung, die uns Deutsche daran hindert, offenen Auges in die Vergangenheit zu schauen. Nach Einschätzung des amerikanischen Historikers und Völkerrechtlers Alfred de Zayas ist es »kaum zu begreifen, weshalb die Kollektivschuldthese Jahrzehnte nach dem Krieg noch mehr verbreitet scheint als vor 66 Jahren«. Sie trage zu »Diskriminierung, Hass, sogar Selbsthass« bei. Die Beschuldigung eines ganzen Volkes sei »schlechthin rassistisch, verletzt die Menschenwürde, die Identität und Ehre der betroffenen Menschen«. Wann dürfen wir uns endlich von der Schuld befreien, ohne uns den Vorwurf einzuhandeln, wir würden uns aus der historischen Verantwortung stehlen?
Ich stimme Gesine Schwan zu, wenn sie in ihrem Buch Politik und Schuld schreibt: »Moralische Schuld vererbt sich nicht – aber die psychischen und moralischen Folgen ihres Beschweigens beschädigen noch die folgenden Generationen und den Grundkonsens einer Demokratie.« Und ich würde ergänzen: So wie die verschwiegene Schuld beschädigt auch das verschwiegene Leid die folgenden Generationen.
»Deutschland schafft sich ab«, mit dieser provokanten These geriet Thilo Sarrazin 2010 ins Kreuzfeuer einer leidenschaftlich geführten Diskussion. Nach Meinung Sarrazins sind wir nicht in der Lage, unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt zu wahren, weil ein Teil der muslimischen Zuwanderer es energisch ablehne, sich hierzulande aktiv zu integrieren. Diese Entwicklung betrachtet er vor dem Hintergrund des Geburtenrückgangs der Deutschen und prognostiziert eine Überfremdung unserer christlichabendländischen Kultur. Er sieht darin ein Versäumnis, offenbar auch eine Schwäche, da er meint, dass wir Toleranz mit Selbstverleugnung verwechselten. Die Deutschen hätten so wenig Selbstbewusstsein, dass sie nicht wagten, ihre Werte und Lebensweisen als verbindlich auch für Einwanderer darzustellen.
Wie auch immer man die Bestandsaufnahme Sarrazins bewertet: Seine Prognose einer »Selbstabschaffung der Deutschen« hat einen beklemmenden Wahrheitsgehalt. Allerdings interpretiere ich die Symptome anders. Ich sehe Anzeichen einer Selbstabschaffung der Deutschen, die fünfundsechzig Jahre nach Kriegsende ihre Traumata noch immer nicht überwunden haben. Wir vermitteln weithin den Eindruck einer vaterlosen, beziehungsunfähigen Gesellschaft, deren Grundmotiv die Angst vor Verlust und Verlassenwerden ist. Nach wie vor verhalten sich viele von uns wie Getriebene, innerlich immer noch auf der Flucht.
Ich selbst gehöre zur Generation der Nachkriegskinder, die zwischen 1950 und 1960 geboren wurden. Ich habe nicht nur erlebt, was es heißt, mit traumatisierten Eltern aufzuwachsen. Ich weiß aus meiner Arbeit und aus umfangreichen Studien auch, welche Risse und Brüche durch meine Generation gehen. Viele entwickelten als Grundhaltung Misstrauen statt Vertrauen. Wie die Kriegskinder sind meine Jahrgänge und die etwas jüngeren Kriegsenkel oft von Scham und Zweifeln erfüllt, unfähig, selbstständig und eigenverantwortlich zu handeln. Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle gewinnen immer wieder die Oberhand und unterbinden die Fähigkeit, eigenen Antrieben frei zu folgen. Das Selbstvertrauen, etwas Nützliches oder Gutes schaffen zu können, liegt bei vielen brach. Unzählige Angehörige der Kriegsenkelgeneration sind sich nicht sicher, wie sie in dieser Gesellschaft oder auch nur in einer Beziehung ihren Platz finden könnten. Sie suchen vergeblich eine soziale Rolle, in der sie sich wohlfühlen, und neigen zum Rückzug.
Diese beschädigte Identität wirkt weiter fort auf ihre Kinder – soweit sie überhaupt Kinder haben. Ich beobachte heute massive Isolierungstendenzen bei jungen Erwachsenen. Ihnen fehlt die Voraussetzung, in Beziehungen Unterschiede und Widersprüche in den Hintergrund treten zu lassen. Sie handeln nach dem Entweder-oder-Prinzip: gut oder böse, richtig oder falsch, Freund oder Feind. Daher bleiben sie unfähig, stabile Beziehungen einzugehen oder sich Gruppen, Vereinen, Parteien dauerhaft anzuschließen. Die Modeworte heißen spontan und individuell. Nur kurzfristig bindet man sich für einen bestimmten Zweck an andere, dann läuft man wieder auseinander.
Das alles verhindert den Aufbau von Freundschaften, hemmt die Liebesfähigkeit, die innere Identifikation mit Gemeinschaften, mit den wachsenden Lebenskreisen: der Familie, der Schule, der Gemeinde, der Stadt, der Region, des Landes, der Welt.
Viele Kriegsenkel haben auch die Fähigkeit, sich um zukünftige Generationen zu kümmern, nicht ausbilden können. Wenn sie Eltern werden, fällt es ihnen oft schwer, sich dabei nicht aus den Augen zu verlieren. Zwischen Selbstaufgabe in der Kinderpflege und dem achtlosen, frühzeitigen Abschieben des Kindes finden viele kein gesundes Mittelmaß. So bleiben sie Strauchelnde, denen es nicht gelingt, ihr Leben anzunehmen und dabei das Misslungene und das erlebte Glück nebeneinander stehen zu lassen.
Trotz dieser offensichtlichen Zusammenhänge fehlt die angemessene Reflexion der Ursachen. Fassungslos stehen wir vor den Problemen der Wohlstandsgesellschaft, in der brutale Gewalt auflodert, in der Kindesvernachlässigung und Kindesmisshandlung an der Tagesordnung sind. Depression und Burn-out haben mittlerweile den Status von Volkskrankheiten erlangt. Auch die Familie, einst der Kern allen gesellschaftlichen Lebens, ist bedroht. Ein hoher Prozentsatz der Ehen zerbricht, immer mehr Menschen entscheiden sich gegen Kinder. Es sieht ganz so aus, als ob uns der Lebensmut verlässt, das Vertrauen in uns und unsere Existenz. Daher ist es längst überfällig, dass wir nicht nur das Leid der anderen spüren, sondern auch unser eigenes Leid. Solange wir den unterschwelligen Selbsthass zulassen, sind wir eine Gefahr für uns und andere. Solange wir uns nicht lieben können, zerstören wir uns und auch andere. Bundesverfassungsrichter Udo di Fabio stellte dazu in einem Spiegel-Interview fest: »Wir sind uns der eigenen Grundlagen nicht mehr gewiss und deshalb so unsicher im Umgang mit anderen Kulturen.«
Das betrifft in gesteigertem Maße die Jahrgänge ab 1950, die Nachkriegskinder und ein Jahrzehnt später dann die Kriegsenkel. Diese Generation ist es, die heute arbeitet und die Gesellschaft aktiv gestaltet. Sie ist es, die wesentlich das soziale Klima bestimmt, die Kultur, die politische Willensbildung. Doch im Grunde sind die Kriegsenkel dazu nicht ausreichend in der Lage. Zu schwer wiegt die Last unbearbeiteter Traumata, zu offensichtlich sind die Deformationen. Psychische Störungen aller Art prägen diese Generation, und wer nicht im klinischen Sinne krank ist, ist von diffusen Ängsten geplagt.
Die Kehrseite der »German Angst« ist eine seltsame Angstlust und eine Vorliebe fürs Makabre. Selbst die scheinbar harmlose modische Vorliebe für Totenköpfe würde ich hier einordnen. Mich befremdet es, wie leichtfertig sich Jugendliche, aber auch Erwachsene mit diesem Vanitassymbol schmücken, das einst zur Ikonografie der SS gehörte – auf der Kleidung, als Anstecker, als Tattoo. Selbst teure Designer boten zwischenzeitlich T-Shirts und Seidentücher mit dem Totenkopfemblem an. Was für eine Art von »Coolness« ist es, die sich hinter dieser Entgleisung verbirgt?
Nun ließe sich vermuten, dass ich als Therapeutin einen eher düsteren Blick auf die Wirklichkeit werfe. Und man könnte anmerken, dass diejenigen, die den Weg in meine Praxis finden, eben ein besonders schweres Familienschicksal hätten – verallgemeinern aber könne man meine Beobachtungen nicht. Dem möchte ich vehement widersprechen. Unzählige Menschen leiden, oft versteckt, und quälen sich mit unaufgearbeiteten Familienschicksalen. Es geht nicht um Einzelfälle, sondern um traurige Realität in der Breite der Gesellschaft. Die Zahlen sind zu erdrückend, um sie zu ignorieren.
Beginnen wir mit den eher harmloseren Indizien. Auf dem Zufriedenheitsranking von 2011 rangieren die Deutschen im internationalen Vergleich auf Platz 32. Und das, obwohl unser Lebensstandard weltweit mit am höchsten ist. Darüber hinaus haben wir ein noch immer funktionierendes soziales Netz, weitgehend kostenlose Bildung, staatliche Krankenversorgung, preiswerte Nahrung im Überfluss, innere Stabilität. Dennoch sind der begleitenden Studie des Rankings zufolge die Deutschen unzufrieden, haben Angst vor der Zukunft und können ihr Leben nicht genießen.
Die aktuelle Studie der Hamburger Stiftung für Zukunftsfragen kommt zu einem ähnlich niederschmetternden Ergebnis. Mehr als ein Drittel der befragten Deutschen gab an, sie seien mit ihrem Leben nicht glücklich. Bei unseren dänischen Nachbarn dagegen sind 96 Prozent der Befragten glücklich, und bei den Griechen, obwohl gebeutelt von ihrer desolaten Wirtschaftslage, sind es 80 Prozent. Die Deutschen dagegen rangieren mit 61 Prozent an drittletzter Stelle in Europa.
Weit alarmierender noch sind die Zahlen massiver Auffälligkeiten. Aggression und Autoaggression sind heute Massenerkrankungen. Ist die vorhandene Aggressivität nicht nach außen gerichtet, richtet sie sich nach innen. Dann schaden diese Menschen sich selber. Jugendliche bringen das verstärkt durch Praktiken wie das Ritzen zum Ausdruck, die Selbstverletzung mit scharfen Gegenständen. Der steigende Konsum von Drogen, Alkohol und anderen Suchtmitteln passt ebenfalls in das Bild gestörter Selbstliebe, ja, es zeigt die Neigung zu Selbsthass und Selbstzerstörung. Von Scham, Angst und Wut getrieben, verzichten viele auf ein erfülltes Leben.
Hinzu kommen Depressionen, durch nachlässigen Lebenswandel hervorgerufene Krankheiten, Kriminalität, Gewalt. Nach einer Untersuchung der Krankenkasse KHK Allianz vom Sommer 2011 wurden im ersten Halbjahr dieses Jahres 14,3 Prozent der Arbeitnehmer wegen Burn-out und Depressionen krankgeschrieben, die Tendenz ist steigend. Laut Gesundheitsreport der Betriebskrankenkassen von 2010 steigerten sich die Arbeitsunfähigkeitstage von 100 Pflichtversicherten aufgrund psychischer Störungen von durchschnittlich 57 Tagen im Jahr 1980 auf 168 im Jahre 2009. Allein von 2004 bis 2009 erhöhten sich die Fehlzeiten wegen Burn-outs bei 100 Pflichtversicherten von 4,6 Tagen auf 47,1 Tage. Die Ursachen sind oft schwer zu benennen. Aufschluss gibt beispielsweise Miriam Meckel, die in ihrem Buch Brief an mein Leben sehr offen schildert, wie es zu ihrem Burn-out kam. »Ich war ein Neonomade«, bekennt sie darin, »immer auf Reisen, rund um die Uhr telefonisch ereichbar. Was einem fehlt, kann man so verdrängen. Meine innere Beheimatung ist mir unbekannt.« Es sind Sätze, die recht genau das Verlorenheitsgefühl einer Generation beschreiben, der es – gemessen an äußerlichen Kriterien wie guter Ausbildung und materiellem Wohlstand – besser gehen müsste als den vom Krieg geprägten Generationen. Miriam Meckel spricht von ihrer Sehnsucht nach Zugehörigkeit wie auch dem Bedürfnis, gebraucht zu werden. Ihren Burn-out charakterisiert sie als einen »Kategorienfehler, der mit gesellschaftlichen Kategorienfehlern einher geht«.