Die gelbe Schlange - Edgar Wallace - E-Book

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Edgar Wallace

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Beschreibung

"Auf diese Weise trat Grahame St. Clay, Bachelor of Arts, in das Leben Stephen Narths ein, und von diesem Augenblick an war sein Geschick mit Stahlklammern an den Willen eines Mannes gebunden, der ihn zuerst beherrschte und dann zugrunde richtete." Eigentlich müsste ja alles schiefgehen, aber neben diesen zwei Personen kann sich ein Clifford Lynne ganz gut, wenn auch nur knapp behaupten.

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Edgar Wallace

 

Die gelbe Schlange

 

The Yellow Snake

 

 

 

Übersetzung: Ravi Ravendro

 

 

 

 

 

 

Basel, 2016

[email protected]

 

1

Kein Haus in ganz Siangtan glich dem Wohnsitz Joe Brays. Aber Joe war selbst für China ein Original, und das wollte viel heißen für ein Land, in das seit Marco Polos Tagen so viele ungewöhnliche Menschen verschlagen wurden.

Pinto Huello, ein dem Trunk ergebener portugiesischer Architekt, hatte die Pläne für dieses Steinhaus erdacht. Portugal hatte er unter Verhältnissen verlassen müssen, die wenig ehrenvoll für ihn waren; über Kanton und Wuchau war er in diese große, wenig saubere Stadt gekommen.

Allgemein nahm man an, daß Pinto seine Pläne nach einer durchzechten Nacht, im Hochgefühl eines Rausches und in dicke Tabakswolken gehüllt, genial aufs Papier warf. Später hatte er sie dann in einem Anfall von Zerknirschung und Reue wieder umgestoßen und verbessert. Zu dieser Änderung entschloß er sich aber erst, als das Gebäude schon halb fertig war. Daher kam es, daß der eine Teil des Hauses eine große Ähnlichkeit mit der berühmten Porzellanpagode hatte und als Denkmal für die exzentrisch phantastischen Launen Pintos der Nachwelt erhalten blieb. Der andere Teil des Gebäudes aber glich mehr einem Güterschuppen, wie man sie an den Ufern des Kanals zu Dutzenden sehen konnte, und spiegelte in seiner grauen Melancholie getreulich die Katerstimmung des ziellosen Portugiesen wider.

Joe hatte eine Gestalt wie ein Koloß, groß und stark, mit vielfältigem Kinn. Er liebte China und Genever, seine Lieblingsbeschäftigung aber war, lange in den Tag hineinzuträumen. Wunderbare Pläne kamen ihm dann, doch die meisten waren unausführbar. In solcher Stimmung fühlte er mit Entzücken und Freude, daß er von diesem entlegenen Weltwinkel aus Hebel ansetzen und Weichen stellen könnte, die weittragende Änderungen im Geschick der Menschheit hervorrufen würden.

Er glich in solcher Stimmung einem verträumten Harun al Raschid; er würde verkleidet unter die Armen gegangen sein, um Gold über die regnen zu lassen, die es verdienten. Schade nur, daß er seine Wohltäterlaune niemals befriedigen konnte, da die rechten Armen ihm bisher noch nicht begegnet waren.

China ist ein Land, in dem man leicht träumen kann. Von seinem Sitz aus sah er in der Ferne die vom Verkehr wimmelnden Wasserfluten des Siang-kiang. Der Schein der untergehenden Sonne glitzerte in tausend Reflexen auf den kleinen Wellen. Im Vordergrund erhob sich die schwarze unregelmäßige Silhouette der Stadt Siangtan. Viele viereckige Segel glitten den großen Strom entlang, dem großen See entgegen, und färbten sich bronzen und goldfarben in den letzten verglühenden Strahlen. Das geschäftige Treiben dieser Stadt glich dem Summen eines Bienenstocks. Aber aus dieser Entfernung konnte man es weder deutlich erkennen noch hören, und – was für China das Wesentlichste war – auch der Geruch dieser Stadt drang nicht bis hierher.

Aber der alte Joe Bray war an diese Dünste gewöhnt und ließ sich nicht dadurch abschrecken. Er kannte dieses weite Land von der Mandschurei bis nach Kwang-si, von Schantung bis zum Kiao-Kio-Tal, wo das wunderliche Mongolenvolk ein bis zur Unkenntlichkeit entartetes Französisch schwätzte. China bedeutete für ihn den größten und bedeutendsten Teil der Welt. Seine Greueltaten und sein Gestank waren für ihn normale Lebensäußerungen. Sein Denken war chinesisch geworden, und er hätte auch vollständig als Chinese gelebt, wenn eben nicht sein unerbittlicher Teilhaber gewesen wäre. Er hatte die ganzen Provinzen des Reiches der Mitte zu Fuß durchwandert und hatte sich zu mehr Städten und Plätzen durchgeschlagen, zu denen den Weißen der Zutritt damals noch verboten war, als irgendeiner seiner Zeit. Einmal hatte man ihm die Kleider weggerissen, um ihn in dem Namen jenes schrecklichen Fu-chi-ling hinzurichten, der eine Zeitlang Gouverneur von Sukiang war, und dann hatte man ihn mit den höchsten Ehren in der Sänfte eines Mandarinen zu dem Palasthof der Tochter des Himmels getragen.

Aber Joe Bray war das alles gleich. Von Geburt war er Engländer. Später, als Amerika in China mehr in Gunst kam, wechselte er gewissenlos seine Nationalität und wurde Amerikaner. Er konnte sich das gestatten, denn er war Millionär und mehr als das. Sein Haus, das sich an der Flußbiegung erhob, war so schön und prachtvoll wie ein Palast. Große Summen hatte er an Kohlenbergwerken, an Kupferminen und anderen Unternehmungen verdient, die sich bis zu den Goldfeldern im Amurgebiet erstreckten. In den letzten zehn Jahren hatten sich die ungeheuren Verdienste mit staunenerregender Schnelligkeit zu fabelhaftem Vermögen angehäuft.

Joe lag bequem zurückgelegt in einem tiefen Deckstuhl. So konnte er sitzen und träumen. Neben ihm saß Fing-Su. Für einen Chinesen war er groß von Gestalt und hatte auch selbst für europäische Begriffe ein gutes Aussehen. Außer den schräggeschlitzten, dunklen Augen war eigentlich nichts Chinesisches an ihm. Er hatte den kecken Mund und die gerade, scharfgeschnittene Nase seiner französischen Mutter, das pechschwarze Haar und die charakteristische blasse Gesichtsfarbe des alten Schan Hu, jenes verschlagenen Kaufmanns und Abenteurers, der sein Vater war. Er trug einen dickgepolsterten Seidenrock und formlose Beinkleider, die bis zu den Schuhen hinabreichten. Seine Hände verbarg er respektvoll in seinen weiten Rockärmeln, und wenn eine zum Vorschein kam, um die Asche seiner Zigarette abzustreifen, verschwand sie mechanisch und instinktiv wieder in ihrem Versteck.

Joe Bray seufzte und nippte an seinem Glas.

»Es ist alles so gekommen, wie ihr es verdient, Fing-Su. Ein Land, das keinen Kopf hat, hat auch keine Füße und kann sich nicht bewegen – überall elender Stillstand, alles geht schief! Das ist China! Früher waren einmal ein paar tüchtige Kerle hier am Ruder, die Ming und der alte Hart und Li Hung.«

Er seufzte wieder; seine Kenntnis des alten China und der alten Dynastien war gerade nicht weit her.

»Geld hat nichts zu bedeuten, wenn ihr es nicht richtig gebrauchen könnt. Sieh mich an, Fing-Su! Hab' weder Kind noch Kegel und bin doch Millionär, viele, viele Millionen wert! Wie man sagt, ist meine Linie beinahe ausgestorben.«

Erregt rieb er seine Nase.

»Beinahe«, sagte er vorsichtig. »Wenn gewisse Leute täten, was ich wollte, würde das nicht so sein – aber werden sie es tun? Das ist die Frage.«

Fing-Su sah ihn mit seinen unergründlichen Augen prüfend an.

»Man sollte meinen, daß Sie nur einen Wunsch auszusprechen brauchten, damit er in Erfüllung ginge.«

Der junge Chinese sprach mit dem übertriebenen Nasallaut, der so typisch für die Oxforder Studenten ist. Nichts freute Joe Bray mehr, als wenn er die Stimme seines Schützlings hören konnte; ihre Kultur, die fehlerlose Konstruktion jedes Satzes und die unbewußte Überlegenheit in Ton und Sprechweise waren Musik in seinen Ohren.

Fing-Su hatte tatsächlich sein Examen auf der Universität in Oxford bestanden und war Bachelor of Arts. Joe hatte dieses Wunder bewirkt.

»Sie sind ein gebildeter Mann, Fing-Su, und ich bin ein alter, ungehobelter Kerl ohne Kenntnis von Geschichte, Geographie und sonst etwas. Bücher interessieren mich den Teufel. Habe mich auch nie um den Krempel gekümmert. Die Bibel – besonders die Offenbarung – ist auch so eine verworrene Sache.«

Er trank den Rest des farblosen Reisschnapses aus und holte tief Atem.

»Wir müssen noch eine Sache besprechen, mein Junge – die Aktien, die ich Ihnen gab –«

Eine lange Verlegenheitspause entstand. Der Stuhl krachte, als sich der große Mann mißmutig herumdrehte.

»Da ist noch etwas dabei. Er hat nämlich gesagt, daß ich das nicht hätte tun sollen. Verstehen Sie, was ich Ihnen sagen will? Sie haben gar keinen Wert. Das war so eine von ›seinen‹ Ideen, daß sie nicht an der Börse gehandelt werden sollten. Keinen Cent sind die Dinger wert.«

»Weiß er denn, daß ich sie habe?« fragte Fing-Su.

Wie Joe nannte er Clifford Lynne nie beim Namen, sondern nannte ihn immer nur »er«.

»Nein, er weiß es nicht!« sagte Joe mit Nachdruck. »Das ist es ja gerade. Aber er sprach neulich abends davon. Er sagte, daß ich niemand Aktien abgeben soll, nicht eine einzige!«

»Mein verehrter und ehrenwerter Vater hatte neun,« sagte Fing-Su mit seidenweicher Stimme, »und ich habe jetzt vierundzwanzig.«

Joe rieb sein unrasiertes Kinn. Er war ärgerlich, fast argwöhnisch.

»Ich gebe sie Ihnen – Sie waren ein guter Junge, Fing-Su ... Latein haben Sie gelernt und Philosophie und alles andere. Meine Bildung ist dürftig, und da wollte ich natürlich etwas für Sie tun. Eine große Sache das, die Bildung.« Zögernd unterbrach er sich und nagte an seiner Unterlippe. »Ich gehöre nicht zu den Leuten, die etwas geben und es nachher zurücknehmen. Aber Sie kennen ihn ja, Fing-Su.«

»Er haßt mich«, sagte der andere gelassen. »Gestern nannte er mich sogar eine ›gelbe Schlange‹.«

»Hat er das getan?« fragte Joe traurig.

Aus dem Ton seiner Stimme war deutlich zu hören, daß er diese Differenz gern aus der Welt gebracht hätte, aber er konnte sich nicht helfen.

»Früher oder später werde ich ihn schon wieder herumkriegen«, sagte er, indem er sich vergeblich bemühte, seine Unsicherheit zu verbergen. »Ich bin ein heller Kopf, Fing-Su – ich habe Ihnen Ideen beigebracht, von denen niemand eine Ahnung hat. Ich habe jetzt einen Plan ...«

Er kicherte bei dem Gedanken an sein Geheimnis, aber gleich darauf wurde er wieder ernst.

»... was nun diese Aktien angeht, ich will Ihnen einige tausend Pfund Sterling dafür geben. Ich sagte schon, daß sie keinen Cent wert sind. Trotzdem will ich aber ein paar tausend dafür geben.«

Der Chinese bewegte sich geräuschlos in seinem Stuhl und sah plötzlich seinen väterlichen Freund mit dunklen Augen an.

»Mr. Bray, was kann mir Geld nützen?« fragte er beinahe unterwürfig. »Mein verehrter und ehrenwerter Vater hat mir ein großes Vermögen hinterlassen. Ich bin nur ein Chinese mit wenigen Bedürfnissen.«

Fing-Su warf den Rest seiner Zigarette fort und rollte sich mit außerordentlicher Geschicklichkeit eine andere. Kaum hatte er Papier und Tabak in seiner Hand, so war auch schon die länglich-runde, weiße Zigarette gedreht.

»In Schanghai und Kanton erzählt man sich, daß die Yünnan-Gesellschaft über mehr Geld verfügt, als die jetzige Regierung jemals gesehen hat«, sagte er langsam. »Die Lolo-Leute sollen im Liao-Lio-Tal Gold gefunden haben –«

»Wir haben das gefunden«, sagte Joe selbstzufrieden. »Diese Lolo konnten doch gar nichts finden, höchstens haben sie Ausreden erfunden, um die chinesischen Tempel zu brandschatzen.«

»Aber Sie lassen das Geld nicht arbeiten«, sagte Fing-Su hartnäckig. »Totes Kapital –«

»Durchaus kein totes Kapital! – bringt viereinhalb Prozent«, brummte Joe vor sich hin.

Fing-Su lächelte.

»Viereinhalb Prozent! Hundert Prozent könnte man damit machen! Oben in Schan-Si sind Kohlenlager, die eine Billion Dollars wert – was sage ich, eine Million mal eine Billion! Sie können das nicht machen – aber ich sage Ihnen, wir haben keinen starken Mann in der ›Verbotenen Stadt‹ sitzen, der befehlen könnte: ›Tue dies!‹ und es wird getan. Und wenn er tatsächlich gefunden würde, dann fehlte ihm eine Armee. Dazu wären Ihre Reservefonds nutzbringend anzulegen. Ja, ein starker Mann –«

»Mag sein.«

Joe Bray sah sich ängstlich um. Er haßte chinesische Politik, und »er« haßte sie noch viel mehr.

»Fing-Su,« sagte er verlegen, »der amerikanische Konsul mit dem langen, schmalen Gesicht war gestern zum Mittagessen hier. Er war sehr aufgebracht über euren Klub der ›Freudigen Hände‹. Er sagte, überall im Lande werde soviel davon gesprochen. Die Zentralregierung hat schon Erkundigungen darüber eingezogen. Ho Sing war letzte Woche hier und hat gefragt, wann man wohl damit rechnen könnte, daß Sie wieder nach London zurückkehrten.«

Die dünnen Lippen des Chinesen kräuselten sich lächelnd. »Man macht viel zu viel Lärm über meinen kleinen Klub«, sagte er. »Er verfolgt doch nur soziale Zwecke – mit Politik haben wir nicht das mindeste zu tun. Mr. Bray, glauben Sie nicht, daß es eine gute Idee ist, die Reservefonds der Yünnan-Gesellschaft dazu zu brauchen, daß –«

»Das denke ich durchaus nicht!« Joe schüttelte heftig den Kopf. »Die kann ich in keiner Weise angreifen. Was nun aber die Aktien betrifft, Fing –«

»Sie liegen bei meinem Bankier in Schanghai – sie sollen zurückgegeben werden«, sagte Fing-Su. »Ich habe nur den Wunsch, daß unser Freund mich gerne hat. Ich habe nur Bewunderung und Hochachtung für ihn. ›Gelbe Schlange!‹ hat er gesagt. Das war doch wirklich unfreundlich.«

Die Sänfte des Chinesen wartete, um ihn nach Hause zu tragen. Joe Bray sah den laufenden Kulis lange nach, bis eine Biegung des Weges in dem hügeligen Gelände sie seinen Blicken entzog.

Vor dem kleinen Hause Fing-Sus warteten drei Leute. Sie hockten vor der Türe. Er entließ seine Träger und winkte die Leute in den dunklen, mit Matten bedeckten Raum, der ihm als Arbeitszimmer diente.

»Zwei Stunden nach Sonnenuntergang wird Clifford Lynne« – er nannte ihn jetzt mit seinem richtigen Namen – »durch das Tor des ›Wohltätigen Reises‹ kommen. Tötet ihn und bringt mir alle Papiere, die er bei sich trägt.«

Clifford war pünktlich auf die Minute, doch er kam durch das Mandarinentor, und die Meuchelmörder verfehlten ihn. Sie berichteten ihrem Herrn alles, aber der wußte bereits, daß Clifford zurückgekehrt war und auf welchem Wege.

»Es gibt viele Möglichkeiten, daß du um die Ecke gehst«, sagte Fing-Su vor sich hin. »Vielleicht ist es gut, daß das Ding nicht passierte, während ich in der Stadt war. Morgen werde ich nach England gehen und dann mit großer Macht zurückkehren!«

2

Genau sechs Monate nach der Abreise Fing-Sus nach Europa saßen die drei Teilhaber der Firma Narth Brothers hinter verschlossenen Türen in ihrem Sitzungszimmer in London. Sie befanden sich in einer ungemütlichen Situation. Stephen Narth saß in einem Armstuhl oben am Tisch. Sein dickes, schweres Gesicht war bleich, und sein verzweifeltes Stirnrunzeln zeugte davon, daß ihn schwere Sorgen bedrückten.

Major Gregory Spedwell saß zu seiner Rechten. Er hatte häßliche gelbe Gesichtsfarbe, schwarzes, krauses Haar. Er spielte nervös mit seinen vom Zigarettenrauch gebräunten Fingern. Seine Vergangenheit war nicht rein militärisch.

Ihm gegenüber saß Ferdinand Leggat, der mit seinem gesund aussehenden Gesicht und seinem Backenbart ganz einer John-Bull-Figur glich, obwohl sein gesundes Aussehen in Wirklichkeit nicht seinem Charakter entsprach. Leggat hatte viele Wechselfälle durchgemacht, die ihm selbst kaum glaubwürdig erschienen – bevor er Zuflucht bei der Firma Narth Brothers Ltd. gefunden hatte.

Es gab einmal eine Zeit, wo der Name der Firma Narth in der City von London so über allen Zweifel erhaben war, daß man bei ihm schwören konnte. Thomas Ammot Narth, der Vater des jetzigen Chefs der Firma, hatte nur ganz einwandfreie, dadurch allerdings beschränkte Geschäfte an der Börse gemacht. Die Firma galt für seine Klienten als eins der vornehmsten Häuser in England.

Sein Sohn hatte seinen kaufmännischen Sinn geerbt, aber ohne die verständnisvolle Einsicht. Die Folge davon war, daß er die Geschäfte der Firma dem Umfang nach vergrößerte und auch nicht ganz erstklassige Kunden annahm. Die älteren Geschäftsfreunde der Firma hatten das nicht gern gesehen, und als er hierdurch mehrfach vor Gericht stand, wobei die nicht ganz einwandfreien Geschäfte seiner Kunden an die Öffentlichkeit kamen, zogen sie sich zurück. Schließlich beschäftigte er nur noch einen Schreiber und einen Börsenagenten. So hatte er Gelegenheit, ab und zu einträgliche Gewinne hereinzubringen. Aber die soliden, gesunden Geschäfte, die doch die sicherste Unterlage des Erfolges sind, fehlten ihm.

Bei den schlechten Zeiten hatte er sich damit durchgeholfen, daß er zahlreiche Gesellschaften gründete. Einige hatten einen gewissen Erfolg, aber die Mehrzahl nahm unvermeidlich eine schlechte Entwicklung, so daß sie nach einiger Zeit in Liquidation gerieten.

Infolge dieser Abenteuer kam Stephen Narth mit Mr. Leggat, einem galizischen Ölspekulanten, zusammen, der außerdem noch eine Theateragentur und eine Geldleihe betrieb und vielfach bei Schwindelgründungen beteiligt war.

Die Angelegenheit aber, welche die drei Teilhaber der Firma schon um neun Uhr morgens in ihrem kalten, ungemütlichen Bureau in Manchester House zusammenführte, hatte absolut nichts mit den sonstigen Geschäften der Firma zu tun. Mr. Leggat war gerade am Sprechen, aber seine Ausdrucksweise war gerade nicht sehr klar.

»Wir wollen doch die Sache beim richtigen Namen nennen. Unser Geschäft ist eben bankerott. Bei der Abwicklung des Konkurses werden Dinge zur Sprache kommen und Enthüllungen gemacht werden, die weder Spedwell noch mich irgend etwas angehen. Ich habe mit dem Geld der Firma nicht spekuliert, ebensowenig Spedwell.«

»Sie wußten doch –« begann Narth aufgeregt.

»Nichts wußte ich.« Mr. Leggat brachte ihn zum Schweigen. »Die Bücherrevisoren stellen fest, daß die Summe von fünfzigtausend Pfund durch Belege nicht gedeckt ist. Jemand hat eben an der Börse gespielt – aber das war weder ich noch Spedwell.«

»Aber Sie haben mir das doch angeraten –«

Mr. Leggat hob schon wieder seine Hand zur Abwehr.

»Jetzt ist nicht der Augenblick, um Gegenbeschuldigungen zu machen. Kurz und gut, es fehlen fünfzigtausend Pfund. Wo und wie können wir diese Summe auftreiben?«

Er sah den mürrischen Spedwell einen Augenblick an, der seinen Blick mit einem sarkastischen Zwinkern beantwortete.

»Sie haben leicht reden«, grollte Narth. Er wischte sich mit einem seidenen Taschentuch die Stirne. »Sie waren doch beide bei der Petroleumspekulation beteiligt – alle beide!«

Mr. Leggat lächelte und zuckte seine breiten Schulkern. Aber er gab keine Erklärung.

»Fünfzigtausend Pfund sind eine große Summe.« Es waren die ersten Worte, die Spedwell bei dieser Unterredung sprach.

»Schrecklich viel Geld«, stimmte sein Freund bei und wartete darauf, daß Mr. Narth etwas sagen sollte.

»Wir sind heute nicht zusammengekommen, um längst bekannte Tatsachen zu erörtern,« sagte Narth ungeduldig, »sondern um einen Ausweg zu suchen. Wie können wir die Sache zum Guten wenden, das ist hier die Frage.«

»Das ist sehr einfach beantwortet«, sagte Mr. Leggat in einem jovialen Ton. »Ich für meine Person fühle kein Bedürfnis, ins Gefängnis zu kommen. Und wir müssen, das heißt, Narth, Sie müssen das Geld aufbringen. Es bleibt nur eine Möglichkeit übrig«, fuhr Leggat langsam fort, indem er Stephen Narth scharf ansah. »Sie sind der Neffe oder Vetter von Joseph Bray, und wie alle Welt weiß, hat Joseph Bray ungeheure Reichtümer, weit mehr, als irgendein Mensch sich vorstellen kann. Wie man allgemein annimmt, ist er der reichste Mann Chinas. Soviel ich weiß – bitte verbessern Sie mich, wenn ich es falsch sage – bekommen Sie und Ihre Familie eine jährliche Pension von diesem Herrn –«

»Zweitausend im Jahr«, fiel ihm Narth ins Wort. »Aber das hat gar nichts mit dieser Sache zu tun!«

Mr. Leggat wechselte einen Blick mit dem Major und grinste.

»Der Mann, der Ihnen jährlich zweitausend Pfund gibt, muß doch in der einen oder anderen Weise zugänglich sein. Für Joseph Bray bedeuten fünfzigtausend Pfund das!« Dabei schnappte er mit den Fingern. »Mein werter Narth, die Lage ist doch so: in vier Monaten, vielleicht schon eher, wird man Ihnen in Old Baley den Prozeß machen, wenn Sie das Geld nicht beschaffen können, um die Bluthunde fernzuhalten, die bald auf Ihrer Spur sein werden.«

»Auf der Spur von uns allen dreien«, sagte Narth boshaft. »Ich werde nicht allein verurteilt – bedenken Sie das! Schlagen Sie sich ein für allemal den Gedanken aus dem Kopf, daß ich Joe Bray dazu bringen könnte, mir einen Cent mehr zu schicken, als er jetzt tut. Er ist so hart wie Eisen und sein Geschäftsführer so hart wie Stahl. Sie glauben wohl, ich hätte vorher noch nicht versucht, etwas mehr aus ihm herauszubekommen? Das ist ganz unmöglich!«

Mr. Leggat sah wieder Major Spedwell an. Beide seufzten und standen wie auf ein gegebenes Zeichen auf.

»Übermorgen werden wir wieder zusammenkommen«, sagte Leggat. »Und Sie werden gut tun, in der Zwischenzeit nach China zu kabeln. Die einzige Möglichkeit, die dann noch übrigbleibt, möchte Mr. Joseph Bray noch unangenehmer sein, als seinen Verwandten im Zuchthaus zu wissen.«

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte Narth mit einem wütenden Blick.

»Ich meine nur,« sagte Mr. Leggat, während er sich eine Zigarre anzündete, »die Hilfe eines gewissen Herrn mit Namen Grahame St. Clay.«

»Und wer zum Teufel ist dieser Grahame St. Clay?« fragte Narth erstaunt.

Mr. Leggat lächelte geheimnisvoll.

3

Stephen Narth verließ sein Bureau in der Old Broad Street gewöhnlich um vier Uhr. Um diese Zeit wartete seine Limousine, um ihn nach seiner schönen Villa in Sunningdale zu bringen. Aber an diesem Abend zögerte er, aufzubrechen, nicht weil noch ein besonderes Geschäft zu erledigen war oder weil er etwas Zeit brauchte, um über seine mißliche Lage nachzudenken, sondern weil die Post aus China mit der Fünfuhrbestellung kommen mußte. Er erwartete heute seinen monatlichen Scheck.

Joseph Bray war ein Vetter zweiten Grades von ihm. Als damals die Narths Handelsfürsten waren und die Brays ihre ärmsten Verwandten, wurden die Unternehmungen Joe Brays in der großen Familie kaum beachtet. Erst vor zehn Jahren erfuhr man davon, als Mr. Narth einen Brief von seinem Vetter erhielt, in dem dieser wieder Anschluß an seine alten Verwandten suchte. Niemand hatte gewußt, daß ein Mann namens Joe Bray existierte, und als Mr. Stephen Narth den schlecht geschriebenen Brief las, war er nahe daran, ihn zu zerreißen und in den Papierkorb zu werfen. Er hatte gerade genug mit sich allein zu tun und konnte sich nicht um das Geschick entfernter Verwandter bekümmern. Doch kurz bevor er den Brief zu Ende gelesen hatte, entdeckte er, daß der Schreiber dieses Briefes der berühmte Bray war, dessen Name auf allen Börsen der Welt Klang und Geltung hatte – der berühmte Bray von der Yünnan-Gesellschaft. Und so wurde Joseph Bray wieder wichtig für ihn.

Sie hatten sich noch nie gesehen. Wohl war ihm eine Photographie des alten Mannes zu Gesicht gekommen, auf der er grimmig und hart dreinschaute. Wahrscheinlich hatte auch der Eindruck, den dieses Bild auf ihn machte, ihn davon abgehalten, seinen Verwandten um weitere Hilfe zu bitten, die er doch so dringend brauchte.

Perkins, sein Sekretär, kam kurz nach fünf mit einem Brief ins Bureau.

»Miß Joan kam heute nachmittag hierher, während Sie in der Sitzung waren.«

»Ach so!« entgegnete Stephen Narth gleichgültig.

Sie war eine Bray, eines der beiden Mitglieder des jüngeren Zweiges der Familie, die er schon kannte, bevor damals der wichtige Brief von Joe Bray kam. Sie war eine entfernte Cousine und war in seinem Hause aufgewachsen, hatte die gute, aber wenig kostspielige Erziehung genossen, wie man sie eben einer armen Verwandten angedeihen ließ. Ihre Stellung in seinem Haushalt hätte man kaum beschreiben können. Joan war wirklich sehr brauchbar: sie konnte das Haus versehen, wenn seine Töchter abwesend waren, sie konnte die Bücher führen und einen Hausverwalter ersetzen oder auch ein Dienstmädchen. Obgleich sie etwas jünger als Letty und viel jünger als Mabel war, verstand sie es ausgezeichnet, beide zu bemuttern.

Manchmal nahm sie an den Theaterbesuchen der beiden Mädchen teil, und gelegentlich kam sie auch zu einem Tanzvergnügen, wenn gerade eine Dame fehlte. Aber für gewöhnlich blieb Joan im Hintergrund. Manchmal empfand man es sogar unangenehm, daß sie bei Einladungen mit an der Tafel sitzen sollte. Dann mußte sie in ihrer großen Dachstube essen, und, um die Wahrheit zu sagen, sie war gar nicht böse darüber.

»Was wollte sie denn?« fragte Mr. Narth, als er den Umschlag des wichtigen Briefes aufschnitt.

»Sie wollte wissen, ob sie etwas nach Sunningdale mitnehmen sollte. Sie war in die Stadt gekommen, um mit Miß Letty einige Einkäufe zu machen«, sagte der alte Schreiber und fuhr fort: »Sie fragte mich, ob eine der beiden jungen Damen wegen der Chinesen telephoniert hätte.«

»Chinesen?«

Perkins erklärte. An dem Morgen waren in der Gegend von Sunni Lodge zwei gelbe Kerle aufgetaucht, beide ziemlich unbekleidet. Letty hatte sie im langen Grase liegen sehen, in der Nähe der großen Wiese. Zwei kräftig aussehende Leute, die aber, sobald sie das Mädchen sahen, aufsprangen und in der Richtung auf die kleine Pflanzung davonliefen, die zwischen dem Landgut von Lord Knowesley und der kleineren, weniger anspruchsvollen Besitzung des Mr. Narth lag.

Letty, die an nervösen Anfällen litt, war zweifellos erschreckt worden.

»Miß Joan glaubte, daß die Leute zu einer Zirkustruppe gehörten, die heute morgen durch Sunningdale zog«, sagte Perkins.

Mr. Narth fand nichts Besonderes dabei und weit davon entfernt, die Sache der Ortspolizei anzuzeigen, suchte er die Geschichte mit den Chinesen möglichst bald zu vergessen.

Langsam zog er den Inhalt des wichtigen Briefes aus dem Umschlag. Der Scheck lag darin und außerdem ein ungewöhnlich langer Brief. Joe Bray sandte im allgemeinen keine langen Episteln. Meist lag nur ein Bogen Papier bei mit der Aufschrift »Besten Gruß«. Er faltete die rote Tratte zusammen und steckte sie in seine Tasche.

Dann begann er den Brief zu lesen und war ganz erstaunt, weshalb sein Vetter plötzlich so mitteilsam geworden war. Der Brief war in der kritzligen Handschrift Joe Brays geschrieben. Fast jedes vierte Work war falsch.

»Lieber Mr. Narth« (Joe nannte ihn niemals anders), »ich glaube, daß Sie sich wundern werden, wenn ich Ihnen einen so langen Brief schreibe. Nun wohl, lieber Mr. Narth, ich muß Ihnen mitteilen, daß ich einen bösen Anfall hatte und mich nur ganz langsam erhole. Der Doktor sagt, er kann nicht sicher sagen, wie lange ich noch zu leben habe. Deshalb kam ich zu dem Entschluß, mein Testament zu machen, das ich durch den Rechtsanwalt Mr. Albert van Rys habe aufsetzen lassen. Lieber Narth, ich muß gestehen, daß ich für Ihre Familie große Bewunderung hege, wie Sie ja wohl wissen. Ich habe lange darüber nachgedacht, wie ich Ihnen und Ihren Angehörigen helfen könnte. Dabei bin ich zu folgendem Entschluß gekommen. Mein Geschäftsführer, Clifford Lynne, der seit seiner frühesten Kindheit in meinem Hause lebt, wurde mein Teilhaber, als ich diese Goldminen entdeckte. Er ist wirklich ein guter Junge, und ich habe beschlossen, daß er jemand aus meiner Familie heiraten soll, um die Linie fortzuführen. Wie ich weiß, haben Sie mehrere Mädchen in Ihrer Familie, zwei Töchter und eine Cousine, und ich wünsche, daß Clifford eine von diesen heiratet. Er hat seine Einwilligung dazu gegeben. Er ist nun auf der Reise und muß in einigen Tagen bei Ihnen ankommen. Mein letzter Wille ist nun der: ich vererbe Ihnen zwei Drittel meines Anteils an der Goldmine und ein Drittel an Clifford unter der Bedingung, daß eines der drei Mädchen ihn heiratet. Sollte keines der Mädchen ihn mögen, so erhält Clifford alles. Die Hochzeit muß aber vor dem 31. Dezember dieses Jahres geschlossen sein. Lieber Mr. Narth, wenn dies nicht annehmbar für Sie sein sollte, so werden Sie im Falle meines Todes nichts erhalten.

Ihr aufrichtiger Joseph Bray.«

Stephen Narth las den Brief mit offenem Munde und seine Gedanken wirbelten durcheinander. Die Rettung kam von einer Seite, an die er am allerwenigsten gedacht hatte. Er klingelte, um seinen Sekretär herbeizurufen und gab ihm in großer Eile einige Instruktionen. Da er den Fahrstuhl nicht erwarten mochte, rannte er die Treppe hinunter und sprang in sein Auto. Den ganzen Weg bis nach Sunningdale mußte er an den Brief und den ungewöhnlichen Vorschlag denken.

Natürlich mußte Mabel ihn heiraten! Sie war ja die älteste. Oder Letty – das Geld war schon so gut wie in seiner Tasche ...

Als der Wagen durch die blühenden Rhododendronbüsche vorfuhr, war er sehr vergnügt und sprang mit einem strahlenden Lächeln aus de Auto. Die wachsame Mabel sah vom Rasenplatz aus, daß irgend etwas Außergewöhnliches sich zugetragen haben mußte. Sie lief herbei. Auch Letty trat in demselben Augenblick aus der Haustür. Es waren hübsche Mädchen, nur ein wenig stärker, als er hätte wünschen können. Die ältere neigte dazu, das Leben von der traurigen, bitteren Seite zu nehmen und das führte gelegentlich zu Unannehmlichkeiten.

»... Hast du von den schrecklichen Chinesen gehört?« Mabel sprang ihm mit dieser Frage entgegen, als er von dein Wagen kam. »Die arme Letty hatte beinahe einen Anfall!«

Sonst hätte er sie zum Schweigen gebracht, denn er war ein Mann, der sich nicht durch alltägliche Dinge aus der Fassung bringen ließ. Das ungewöhnliche Erscheinen eines oder zwei Gelben auf seinem Grund und Boden interessierte ihn wenig. Aber heute brachte er es sogar fertig, nachsichtig zu lächeln und machte sogar einen Witz über die Alarmnachricht seiner Tochter.

»Mein Liebling – es ist doch gar nichts dabei, um darüber zu erschrecken. Perkins hak mir alles erzählt. Die beiden armen Kerle waren wahrscheinlich ebenso erschrocken wie Letty selbst! Kommt einmal mit mir ins Wohnzimmer, ich habe etwas sehr Wichtiges mit euch zu besprechen!«

Er nahm die beiden mit sich in den schöngelegenen Raum, schloß die Tür und berichtete dann seine aufsehenerregenden Neuigkeiten, die aber zu seiner nicht geringen Verwunderung schweigend aufgenommen wurden. Mabel steckte ihre unvermeidliche Zigarette in Brand, klopfte die Asche auf den Teppich und begann, nachdem sie einen Blick mit ihrer Schwester gewechselt hatte:

»Für dich, Vater, ist das alles ja sehr gut, aber was haben wir denn von der ganzen Geschichte?«

»Was ihr davon habt?« fragte der Vater erstaunt. »Das ist doch ganz klar, welchen Vorteil ihr davon habt. Dieser Mann bekommt doch den dritten Teil des großen Vermögens –«

»Aber wieviel von diesem Drittel bekommen denn wir?« fragte Letty, die Jüngere. »Und ganz abgesehen davon – wer ist denn dieser Geschäftsführer? Mit all dem Geld, Vater, können wir eine ganz andere Partie machen, als ausgerechnet den Geschäftsführer einer Mine heiraten.«

Das tödliche Schweigen wurde von Mabel unterbrochen.

»Immerhin müssen wir die Sache mit dir auf die eine oder andere Weise beraten und in Ordnung bringen«, sagte sie. »Dieser alte Herr scheint sich einzubilden, daß es für ein Mädchen nur darauf ankommt, daß ihr Mann reich ist. Aber mir genügt das noch lange nicht.«

Stephen Narth lief es kalt den Rücken herunter. Ihm war es im Traum nicht eingefallen, auf dieser Seite so heftigen Widerstand zu finden.

»Aber versteht ihr denn nicht, daß wir gar nichts bekommen, wenn keine von euch diesen Mann heiratet? Natürlich würde ich mir an eurer Stelle die Sache auch überlegen, aber ich würde eine so glänzende Partie nicht ausschlagen.«

»Wieviel hinterläßt er denn eigentlich?« fragte die praktische Mabel. »Das ist doch der Angelpunkt der ganzen Frage. Ich sage ganz offen, ich habe nicht die Absicht, eine Katze im Sack zu kaufen, und dann – was werden wir für eine gesellschaftliche Stellung haben? Wahrscheinlich müßten wir doch nach China gehen und in irgendeiner erbärmlichen Hütte wohnen.«

Sie saß auf der Ecke des großen Tisches im Wohnzimmer, hatte ein Knie über das andere gelegt und wippte mit den Fußspitzen. Stephen Narth erinnerte sie in dieser Stellung an eine Bardame, die er in seiner frühen Jugend einmal gekannt hatte. Irgend etwas stimmte in Mabels Erscheinung nicht und das wurde auch nicht ausgeglichen durch ihre kurzen Röckchen und ihren wirklich hübschen Bubikopf.

»Ich habe gerade genug Sparen und Einschränken mitgemacht«, fuhr sie fort. »Ich kann nur sagen, daß bei dieser Heirat mit einem unbekannten Mann ich von vornherein ausscheide.«

»Und ich auch«, sagte Letty bestimmt. »Es ist ganz richtig, was Mabel sagt. Als Frau dieses Menschen würden wir eine erbärmliche Rolle spielen.«

»Ich kann nur sagen, daß er euch gut behandeln würde«, sagte Narth schwach. Er wurde ganz von seinen beiden Töchtern beherrscht.

Plötzlich sprang Mabel vom Tisch auf den Fußboden. Ihre Augen glänzten.

»Ich weiß einen Ausweg! – Das Aschenbrödel!«

»Das Aschenbrödel?« fragte er mit gerunzelter Stirn.

»Natürlich – Joan, du großes Kind, lies doch den Brief genau!«

Alle drei durchflogen atemlos das Schreiben und als sie es fast zu Ende gelesen hatten, quietschte Letty vor Vergnügen.

»Natürlich, Joan!« rief sie. »Warum sollte denn Joan nicht heiraten? Das ist doch eine große Sache für sie – ihre Aussichten auf Heirat sind doch gleich Null, und sie würde doch hier überflüssig sein, wenn du sehr reich wärest. Weiß der Himmel, was wir mit ihr anfangen sollten.«

»Joan!« rief er und dabei streichelte er sein Kinn in Gedanken. An Joan hatte er nicht gedacht. Zum viertenmal las er den Brief Wort für Wort. Die Mädchen hatten recht, Joan erfüllte alle Ansprüche Joe Brays. Sie war doch ein Mitglied der Familie. Ihre Mutter war eine geborene Narth. Bevor er den Brief wieder auf den Tisch legen konnte, hatte Letty schon geklingelt, und der Diener kam herein.

»Sagen Sie doch Miß Bray, daß sie herkommen möchte, Palmer.«

Drei Minuten später trat das Mädchen in das Wohnzimmer, das Opfer, mit dem die Familie Narth die Schicksalsgötter besänftigen wollte.

4

Joan Bray war einundzwanzig, aber sie sah viel jünger aus. Sie war schlank – Letty sagte von ihr, daß sie schrecklich mager wäre, doch das war übertrieben. Die Narth waren Leute mit vollen Gesichtern, sie hatten alle ein rundes Kinn und schöne Köpfe, waren aber ein wenig phlegmatisch. Dagegen war Joan geschmeidig an Körper und lebhaft an Geist, jede ihrer Bewegungen war bestimmt und bewußt. Wenn sie ruhig dasaß, hatte sie die Haltung einer Aristokratin (sie weiß immer, wo sie ihre Hände hintun soll, gab Letty widerwillig zu). Man merkte ihr an, daß es ihr Freude machte, sich zu bewegen. Zehn Jahre lang war sie vernachlässigt, unterdrückt und beiseitegeschoben worden, wenn man sie nicht zu sehen wünschte und sie hatte dabei weder ihren Lebensmut noch ihr Vertrauen verloren.

Sie stand nun mit einem schelmischen Lächeln in ihren grauen Augen im Zimmer, sah von einem zum andern und merkte, daß irgend etwas Außergewöhnliches vorgefallen war. Die Zartheit ihres Teints und ihr hübsches Aussehen konnten selbst von der etwas herausfordernden Schönheit ihrer Cousinen weder in den Schatten gestellt noch hervorgehoben werden. Sie glich einem Bilde, dessen wundervolle Feinheiten nicht durch Glanzlichter oder Schlagschatten hätten unterstrichen werden müssen.

»Guten Abend, Mr. Narth.« Sie redete ihn immer formell an. »Ich habe die Vierteljahresabrechnung fertiggestellt – sie ist einfach schauderhaft!«

Zu jeder anderen Zeit hätte Stephen diese Nachricht schwer getroffen, aber die Aussicht, ein großes Vermögen zu erben, hatte die Frage, hundert Pfund mehr oder weniger zu besitzen, für ihn vollständig gleichgültig gemacht.

»Nimm doch Platz, Joan«, sagte er. Verwundert nahm sie einen Stuhl und setzte sich abseits.

»Willst du bitte diesen Brief lesen?« Er reichte das Schreiben über den Tisch zu Letty, die es ihr gab.

Schweigend las sie, und als sie fertig war, kam ein Lächeln in ihre Züge.

»Das ist wirklich eine wundervolle Nachricht. Ich bin sehr froh«, sagte sie und blickte spöttisch von einer Cousine zur andern. »Und wer wird die glückliche Braut sein?«

Ihre unzerstörbare Heiterkeit war in Mabels Augen eine Beleidigung. Diese Selbstverständlichkeit, mit der Joan annahm, daß die eine oder andere von ihnen sich in eine obskure Chinesenstadt vergraben sollte, ließ sie bis in den Nacken erröten.

»Sei doch nicht so dumm, Joan«, sagte sie scharf. »Das ist noch eine Frage, die überlegt werden muß –«

»Meine Liebe« – Stephen sah ein, daß man taktvoll vorgehen mußte – »Clifford Lynne ist ein wirklich guter Mensch, einer der besten, die es gibt«, sagte er begeistert, obgleich er Clifford Lynnes Charakter, Aussehen oder Verhältnisse nicht genauer kannte als die irgendeines Arbeiters, dem er heute nachmittag mit seinem Auto begegnet war. »Dies ist das größte Glück, das uns jemals in den Weg gekommen ist. Tatsächlich«, sagte er vorsichtig, »ist dies nicht der einzige Brief, den ich von unserem alten Freund Joseph erhalten habe. Da ist nämlich noch ein anderes Schreiben, in dem er sich viel deutlicher ausdrückt.«

Joan sah ihn an, als ob sie nun erwarte, daß er ihr diesen mysteriösen Brief zeigen würde. Aber er tat nichts dergleichen aus dem ganz einfachen Grunde, weil dieser Brief überhaupt nicht existierte, höchstens in seiner Phantasie.

»Wirklich, liebe Joan, Joseph wünscht, daß du diesen Mann heiratest.«

Langsam stand das Mädchen auf, ihre feingezogenen Augenbrauen schoben sich in die Höhe.

»Er will, daß ich ihn heirate?« wiederholte sie. »Aber ich kenne doch den Mann gar nicht.«

»Ebensowenig wie wir«, sagte Letty ganz ruhig. »Darum handelt es sich auch gar nicht, ob man jemand kennt. Überhaupt, wie willst du irgendeinen Mann genauer kennen, den du heiraten sollst? Du siehst eben einen Mann jeden Tag einige Minuten, und du hast nicht die geringste Ahnung, was sein eigentlicher Charakter ist. Erst wenn du später verheiratet bist, kommt sein wirkliches Wesen zum Vorschein.«

Aber das alles machte Mr. Narth die Sache nicht leichter. Durch ein Zeichen bedeutete er Letty zu schweigen.

»Joan,« sagte er, »ich bin immer gut zu dir gewesen. Ich habe dir ein Heim gegeben und habe noch mehr für dich getan, wie du wohl weißt.«

Er sah seine Töchter an und gab ihnen ein Zeichen, sich zu entfernen. Als sich die Tür hinter Letty geschlossen hatte, begann er:

»Joan, ich muß mich einmal ganz frei mit dir aussprechen.« Es war nicht das erstemal, daß er offen mit ihr redete, und sie wußte, was jetzt kommen würde. Sie hatte einen Bruder gehabt, einen wilden Jungen mit leichtsinnigem Charakter, der früher bei der Firma Narth Brothers angestellt war, dann aber mit der Kasse durchbrannte – es waren einige hundert Pfund Sterling – aber er hatte diese Entgleisung mit dem Leben bezahlt, als er zu einem Hafen fliehen wollte. Man fand ihn auf einer Chaussee in Kent tot unter den Trümmern seines Autos. Dann war da noch die Geschichte mit der alten kranken Mutter Joans, die in den letzten Lebensjahren von Mr. Narth unterhalten wurde (»Es ist doch unmöglich, daß wir sie ins Armenhaus gehen lassen, Vater«, hatte Mabel gesagt. »Wenn das in die Zeitungen kommt, wird es einen bösen Skandal geben« – Mabel war eben Mabel schon mit sechzehn Jahren).

»Ich möchte dich nicht an alles erinnern, was ich für deine Familie getan habe«, begann Stephen und fing nun an, ihr alles ins Gedächtnis zurückzurufen. »Ich habe dich in mein Haus aufgenommen und habe dir eine gesellschaftliche Stellung gegeben, die du sonst nicht gehabt hättest. Jetzt hast du einmal Gelegenheit, mir deine Dankbarkeit dafür zu zeigen. Ich wünsche sehr, daß du diesen Mann heiratest.«

Sie biß auf ihre Lippe, aber sie hob den Blick nicht von dem Teppich.

»Hörst du, was ich sage?«

Sie nickte und erhob sich langsam.

»Wollen Sie wirklich, daß ich ihn heirate?«

»Ich will, daß du eine reiche Frau wirst«, sagte er mit Nachdruck. »Ich fordere von dir gar nicht, daß du irgendein Opfer bringst; ich gebe dir eine Gelegenheit glücklich zu werden. Neun von zehn Mädchen würden sich nicht einen Augenblick besinnen.«

Es klopfte an der Tür. Der Diener kam herein und brachte auf einem Silbertablett ein Telegramm. Mr. Narth öffnete es, las und war starr.

»Er ist tot«, sagte er leise. »Der alte Joe Bray ist wirklich tot!«

Aber schon kalkulierte er. Jetzt war der 1. Juni. Wenn er Joan in einem Monat verheiratete, konnte er den Konkurs der Firma North Brothers vermeiden. Ihre Augen trafen sich, ihr Blick war ruhig, sicher, aber fragend, der seine kalt, berechnend und gefühllos.

»Willst du ihn also heiraten?« fragte er.

Sie nickte.

»Ja, ich glaube«, sagte sie ruhig.

Der Seufzer der Erleichterung, mit dem er aufatmete, gab ihr einen Stich und ließ sie zum erstenmal die Bitterkeit des Lebens fühlen.

»Du bist ein sehr kluges Mädchen, und du wirst es nicht bereuen«, sagte er eifrig, als er um den Tisch herum kam und ihre kalten Hände in die seinen nahm. »Ich kann dir versichern, Joan –«

Er drehte sich um, denn es klopfte wieder. Der Diener trat ein:

»Ein Herr wünscht Sie zu sehen.«

Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, als auch schon der Besucher hinter ihm ins Zimmer trat. Er war ein großer Mann und trug einen getüpfelten, schlechtsitzenden Anzug aus rauhem Stoff. Seine Schuhe waren aus rohem Leder und schienen selbstgefertigt zu sein. Er hatte nicht einmal einen Kragen um. Ein weiches Hemd wurde am Hals sichtbar. Ein zerbeulter Hut in seiner Hand vervollständigte das Bild. Aber Joan schaute nur sein Gesicht an. Noch niemals hatte sie einen solchen Mann gesehen. Sie konnte nur staunen. Seine langen, braunen Haare waren gewellt, er trug einen langen, ungepflegten Bart, der bis aus die Brust herabreichte.

»Wer zum Teufel –« begann Mr. Narth erstaunt.

»Mein Name ist Clifford Lynne«, sagte die Erscheinung. »Soviel ich weiß, soll ich hier jemand heiraten. Wo ist sie?«

Sie starrten den wunderlichen Mann an und Letty, die ihm auf dem Fuß gefolgt war, lachte nervös auf.

»Mr. Lynne –« stotterte Stephen Narth.

Bevor der Mann antworten konnte, kam eine dramatische Unterbrechung. Draußen hörte man jemand leise mit dem Diener sprechen. Als Mr. Narth nachschaute, sah er eine Gestalt mit einem viereckigen Kasten.

»Was ist das?« fragte er scharf.

Der Diener streckte seine Hand aus der Tür und kam mit dem Kistchen ins Zimmer. Es war ganz nm und maß ungefähr eine Spanne im Quadrat. Es ließ sich durch einen Schiebedeckel öffnen.

»Mr. Lynne?« fragte der Diener verlegen wie jemand, der sich in einer Lage befindet, in der er sich nicht zu helfen weiß.

Der bärtige Mann drehte sich schnell herum. Alle seine Bewegungen hatten etwas Abgerissenes, wie Joan unbewußt beobachtete.

»Für mich?«

Er stellte den Kasten auf den Tisch und runzelte bedenklich die Stirn. Auf den Deckel waren fein säuberlich die Worte gemalt:

Clifford Lynne, Esq. (bei seiner Ankunft zu überreichen).

Als er seine Hand ausstreckte, um den Schiebedeckel zu öffnen, schauderte Joan zusammen. Es kam ihr eine unerklärliche Ahnung, daß dem Mann eine schreckliche Gefahr drohe, sie w [...]