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Der Weg zum Glück war lange und steinig für den Vampirkrieger Zsadist. Erst bei der Bruderschaft BLACK DAGGER fand der ehemalige Blutsklave ein Zuhause, eine Bestimmung und in der schönen Bella seine große Liebe. Als die beiden dann auch noch Eltern der bezaubernden Nalla wurden, gingen für Zadist alle Wünsche in Erfüllung. Doch nun ist Nalla erwachsen, und die Bruderschaft sieht sich neuen Bedrohungen gegenüber. Als Nalla sich dann auch noch verliebt, steht das gefährlichste Mitglied der Bruderschaft vor einer geradezu unlösbaren Aufgabe: das Herz seiner Tochter zu beschützen ...
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Seitenzahl: 709
Der Weg zum Glück war lange und steinig für den Vampirkrieger Zsadist. Erst bei der Bruderschaft BLACK DAGGER fand der ehemalige Blutsklave ein Zuhause, eine Bestimmung und in der schönen Bella seine große Liebe. Als die beiden dann auch noch Eltern der bezaubernden Nalla wurden, gingen für Zadist alle Wünsche in Erfüllung. Doch nun ist Nalla erwachsen, und die Bruderschaft sieht sich neuen Bedrohungen gegenüber. Als Nalla sich dann auch noch verliebt, steht das gefährlichste Mitglied der Bruderschaft vor einer geradezu unlösbaren Aufgabe: das Herz seiner Tochter zu beschützen ...
J. R. Ward begann bereits während des Studiums mit dem Schreiben. Nach dem Hochschulabschluss veröffentlichte sie die BLACK DAGGER-Serie, die in kürzester Zeit die amerikanischen Bestsellerlisten eroberte. Die Autorin lebt mit ihrem Mann in Kentucky und gilt seit dem überragenden Erfolg der Serie als Star der romantischen Mystery.
Ein ausführliches Werkverzeichnis der von J. R. Ward im Wilhelm Heyne Verlag erschienenen Bücher finden Sie am Ende des Bandes.
J. R. Ward
Ein BLACK DAGGER-Roman
Wilhelm Heyne Verlag München
Titel der Originalausgabe:
THE BELOVED
Aus dem Amerikanischen von Bettina Spangler
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Deutsche Erstausgabe
Redaktion: Anneliese Schmidt
Copyright © 2024 by Love Conquers All, Inc.
Copyright © 2024 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Animagic, Bielefeld
Autorenfoto © by John Rott
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-32336-3V001
www.heyne.de
Gewidmet:
Dir, einem Unsterblichen, der erst lebendig werden musste.
Trotzdem wird das Leben immer die bessere Wahl sein.
Vielen, vielen Dank an die Leser der BLACK DAGGER! Es ist eine lange, wunderbare, aufregende Reise mit euch und der Bruderschaft, und ich kann es kaum erwarten zu sehen, was in dieser Welt, die wir alle so lieben, als Nächstes passiert. Ich möchte Meg Ruley, Rebecca Scherer und dem Team bei JRA danken, außerdem Hannah Braaten, Jamie Selzer, Sarah Schlick, Jennifer Bergstrom, Carrie Feron, Jennifer Long und der gesamten Gallery- und Simon&Schuster-Familie.
Ans Team Waud: Ich liebe euch alle. Ehrlich. Alles, was ich tue, mache ich aus Liebe und Bewunderung für meine Familie, sowohl die blutsverwandte als auch die frei gewählte.
Ach ja, und danke an Naamah, meinen WriterAssistant Nummer zwei, und Obie, WriterAssistant in Ausbildung, sowie Bar-bar. Sie arbeiten alle genauso hart an meinen Büchern wie ich!
Ahstrux nohtrum – Persönlicher Leibwächter mit Lizenz zum Töten, der vom König ernannt wird.
Die Auserwählten – Vampirinnen, deren Aufgabe es ist, der Jungfrau der Schrift zu dienen. In der Vergangenheit waren sie eher spirituell als weltlich orientiert, doch das hat sich mit dem Aufstieg des letzten Primal geändert, der sie aus dem Heiligtum befreite. Nachdem sich die Jungfrau der Schrift aus ihrer Rolle zurückgezogen hat, sind sie völlig autonom und leben auf der Erde. Doch noch immer nähren sie alleinstehende Brüder und solche, die sich nicht von ihren Shellans nähren können, sowie verletzte Kämpfer mit ihrem Blut.
Bannung – Status, der einer Vampirin der Aristokratie auf Gesuch ihrer Familie durch den König auferlegt werden kann. Unterstellt die Vampirin der alleinigen Aufsicht ihres Hüters, üblicherweise der älteste Mann des Haushalts. Ihr Hüter besitzt damit das gesetzlich verbriefte Recht, sämtliche Aspekte ihres Lebens zu bestimmen und nach eigenem Gutdünken jeglichen Umgang zwischen ihr und der Außenwelt zu regulieren.
Die Bruderschaft der Black Dagger – Die Brüder des Schwarzen Dolches. Speziell ausgebildete Vampirkrieger, die ihre Spezies vor der Gesellschaft der Lesser beschützen. Infolge sorgfältiger Auswahl der Fortpflanzungspartner besitzen die Brüder ungeheure physische und mentale Stärke sowie die Fähigkeit zur raschen Heilung. Die meisten von ihnen sind keine leiblichen Geschwister; neue Anwärter werden von den anderen Brüdern vorgeschlagen und daraufhin in die Bruderschaft aufgenommen. Die Mitglieder der Bruderschaft sind Einzelgänger, aggressiv und verschlossen. Sie pflegen wenig Kontakt zu Menschen und anderen Vampiren, außer um Blut zu trinken. Viele Legenden ranken sich um diese Krieger, und sie werden von ihresgleichen mit höchster Ehrfurcht behandelt. Sie können getötet werden, aber nur durch sehr schwere Wunden wie zum Beispiel eine Kugel oder einen Messerstich ins Herz.
Blutsklave – Männlicher oder weiblicher Vampir, der unterworfen wurde, um das Blutbedürfnis eines anderen zu stillen. Die Haltung von Blutsklaven wurde vor Kurzem gesetzlich verboten.
Chrih – Symbol des ehrenhaften Todes in der alten Sprache.
Dhunhd – Hölle.
Doggen – Angehörige(r) der Dienerklasse innerhalb der Vampirwelt. Doggen pflegen im Dienst an ihrer Herrschaft altertümliche, konservative Sitten und folgen einem formellen Bekleidungs- und Verhaltenskodex. Sie können tagsüber aus dem Haus gehen, altern aber relativ rasch. Die Lebenserwartung liegt bei etwa fünfhundert Jahren.
Ehros – Eine Auserwählte, die speziell in der Liebeskunst ausgebildet wurde.
Exhile Dhoble – Der böse oder verfluchte Zwilling, derjenige, der als Zweiter geboren wird.
Gesellschaft derLesser – Orden von Vampirjägern, der von Omega zum Zwecke der Auslöschung der Vampirspezies gegründet wurde.
Glymera – Das soziale Herzstück der Aristokratie, sozusagen die »oberen Zehntausend« unter den Vampiren.
Gruft – Heiliges Gewölbe der Bruderschaft der Black Dagger. Sowohl Ort für zeremonielle Handlungen als auch Aufbewahrungsort für die erbeuteten Kanopen der Lesser. Hier werden unter anderem Aufnahmerituale, Begräbnisse und Disziplinarmaßnahmen gegen Brüder durchgeführt. Niemand außer Angehörigen der Bruderschaft, der Jungfrau der Schrift und Aspiranten hat Zutritt zur Gruft.
Hellren – Männlicher Vampir, der eine Partnerschaft mit einer Vampirin eingegangen ist. Männliche Vampire können mehr als eine Vampirin als Partnerin nehmen.
Hohe Familie – König und Königin der Vampire sowie all ihre Kinder.
Hüter – Vormund eines Vampirs oder einer Vampirin. Hüter können unterschiedlich viel Autorität besitzen, die größte Macht übt der Hüter einer gebannten Vampirin aus.
Hyslop – Aussetzer im Urteilsvermögen, der klassischerweise zur Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit oder dem Abhandenkommen eines Fahrzeugs führt. Wenn zum Beispiel jemand den Zündschlüssel stecken lässt, während das Auto über Nacht vor dem Haus parkt, und besagtes Versehen in unerlaubten Spritztouren Dritter resultiert, so ist dies ein Hyslop.
Jungfrau der Schrift – Mystische Macht, die dem König bis in jüngste Zeit als Beraterin diente sowie die Vampirarchive hütete und Privilegien erteilte. Existierte in einer jenseitigen Sphäre und besaß umfangreiche Kräfte. Gab ihre Stellung zugunsten einer Nachfolge auf. Hatte die Befähigung zu einem einzigen Schöpfungsakt, den sie zur Erschaffung der Vampire nutzte.
Leahdyre – Eine mächtige und einflussreiche Person.
Lesser – Ein seiner Seele beraubter Mensch, der als Mitglied der Gesellschaft der Lesser Jagd auf Vampire macht, um sie auszurotten. Die Lesser müssen durch einen Stich in die Brust getötet werden. Sie altern nicht, essen und trinken nicht und sind impotent. Im Laufe der Jahre verlieren ihre Haare, Haut und Iris ihre Pigmentierung, bis sie blond, bleich und weißäugig sind. Sie riechen nach Talkum. Aufgenommen in die Gesellschaft werden sie durch Omega. Daraufhin erhalten sie ihre Kanope, ein Keramikgefäß, in dem sie ihr aus der Brust entferntes Herz aufbewahren.
Lewlhen – Geschenk.
Lheage – Respektsbezeichnung einer sexuell devoten Person gegenüber einem dominanten Partner.
Lhenihan – Ein mystisches Biest, bekannt für seine sexuelle Leistungsfähigkeit. In modernem Slang bezieht es sich auf einen Vampir von immenser Größe und sexueller Ausdauer.
Lielan – Ein Kosewort, frei übersetzt in etwa »mein Liebstes«.
Lys – Folterwerkzeug zur Entnahme von Augen.
Mahmen – Mutter. Dient sowohl als Bezeichnung als auch als Anrede und Kosewort.
Mhis – Die Verhüllung eines Ortes oder einer Gegend; die Schaffung einer Illusion.
Nalla oder Nallum – Kosewort. In etwa »Geliebte(r)«.
Novizin – Eine Jungfrau.
Omega – Unheilvolle mystische Gestalt, die sich aus Groll gegen die Jungfrau der Schrift die Ausrottung der Vampire zum Ziel gesetzt hat. Existiert in einer jenseitigen Sphäre und hat weitreichende Kräfte, wenn auch nicht die Kraft zur Schöpfung.
Phearsom – Begriff, der sich auf die Funktionstüchtigkeit der männlichen Geschlechtsorgane bezieht. Die wörtliche Übersetzung lautet in etwa »würdig, in eine Frau einzudringen«.
Princeps – Höchste Stufe der Vampiraristokratie, untergeben nur den Mitgliedern der Hohen Familie und den Auserwählten der Jungfrau der Schrift. Dieser Titel wird vererbt; er kann nicht verliehen werden.
Pyrokant – Bezeichnet die entscheidende Schwachstelle eines Individuums, sozusagen seine Achillesferse. Diese Schwachstelle kann innerlich sein, wie zum Beispiel eine Sucht, oder äußerlich, wie ein geliebter Mensch.
Rahlman – Retter.
Rythos – Rituelle Prozedur, um verlorene Ehre wiederherzustellen. Der Rythos wird von dem Vampir gewährt, der einen anderen beleidigt hat. Wird er angenommen, wählt der Gekränkte eine Waffe und tritt damit dem unbewaffneten Schuldigen entgegen.
Schleier – Jenseitige Sphäre, in der die Toten wieder mit ihrer Familie und ihren Freunden zusammentreffen und die Ewigkeit verbringen.
Shellan – Vampirin, die eine Partnerschaft mit einem Vampir eingegangen ist. Vampirinnen nehmen sich in der Regel nicht mehr als einen Partner, da gebundene männliche Vampire ein ausgeprägtes Revierverhalten zeigen.
Symphath – Eigene Spezies der Vampire, deren Merkmale die Fähigkeit und das Verlangen sind, Gefühle in anderen zu manipulieren (zum Zwecke eines Energieaustauschs). Historisch wurden die Symphathen oft mit Misstrauen betrachtet und in bestimmten Epochen auch von den anderen Vampiren gejagt. Sie sind heute nahezu ausgestorben.
Talhman – Die böse Seite eines Vampirs. Ein dunkler Fleck auf der Seele, der ans Licht drängt, wenn er nicht ganz ausgelöscht wird.
Trahyner – Respekts- und Zuneigungsbezeichnung unter männlichen Vampiren. Bedeutet ungefähr »geliebter Freund«.
Transition – Entscheidender Moment im Leben eines Vampirs, wenn er oder sie ins Erwachsenenleben eintritt. Ab diesem Punkt müssen sie das Blut des jeweils anderen Geschlechts trinken, um zu überleben, und vertragen kein Sonnenlicht mehr. Findet normalerweise mit etwa Mitte zwanzig statt. Manche Vampire überleben ihre Transition nicht, vor allem männliche Vampire. Vor ihrer Transition sind Vampire von schwächlicher Konstitution und sexuell unreif und desinteressiert. Außerdem können sie sich noch nicht dematerialisieren.
Triebigkeit – Fruchtbare Phase einer Vampirin. Üblicherweise dauert sie zwei Tage und wird von heftigem sexuellem Verlangen begleitet. Zum ersten Mal tritt sie etwa fünf Jahre nach der Transition eines weiblichen Vampirs auf, danach im Abstand von etwa zehn Jahren. Alle männlichen Vampire reagieren bis zu einem gewissen Grad auf eine triebige Vampirin, deshalb ist dies eine gefährliche Zeit. Zwischen konkurrierenden männlichen Vampiren können Konflikte und Kämpfe ausbrechen, besonders wenn die Vampirin keinen Partner hat.
Vampir – Angehöriger einer gesonderten Spezies neben dem Homo sapiens. Vampire sind darauf angewiesen, das Blut des jeweils anderen Geschlechts zu trinken. Menschliches Blut kann ihnen zwar auch das Überleben sichern, aber die daraus gewonnene Kraft hält nicht lange vor. Nach ihrer Transition, die üblicherweise etwa mit Mitte zwanzig stattfindet, dürfen sie sich nicht mehr dem Sonnenlicht aussetzen und müssen sich in regelmäßigen Abständen aus der Vene ernähren. Entgegen einer weitverbreiteten Annahme können Vampire Menschen nicht durch einen Biss oder eine Blutübertragung »verwandeln«; in seltenen Fällen aber können sich die beiden Spezies zusammen fortpflanzen. Vampire können sich nach Belieben dematerialisieren, dazu müssen sie aber vollkommen ruhig werden und sich konzentrieren; außerdem dürfen sie nichts Schweres bei sich tragen. Sie können Menschen ihre Erinnerung nehmen, allerdings nur, solange diese Erinnerungen im Kurzzeitgedächtnis abgespeichert sind. Manche Vampire können auch Gedanken lesen. Die Lebenserwartung liegt bei über eintausend Jahren, in manchen Fällen auch höher.
Vergeltung – Akt tödlicher Rache, typischerweise ausgeführt von einem Mann im Dienste seiner Liebe.
Wanderer – Ein Verstorbener, der aus dem Schleier zu den Lebenden zurückgekehrt ist. Wanderern wird großer Respekt entgegengebracht, und sie werden für das, was sie durchmachen mussten, verehrt.
Whard – Entspricht einem Patenonkel oder einer Patentante.
Zwiestreit – Konflikt zwischen zwei männlichen Vampiren, die Rivalen um die Gunst einer Vampirin sind.
Auf der Landstraße 149, Caldwell, New York
»Ich habe da ein ganz ungutes Gefühl.«
Wegen dieser Worte hätte Mickey Trix seinem beknackten Cousin am liebsten eine reingehauen, aber es war ja seine eigene Scheißschuld. Wie konnte er auch auf die Schnapsidee kommen, diese Nullnummer zu einem Auftrag mitzuschleifen. Er war nichts weiter als ein Klotz am Bein.
»Mickey, hörst du nicht, was ich sage …«
Über ihnen zuckte ein Blitz über den pechschwarzen Nachthimmel und erweckte den verschneiten Wald zum Leben. Die knietiefen Schneewehen reflektierten das Licht, und die kahlen Äste verwandelten sich in Arme, die sich nach ihnen ausstreckten. Kaum war alles wieder in Dunkelheit gehüllt, kamen Mickey selbst für einen Sekundenbruchteil Zweifel. Es war Januar, verflucht. Da gab es keine Gewitter …
»Halt’s Maul.« Suchend spähte er zwischen die Bäume, die nicht fest im Boden verwurzelt zu sein, sondern sich an sie heranzupirschen schienen. »Alter, musst du dauernd quatschen …«
»Wo sind wir …«
Mickey wandte sich jetzt wutschnaubend zu dem Vollpfosten um, während im Hintergrund ein weiteres Donnergrollen zu hören war. Die Schneemassen erhellten die Landschaft, deshalb konnte er das fliehende Kinn des Schlappschwanzes und seine kleinen panischen Knopfaugen zu seinem Leidwesen nur zu deutlich ausmachen. Der Trottel hatte sich die Skimaske, die er ihm vorhin beim Auto in die Hand gedrückt hatte, hoch auf die Stirn geschoben, wo sie eine dicke Wulst über den schmalen Augenbrauen bildete, die Falten aus schwarzer Wolle eine Krone unlauterer Absichten. Bei jedem anderen Typen wäre sie ein Warnsignal gewesen, dass gleich die Kacke am Dampfen wäre. Aber bei Evan? Ihm diente sie allerhöchstens dazu, seine beginnende Kahlköpfigkeit zu verbergen.
Selbst die Haare von dem Wichser hatten keinen Bock auf seine Gesellschaft.
Und warum zum Henker hatte er keine anständigen Augenbrauen? Sogar Kerle mit Köpfen so kahl wie Bowlingkugeln besaßen Augenbrauen, außer vielleicht, sie hatten diesen Mist … wie hieß das doch gleich?
So ähnlich wie Alpaka?
»Mickey, wir müssen umdrehen. Ich habe da ein echt mieses …«
Mickey brachte ihn mit einer Backpfeife zum Verstummen, die genug Wumms hatte, um seine Handfläche im Inneren seines Handschuhs prickeln zu lassen. »Jetzt hör mir mal zu. Ich habe hier was Geschäftliches zu erledigen, und du willst doch auch ins Business einsteigen, oder nicht? Also kümmern wir uns ums Geschäft, du beklopptes Arschloch.«
Schneeflocken wirbelten um sie herum, und Evan legte sich die Hand an die schmerzende Backe. »Was soll der Scheiß?«
»Den Scheiß machst ja wohl du.« Hektisch fuchtelte der andere zwischen ihnen beiden hin und her, sodass der Ärmel seines Parkas flatterte. »Fuck. Und jetzt komm endlich.«
Schnaubend drehte er sich um und stapfte durch den knietiefen Schnee davon. Einen Scheiß würde er tun und diesem Loser erzählen, er solle besser in seine Fäustlinge schlüpfen, wie einem Kleinkind. Außerdem, Evan würde es noch nicht mal checken, wenn er Frostbeulen bekäme. Der hatte doch keinen Schimmer von gar nix.
Zehn verflixte Jahre, schoss es Mickey durch den Kopf. Zehn Jahre, und er war weder in der Organisation noch bei seinem Onkel auch nur einen Schritt vorangekommen. Er hatte schon neunundzwanzig Jahre auf dem Buckel und vermöbelte immer noch irgendwelche armen Trottel, die ihre Spielschulden nicht bezahlten, und vertickte kleine Tütchen auf der Straße. Sein Daddy hatte in seinem Alter längst den Familienbetrieb angeführt und das alleinige Sagen gehabt, bis er auf der Neunzehnten Straße mit zwölf Kugeln hingerichtet worden war.
Mickey war also der Sohn einer verfluchten Legende, und damit ging ein gewisses Geburtsrecht einher. Wäre sein Pops nicht wegen seiner ewigen Revierkämpfe mit der Southend Gang um die Ecke gebracht worden, wäre sein Onkel heute nicht viel mehr als ein stellvertretender Befehlshaber einer der Mannschaften auf der weniger wichtigen anderen Flussseite …
Knacks.
Mickey blieb wie angewurzelt stehen und ließ den Blick hektisch über die Baumreihen schweifen.
»Waswarndas, Himmelherrgott …«
»Ich bin auf was draufgetreten, reg dich ab.« Wenn er jetzt noch mal auf Evan eindrosch, würde die Memme bestimmt losflennen. »Scheiße, entspann dich, Alter.«
Während ein weiterer greller Blitz aufleuchtete, hielt Mickey Ausschau nach irgendeiner Bewegung im Wald, und zwar nach einer realen, nicht einer, die lediglich Einbildung war. Schwer zu sagen, ob da was war, also blieb er vorsichtshalber reglos stehen … bis er sicher war, dass da nichts lauerte. Na ja, zumindest nichts, das eine ernsthafte Gefahr für sie darstellte. Klar konnte niemand so genau sagen, was für Tretminen sie da draußen erwarteten.
»Mickey, ich weiß genau, was du vorhast – mit dem sollten wir uns nicht anlegen.«
Ein schweifender Blick. Nach links, wieder zurück und weiter nach rechts. »Keine Sorge, ich will dem Mistkerl nur einen kleinen Höflichkeitsbesuch abstatten. Mich ein wenig mit ihm unterhalten.«
»Bullshit, du bist doch nicht zum Reden hier.« Als Mickey sich über die Schulter nach ihm umsah, verengte Evan die Augen. »Ich bin nicht komplett beschränkt, Mann.«
Höchste Zeit, dass sie vorwärtskamen. »Wenn du meinst.«
»Warum krieg ich eigentlich nie eine Knarre? Könntest mich ruhig auch mal eine Waffe tragen lassen.« Evan tippte seinem Cousin nervös auf die Schulter. »Komm schon. Sehen wir zu, dass wir …«
»Scheiße, Mann, weißt du was? Hau einfach ab, okay.« Mickey zog den Funkschlüssel aus der Tasche. Den Wagen hatte er oben am Straßenrand geparkt. »Warte im Auto auf mich, du Pussy, und lass mich meine Arbeit erledigen.«
»Vergiss es, ich lass dich nicht allein.« Evan schüttelte vehement den Kopf. »Schon klar, dass mich alle für ein Weichei halten, aber dieser Typ, der ist richtig gefährlich. Mit dem stimmt was nicht.«
»Blödsinn. Er ist nur einer von Onkels Vollstreckern.«
»Nope, ist er nicht. Und du hast mich mitkommen lassen, weil du genau wusstest, dass dich sonst keiner hierher begleitet.«
Falsch, dachte Mickey. Er hatte Evan mitgenommen, weil niemand sonst auf ihn hörte. Aber dieses nutzlose Gelaber für seinen zweifelhaften Beistand in Kauf zu nehmen, lohnte sich nicht.
Mickey drückte seinem Cousin den Autoschlüssel an die Brust und beugte sich vor. »Ich kümmere mich um den Scheiß. Wie ein echter Kerl. Du wartest im Wagen. Wie ein Kind, das sich vor Angst fast in die Hosen macht.«
Wieder verästelte sich ein Blitz, zuckte unter der schwarzen Wolkendecke hervor, und im eisblauen Lichtschein wirkte die Panik auf Evans Miene wie eine dritte Präsenz zwischen ihnen.
»Jetzt hau endlich ab, du Waschlappen«, blaffte Mickey, bevor seine eigene Entschlossenheit ins Wanken geriet.
»Ich hatte gestern Nacht einen Traum …«
»Ach ja? Ich hoffe, sie sah scharf aus.« Mickey steckte seinem Cousin den Autoschlüssel in die Vordertasche seines Parkas. »Im echten Leben kriegst du ja bloß die Nieten ab.«
»Du bist so was von tot, Mickey.«
»Na bestens. Dann brauche ich mich wenigstens nicht mehr mit dir Nervensäge herumzuschlagen.«
»Du musst unserem Onkel nichts beweisen, weißt du? Du bist prima, wie du bist …«
Aufgebracht stieß Mickey seinem Cousin mit den flachen Händen gegen die Schultern und beförderte ihn so rückwärts in den Schnee. »Du beschissenes Arschloch. Ich muss niemandem etwas beweisen, dass das klar ist.«
Es war eine gottverdammte Erleichterung, diesem Schwachmaten den Rücken zuzukehren – bis ihm bewusst wurde, wie heftig er schnaufte. Keine gute Idee, einen solchen Radau zu veranstalten. Er hatte sich von seiner Wut mitreißen lassen und sich damit auf Evans Niveau herabbegeben. Diese Lo-Fi-Arbeitsmoral war nicht sein Ding, er konnte es besser.
Schließlich war er nicht umsonst der Sohn des rechtmäßigen Familienoberhaupts …
Eine Bewegung am Rand seines Blickfelds erregte seine Aufmerksamkeit. Noch einmal sah er sich über die Schulter um. Evan hatte sich wieder aufgerappelt, von seinem Hintern bröckelten Schneeklumpen herab, als würde er sich erleichtern, nur dass die Scheiße weiß war statt braun. Er hatte beide Hände an sein Kinn gelegt, als hätte er ein Gespenst gesehen, die Augen vor Schreck geweitet, ganz Anime-Style. Eine kleine Gedächtnisauffrischung für Mickey, dass man, bloß weil man mit jemandem verwandt war, nicht automatisch was mit demjenigen gemeinsam haben musste.
Er ließ seinen Cousin eiskalt stehen. Es gab wichtigere Angelegenheiten, auf die er sich jetzt konzentrieren musste. Prüfend schob er seine Hand in die Vordertasche seiner Schneehose. Der USB-Stick war da, wo er ihn verstaut hatte, einsatzbereit für Teil zwei seiner Operation. Ein Schießeisen an der Schläfe von so ’nem Tekkie, und die Sache war geritzt gewesen, eine gefälschte Blockchain-Datenspur, die es aussehen ließ, als wären aus der familieneigenen Wallet Bitcoins von beträchtlichem Wert geklaut worden. Nicht nötig, dass er selbst schnallte, was auf diesem beschissenen Keyboard getippt oder wohin auf dem Monitor gescrollt worden war. Entscheidend war, dass man seine Anweisungen exakt befolgte und das gewünschte Ergebnis erzielt wurde, und dass das der Fall war, dafür hatte er gesorgt: Er hatte die Ehefrau dieses IT-Typen gefesselt in seinem Geheimversteck hocken, einem Apartment auf der Einundzwanzigsten. Und hallo, Überraschung: Er würde die Gattin erst wieder gehen lassen, wenn sein Onkel die richtigen Schlussfolgerungen zog, sobald Mickey den USB-Stick »zufällig« fand und ihm das Ding aushändigte …
Ein Anflug von Paranoia brachte ihn dazu, noch einmal einen Blick hinter sich zu werfen. Er hatte erwartet, Evan zu sehen, der wie ein begossener Pudel hinter ihm hertrottete.
Aber Fehlanzeige. Abgesehen von den knorrigen Bäumen, die aussahen wie eine dämonische Armee, die aus dem entweihten Untergrund gestiegen war.
Okidoki, wenigstens brauchte er sich wegen dieses Volltrottels keine Gedanken mehr zu machen.
Begleitet vom Lichtspektakel am Himmel und dem Grollen des Gewitters setzte er seinen Weg fort und schob zwischendurch Äste beiseite. Als einer davon zurückschnellte und ihn am Hintern erwischte, fragte er sich unwillkürlich, wie der Bastard auf die Idee gekommen war, ausgerechnet hier draußen, am Arsch der Welt, zu leben. Andererseits war »Nathaniel« – konnte man sich eigentlich einen noch dämlicheren Decknamen für die Arbeit auf der Straße verpassen? – auch sonst ein echt komischer Kauz. Laberte nicht viel. Mischte sich kaum unter Leute. Bemühte sich nicht um die richtig guten Jobs. Eigentlich hätte man meinen können, er dürfte kein Problem darstellen, aber sein Onkel mochte den Kerl einfach einen Tick zu gern, vor allem für einen Außenseiter. Natty beseitigte Leute, bekam die echten Jobs zugeteilt, nicht die Drecksarbeit wie das Hämmern an Türen, um das Kleingeld einzutreiben.
Mickey gab es nur ungern zu, aber dieser aalglatte Mistkerl brachte die Leute reihenweise um die Ecke und kam damit davon, kaum zu glauben. Zahlreiche Leichen der letzten sieben Jahre gingen auf sein Konto, und einige waren noch nicht mal gefunden worden, so viel stand fest. Der Großteil dieser Morde war in Caldwell geschehen, manche auch in New York City und Boston. Es ging sogar das Gerücht, Onkel hätte ihn runter nach Florida und Südamerika geschickt, aber dieser schräge Vogel hatte konsequent jeden Auftrag außerhalb der Stadt knallhart abgelehnt. Als hätte er kein Interesse am Expandieren, okay, klar, und ein weiterer Grund könnte sein, dass er die Caldie-Cops in der Tasche hatte. Nur deswegen hatte er Komplikationen in all der Zeit aus dem Weg gehen können.
Aber es steckte definitiv noch mehr dahinter. Mickey spürte deutlich, dass da was nicht mit rechten Dingen zuging, und er hatte es satt, sich darüber Gedanken zu machen. Höchste Zeit, dass er das Problem aus der Welt schaffte und vor seinem Onkel als der große Held dastand.
Auf der Lichtung vor ihm tauchte eine verwitterte alte Blockhütte auf, eine richtige Bruchbude. Das Dach war schief, einer der gemauerten Kamine war eingestürzt, und die herabhängenden Fensterläden mit Ausschnitten in Form von stilisierten Nadelbäumen ließen die Front aussehen wie das zerschlagene Gebiss eines MMA-Kämpfers der Kategorie Totalversager. Die Fenster waren mit Brettern verschlagen, in der flachen Zufahrt stand kein Auto, und der dazugehörige Schuppen etwas weiter hinten war in einem nicht viel besseren Zustand.
Wäre Mickey sich nicht hundertprozentig sicher gewesen, wäre er nie im Leben darauf gekommen, dass hier draußen jemand wohnen könnte, und ein Auftragskiller schon gleich dreimal nicht. Andererseits wusste sein Onkel es bei seinen Geschäftspartnern besonders zu schätzen, wenn sie unter dem Radar blieben.
»Aber das ist echt weitab vom Schuss«, murmelte Mickey. Sein Atem driftete in kleinen Wölkchen davon, als würde er eine E-Zigarette paffen.
Voll. Schräg.
Andererseits auch nichts, worüber er sich einen Kopf machen sollte. Momentan war Nathaniel bei seinem Onkel in der Stadt. Da war Mickey sich hundertpro sicher. Er selbst war nicht zu dem Treffen eingeladen, das jeden Donnerstagabend stattfand. Also würde er die Chance nutzen und in diese armselige Baracke einsteigen, darauf warten, dass der gute alte Natty nach Hause zurückkehrte, und dann, eine Kugel später, würde er den USB-Stick zu seinem Onkel bringen und den Beweis liefern, dass dieser Goldjunge doch nicht so golden gewesen war, und Mickey wäre der verdammte Held der Familie, der allerhöchsten Respekt verdiente.
Sein Körper blieb wie von allein stehen, da war keine bewusste Entscheidung mit im Spiel, jedes bisschen Überlebensinstinkt in ihm hatte angefangen zu brüllen.
Da war jemand hinter ihm.
Und es war nicht Evan.
Er gab sich Mühe, einen kühlen Kopf zu bewahren. Langsam schob er seine rechte Hand zu der Waffe, die im Holster unter seinem Parka steckte. »Ich dachte, du wärst ausgeflogen.«
Blitzschnell drehte er sich um und zückte die … Knarre … Tattoos. Der nackte Oberkörper, in dem allein mehr Muskelmasse steckte als in Mickeys komplettem Körper, war komplett davon bedeckt. Mit dem frisch geschorenen Schädel, einem Gesicht, bei dem die Ladys garantiert schwach wurden und ungefragt ihre Handynummern rausrückten, und der fünfzehn Zentimeter langen Narbe an der Schulter, von einem Amateur notdürftig zusammengeflickt, sah Nathaniel aus wie ein Sträfling, der lebenslänglich im Kittchen saß. Oder wie einer, den man zum Wohl der Allgemeinheit am besten hinter Stacheldraht wegsperrte.
»Wo sind deine Klamotten?«, nuschelte Mickey, den plötzlich heftige Kopfschmerzen befielen.
Ein weiterer Blitz entlud sich aus dem Gewitterhimmel, und hätte er es überlebt, hätte er den Anblick dieser Augen, die sich jetzt in seine bohrten, nie im Leben vergessen: Sie wirkten tot. Dahinter war nichts. Das Blau war so dunkel, dass ihm war, als blickte er in schwarzes Glas, und Mickeys eigenes, von Entsetzen gezeichnetes Gesicht spiegelte sich darin.
Im selben Moment wurde ihm klar, dass er hätte hören sollen. Nicht auf diesen Idioten Evan, sondern auf seinen eigenen Instinkt, in dem Moment, wo er aus der Karre gestiegen war, oben auf der Landstraße.
»Onkel schickt mich«, stammelte er, in dem kläglichen Versuch, eine Kurskorrektur vorzunehmen. »Er konnte dich telefonisch nicht erreichen. Deshalb schickt er mich. Sollen wir reingehen? Dann erkläre ich dir, worum es geht.«
Nathaniel senkte das Kinn und starrte ihn aus diesen bedrohlich funkelnden Augen unter finsteren Brauen hervor an, ein Warnsignal, das allein schon reichte, da brauchte es nicht extra noch eine bescheuerte Skimaske.
»Warum lügst du mich an, Mickey?«, ertönte die tiefe Stimme.
»Was? Nein, tu ich doch gar nicht.« Er blinzelte nervös und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. »Sorry, Kumpel. Ich nehme jetzt die Waffe runter. Hey, wir sind doch Familie, stimmt’s?«
»Ich hasse Lügner.«
»Schon klar, ich auch.«
Ein weiterer Blitz – halt, nein. Das war ein Auto, das die Straße entlangkam. Die Scheinwerfer ließen die mitternächtliche Schwärze taghell werden. Im grellen Licht wirkte die Hütte noch maroder. Als Mickey den Blick wieder auf den Lieblingskiller seines Onkels richtete, wischte etwas haarscharf an seinem Gesicht vorbei. Er zuckte zurück und wollte das Ding abwehren, das längst an ihm vorbeigesegelt war.
Das Gurgeln klang, als würde man bei einem altmodischen, benzinbetriebenen Fahrzeug die Ölwanne leeren, und er hatte keinen Schimmer, woher zum Henker das Geräusch kam. Bis er wieder Luft holen wollte.
Röchelnd ließ er die Pistole in den Schnee fallen, hielt sich beide Hände vorne an die Kehle und spürte etwas Warmes, Glitschiges und Dickflüssiges durch seine Finger rinnen, wie heiße Schokolade. »Wa…«
Nathaniel hob das Messer auf Höhe seiner Augen und betrachtete das leuchtend rote Blut auf dem glänzenden Edelstahl. Dann streckte er seine Zunge heraus, starrte Mickey über das eiskalte Funkeln hinweg unverwandt in die Augen … und leckte die Klinge ab.
Nein, nein, neinneinnein …
»Ach, sieh an. Schmeckt auch nach Lügner. Was hast du da in der Tasche, Mickey?«
Fassungslos taumelte Mickey nach hinten, plumpste aber nicht rücklings in den Schnee wie Evan vorhin, Evan, dieser vertrottelte Schwachkopf, der so viel schlauer gewesen war als er. Stattdessen wurde er unsanft an der Schulter gepackt, und dann standen sein Mörder und er sich Auge in Auge gegenüber. Ein jäher Schmerz flammte in seinen Eingeweiden auf und ließ ihn nach unten blicken. Völlig benommen fragte er sich, wie der Blitz es geschafft hatte, ihm mitten in den Bauch zu fahren. Aber es war kein Blitz gewesen. Eine Faust hatte sich in seinen Unterleib gerammt, und sein Parka bauschte sich um die Stelle, an der die Klinge eingedrungen war, die der Killer eben noch genüsslich abgeleckt hatte. Sie steckte bis zum Schaft in seinem Unterleib.
Das Gurgeln wurde heftiger, als er mit einem Mal Druck auf seiner Schulter verspürte; dann begann das Sägen: rein und raus, rein und raus, arbeitete sich die Klinge durch seine inneren Organe nach oben, hinauf zu seinem Brustbein. Mickey wollte schreien, aber weil seine Luftröhre durchtrennt war, konnte er nicht nach demjenigen rufen, der soeben vor der Hütte anhielt und aus dem Wagen stieg.
Helfen … Sie … mir … Mickey streckte die Hand nach der Person in der Dunkelheit aus, wobei Blut von seinem Handschuh in den unberührten Schnee tropfte. Hilfe …
»Nate!« Der Kerl aus dem Auto schlenderte jetzt auf die klapprige Haustür zu und hämmerte dagegen. »Alter, wo steckst du?«
Mickeys Sicht trübte sich, als hätte sich ein Schleier über sein Gesicht gelegt. Helfen Sie mir …
Er formte die Worte mit den Lippen, aber es kam kein Laut heraus. Er hatte keine Luft mehr in der Lunge, keine funktionierenden Stimmbänder mehr. Kein … gar nichts.
»Nate, wir sind spät dran«, schrie der Besucher an der Tür. »Komm schon, wir müssen los.«
Mickey Trix’ letzter Gedanke war, wie sehr er sich wünschte, er hätte kehrtgemacht, solange er noch die Gelegenheit dazu hatte.
Sein dämlicher Cousin hatte ausnahmsweise einmal goldrichtig gelegen, oder besser gesagt todrichtig.
Im unterirdischen Wohnkomplex der Bruderschaft der Black Dagger, auch genannt »The Wheel«, in einem Vorort von Caldwell, New York
Zsadist, Mitglied der Bruderschaft der Black Dagger, Sohn des Ahgony, vereinigt mit seiner geliebten Bella und Vater von Nalla, hasste diese beschissenen Smartphones. Er kam nicht klar mit den ewigen Benachrichtigungen, dauernd vibrierte, piepte oder klingelte es. Außerdem gaben die Scheißdinger ständig den Geist auf, und spätestens alle zwei Wochen musste man sie aufladen. Aber das Schlimmste war: Er war gezwungen, zu jeder Tages- und Nachtzeit eins bei sich zu tragen. Und er hasste nichts mehr, als irgendwas tun zu müssen, vor allem, weil diese lästigen Teile nichts als Ärger brachten.
Aber es gab noch einen Grund, warum er dieses Samsung so verabscheute. Als es jetzt den Eingang einer weiteren Textnachricht vermeldete, war er gerade dabei, sich das Holster mit den Dolchen an die Brust zu schnallen. Genervt klaubte er das Gerät aus dem Haufen seiner Waffen und fluchte beim Anblick der Fotos, die an sämtliche Mitglieder der Bruderschaft und die Kämpfer, die gemeinsam mit ihnen die nächtliche Gegend unsicher machten, geschickt worden waren.
Was er da sah, verhieß nichts Gutes. War ja klar.
Noch so ein Mordschauplatz mit Mörteleimern aus dem Baumarkt, ölig schwarzen Pfützen auf nacktem Beton, aber von einer Leiche keine Spur – weil jeder, der hier abgemurkst worden war, anschließend wieder zum Leben erweckt worden war und jetzt durch die beschissenen Straßen von Caldwell geisterte. Auf der Jagd nach Vampiren.
Er warf einen Blick auf seine gute alte Timex.
»Ich dachte, du hättest heute Nacht frei.«
Er sah von dem Arsenal an Schusswaffen auf dem Küchentresen auf. Drüben im Wohnbereich stand Bella, neben seinem Steinway-Flügel, in ihrem liebsten Morgenrock. Keine zarte Seide für seine Shellan. Nein, sie trug den Mantel aus Flanell, den sie ihm letztes Jahr geschenkt hatte, als sie alle zusammen das Weihnachtsfest gefeiert hatten wie die Menschen. Er selbst trug ihn so gut wie nie, aber nicht, weil er ihm nicht gefallen würde.
Nein, der Grund war, dass der schwarz-blau-grün karierte Blackwatch-Tartanstoff sehr viel Hübscheres zu verhüllen hatte als ihn.
Er zog seine Lederjacke vor der Brust zusammen und bereute es, dass er sich ausgerechnet hier im sicheren Umfeld seines Heims bewaffnet hatte. Es gefiel ihm nicht, seine Gefährtin in der Nähe seiner SIG Sauer zu sehen, in Gegenwart seiner Sprengsätze und der schweren Kette, die er sich um die Schultern hängte, wenn er in den Einsatz zog.
»Du siehst einfach hinreißend aus in diesem Bademantel«, sagte er, während er um den Küchentresen herumtrat und ihr mit seinem Körper die Sicht auf den Waffenberg versperrte.
Seine Shellan schob sich eine glänzende braune Haarsträhne aus dem Gesicht und fingerte an der Schleife auf Höhe ihrer Taille herum. »Der war ja eigentlich für dich gedacht.«
»Alles, was ich besitze, gehört auch dir.«
Bella lächelte, und ein warmer Ausdruck trat in ihre Züge. Für einen flüchtigen Moment dachte er zurück, ganz weit zurück an den Augenblick, als er sie das erste Mal gesehen hatte, im Fitnessraum des Trainingszentrums hoch oben auf dem Berg. Er war allein gewesen mit einem Boxsack und seinen inneren Dämonen. Sie war durch die Tür getreten und hatte die Welt zu ihm zurückgebracht.
Wobei … sie war seine Welt.
Selbst jetzt noch, nach all den Jahrzehnten, betrachtete er sich selbst als den glücklichsten Vampir auf diesem Planeten, trotz allem, was er im Alten Land durchgemacht hatte, trotz der Trigger, die ihn nach wie vor verfolgten, und trotz vieler Verluste, die er, ganz gleich, wie oft er es mit Mary durchkaute, niemals ganz abschütteln konnte.
»Warum siehst du mich so an?«, murmelte Bella.
»Du bist unvergesslich.«
Seine Gefährtin lachte. »Dann bräuchtest du mich doch eigentlich nicht so anzustarren.«
»Im Gegenteil, du wirst meinen Blick immer fesseln.«
Bella beugte sich zur Seite, um an ihm vorbeizuspähen. »Dein Handy klingelt.«
»Ach wirklich.«
Er schlich auf sie zu, wie ein Raubtier, das seiner Gefährtin, welche seinen Killerinstinkt mit nur einem Flüstern auszuschalten vermochte, blind folgte. Er strich ihr mit der Dolchhand sanft übers Haar und folgte einer Strähne abwärts zum Kragen, den sie hochgeschlagen hatte, um ihren Hals zu bedecken. Er schob den Flanellstoff mit dem Zeigefinger beiseite und inspizierte die Bisswunde an ihrer Halsschlagader.
Sofort spürte er, wie sich der vertraute Selbsthass gleich einem Pfeil in seine Lunge bohrte.
Sie küsste seine Handfläche und sandte eine Woge purer Lust in seine Lenden. »Mir geht’s bestens, und das weißt du.«
»Ich hätte etwas vorsichtiger sein sollen …«
»Dann wäre ich aber enttäuscht gewesen«, gab sie mit rauchiger Stimme zurück. »Du warst hungrig, und ich wollte dich spüren. Kein guter Zeitpunkt, um zimperlich zu sein.«
Von einem Wimpernschlag zum nächsten sah er sie wieder vor sich auf dem Bett liegen, die Spitzen ihrer Brüste rosig von seinem Mund, der sie gierig bearbeitet hatte, die Beine weit gespreizt, ihr Geschlecht geschwollen und glänzend. Er hatte hoch über ihr aufgeragt, seine Erregung in seiner Hand, die Fänge zur vollen Länge ausgefahren, sein Hunger so schneidend wie die schärfste Klinge. Und obwohl ihm schwindelig gewesen war vor Gier nach ihrem Blut, war er zunächst in sie hineingeglitten und hatte erst dann ihre Vene genommen. Er hatte nicht gewollt, dass sie auch nur das leichteste Zwicken verspürte.
»Dein Telefon …«
»… klingelt andauernd«, fiel er ihr ins Wort. »Der Krieg kann warten.«
Z folgte dem Mantelaufschlag abwärts bis zu der Schleife an ihrer Taille. Unter den Falten des Flanellstoffs, der sich rau anfühlte verglichen mit ihrer seidenweichen Haut, war seine Shellan splitterfasernackt, und mit jedem Atemzug nahm er seinen eigenen Bindungsduft an ihr wahr – was ja der Sinn und Zweck des Ganzen war. Er hatte sie vor langer Zeit als die Seine markiert, andere männliche Mitglieder seiner Spezies würden so auf Anhieb wissen, dass bereits jemand Anspruch auf sie erhob. Das hieß natürlich nicht, dass sie keine eigenständige Person war, mit ihren eigenen Entscheidungen und einem eigenen Leben. Es bedeutete nur, dass man ihr ja kein Haar krümmen durfte, sonst konnte man sich darauf gefasst machen, dass er sich mit bloßen Händen auf einen stürzte.
Ach, und auch wenn er sie erst vor zwanzig Minuten genommen hatte, schwoll sein Geschlecht hinter den Knöpfen seiner Jeans schon wieder an.
»Ich möchte noch einmal in dir sein«, sagte er leise. »Ich spüre es so gern, wenn du kommst.«
Er senkte den Kopf, und seine Oberlippe schälte sich von seinen Fängen zurück. Dabei verzog sich die Haut seiner Wangen und zupfte an der Narbe, die sich von der Stirn über Nasenrücken und Wange bis hinunter zu seiner Oberlippe zog. Doch obwohl ihm bewusst war, wie hässlich er war, obwohl er an Handgelenken und Hals mit den tätowierten Fesseln des Blutsklaven gezeichnet war, obwohl sein Rücken die unzähligen Narben von den Peitschenhieben seiner früheren Herrin trug, schaffte Bella es wie durch ein Wunder immer wieder aufs Neue, unter die Oberfläche zu blicken und zu sehen, was sonst niemand, nicht einmal sein eigener Bruder oder seine Tochter, sahen.
Seine Gefährtin hätte zu seinem Pyrokant werden können.
Stattdessen war sie seine Rettung. Sein Rahlman.
Mit einer graziösen Bewegung stellte sich Bella auf die Zehenspitzen und presste ihre Lippen auf seine. »Ich liebe deinen Geruch an mir. Wenn du nachher gehst, wirst du weiterhin bei mir sein …«
Wieder wurden sie vom Klingeln seines Handys unterbrochen, sodass er entnervt die Augen zukniff. »Verflucht, ich schwöre, wenn es sein muss bei Gott, irgendwann erdolche ich dieses verdammte Mistding.«
»Ich denke, du solltest besser rangehen.« Sie ließ sich zurück auf die Fußsohlen sinken und legte ihm die Hände sanft auf die Brust. »Du wirst gebraucht.«
»Musst du diesen Moment ruinieren?«
»Nein, aber ich will wissen, was los ist. Sie sind echt hartnäckig. Es scheint dringend zu sein.«
»Du und Nalla, ihr seid hier sicher.«
»Ja, und du und die Brüder, ihr seid ständig im Einsatz, und unsere Tochter verlässt das Haus unter der Woche jeden Abend, um zur Arbeit zu gehen. Du weißt, wie sehr ich mich um sie sorge, selbst wenn sie mich abgrundtief dafür verachtet – und von deinem Kampf gegen diese untoten Biester da draußen will ich gar nicht erst anfangen.«
Z drapierte den Kragen ihres Mantels wieder über der Bisswunde an ihrem Hals und zog den Stoff enger um ihre Brust.
»Sag schon was«, herrschte sie ihn an.
Er hasste diesen Krieg, noch mehr als diese beschissenen modernen Telefone. Andererseits hing das alles zusammen. Da mochten er und seine Gefährtin hier unten in ihrer Behausung, die sie mit ihrer Tochter teilten, noch so viel Privatsphäre haben, ständig musste man sich auf Störungen gefasst machen, und das selten aus erfreulichen Gründen. Immer waren da Tod und Schmerz und Schlachten und das Bewusstsein, dass er eines Nachts vielleicht nicht wieder heimkehren würde – eines Nachts würde dieses Bett, das sie teilten, vielleicht nur mehr ihres sein, während sein Duft noch an den Laken haftete und ihre Haut nichts weiter als der nachhallende Beweis wäre, dass er zwar mitnichten ein perfektes Leben geführt, sie aber dafür in Vollendung geliebt hatte. Und ihre gemeinsame Tochter wäre das Echo seiner Existenz, das sie abwechselnd in tiefes Unglück stürzen und ihr Ansporn sein würde.
Wraths Tod hatte die Illusion zerstört, dass man die Würfel endlos werfen konnte, und dreiunddreißig Jahre später befanden sie sich alle nach wie vor in einem Zustand der Trauer.
»Verbirg die Wahrheit nicht vor mir, Zsadist. Das ist nicht fair.«
Während er die verschiedenen Antwortmöglichkeiten abwog, beschloss er, in seinem nächsten Leben als Buchhalter zurückzukommen. Und wenn seine Gefährtin ihn dann nach seiner Arbeit fragte, würde er allerhöchstens zu berichten haben, dass sein Taschenrechner den Geist aufgegeben und wieder mal ein Kollege Fisch in der Mikrowelle des Pausenraums aufgewärmt habe.
»Es wurde ein weiterer Schauplatz einer Initiation entdeckt.« Lash, dieser verfluchte Wichser. Genau wie sein Vater dazu fähig, Menschen zu Dutzenden zu verwandeln. »Und diesmal scheint es was Größeres zu sein.«
»Wo?«
»In der Innenstadt. Also weit genug weg von unserem Zuhause oder vom Luchas-Haus. Keine Sorge, niemand kommt auch nur in die Nähe von Nallas Arbeitsplatz.«
Für die Länge eines Herzschlags schloss sie die Augen. »Mit wem gehst du?«
Mit niemandem. »Tohr trifft mich vor Ort.« Hoffentlich ist er schnell da. »Trotz der Trainingsschüler und der Soldaten sind wir derzeit unterbesetzt, ich muss also da raus.«
»Du passt doch auf dich auf, ja?«
»Logo.« Er küsste sie auf die Stirn, drückte seine Lippen auf die Stelle direkt unterhalb des leicht versetzten Scheitels, an dem sich ihr dunkles Haar teilte. »Ich bin vor Einbruch der Dämmerung zurück.«
Sie sah ihm fest in die Augen, blickte tief in ihn hinein, als wollte sie die Zukunft darin lesen. Oder sie vielleicht sogar beeinflussen. »Der Krieg tritt in eine neue heiße Phase ein. Und ich …«
Es war nicht schwer, ihre Gedanken zu erraten. »Nalla passiert schon nichts. Versprochen.«
»Auch wenn sie da draußen unterwegs ist, allein in der Nacht?«
Mit einem tiefen, bedrohlichen Knurren in der Stimme schwor er seiner Gefährtin: »Ich werde alles und jeden vernichten, der ihr wehtut. Oder dir. Daran darfst du keine Sekunde zweifeln.«
Während er seine Shellan an seine Brust zog, spürte er den Schauder, der ihren Körper durchlief, gerade als sein Handy abermals zu klingeln begann. Lassiter helfe ihm, aber am liebsten wollte er vor lauter Frust schreien. Eine Nacht. Alles, was er wollte, war eine Nacht ohne die Gräueltaten, mit denen er seine Spezies schützte.
»Ich versuche, mit Nalla zu reden, aber sie wird nicht auf mich hören«, sagte seine Shellan an seiner muskulösen Brust. »Ich habe das Gefühl, sie kann mich momentan nicht ausstehen.«
Dann wären wir schon zwei, dachte er.
Er löste sich von ihr, und der Anblick ihrer feuchten Augen war kaum zu ertragen, die Furcht unter ihrer mühsam aufrechterhaltenen Fassade unschwer zu erkennen, ihre Traurigkeit wie ein grauer Schleier, der ihr wunderschönes Gesicht verhüllte.
»Ich setze mich mit ihr zusammen«, versprach er. »Wäre nicht das erste Mal.«
»Sie ist bei Tante Beth …«
Er bleckte die Fänge und fixierte fauchend das Telefon. Dann kehrte er ihr den Rücken zu und ging darauf zu. »Verdammter Mist.«
Er schob eine seiner beiden Selbstlader beiseite, griff nach dem blöden Ding und wischte über das Display. »Was?«
»Du wirst mir schon verraten müssen, warum du halbnackt draußen rumhüpfst.«
Während Shuli seinen Kumpel konfrontierte, ließ er den Blick über die Innenausstattung des nagelneuen Tesla schweifen. Der Typ, der da stocksteif auf dem Beifahrersitz hockte, sah aus, als hätte man ihn bei lebendigem Leib gehäutet und ausgestopft wie ein Tier, bevor man ihn perfekt präpariert dort festgegurtet hatte. Aber immerhin, der Kerl atmete noch.
Ja, okay, zumindest war er sich so gut wie sicher, dass Nate atmete.
»Na, was ist? Immerhin hockst du in meiner Karre. Wann war eigentlich das letzte Mal, dass wir zusammen aus waren?«
Wobei, wenn er daran dachte, was für ein Heidenspaß die Fahrt von da draußen in der Pampa zurück in die Stadt gewesen war? Da fragte man sich schon, wieso es ihn überhaupt noch interessierte.
Als er wieder nur gegen eine Mauer des Schweigens prallte und er das kantige Gesicht von dem Vollpfosten, der früher mal sein bester Freund gewesen war, lediglich im Profil zu sehen bekam, konzentrierte Shuli sich wieder auf die drei Fahrspuren des Northway, der sich vor ihnen erstreckte. Es herrschte kaum Verkehr, und die Autopilot-Funktion des Wagens kam spielend leicht mit den anderen Verkehrsteilnehmern klar, in erster Linie Sattelzüge, die von den kanadischen Hafenstädten kommend runter nach New York City unterwegs waren.
»Ich bin nicht ganz sicher, ob es dir wirklich guttut, dass du so mutterseelenallein da draußen in diesem Drecksloch wohnst. Du wirst noch zu einem richtigen Einsiedler.«
Wieder warf er einen Seitenblick zum Beifahrersitz und erinnerte sich an die Zeiten, als sein Freund noch nicht mit kahl rasiertem Schädel rumgelaufen war. Es sah nicht schlecht aus, das nicht. Vermutlich könnte höchstens eine Papiertüte über diesem Gesicht, das gleichzeitig grausam und gut aussehend war, etwas daran ändern, dass er optisch eine astreine zehn von zehn war. Zu schade, dass seine zweifelhafte Persönlichkeit den guten Gesamteindruck vermasselte.
»Ich tue der Öffentlichkeit damit einen Gefallen.«
Ach, sieh an. Es kann reden, schoss es Shuli durch den Kopf.
»Als würde dich die Öffentlichkeit einen Scheißdreck kümmern.«
Nate zuckte gelangweilt mit den Achseln, sodass sich seine gewaltigen Schultern unter dem Sicherheitsgurt bewegten. »Ich behaupte ja auch nicht, dass mich die Allgemeinheit interessiert. Ist eine reine Feststellung von Tatsachen.«
Lassiter sei Dank tauchten jetzt die ersten Ausfahrten, die in die Innenstadt von Caldwell führten, vor ihnen auf, Shuli war sich nur unsicher, welche er nehmen sollte. Die ersten paar mündeten in eine Reihe von Einbahnstraßen, aber er hatte kein gesteigertes Interesse daran, über eine Strecke von zwei Meilen gegen die Ampeln an den Querstraßen anzukämpfen. Die nächsten führten mitten hinein ins Finanzviertel. Das Bathe, ein Nachtclub und ihr eigentliches Ziel, lag unten auf der Sechzehnten, jenseits des Dickichts aus Wolkenkratzern …
Scheiß drauf. Shuli schaltete den Autopiloten aus und riss das Lenkrad rüber. Den Blinker zu setzen, hätte ihn nur unnötig abgelenkt. Abgelenkt von dem beharrlichen Schweigen.
Warum vergeudete er seine kostbare Zeit mit diesem Scheiß?
Als die Ampel am Ende der Abfahrtsrampe auf Rot umsprang, trommelte er mit den Fingern auf der Innenverkleidung unterhalb des Seitenfensters herum und wünschte, er könnte einfach weiter mit über hundert Sachen dahinpreschen.
»Wenn ich dich so tierisch nerve«, bemerkte Nate, »warum hast du mich dann nicht einfach stehen lassen, wo du mich aufgegabelt hast?«
»Hast du auch nur den Hauch einer Ahnung, was heute für ein Tag ist?«
»Es ist Donnerstag. Wir haben beide frei …«
»Es ist mein beschissener Geburtstag, Mann.«
Shuli dachte nicht daran, zu dem Mistkerl hinüberzusehen, weil er genau wusste, dass er sich noch beschissener fühlen würde, wenn er wieder keine Reaktion bekäme. Und das war ganz und gar nicht das Geburtstagsgeschenk, das er sich erhoffte. Eine gute Flasche Wein? Einen Blowjob – nicht von Nate natürlich. Ein bisschen Kuchen und Koks? Spitzensache.
Aber dieser Bullshit hier? Nein danke.
»Du warst lange Zeit mein bester Freund.« Oder wohl eher vor langer Zeit, korrigierte er sich gedanklich. »An Geburtstagen geht man gemeinsam aus. Alle deine Kumpel kommen vorbei, und dann lässt man sich volllaufen. Geschenke und Luftballons sind ein netter Bonus, aber kein Muss. Wichtig ist, dass man zusammen Spaß hat.«
Die Ampel schaltete auf Grün, und als er aufs Gaspedal trat, beschleunigte das Fahrzeug ruhig und gleichmäßig. Die Scheinwerfer erhellten die zweispurige Fahrbahn vor ihnen. Zwei Blocks weiter bog er auf eine vierspurige Straße ab. Genau wie auf dem Highway herrschte kaum Verkehr, nur vereinzelt reihten sich Autos ein, die aus angrenzenden Parkgaragen ausfuhren. Der Großteil der Fahrzeuge ritt mit ihm auf der gleichbleibend mit rund fünfzig Kilometern pro Stunde vorwärtsrollenden Welle dahin, zwischen gläsernen Speeren hindurch, die sechzig Stockwerke hoch in den Himmel stachen. Die Gehsteige waren menschenleer, wegen der Kälte und weil es fast Mitternacht war.
Ein einsamer Fußgänger auf der linken Straßenseite erregte seine Aufmerksamkeit, aber nicht, weil er allein unterwegs war. Die Gestalt war von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, und es war nicht so sehr seine imposante Größe, sondern vielmehr sein Gang, mit gesenktem Kopf, die Schultern nach vorne gezogen, jeder Schritt wie ein gewaltiger Schlag durch den Beton hinein ins Zentrum der Erde: Ein Raubtier auf Beutezug, kein Mensch, der einen gemütlichen Spaziergang machte.
Als Shuli das vernarbte Gesicht im Scheinwerferlicht erkannte, runzelte er die Stirn. Es war Zsadist, Mitglied der Bruderschaft der Black Dagger.
Ein Kämpfer an vorderster Front, der so viel mehr war als nur einer der Soldaten dieses Krieges, nicht einer von vielen wie Nate und Shuli. Das Trainingsprogramm der Bruderschaft war ja ganz prima und alles. Die Trainees bekamen allerhand Praktisches beigebracht, wie man einen Schuss gezielt absetzte zum Beispiel, wie man kraftvoll mit dem Dolch zustach sowie die Grundlagen zu Bomben, Giften und den Basic-IT-Shit. Aber alles das war, trotz laufender Weiterbildung und Leistungsüberprüfung, kein Ersatz für das Blut, das in den Venen von Vampiren seinesgleichen floss.
Okay, nicht zu vergessen die Persönlichkeitsstörung des Bruders. Neben ihm wirkte Nate wie ein braver Gameshow-Moderator. Es gab Gerüchte darüber, wie Z gewesen war, bevor er sich gebunden und seine Tochter Nalla bekommen hatte: Er hatte zum Spaß Prostituierte ermordet, ohne Unterschied Vampire wie Lesser abgeschlachtet, am äußersten Rand der Gesellschaft gelebt, wie von der Kette gelassen, um eine alte Redewendung zu bemühen. Sicher, jeder der Brüder trug Dunkelheit in sich – Rhage hatte seinen Drachen mit der Pica-Essstörung, und da war Vishous mit seinem grellen Blendwerk, das einen wie ein eisiger Speer durchbohrte, und auch mit Butch wollte man sich echt nicht anlegen. Trotzdem hatte Shuli sich in Gegenwart von Zsadist immer am ehesten in die Hosen gemacht.
Der Vampir hatte etwas Lauerndes an sich, vermittelte einem das Gefühl, leichte Beute zu sein, obwohl man doch im selben Team spielte.
Bei diesem Gedanken ließ Shuli den Blick zu den Händen seines Beifahrers wandern. Sie ruhten auf den Oberschenkeln, die langgliedrigen Finger gespreizt, als wollten sie einen Basketball greifen. Oder jemandes Kopf, bevor Nate ihn demjenigen von der Wirbelsäule riss wie eine Löwenzahnblüte vom Stängel. Und unter den Nägeln? Blut, das, dem in der Luft hängenden Kupfergeruch nach zu schließen, noch nicht mal vollständig getrocknet war.
Vorhin, als er vor der baufälligen Hütte stand und auf Nate wartete, war der gerade dabei, sich die Hände an einem riesigen Badehandtuch abzuwischen, als er endlich um die Ecke gebogen kam. Der Wind hatte an den Falten des Frotteestoffs gezerrt, im grellen Schein der Blitze. Und Shuli hatte deutlich die antibakterielle Seife gerochen, unterlegt vom Duft frischen Blutes.
Da es von einem Menschen stammte, glaubte er nicht das Recht zu haben, seine Nase in Nates Angelegenheit zu stecken. Außerdem musste er an die Gerüchte denken, die ihm zu Ohren gekommen waren, von wegen, Nate gehe einer kleinen Nebenbeschäftigung nach, in der Unterwelt von Caldwell. Eine kleine Gedächtnisauffrischung, dass Vampire mit diesen schwanzlosen Ratten eigentlich nichts am Hut haben sollten, hätte der Mistkerl garantiert nicht gut aufgenommen.
Also hatte Shuli einen Witz gerissen, von wegen fließendes Wasser im Freien, mitten im Winter bei Minusgraden, haha. Nate hatte keine Miene verzogen. Aber mal ehrlich, der ging doch zum Lachen eh in den Keller.
Shuli dachte daran, wie er dem Kerl zum ersten Mal begegnet war. Sie hatten beide auf der Baustelle des Luchas-Hauses gearbeitet, um es für die ersten Bewohner bezugsfertig zu machen. Nate hatte seine Transition eben erst hinter sich gebracht und war so ernst wie ein gottverdammter Pfadfinder. Jetzt dagegen? War er ein stahlhartes Muskelpaket, jeder Zentimeter seines Körpers mit schillernden Tattoos bedeckt, und lächeln sehen hatte man ihn das letzte Mal, als KI noch als technologische Zukunftsmusik galt und man ausschließlich mit Papiergeld bezahlte.
Es hatte eine Zeit gegeben, da hätte Shuli den Vampir alles fragen können – und es gab nur einen Grund, warum jetzt alles anders war.
»Himmelarsch, Nate. Jetzt ist’s aber mal genug.«
»Mit dieser Spritztour? Ja, und ob. Das ist vermutlich das Einzige, worin wir beide uns heute Abend einig sind …«
Shuli rammte den Fuß aufs Bremspedal. Während ihm die anderen Verkehrsteilnehmer schlingernd auswichen und wütend auf die Hupe hauten, hielt er das Lenkrad krampfhaft umklammert und starrte über die Motorhaube stur geradeaus. »Es reicht.«
»Ich dachte, du stehst auf die Karre.«
»Raus mit dir, sofort.« Er entsperrte die Türverriegelung und funkelte den Kerl von der Seite an. »Ich habe die Schnauze gestrichen voll von dem Bullshit, von wegen, ich bin ja so einsam und allein, buhuhu. Ich will dir mal was sagen: Rahvyn kommt nicht zu dir zurück. Sie hat sich vor dreißig beschissenen Jahren vereinigt, okay? Und sie war so oder so nie die Deine. Also werd endlich erwachsen und vergiss die Geschichte.«
Die Veränderung im Blick des anderen Vampirs hielt nur den Bruchteil einer Sekunde an, aber der tiefe Hass, der ihm aus den Augen seines ehemals besten Freundes entgegenblitzte, entging ihm keineswegs. Die Erkenntnis versetzte ihm einen tiefen Stich.
Zugegeben, sie waren schon seit langer Zeit keine Freunde mehr. Heilige Scheiße, ausgerechnet er warf dem Typen vor, er sollte irgendwas vergessen? Da fasste er sich wohl besser an die eigene Nase.
Es war bescheuert, aber Shuli war tatsächlich zutiefst geknickt. Mit rauer Stimme presste er hervor: »Du hast doch völlig den Verstand verloren, Mann. Und ich habe es satt, dich immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen.«
Das Innere des Wagens wurde erhellt von blinkendem Blaulicht, das die scharfen Konturen von Nates Gesicht hervorhob. Er war mager, weil er sich weigerte, sich von etwas anderem zu ernähren als von diesem künstlichen Zeug, das seine menschliche Adoptivmutter in ihrem Labor entwickelt hatte – und vielleicht auch, weil er jedes Zugeständnis an irgendeine Form von Weichheit kategorisch ablehnte.
Wahrscheinlich kackte er mit Stacheldraht umwickelte Ziegelsteine in die Kloschüssel, nur aus Prinzip.
»Na prima«, murmelte Shuli mit einem besorgten Blick in den Rückspiegel.
»Du warst es doch, der unbedingt mitten auf der Fahrbahn anhalten musste.«
»Fick dich.«
Im Seitenspiegel sah er den Cop-Bot an der Karosserie des Tesla entlangschlendern. Es war offensichtlich eins der neueren Modelle, die mit Animatronic-Gesicht. Shuli wusste nicht annähernd genug über Robotik, um auch nur zu erahnen, welche Art von Technologie erforderlich war, um diese Art von Gesichtsausdruck auf Plastikhaut zu zaubern, die einen Metallschädel umhüllte, ohne dass es bedrohlich wirkte. Aber eins stand fest: Er vermisste die gute alte Zeit, als die Streifenbeamten noch Hirne hatten, die man nach Lust und Laune manipulieren konnte.
Er ließ das Seitenfenster herunterfahren. »’Tschuldigung, Officer, aber meinem Auto ist der Saft ausgegangen. Läuft aber wieder.«
»Seid gegrüßt. Ich bin Officer 9017 von der Polizeidienststelle Caldwell. Dürfte ich bitte Ihre …«
»Das Fahrzeug hatte eine Fehlfunktion.« Shuli deutete auf den Monitor. »Aber der Systemfehler hat sich gerade von selbst behoben, ich mach dann also besser mal, dass ich weiterkomme …«
»Ihren Führerschein und die Fahrzeugpapiere, bitte.«
Obwohl es erst Januar und eiskalt war, trug das Ding eine marineblaue, jahreszeitenunabhängige Uniform, mit langärmeligem Hemd, aber ohne Jacke. Neuerdings setzte man diesen Mistdingern sogar Perücken auf, unter der Kappe mit dem CPD-Logo lugte ein Kranz schwarzer Locken hervor.
»Ich sag doch, Officer, alles gut. Ich mach mich vom Acker.«
»Ich wurde programmiert, Sie daran zu erinnern, dass nach dem Zivilgesetzbuch, Abschnitt eins vier neun fünf, Paragrafen eins und zwei, sämtliche Verkehrsteilnehmer im Stadtgebiet von Caldwell angehalten sind …«
Die Pistole schob sich plötzlich von rechts in sein Blickfeld – und die Mündung zeigte direkt auf seine Brust.
»Was zum Henker tust du?«, raunte er Nate zu.
Als sich ihre Blicke trafen, stockte ihm kurz der Atem. Im starren Blick des Kerls auf seinem Beifahrersitz war nichts mehr von seinem früheren Freund zu erkennen. Jetzt bewegte sich die Pistolenmündung ein paar Millimeter nach rechts, und eine Kugel jagte haarscharf an seinem Brustbein vorbei und bohrte sich in den Cop-Bot, den es komplett umnietete.
»Verfluchte Scheiße, Alter, nicht dein Ernst, oder?«, stieß Shuli wütend hervor.
Als die Sirene am Streifenwagen augenblicklich zu jaulen begann, drückte Shuli panisch aufs Gaspedal, und der Tesla heizte mit Lichtgeschwindigkeit auf die nächste Kreuzung zu. Er jagte über die rote Ampel weiter Richtung Süden und legte ein riskantes Ausweichmanöver hin, zwischen den von Ost nach West kreuzenden Fahrzeugen hindurch. Mit beispielhaftem Fahrschüler-in-Todesangst-Griff riss er das Lenkrad hart nach links, dann noch härter nach rechts, dann etwas weniger stark nach links, und wieder volle Pulle nach rechts …
Da dämmerte ihm, dass er, weil Nate ja immer noch wie ein beschissener Ölgötze auf seinem Beifahrersitz saß, das Problem quasi mitnahm.
Das war sein letzter Gedanke, bevor er seinen Schlingerkurs einen Tick zu stark korrigierte, den Bordstein erfasste und sich mit seiner Mistkarre überschlug.
»Nein. Ganz klar nein. Ich meine, echt jetzt?«
Nalla, Blutstochter von Bruder Zsadist, Sohn des Ahgony, war eigentlich gegen derart kategorische Zurückweisungen, erst recht bei jemandem wie ihrer besten Freundin. Aber sie war zu müde zum Streiten. Ihr Blick wanderte zum Spiegel über dem Waschbecken. Mit dem Handballen wischte sie über das beschlagene Glas. Es war nicht einfach gewesen, sich unbemerkt ins Haus zu schleichen, ohne ihrer Mahmen über den Weg zu laufen. Aber was blieb ihr anderes übrig? Besser so, als einen von den üblichen krampfigen Wortwechseln ertragen zu müssen.
Die sonst so optimistische Bitty, Adoptivtochter von Bruder Rhage, ließ den Kopf hängen. Sie saß auf dem ungemachten Bett, gegen das gepolsterte Kopfteil gelehnt, ihr Vintage- Sweatshirt mit der Eiswerbung und die ausgewaschene Jeans im kleidungstechnischen Widerspruch zu ihrem Vorschlag.
»Aber könnte doch spaßig werden«, maulte sie.
Ja, logo. Wenn sie jemand anderes wären. Oder woanders hingingen. Mit anderen Leuten.
Nalla zog das Duschhandtuch, in das sie sich gehüllt hatte, fester um ihren Körper. Dann drehte sie sich vom Waschbecken weg und spähte stirnrunzelnd durch die offen stehende Tür zum Bett. »Sag mal, hast du dir die Haare gefärbt?«
»Oh, äh, ja, habe ich.« Bitty löste ihren Haargummi und strubbelte durch ihre Mähne. Die rötlichen Strähnen, die sich durch die ansonsten dunklen Wellen zogen, glänzten in Kupfer und Pink. »Nur ein paar Highlights. Sabine hat sie mir gemacht. Wie findest du’s?«
Der schüchterne Stolz auf dem herzförmigen Gesicht der Vampirin erinnerte Nalla daran, dass sie doch recht unterschiedlich waren. »Ich finde es superschön«, gab sie mit sanfter Stimme zurück. Aber so wäre ihre Antwort selbst dann ausgefallen, wenn die Haarverschönerungsaktion der komplette Reinfall gewesen wäre.
Was nicht der Fall war, aber Bitty hatte das Färben gar nicht nötig. Sie hatte dichte schwarze Haare und ein Gesicht, das kein Make-up brauchte, und war noch dazu mit einem natürlichen Glow gesegnet, der so viel mehr wert war als dieser ganze Glamour-Scheiß, mit dem die Pick-me-Babes und Luxustussis sich ihre Gesichter zukleisterten.
»Willst du deshalb heute Abend unbedingt ausgehen?« Nalla griff sich die Bürste und fing an, ihre nassen Haare zu bearbeiten. »Es gibt Locations, die sind tausendmal reizvoller als das Bathe.«
Explodierende Chemiefabriken. Feuerspuckende Vulkane.
Die Warteschlange vor der Führerscheinvergabestelle.
Bitty fasste ihre Locken im Nacken zusammen und fixierte sie wieder mit dem Gummiband. »Aber komischerweise rennen alle nur in diesen Club.«
»Wenn du mich fragst, ist die Tatsache, dass der Laden bei gewissen Leuten so angesagt ist, nicht unbedingt die beste Werbung.«
Bitty senkte den Blick auf ihr Handy. »Ich verstehe nicht, was du gegen sie hast. Wir kennen sie schon unser ganzes Leben lang.«
Ja, schon, aber wir haben es uns nicht ausgesucht, wollte sie am liebsten kontern. Zugegeben, als Nachwuchs der anderen Brüder und Kämpfer gehörten diese Schnösel zur Familie. Aber jeder Film aus der Menschenwelt, in dem es um Weihnachten ging, bewies doch, dass, nur weil jemand zur eigenen Ursprungsgeschichte dazugehörte, das nicht automatisch hieß, dass man ihn sich als Protagonisten im eigenen Märchenepilog wünschte.
»Wie wäre es, wenn wir uns einfach irgendwo zusammen einen Kaffee gönnen?«, machte Nalla den Gegenvorschlag. »Oder wir könnten ins Kino gehen. Spiderman 15 ist gerade angelaufen.«
Ihre Freundin schüttelte lustlos den Kopf und hielt ihr das Handydisplay hin. »Wir müssen uns mehr Mühe geben. So steht es in den Grundlagen der Selbstfindung. Suche den Kontakt zur Welt um dich herum.«
»Du hörst doch nicht immer noch auf das, was diese Influencerin sagt«, entgegnete Nalla zähneknirschend.
»Influencerin? Sie ist ausgebildeter Life Coach, und ich habe schon sehr viel von ihr gelernt. Sie ist nicht nur so ein dämliches Instagram-Model. Ihr Programm zur Selbstoptimierung ist echt gut.«
Auf dem winzigen Display des Samsung schlenderte gerade eine Frau über eine in violettes Licht getauchte Bühne, ein Mikro an die blutroten Lippen gehoben, die freie Hand wild gestikulierend, als müsste sie einen abfahrenden Bus aufhalten. Der Ton war auf lautlos gestellt, aber man konnte sich die dazugehörige Botschaft auch so gut zusammenreimen: Liebe dich selbst. Für 199 Dollar im Monat kriegst du meinen Onlinekurs. Dann wirst du dich gleich noch viel mehr lieben. Und für 599 im Monat bekommst du ein persönliches Coaching von mir. Wenn du dich selbst aber so richtig doll liebst, lade ich dich zu einer dreitägigen Konferenz ein. Das kostet dich nur schlappe 1 999 Dollar.
Life Coach, Pustekuchen, dachte Nalla.
Bei der Vorstellung, wie diese Menschentrulla im Prada-Kostüm vor einer Horde Leute mit miesem Selbstbewusstsein hin und her stöckelte, schrill ins Mikro plärrte und mentale Gymnastikübungen für die Hirnwindungen zu Kohle machte, kam ihr das kalte Grausen. Und dass ausgerechnet Bitty auf diesen Bockmist hereinfiel, war einfach lächerlich. Die Vampirin hatte das sanfte Gemüt einer Heiligen, gepaart mit dem scharfen Verstand eines Militärstrategen. Es gab nichts, was sie von dieser quacksalbernden Schnepfe in Stilettos hätte lernen können.
»Dir würden ihre Tipps auch nicht schaden, Nalla.«
»Wie bitte?«