Die Geschichte von Uljana - Sofia Andruchowytsch - E-Book

Die Geschichte von Uljana E-Book

Sofia Andruchowytsch

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Beschreibung

Ein Jahrhundert ukrainischer Geschichte, fesselnd erzählt – Band 2 gehört Uljana und ihrer verbotenen Liebe zu einem Juden im Nationalsozialismus. Mit der "Geschichte von Uljana", dem zweiten Band des Amadoka-Epos, entführt uns Sofia Andruchowytsch in die 1930er-Jahre, in das galizische Städtchen Butschatsch mit seiner multiethnischen Bevölkerung. Zwischen dem ukrainischen Mädchen Uljana und dem jüdischen Jungen Pinkhas wächst eine ungestüme, jedoch heimliche Liebe. Mit der nationalsozialistischen Besatzung 1941 beginnen die Deportationen der jüdischen Bevölkerung. Uljanas Vater versucht unter Lebensgefahr zu helfen, manche im Ort allerdings beteiligen sich aktiv am Morden, und wieder andere schlagen sich auf die Seite der anrückenden Sowjets. Zu Kriegsende jedoch zieht sich eine Schlinge aus Geheimnis, Verrat und Gewalt unerbittlich zu – und weder Uljanas Liebe noch ihre Familie werden ihrem grausamen Schicksal entgehen …

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Seitenzahl: 496

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Sofia Andruchowytsch

DIEGESCHICHTEVONULJANA

Amadoka-Epos 2

Aus dem Ukrainischen übersetzt vonAlexander Kratochvil und Maria Weissenböck

Unser besonderer Dank gilt dem Ukrainian Book Institute, das diese Übersetzung trotz und der schwierigen Bedingungen großzügig unterstützt hat.

Die Arbeit der Übersetzer*innen wurde im Rahmen des Programms »Neustart Kultur« aus den Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

© 2023 Residenz Verlag GmbH

Salzburg – Wien

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

www.residenzverlag.com

Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.

Keine unerlaubte Vervielfältigung!

Umschlaggestaltung: Boutiquebrutal.com

Typografische Gestaltung, Satz: Lanz, Wien

Lektorat: Jessica Beer

ISBN ePub:

978 3 7017 4696 5

ISBN Printausgabe:

978 3 7017 1764 4

Inhalt

Fotografie: Eine alte Frau blickt ins Objektiv.

Fotografie: Schwestern im Garten

Fotografie: Stillleben, Rainfarn in einem Dreiliterglas

Fotografie: Stadtpanorama durch einen Vorhang aus Wolken

Fotografie: Die Kirche Mariä Schutz und Fürbitte im Winter

Fotografie: Abschnitt der Schkilna-Straße

Fotografie: Der Nahirnja-Tunnel von innen

Fotografie: Ein schwarzer Kasten

Fotografie: Die Kopie einer Landkarte in einem altenNotizbuch: Polonia et Hungaria Nuova Tabula, Girolamo Ruscelli/Venice (1560)

Fotografie: Durch Weidenzweige sieht man, wie die Wolken sich in der Strypa spiegeln

Fotografie: Die Augen einer alten Frau

Fotografie: Familienfest

Fotografie: Die Spitze einer alten Mazewa aus weißem Stein, überwuchert von Moos, fast vollständig im Boden versunken

Fotografie: Hochzeitsfoto von Zena und Wasyl Frasuljak

Fotografie: Ein Sarg auf einem Tisch inmitten von Kränzen mit Spruchbändern und Lilien vor einem mit schwarzem Tuch verhängten Fenster

Fotografie: Walderdbeeren

Fotografie: Verschüttete Sauermilch auf dem Küchenboden

Fotografie: Schlüssel an einem Nagel bei der Eingangstür

Fotografie: Eine hohe Steinmauer, von Weinreben bewachsen, ein paar alte Männer in der linken Ecke

Fotografie: Ein Pfarrer weiht mit bestickten Tüchern bedeckte Osterkörbe, die in einer Reihe auf dem Boden stehen. Dahinter zahlreiche Menschen.

Postkarte: Ein Seehafen aus Vogelflugperspektive

Fotografie: Ein Geschäft, ein Holzregal mit vielen gleichen Brotlaiben, geduldig wartende Menschen, ihre Rücken und Hinterköpfe

Fotografie: Ein Blasorchester auf einer muschelförmigen Bühne im Park

Fotografie: Selbstporträt der vierzehnjährigen Chrystja, ihr Spiegelbild in einem Fenster des Hauses, hinter ihr Hof, Zaun und Stachelbeersträucher

Fotografie: Schwarze Äste, ein Krähennest über dem Ziegeldach, fliegende, im Wind tanzende Federn

Fotografie: Schwarzer Apollofalter

Fotografie: Ein knochiger, finsterer Mann, sein Gesicht liegt zur Hälfte im Schatten.

Fotografie: Schwalbe über der Strömung der Strypa

Fotografie: Leerer Platz neben dem zerstörten Springbrunnen gegenüber der nicht mehr existierenden Synagoge

Fotografie: Kuhaugen

Fotografie: Kirche Mariä Himmelfahrt

Fotografie: Drei Eier, eine Zwiebel, eine Scheibe Brot, ein paar Kartoffeln

Fotografie: Eine Krypta mit zerbrochenen Glasfenstern, Steinvasen, Girlanden aus Plastikblumen in einem Haufen Müll

Fotografie: Bibliotheksregale in einem beengten Büchermagazin in den Räumlichkeiten des ehemaligen österreichisch-ungarischen Starosten des Bezirks

Fotografie: Eine Reihe von weiblichen Hinterköpfen in einem Friseursalon, Pelerinen, Spiegel, Föhne

Fotografie: Uljana trägt einen Krankenschwesternkittel. Sie schiebt eine Krankentrage auf Rädern durch einen dunklen, engen, gekachelten Korridor und winkt gereizt dem Fotografen zu; die von unten nach oben winkende Hand ist unscharf und verwackelt.

Fotografie: Marktstand mit Plastikschüsseln, Eimern und Haushaltswaren

Fotografie: Herbstlaubverbrennung im Garten

Fotografie: Blühende Misteln an schwarzen Ästen abgestorbener Bäume, die ein zerstörtes Haus umgeben

Fotografie: Ein Spielzeugwagen mit einer Puppe vor einem Blechzaun, hinter dem eine üppige englische Kletterrose hervorlugt

Fotografie: Ein offener, leerer Schrank mit Kleiderbügeln und Spiegeln an den Innenseiten der Türen, in denen man das verschwommene Bild einer Gestalt sieht, die sich einen Fotoapparat neben das Gesicht hält

Fotografie: Zwei Männergestalten gehen langsam in Richtung Pidhajezka-Straße. Sie haben einander die Arme um die Schultern gelegt.

Fotografie: Eine junge Frau im Morgenmantel lackiert sich die Nägel; sie sitzt auf einem Hocker vor einem Haus mit Holzbalkonen.

Fotografie: Ein Picknick im Frühlingswald, auf einer ausgebreiteten Decke sieht man eine Thermosflasche, Brötchen und Eier, rundherum stehen und sitzen lachende Frauen und Männer und blicken ins Objektiv.

Fotografie: Ein Junge hockt neben Pilzen, die er im Dickicht gefunden hat.

Fotografie: Eine Frau mit Kopftuch späht hinter ihren Tüllvorhängen hervor, Kalanchoe-Stängel verdecken ihr ängstliches, misstrauisches Gesicht.

Fotografie: Ein zusammengerollter Igel, den jemand mit einem Stock umzudrehen versucht

Fotografie: Regen

Fotografie: In der Mitte eines dunklen, unaufgeräumten Zimmers steht eine Schüssel mit Seifenwasser, in der sich anscheinend eine menschliche Gestalt spiegelt.

Fotografie: Ein Schaufenster mit Puppen in Spitzenunterwäsche und Strümpfen

Fotografie: In einem Lesesaal sitzen Besucher an den Tischen, im Hintergrund Bücherregale.

Fotografie: Ein streunender Hund rollt sich auf den Rücken, damit man seinen Bauch krault.

Fotografie: Zwei junge Frauen im Gespräch sitzen auf flachen Steinen am Fluss, im Hintergrund sieht man eine Brücke.

Fotografie: Ein Baby wird in einer Plastikwanne gebadet.

Fotografie: Bettlaken hängen an einer Wäscheleine, die zwischen Bäumen im Garten gespannt ist.

Fotografie: Eine Frau kniet vor der Ikonostase in der Kirche des Hl. Mykola.

Fotografie: Eine Frau füttert Hühner und einen Hahn.

Fotografie: Das Baby, das auf einem der vorherigen Fotografien beim Baden in der Wanne zu sehen ist, wird gewickelt.

Fotografie: Morgengrauen über der Stadt, Blick von einer Anhöhe

Fotografie: Eine Frau in Schwarz sitzt wartend auf einer Bank an einer Bushaltestelle.

Fotografie: Ein Holzpferd mit Mähne und Schweif aus echtem Rosshaar; das Pferd ist mit goldenem Plüsch bezogen.

Fotografie: Nische mit der Statue des Heiligen Onufrij unterhalb der Terrasse vor der Klosterkirche

Fotografie: Drei junge Frauen in feierlicher Kleidung, die sich ähnlich sehen, lächeln ins Objektiv, sie umarmen einander.

Fotografie: Ein mit Tannennadeln bedeckter Ameisenhaufen

Fotografie: Festtagstisch mit Salaten, Hering, Brötchen mit Sprotten und Zitronenscheiben

Fotografie: Ruinen der Wehrkirche von der Verklärung des Herrn in der Ansiedlung Monastyrok beim Dorf Schysnomyr, rundherum Wald

Fotografie: Eine alte Frau mit Brille ist über einem Gebetbuch eingedöst, das sie fest in den Händen hält; ihre Handgelenke sind von Narben übersät.

Fotografie: Karpfen in einer kleinen Schüssel mit Wasser; neben der Schüssel kauert ein Junge, der die Fische beobachtet.

Fotografie: Ein Sonnenblumenfeld

Fotografie: Der Junge, der den Fisch betrachtet hat, nimmt einen Ameisenhaufen auseinander.

Fotografie: Kinder, die mit Schulranzen und Chrysanthemen in der Hand in die Schule gehen, ein Junge hält die Blumen unbeholfen wie einen Besen und berührt damit den Boden.

Fotografie: Drei Mädchen stehen auf dem Balkon eines Hauses auf dem Marktplatz, eines von ihnen hält einen schweren, vorsintflutlichen Fotoapparat vor ihr Gesicht.

Fotografie: Frauen haben vor dem Einkaufszentrum, das am Platz der früheren Synagoge steht, Bärlauchblätter auf Zeitungen zum Verkauf aufgelegt.

Fotografie: Ein Junge fährt Schlitten von einer Anhöhe herab, seine Kleidung ist voller Schnee, die Wangen glühen im Frost.

Fotografie: Zwei sich ähnlich sehende Frauen mittleren Alters (wahrscheinlich zwei Schwestern) reinigen mit Schnee und einem Besen Teppiche im Garten.

Fotografie: Eine Frau mittleren Alters arrangiert in der Stadtbibliothek die rote Ecke für Kinder und Jugendliche.

Fotografie: Gekneteter Teig mit Fingerabdrücken, der auf einem Mehl bestäubten Brett liegt

Fotografie: Überbelichtet

Fotografie: Eine Frau fädelt einen Faden ein, eine andere wischt ihre Brille ab.

Fotografie: Ein Wolfsmaul, das ein Kaninchen zerreißt

Fotografie: Dunkelheit

Fotografie: Eine alte Frau blickt ins Objektiv.

Sieh sie dir nur an, was für ein vorsintflutliches Wesen sie ist. Sehr alte Menschen geraten irgendwann in einen Zustand, in dem sie bei anderen ein ähnliches Gefühl von Schwäche und Rührung hervorrufen wie Neugeborene. Schau dir ihre Augen an, hier kannst du sie sehen. Du hast gesagt, dass sie früher grünbraun waren. Selbst auf den Fotos, die vor zwanzig Jahren gemacht wurden, sieht man, dass ihre Augen noch dunkel sind. Aber auf diesem letzten, auf dem großen Porträtfoto, sind sie schon ausgeblichen: Die Iris hat fast das trübe Weiß der Hornhaut angenommen, nur die punktförmige Pupille in der Mitte, umgeben vom Blut geplatzter Äderchen, ist dunkel geblieben. Doch obwohl ihre Augen tief in den Hautfalten versunken sind, eingeschlagen in welliges Gewebe wie in ein Krautblatt, ist ihr Ausdruck erstaunlich stark: so absolut hilflos, wie man ihn nur bei einem Menschen erwartet, dessen Boot von einer starken Strömung auf einen Wasserfall zugetrieben wird, und gleichzeitig voller Ironie.

Ein ironisches Lächeln schwebt wie der Heilige Geist über allem, es verdeckt die Bitte um Vergebung, die Scham, die Furcht eines in die Enge getriebenen Tieres und die Verwunderung: über alle Dinge ihres langen, bis ins biblische Alter andauernden Lebens. Alle Körperfunktionen waren aus dem Ruder gelaufen, die Gewebe vertrockneten und begannen bereits zu verwesen, das schwach glimmende Lebensflämmchen war kaum mehr als ein Missverständnis.

Dieses ironische Lächeln war ihr letzter Kraftakt. Wie konnte es dazu kommen, es ist unglaublich, wer hätte gedacht, dass sie überleben würde, und noch dazu so lange, dass sie noch immer hier ist? Wie lächerlich: Seht euch ihre Zehen an, die Nägel völlig vom Pilz zerfressen, kein Körper mehr, sondern ein verlassenes Wespennest. Kein Unterschied zwischen Einschlafen und Aufwachen, zwischen Wachzustand und Schlaf – ein einziges Dahindämmern, Trübheit, Schwäche, Schläfrigkeit, Schmerz, Kribbeln, knackende Knorpel. Das gibt es doch nicht: Salz mit Streichhölzern verwechseln, Wasser mit Wind, ihren Körper mit dem Kissen. Es wäre gut, sich die Ursachen allen Leids ins Gedächtnis zu rufen, all ihre Schuld, die sie einst daran gehindert hat, normal zu atmen. Zumindest für einen Moment an die eigene schwere Schuld zu denken, was wäre das für ein Trost.

Stattdessen die Stunden erschöpfend wie ein langer Marsch durch die Wüste. Halb liegend, der Körper mit Decke und Kissen verwachsen, in die Matratze eingesunken. Sie lauscht, wie mit einem dumpfen Zischen die letzte Feuchtigkeit aus ihren Gehirnzellen verdampft, wie sie eine nach der anderen absterben. Wie Froschlaich auf ausgetrocknetem Boden, wo im Frühling noch grüner Sumpf war.

Ha ha.

Die Augen verwandeln sich in zwei schmale Schlitze, das Gesicht schlägt Falten wie ein Lederhandschuh, das unschuldige rosa Zahnfleisch wird sichtbar. Sieh sie dir auf diesem Bild an: Ist sie nicht wie ein kleines Mädchen, das man eben aus dem Badewasser gehoben hat? Ein pummeliges Kindchen, das lacht, weil es sich gerade wohlfühlt oder irgendetwas es kitzelt. Die zwei dünnen, weißen Zöpfe unterhalb der gewaltigen, fleischigen Ohren. Die riesige Nase, deren Spitze fast bis zum Kinn reicht. Hat sie selbst noch eine Ahnung, warum sie lacht? Weiß sie überhaupt noch, wer sie ist?

Du hast gesagt, dass sie kurz vor ihrem Tod keine allzu große Belastung mehr war. Ihr musstet täglich nur eine Abfolge einfacher Rituale beachten, etwas zwischen der Pflege eines Säuglings, eines kranken Pferdes und einer Topfpflanze. Doch im Unterschied zu diesen konnte sie erzählen, und man musste ihr zuhören. Wie sie Salz mit Streichhölzern vertauschte, Wasser mit Wind, ihren Körper mit dem Kissen, wie sie die eigene schwerste Schuld nicht erinnern konnte, nicht begriff, warum sie lachte, und nicht wusste, wer sie war.

Aber du hast gesagt, dass die letzte Zeit einfacher war als alle anderen Zeiten – für sie selbst und für die anderen. Sonst hätte sie bestimmt nicht gelächelt wie auf diesem Foto. Hätte nicht lauthals gelacht, weil sie der Verdacht beschlich, dass sie wieder alles auf der Welt verwechselt hatte. Du sagtest, dass du sie früher nie lächeln gesehen hast.

Mit dem Vergessen kam das Lächeln. Als sie vergaß, konnte sie sich zunehmend entspannen, die Anspannung viele Jahrzehnte trat als Schweiß aus ihren Poren. Von irgendwo waren plötzlich Sanftheit und Milde gekommen. Du hättest nie Sanftheit in dieser Frau vermutet.

Wenn ich jetzt dieses faltige Mädchen mit den zwei dünnen, weißen Zöpfen unter den großen Ohrläppchen betrachte, kann ich mir einfach nicht vorstellen, dass all deine Erzählungen über sie wahr sind.

Du hast gesagt, dass sich in der Tiefe ihrer Augen manchmal ein Schatten der Angst bewegte, als zöge ein großer Fisch in einem Teich vorbei. Sie versuchte, nach ihm zu greifen, ihr Gesicht verzog sich vor Schmerz. Sie versuchte, zurückzukehren. Aber da war kein Schatten mehr, der Sonnenstrahl fiel in klares Wasser.

Vielleicht war es die beste Zeit ihres Lebens. Vielleicht hatte das Vergessen sie glücklich gemacht, sie von ihrer Last befreit. Von dir kann man das allerdings nicht behaupten. Du hast dein Gedächtnis verloren, aber die Last ist geblieben. Bei jedem ist es anders.

Was meinst du, Bohdan, wenn sie ihren Verstand nicht verloren hätte, wenn sie hätte entscheiden können, hätte sie dann ihre Last weiter getragen? Ja? Das hast du auch früher gemeint, siehst du, du hast dich nicht verändert.

Mir gefällt, wie sie hier ins Objektiv schaut. Als sähe sie etwas Bekanntes, als hätte sie jemanden erkannt, auf den sie schon so lange gewartet hatte.

Fotografie: Schwestern im Garten

Kennst du das Gefühl, wenn du Alben mit sehr alten Fotos durchblätterst, die unscharf, verschwommen und ausgeblichen sind, mit braunen Flecken, die vor vielen Jahren irgendwie daraufgeraten sind und dich nun daran hindern, den Gesichtsausdruck und die Züge auszumachen, die Person zu erkennen – es ist ein Gefühl, als befändest du dich auf einem vernachlässigten Friedhof.

Hast du bemerkt, dass die Leute auf den alten Fotos nicht lächeln? Sieh nur, wie sie ins Objektiv blicken: ernst, würdig, als erfüllten sie eine überaus wichtige Mission, finster und beleidigt, als würden sie zu etwas Unsinnigem gezwungen, ins Lächerliche gezogen, an der Nase herumgeführt, zu Idioten gemacht. Siehst du die nervösen, ängstlichen Gesichter, die weit aufgerissenen Augen, siehst du ihre zusammengezogenen Augenbrauen, das Misstrauen in ihren Blicken, siehst du die vor Überraschung weit offenen Münder oder aber die zusammengebissenen Zähne, diese Anspannung, die eingezogenen Hälse, diese erstarrten, unnatürlichen Posen, in denen man so lange ausharren musste, bis der ganze Körper taub wurde?

Die Posen und Gesichtsausdrücke zeugen davon, dass die Menschen früher, wenn sie sich fotografieren ließen, ein anderes Ziel, einen anderen Gedanken verfolgten als wir heute. Etwas Gewichtiges, ja, sogar Schweres führte sie zu den großen, schwarzen Apparaten auf Stativen. Der Prozess des Fotografierens war langwierig und feierlich, man bereitete sich darauf vor, man plante und durchdachte ihn. Man fürchtete, die Prozedur könnte Folgen haben, sie würde den Menschen verdammen oder Unheil über ihn bringen, man könnte dadurch etwas Wichtiges verlieren oder das dunkle Glasauge könnte einen Teil der eigenen Seele einsaugen. Das Posieren für Fotos barg ein großes Risiko: Wenn du dich darauf einlässt, rechne mit Folgen. Sei dir im Klaren, dass du deinen Frieden einbüßen könntest, dass deine Gedanken offengelegt werden könnten, dass du an einer unbekannten Krankheit erkranken, dass dein Leben sich ändern und du dich selbst erkennen könntest.

Es war keine allen zugängliche, beiläufige, unwichtige, schnelle und leichtfertige Angelegenheit. Doch zugleich war sie oberflächlich und leichtfertig, denn allein der Wunsch, das eigene Abbild zu vervielfältigen, hatte etwas Beschämendes, Liederliches, etwas allzu Freizügiges. Das Eingestehen der Liebe zu sich selbst, die heimliche Überzeugung, dass der Fotografierte dessen würdig war, dass man ihn betrachtete und bewunderte, dass man sich an ihn erinnerte. Indem man diese Überzeugung preisgab, riskierte man, sich lächerlich zu machen. Als verwundbarer Idiot dazustehen, der weiß Gott was von sich hielt. Daher kamen auch die beunruhigten Blicke, das Misstrauen, die finsteren Gesichter.

Außerdem weißt du selbst, Bohdan, dass es damals keine tausenden und abertausenden Fotos geben konnte, von denen man den Großteil sofort und für immer löscht, um nur das Eine, das Schönste zu behalten. Das Ergebnis beinhaltete immer etwas Schicksalhaftes, Vorbestimmtes: Man wählte nicht aus Varianten, entschied sich nicht für die Maske, die man für geeignet hielt, den anderen gezeigt zu werden. Man erhielt eine der raren Abbildungen seiner selbst, eine Diagnose, unerbittlich, endgültig, nicht zu korrigieren.

Bei alten Fotos ist ihre Existenz zugleich ihre Essenz. Der Tropfen verfestigten Harzes, fast Bernstein.

Die linke Hälfte des Fotos ist beinahe schwarz, die rechte zu stark belichtet. Sieh nur, zwischen den Füßen erkennt man wirre Grasbüschel, Kleeblätter, Wegerich, sogar Walderdbeeren. Hinten ist eine Wand aus Flieder. Trotz der schlechten Qualität und der Fehler beim Entwickeln sieht man den wächsernen Glanz der Blätter.

Das Mädchen in der Mitte sitzt auf einem Hocker. Sie hat langes, helles Haar, glatt und glänzend. Einige Strähnen liegen wie ein Kranz um ihren Kopf und werden von Haarnadeln am Hinterkopf fixiert. Ja, wir sehen die tatsächlichen Farbtöne nicht, das Bild ist klein und unscharf, aber ihr Aussehen lässt vermuten, dass sie Sommersprossen hat. Ihre Augen sind zusammengekniffen, ihr Kinn ist spitz, das Gesicht schmal, ähnlich wie das eines Fuchses. Das Mädchen ist ernst, aber bestimmt siehst auch du das neckische Feuer in ihren dunklen Augen. Sie trägt ein einfaches, schwarzes Kleid mit hohem Kragen. Oder ist es ein Rock mit Bluse? Oder eine Schuluniform? Auf dem Foto ist es nicht auszumachen.

Was hat sie da um den Hals, einen runden Anhänger an einer kurzen Kette?

Sie trägt weiße, bis über die Waden reichende Stutzen und Riemchenschuhe: weder schwarz noch weiß, mehr kann man nicht sagen.

Irgendetwas ist mit ihrer Wange. Schau, ein dunkler Fleck. Schmutz wird es nicht sein. Und wohl auch kein Schatten. Ein blauer Fleck? Die Spuren eines Schlags?

Die zwei Mädchen, die rechts und links leicht hinter ihr stehen, tragen auch weiße Stutzen und Riemchenschuhe. Beide haben einen Pagenkopf und lockiges Haar. Die drei Mädchen sind unterschiedlich alt: die mittlere und die jüngste stehen, die älteste sitzt. Die zwei stehenden tragen bestickte Hemden und Schürzen mit kleinen Blumen auf schwarzem Grund. Die mittlere Schwester hat sehr rote Lippen und rote Wangen. Sie ist ernst. Sie hält einen Blumenstrauß. Die jüngste ist konzentriert und neugierig, sie hat Angst, etwas zu versäumen. Ihre Augen sind ein wenig verquollen, als hätte sie vor kurzem bitterlich geweint. Die Mädchen sind elf, sieben und vier Jahre alt.

Die älteste Schwester stellt das Zentrum des Fotos dar. Man erkennt es an ihrem herausfordernden, sturen Blick. Daran, dass sie in der Mitte sitzt. Schwarz gekleidet ist.

Auf der Rückseite steht in gestochen scharfen Ziffern: 1932.

Fotografie: Stillleben, Rainfarn in einem Dreiliterglas

Das ist das letzte. Das letzte, auf dem man ihren Körper sieht. Was meinst du, wieso fotografiert man Tote? Wieso hebt man diese Fotos auf, in einem Stapel von Fotos, die Säuglinge, Familienfeste und Szenen des täglichen Lebens zeigen? Um den Menschen so in Erinnerung zu behalten? Um nicht zu vergessen, dass er wirklich gestorben ist, in einen Sarg gelegt wurde, seine Hände auf der Brust überkreuzt wurden, sein Kiefer mit einer Schnur zusammengebunden wurde? Dass dieser Mensch nicht spurlos verschwunden ist, sich in Luft aufgelöst hat, nein, dass mit ihm die einfachste Sache der Welt passiert ist: Seine Zeit ist abgelaufen, seine Tage sind zu Ende gegangen, und seine Liebsten haben alles entsprechend arrangiert, sich um seine Überreste gekümmert, sie an den dafür vorgesehenen, verborgenen Ort gebettet.

Was meinst du? Gibt uns das ein Gefühl von Ordnung? Beruhigt es? Und was beruhigt mehr: Das Foto eines sorglosen Säuglings mit speckigen Hautfalten, der das gesamte Chaos der Welt, unzählige Entdeckungen und die gnadenlose Erkenntnis der Ausweglosigkeit des Lebens noch vor sich hat? Oder das Foto vom Ende, vom Sarg mit dem Leichnam auf einem Tisch in der Mitte des Raums, wenn klar ist, dass es schlimmer nicht werden kann, dass der Faden der Geschichte abgerissen ist, dass das Chaos keine Früchte mehr tragen und sich nicht mehr vermehren wird, dass seine Quelle versiegt ist.

Denkst du wirklich, Bohdan, dass nach dem Tod eines Menschen das Durcheinander seines Lebens erschöpft ist, dass dessen Griff sich mit einem Mal lockert und dann erstarrt? Denkst du, die Geschichte reißt für immer ab? Vielleicht ist es umgekehrt? Vielleicht liegt genau darin die wahre Unsterblichkeit? Vielleicht pulsieren die Motive des Verstorbenen und die Folgen seiner Taten in jenen der Lebenden weiter, können nicht verstummen?

Deine Großmutter hatte einen schwierigen Charakter. Wobei, wer hat schon einen einfachen Charakter? Wenn, dann vielleicht ich.

Selbst du, Bohdan, auch ohne zu wissen, wer du bist, selbst ohne Gedächtnis bleibst du der Enkel deiner Großmutter. Das ist einer der wenigen Züge, die dir geblieben sind, die ich an dir erkenne. Hartnäckig Fragen nicht zu beantworten, nicht auf meine Worte zu reagieren, durch mich hindurchzuschauen, als wäre ich Luft. Sich an jedem Wort festzubeißen. Alles ins Lächerliche zu ziehen, selbst wenn es um die wichtigsten Dinge geht. Nicht zu sagen, was du wirklich denkst. Und dann, wenn man es am wenigsten erwartet, die ungemütliche Wahrheit zu verkünden und von Liebe und Ehrlichkeit zu sprechen. Kalt und emotionslos zu sein, auf ein Lächeln nicht zu reagieren, mich nicht zu umarmen, wenn ich weine. Jeder meiner Aussagen zu widersprechen, den alleinigen Anspruch auf die Wahrheit zu erheben. Mich mit Ignoranz zu strafen, nie die Kontrolle über die Situation zu verlieren. Nach einer Phase der Nähe ohne Vorwarnung auf Distanz zu gehen. Meine Entscheidung, alles auf mich zu nehmen, als gegeben zu sehen: Schuld, Schwäche, Zärtlichkeit. Ich könnte noch viel mehr aufzählen. Ich kenne dich doch.

Manchmal, wenn ich zu zweifeln beginne, ob du es wirklich bist, wenn mich der Gedanke quält, ob ich nicht einen Fremden aufgelesen habe, wenn ich die Form deiner Augen und deiner Nase nicht mehr erkenne, deine Schuh- und genaue Körpergröße vergesse, retten mich nur die kleinen Besonderheiten deines verdammten Charakters. Ich habe sogar den Eindruck, dass sich dein Geruch und deine Stimme ein wenig verändert haben. Aber deine Übellaunigkeit ist dieselbe geblieben. Früher dachte ich, sie würde uns entzweien. Nun verbindet sie uns. Denn oft erkenne ich dich allein an ihr.

Über deine Eltern kann ich dir nur wenig erzählen, außer dass sie in deiner Kindheit selten an deiner Seite waren, denn dein Vater ist plastischer Chirurg und deine Mutter Musiklehrerin und Sängerin. Dafür weiß ich viel über deine Großmutter und ihre Schwestern.

Hier sieht man einen Teil des Zimmers deiner Kindheit. Das Haus steht auf einem Hang, inmitten von Apfelbäumen, Pflaumenbäumen, Kirschbäumen und Flieder. Die Obstgärten erstrecken sich bis an den Fuß des Hügels, da und dort umgeben sie die Häuser, nachts sieht man einzelne trübe Lampen zwischen den Zweigen hervorleuchten. Direkt hinter dem Haus führt die Torhowa-Straße vorbei, der Hügel heißt Torhowyzja. Die Straße kommt vom Busbahnhof, sie wölbt sich den Hügel hinauf, führt auf der rechten Seite am jüdischen Friedhof vorbei. Die weißen Mazewas inmitten des wuchernden Grüns haben sich in verschiedene Richtungen geneigt, wie schief stehende Zähne. Der Straßenrand ist mit weißen Steinen ausgelegt, mit Bruchstücken von Grabplatten. Sie waren von Leuten hierhergebracht worden, die sie im Fundament ihrer Häuser oder auf Wegen gefunden hatten. Dorthin waren die jüdischen Grabsteine während der deutschen Besatzung geraten.

Der Friedhof zieht sich über eine weite Strecke entlang der Straße und tief in die Vegetation hinein. Wo er zu Ende ist, tauchen die ersten Wohnhäuser mit Obst- und Gemüsegärten auf. Dort steht auch das Haus deiner Großmutter.

Von dem Fenster, das auf dem Foto wegen des Begräbnisses schwarz verhängt ist, hat man einen schönen Blick auf die Dächer der Stadt, die Türme und Ruinen des Schlosses. Man überblickt beinahe das ganze Städtchen, das in einer gemütlichen Senke zwischen sanften Hügeln liegt. Ihre langgestreckten Rücken gehen in Felder über, die sich unter dem geblähten Schirm des Himmels weit in die Ferne hinziehen. In der Stadt ist alles dichter: Turmspitzen, Türme, schiefe Ebenen, die sich eine über die andere legen, mittelalterliche Steine und sowjetischer Beton, Kopfsteinpflaster, löchriger Asphalt, ein Markt mit Buden aus Gipskarton am Platz der zerstörten Synagoge und der Jeschiwa, eine Kirche, in deren Keller ein paar Hundert Leichen gefunden wurden, mit Kalk bestreut und einzementiert, der mäandernde Fluss zwischen dem Weidengehölz, die Türme des Klosters auf dem Berg, die elegante Silhouette des halb zerstörten, ständig eingerüsteten Rathauses.

Die Gässchen liegen übereinander an den Hängen, eine über der anderen, auf verschiedenen Ebenen geschichtet, in steilen Winkeln. In deinem Städtchen kann man in einem Augenblick hunderte Ereignisse zugleich beobachten, man muss nur einen günstigen Aussichtsspunkt finden. Wenn du die Stadt von Großmutters Haus aus betrachtet hast, erinnerte sie dich an den Querschnitt eines Ameisenhaufens.

Als Kind hast du am liebsten Ameisenhaufen erforscht. Vorsichtig hast du ein Segment entfernt, du hattest dir mit der Zeit dafür Werkzeuge zugelegt, die du immer bei dir getragen hast: eine gute Schaufel, ein Küchenmesser mit breiter Klinge, ein paar angespitzte Stöcke unterschiedlicher Stärke. Du hast alles in ein altes Geschirrtuch mit Waffelmuster eingeschlagen, es mit der Schnur, die von einem Bündel dünner Kirchenkerzen aus gelbem Wachs stammte, zusammengebunden und das Päckchen in deinem Schulranzen aufbewahrt.

Im Dickicht des jüdischen Friedhofs wölbten sich viele stattliche Ameisenhaufen. Du konntest dich mit deinen Ausgrabungen beschäftigen, ohne dich allzu weit von zu Hause zu entfernen, wie zum Beispiel zu den Ruinen des Schlosses auf dem Berg Fedir. Dort gab es auch Ameisenhaufen, aber der Boden war nicht so nachgiebig, oft hart, von Lehm und Wurzeln verdichtet; diese Expeditionen dauerten viele Stunden und nährten den großmütterlichen Zorn.

Wenn du besonders viel Glück hattest, ging das Messer so leicht durch den Ameisenhaufen, als wäre er ein großer Honigkuchen. Das schmale, längs abgetrennte Stück legte sich zur Seite wie auf einen Festtagsteller. Und deinem Blick eröffnete sich das geheime Königreich der Ameisen.

In deinem Bauch wurde es wohlig warm. Du hast dich hinuntergebeugt und deine Beobachtungen begonnen: Trotz der Panik und des erhöhten Tempos bewegten sich die Insekten geordnet und zielstrebig. Die meisten schalteten augenblicklich vom Alltagsmodus in einen an die außergewöhnliche Situation angepassten Reaktionsmodus um: Kolonnen von Arbeiterinnen strömten durch die schmalen Gänge, eilten zu den Kammern mit Eiern und Larven, die entgegenkommenden Ameisenkolonnen schleppten den Nachwuchs ins Freie. Soldatinnen mit glänzenden Bäuchen umringten ihre langbeinige Königin – ihr majestätisches, zeugendes Ungetüm – von allen Seiten, geleiteten sie durch spezielle Gänge und drängten dabei das einfache Fußvolk unbarmherzig zur Seite. Ein Teil der Ameisen rettete die Nahrungsreserven: Stücke anderer Insekten, Samen und Körner. In den Seen, die sich durch die Zerstörung plötzlich in den unteren Höhlen gebildet hatten, ließen andere Ameisen demütig ihr Leben, zuckten dabei schwach mit den dünnen Beinchen und streckten sich noch nach ein paar halbersoffenen Eiern. Ein anderer Teil der Arbeiterinnen verschloss systematisch Durchgänge, während ein wiederum anderer Trupp begann, einen neuen Tunnel zu graben. Tausendmal liefen sie ein und denselben Abschnitt entlang, trugen Sandkörnchen um Sandkörnchen von da nach dort. Vor deinen Augen füllte sich allmählich die Höhle in der Form und Größe eines kleinen Fingers, bis sie nur noch an der anderen Farbe und Beschaffenheit des Erdreichs zu erkennen war.

Du hast dabei alles andere vergessen. Die Großmutter hatte recht, wenn sie dir später den Hintern versohlte. Wenn du endlich auf dem Weg zurück zum Haus der Großmutter warst, verkrampften sich vor Angst deine Arme und Beine, du bekamst schreckliche Bauchschmerzen und in deinen Ohren rauschte es. Du hast den kürzesten Weg zum Torhowyzja-Hügel genommen, bist durch fremde Gärten gegangen, hast dabei Hundegebell ausgelöst, dich in Erbsen- und Weinranken verfangen und den Geruch von deinem eigenen Kinderschweiß, deiner eigenen Angst wahrgenommen.

Du bist ins Haus gegangen, und der rotgestrichene Holzboden knarrte tückisch. Die Großmutter saß wie immer auf ihrem königlichen Platz: auf dem an die Wand geschobenen Doppelbett mit lackiertem Kopfteil, auf einer Pyramide aus bestickten Kissen mit Fransen, die andere Leute nur zur Zierde besaßen, allein deine Großmutter pfiff auf die Gepflogenheiten und saß mit dem Hintern darauf wie eine Königin. An der Wand hinter ihrem Rücken hing ein Wandteppich in Rottönen, den sie selbst mit kleinen Nägeln befestigt hatte. Wenn du nicht einschlafen konntest, hast du mit den Nägeln gewackelt, bis die Löcher, in denen sie steckten, immer größer wurden und der intensiv riechende Putz von der Wand bröckelte. Du hast an der Wandseite geschlafen, die Großmutter am Rand.

Als sie dein Vergehen entdeckte, bekamst du wieder eine Portion Erziehung ab. Du bist sehr langsam von der Tür bis zu ihr gegangen. In dem Moment konntest du nicht mehr an den Genuss denken, den dir das Sezieren des Ameisenhaufens verschafft hatte. Das düstere, irgendwie schmutzige Licht der schwachen Glühbirne, das zusätzlich von den staubigen Lampenschirmen gedämpft wurde, intensivierte die Schatten und verzerrte die Formen. In eurem Haus waren die Decken hoch, die Wände dick und von Rissen durchzogen. Bei jedem Schritt vibrierte der gedrungene Eichenschrank mit der Glasvitrine, in der Geschirrteile aus verschiedenen Zeiten klirrten: ungarische Fayence-Teller mit Goldrand, eine Suppenschüssel und eine Sauciere aus Porzellan, auf deren Boden deutlich ein kleiner schwarzer Adler über einem Hakenkreuz zu erkennen war, versilberte polnische Messer, Löffel und Gabeln und deine geliebten Löffelchen mit gebogenem Stiel und rundem Bauch, braun vom Alter, dunkelblaue tschechische Kaffeetassen und ein Sektglas in der Farbe von rotem Traubensaft, eine Teekanne aus Neusilber, eine Tasse aus Kupfer, eine goldene Gabel mit zwei Zinken, ein paar Löffel und ein Becher mit eingravierten hebräischen Buchstaben, Gläser, eine Weinkaraffe aus der Glasfabrik Lilijen in Schowkwa und Schälchen aus Bereschany, sowjetisches Neusilber mit einem Emblem in Form einer Ente, Speise- und Dessertteller mit Sauerkirschen und olympischen Bären darauf, außerdem ein Tontopf und tiefe Keramikteller. Du hattest den Eindruck, als würden die rankenden Triebe der Topfpflanze dich gleich berühren, sich um deinen Hals und deine Brust schlingen, dich zu erwürgen versuchen. Du wusstest, dass dort, hinter der anderen Tür, die niemals geöffnet wurde und ins Zimmer der Schwestern deiner Großmutter führte (aus Gewohnheit nanntest du auch die beiden »Baba«), zwei alte Frauen saßen und auf jedes Geräusch, jedes Klirren und Knarren, lauschten. Du hattest den nicht ganz ausgereiften Verdacht, dass diese vergilbten Wesen mit den fleckigen Gesichtern sich an deiner Angst labten, und an allem, was mit dir in diesem Zimmer geschah.

Und dann noch der Rainfarn. Hat er tatsächlich das ganze Jahr über auf dem Tisch gestanden? Dieser üppige Strauß mit ockerfarbenen Blümchen und dem trockenen, herb-sandigen Aroma? Du gehst also an dem Tisch vorbei, auf dem dieser Strauß in einem gewöhnlichen Dreiliterglas steht. Das Wasser – dunkelgrün, dickflüssig und mit Schleimklumpen – war lange nicht gewechselt worden und verströmte Leichengeruch.

Leichengeruch hatte dir stets große Angst eingejagt. Selbst als du schon erwachsen warst, fürchtetest du den Moment, wenn du ihn an jemandem wahrnehmen müsstest, den du dein Leben lang gekannt hattest. Du hattest Angst, du würdest ihn nicht ertragen und dein Ekel würde für andere offensichtlich werden. »Er trauert ja garnicht, er leidet ja nicht einmal! Seht nur, er ekelt sich!«

Als die Großmutter starb, als sie mit dem seltsamen Pfeifen eines Luftballons das letzte bisschen Luft aus sich herausließ, nahmst du jedoch nichts wahr, das dem Geruch des fauligen Blumenwassers ähnelte. Wenn da überhaupt irgendein Geruch war, dann erinnerte er eher an vertrocknete Rainfarnblüten und ungereinigtes Wachs mit einer Note von Schwefel, Ammoniak und noch etwas Undefinierbarem. Sie hatte vielleicht Glück, denn sie ging so fließend von einem Zustand in den anderen über, dass sie es offensichtlich selbst nicht bemerkte.

Man kann es aber auch anders sehen. Kann der Meinung sein, dass sie in den letzten Jahren gar nicht mehr wirklich gelebt hatte: Beinahe alle Feuchtigkeit war aus ihrem Körper gewichen, sie war krumm und schrumpelig geworden, ihr Gehirn hatte sich in einen schwarzen Walnusskern verwandelt. Als sie aufhörte, sich selbst zu erkennen, als sie still und hilflos wurde, als sie aufhörte, unerträglich zu sein, etwa zu jener Zeit war sie unbemerkt gestorben.

Aber das Begräbnis fand erst statt, als ihre steife, faltige Hand mit den krummen Fingern in deiner Hand erstarrt war.

Sieh nur, auf dem Tisch, wo zuvor das Glas mit dem Rainfarn gestanden hatte, steht nun ein solider Sarg. Du wusstest nicht mehr, was mit dem Glas geschehen war. Hatte deine Mutter es weggeworfen, hatten die Schwestern deiner Großmutter es woanders hingestellt? Damals drängten sich so viele Menschen in dem alten Haus auf dem Torhowyzja-Hügel – dem Haus mit der großen Veranda wie die Gangway eines Schiffes und einem runden Fenster unter dem Dach, das dir wie ein alles sehendes Auge vorkam –, dass jede beliebige Person ungehindert mit dem Glas hätte anstellen können, was sie wollte.

Chrystja, die jüngste der drei Schwestern, war völlig aus der Bahn geworfen. Sie war so daran gewöhnt, dass ihre beiden älteren Schwestern sie für jung und dumm hielten, für ein ewiges Baby, das mit Stöckchen und Topinamburwurzeln spielt, dass das jetzt einfach nicht in ihren Kopf passte: Wie konnte es sein, dass ihre Stütze, ihr Donnerwetter, ihre ältere Schwester Uljana nicht mehr auf dieser Welt war? Sie fasste es nicht als natürlichen Lauf der Dinge auf, sondern als Tragödie, als unerwartete und niederschmetternde Katastrophe. Selbst war sie zu diesem Zeitpunkt schon an die neunzig und plötzlich überkam sie die Ahnung, dass auch ihr bald Ähnliches widerfahren könnte.

Und trotz allem war es Chrystja, die dieses Foto machte, so hast du es mir erzählt, wer denn sonst. Es ist eines der wenigen Farbfotos in deinen Familienalben. Chrystja hielt ihrer analogen Kamera die Treue und bevorzugte Schwarz-Weiß-Filme. Die Tatsache, dass sie den Körper ihrer ältesten Schwester in Farbe fotografierte, zeugt von der Intensität ihrer Gefühle und ihrer Verzweiflung. Chrystja empfand die brennende Notwendigkeit zusätzlicher Hilfsmittel, zu denen sie früher nie gegriffen hatte. Der blutleeren Haut der Schwester Farbe zu verleihen, ihr Leben einzuhauchen, das war ihr Ziel, als sie zögerlich den Auslöser der »Leica« drückte, die du ihr geschenkt hattest.

(Du hast mir auch erzählt, dass du ihr einmal die Möglichkeiten von Digitalkameras vorführen wolltest. Und wie sie – schon an Demenz leidend – entweder absichtlich oder unter dem Einfluss der Krankheit und der Degeneration, all deine Versuche vollkommen ignorierte. Sie drehte den Kopf weg, wandte den Blick ab, sprach über alles Mögliche, nur nicht über das flache silberne Kästchen in deiner Hand. Und kaum hast du sie in Ruhe gelassen, begann sie emsig etwas an ihrer alten, halbautomatischen »Zenit« einzustellen.)

Die mittlere Schwester Nusja dagegen legte während der Beerdigung ihr ganzes Organisationstalent an den Tag. Das war ihre Art, sich zu schützen: Sie überwachte die Abläufe, lenkte, kontrollierte und kritisierte.

So konnte Nusja eine Nachbarin vom Fuße des Torhowyzja-Hügels gerade noch davon abhalten, die Schnur an den Füßen der Toten durchzuschneiden. Nusja erzählte diese Geschichte später viele Male: wie sie den Raum betreten und die Nachbarin erblickt hatte, die die Füße der Toten mit beiden Händen hielt, wie sie die Nachbarin fragte, was sie da mache, wie die zusammenfuhr und rot wurde, und Nusja mit erschrockenen Augen anstarrte, auf frischer Tat ertappt, armselige Ausreden vor sich hin stammelte, sogar in Tränen ausbrach, während sie die Tote in höchsten Tönen lobte. Diese sei ein aufrichtiger und guter Mensch, eine echte Heilige gewesen. Sie habe anderen immer geholfen, dabei das eigene Leben aufs Spiel gesetzt und selbst auf das Nötigste verzichtet. Jeder kenne doch die Geschichte von dem jüdischen Jungen, den sie versteckt hatte – den Preis dafür zahlte die eigene Familie, Christen. Auch ihr, der Nachbarin, habe die Verstorbene immer wieder alle schwer verdienten Lebensmittel gegeben, die sie eigentlich ihren Schwestern hatte bringen wollen. Auch der Mann der Verstorbenen, Gott hab ihn selig, sei ein Heiliger gewesen, er wäre der beste aller Priester geworden, wäre nicht der Krieg gewesen. Beide seien sie jetzt im Himmel.

Diese Nachbarin begann Nusja über die Leichenwaschung auszufragen. Wer sie durchgeführt habe, was sie danach mit dem Wasser gemacht hätten und so weiter. Doch Nusja zweifelte keinen Augenblick, worum es eigentlich ging, trotzdem konnte sie es der Frau nicht ins Gesicht sagen, sie konnte sie auch nicht aus dem Haus werfen, denn das wäre ein schlechtes Omen gewesen, und überhaupt machte man so etwas nicht, trotzdem gab sie ihr mit ihrer Haltung und einigen halbdurchsichtigen Anspielungen deutlich zu verstehen, dass sie überführt sei. Die Frau versuchte danach noch im Haus aufzukehren, aber man nahm ihr den Besen sofort ab und fauchte sie auf Gänseart an, wonach sie sich offensichtlich aus dem Staub machte und nicht wieder auftauchte.

Allen, die zur Beerdigung kamen, erzählte Nusja von ihren beiden Träumen, die den Tod vorausgesagt hatten. Im ersten Traum habe sie eine reizbare Katze aus ihrer Kindheit gesehen, eine dreifärbige Katze mit abgerissenem Ohr, die auf Uljanas bestickten Kissen unter dem Wandteppich gesessen sei, auf Uljanas Platz, und – das Maul weit aufreißend – in Menschensprache geschimpft habe. Der zweite Traum handelte von Nusja selbst: Sie trug auf dem Friedhof Köpfe von Toten von da nach dort und legte sie sorgfältig und vorsichtig in hübsche Ruhestätten aus Stein. Nusja war völlig erschöpft, sie konnte die Füße kaum heben, denn die Köpfe waren schrecklich schwer, fast nicht zu tragen, aber sie musste sie an ihren Platz bringen, sie konnte sie nicht liegenlassen.

Du hattest fast zwei Tage nicht geschlafen: Die Großmutter war gegen Ende der vorletzten Nacht gestorben. Davor warst du nicht von ihrer Seite gewichen, hattest mit ihr gelitten. Du hattest dich durch Zeitwüsten ohne Wasser und Sauerstoff geschleppt und wolltest dir selbst nicht eingestehen, dass du das Ende herbeisehntest. Und als sie mit Pfeifen und Zischen das letzte Mal ausatmete, hast du auf etwas gewartet, auf ein endgültiges Zeichen, dass es tatsächlich vorbei war, so wenig überzeugend erschien dir ihr Dahinscheiden. Du hast darauf gewartet, dass sie sich wieder bewegen würde. Hast sogar darauf gewartet, dass sie etwas sagen würde, obwohl die Großmutter schon seit ein paar Tagen nicht mehr gesprochen hatte.

Danach musstest du einen ganzen Tag herumlaufen und Dinge für das Begräbnis regeln – irgendwelche Dokumente und Dienstleistungen, einen Platz auf dem Friedhof, Kleidung, Sarg, Priester. Die Großmutter hatte ihren eigenen Priester. Er begann zu weinen, als du ihm von ihrem Tod erzähltest. Er weinte und strich mit der Hand über seine glänzende Glatze. Die Tränen kullerten über seine Wangen in das Grübchen auf seinem Kinn und tropften von dort in seinen Kragen.

Die Schwestern und Nachbarinnen wuschen Uljana und zogen sie an. Wie sich herausstellte, hatte sie seit Langem Kleidungsstücke für diesen Anlass vorbereitet. Du hast ihr also umsonst Sachen gekauft, ihre Größe hast du allerdings richtig erraten, du kanntest sie nämlich gut. Chrystja nahm dir das Päckchen mit der Kleidung schweigend ab und legte es in den Schrank, den sie mit ihrer Schwester teilte.

Du trugst den Leichnam die schmale Wendeltreppe, die von der Küche in den Keller führte, hinunter. Uljanas Körper war steif und unhandlich geworden, du musstest dich mit ihm durch diesen Tunnel zwängen, hast dich mit größtmöglicher Vorsicht vorwärtsbewegt, um nicht zu stürzen. Dir schien, dieser Weg würde nie enden. Außerdem hattest du Angst, ihr könntet steckenbleiben, du würdest es nicht schaffen. Aber schließlich bist du unten angekommen.

Die Räume im Keller sind niedrig, du musstest dich bücken. Es war feucht und sehr kalt; der Geruch von angefaultem, pelzigem Wurzelgemüse hatte sich gemeinsam mit dem Pilz in die Wände gefressen. Neben den Säcken mit Kartoffeln, Karotten und Roter Bete stand eine kleine, mit Rissen durchzogene, rostige Eisenwanne. Zur Wanne führte ein Pfad aus goldenen, raschelnden Zwiebelschalen. Der Durchlauferhitzer sprang mit einem Brüllen an, als wäre er ein feuerspuckender Drache.

Die Schwestern der Großmutter und die Nachbarinnen warteten bereits auf dich. Sie übernahmen den Leichnam und begannen, ohne dabei ihr Lamento zu unterbrechen, ihn wie eine große Zinnfigur auszuziehen. Irgendwo draußen schlug heiser ein Hund an, den die Besitzer vergessen hatten, einzusperren. Oder absichtlich nicht eingesperrt hatten. Nusja bestand darauf, dass viele versucht hatten, Uljanas Seele zu erschrecken, Kränkungen hatte es genug gegeben. Nicht einmal der Tod konnte den Wunsch nach Rache tilgen.

Du stiegst die Treppe hinauf, erstarrtest in der Dunkelheit und Enge und lauschtest dem hexenhaften Gemurmel. Die dumpfen Schläge eines schweren Gegenstands gegen die Ränder der gusseisernen Wanne drangen an deine Ohren. Das Metall dröhnte wie die Trompete eines Laien-Orchesters.

Nachher hast du mit ihnen geschimpft: Wieso haben sie ihr das schwarze Tuch umgebunden? Sie hat überhaupt keine Ähnlichkeit mehr mit sich selbst, ist irgendwie nicht mehr sie selbst. Sie hat doch nie ein Tuch getragen, wieso habt ihr ein Dorfweib aus ihr gemacht, obwohl sie nie eines gewesen ist.

Du nanntest sie »Baba«, das Wort hatte zwei Bedeutungen, »Oma« und »Weib«, sogar Uljanas Schwestern waren Weiber, ebenso die Nachbarinnen, die Frauen in der Kirche, an den Autobushaltestellen, auf dem Markt und überall sonst. Doch »Oma-Baba« gehörte allein Uljana. Und das Wort beinhaltete alles, was sie war: ihren geraden Rücken, ihre ausgeleierten Armmuskeln, umspannt von einer abgenutzten, beinahe ein ganzes Jahrhundert alten Haut, klar gezeichnete Lippen, von denen deutliche Falten wie Risse abgingen, ihr Blick, der deinen Schädelknochen durchdringen und die Gedankenketten in deinem Kopf erkennen konnte; ihre Kattunkleider und die Schuhe mit quadratischen Absätzen, als wäre sie stets bereit, die »Huzulka Ksenja« zu tanzen; ihre unumstößliche Überzeugung von der Hoffnungslosigkeit des Lebens, der Vergeblichkeit aller Anstrengungen und der Nichtigkeit des menschlichen Wesens; und ihr wie zum Trotz hartnäckiges Tun, ihr Einmischen in alles ringsum, ihr fester Glaube, dass nur sie es am besten wusste und jede Situation regeln konnte, ihre ordentlich gebügelten weißen Blusen, das regelmäßige Auszupfen der Härchen auf der Oberlippe, die auf Lockenwickler gedrehten, grauen, mit Indigo blau gefärbten Haare, ihr unzufriedenes, ja sogar entrüstetes »Wer ruft an?«, das sie anstatt des allgemein üblichen »Hallo« in den Hörer bellte. Ihre graublauen, wulstigen Narben, die an Venen erinnerten und an den Handgelenken quer zu den echten Venen verliefen. Ein körperlicher Makel, der so mit ihr verbunden war, dass man den Eindruck hatte, sie sei damit geboren worden.

Aber die echten »Babas« verteidigten das Kopftuch und stimmten ein derartiges Gezeter an, dass du sofort klein beigabst und dabei deine allumfassende und unerträgliche Machtlosigkeit spürtest – gegenüber den Frauen, dem Kopftuch, dem Leben und dem Tod. Als der Sarg gebracht wurde, hatten die Frauen sofort etwas daran auszusetzen: Das Holz sei zu trocken, die Nägel säßen nicht dort, wo sie sein sollten. Sie zwangen dich zu einer langen Diskussion mit dem Inhaber der Werkstatt, in der die Särge gezimmert wurden; dieser war ohnehin schon verärgert gewesen, weil ihr das normale Paket an Dienstleistungen, das seine Firma anbot, abgelehnt hattet (Vorbereitung des Leichnams, Örtlichkeit für die Verabschiedung, Ablauf der Feier und ein Zeremonienmeister, der alles organisierte und überwachte sowie eine schöne Leichenrede hielt). Trotz der Julihitze waren alle Fenster fest verschlossen, und als du ein Fenster für nur wenige Minuten öffnen wolltest, um kurz einmal durchatmen zu können, fielen sie wie wild gewordene Katzen über deine Hände her.

In der Nacht musstest natürlich du neben dem Leichnam sitzen. Dein Vater, Uljanas einziger Sohn, würde erst am nächsten Tag in die Stadt kommen; deine Mutter hatte dir am Telefon mitgeteilt: »Ich komme zum Begräbnis, aber ich werde nicht helfen. Wir hatten kein gutes Verhältnis.«

Aber du wolltest ohnehin mit ihr alleine sein. Die Schwestern der Großmutter wachten von Zeit zu Zeit auf, kamen abwechselnd ins Zimmer und versicherten, dass sie nicht schlafen könnten, dass sie weinten, dass sie pausenlos irgendwelche Anfälle und Attacken hätten: Der Blutdruck schnellt in die Höhe und fällt dann jäh ab, das Herz schmerzt, die Beine geben nach. Und das Schlimmste war, dass du genau wusstest: All das ist wahr. Auch sie, die Schwestern deiner Großmutter Uljana, waren schon sehr alt.

Uljanas fremdes Gesicht glänzte so stark, dass es schien, als könne man sich darin spiegeln. Du spürtest, dass du zu vermeiden versuchtest, sie anzusehen, dass du dich am liebsten abwenden, am liebsten weggehen würdest. Dass du auf den Augenblick gewartet hast, wenn der Sarg für immer geschlossen, wenn sie in die Erde hinabgelassen und vergraben würde. Und genau deshalb zwangst du dich, zu ihr zu gehen und ihr ins Gesicht zu blicken, ihre Hände zu berühren, den Aufschlag ihrer Ärmel über ihre seltsam verblassten, verflachten Narben zu ziehen, die sich quer über ihre Handgelenke schlängelten. Du hast in dich hineingehört und gehofft, auf eine weiche Stelle in deinem Inneren zu treffen, auf ein Schluchzen, auf Mitleid, das dir helfen würde, in Tränen auszubrechen. Aber in deinem Inneren war alles glatt, eng, angespannt und voller Lilienduft.

Du wolltest in deiner Brust zumindest einen Anflug von Rührung finden, wolltest sie bedauern und auch dich selbst, wolltest mit Gewalt ihre Stimme in deinem Gedächtnis wachrufen, ihre Intonation – »Wer ruft an?« Du erinnertest dich, wie du nach einem Tag, den du bei einem Ameisenhaufen verbracht hattest, heimgekommen bist, wie das Glas mit Rainfarn auf dem Tisch vibrierte, der Teppich auf den Bodendielen verrutschte. Wie du vor der Pyramide aus bestickten Kissen stehen bliebst und dein Blick von unten nach oben wanderte, wo sie saß wie Hera auf dem Olymp, in einem Nachthemd inmitten von Zeitungen, Brillen, Nebenkostenabrechnungen, Zetteln mit verschiedenen Rechnungen. Dass sie dich nicht anblickte. Dass dein Herz wie verrückt schlug. Sie schaute dich nicht an, obwohl sie genau wusste, dass du da warst. In der Nacht konntest du – der kleine Junge – nicht schlafen, weil deine Muskeln so schmerzten, und dir wurde klar, wie sehr du die Beine angespannt, die Fäuste geballt, die Bauchdecke nach innen gezogen hattest, aus Angst dich zu bewegen. Doch als du ihr gegenübergestanden bist, hast du all das nicht wahrgenommen, hast dich selbst nicht wahrgenommen, warst völlig auf sie konzentriert: Mit einem kurzen Schnalzen beißt sie einen Faden ab und brummt dabei ein Lied aus dem Radio vor sich hin:

Eine rote Rose schenk ich dir,

ein Wiedersehen wünsch ich mir.

Auch mein Herz würd ich dir schenken,

würd ich nicht an einen andern denken.

Um drei Uhr in der Nacht wagtest du, das Fenster weit aufzumachen. Feuchte, warme Luft strömte in einem Schwall ins Zimmer, ließ die Flammen der Kerzen tanzen und die Lilien zittern – sie standen in voller Blüte. Große Sträuße einfacher, oranger Lilien mit kleinen Kelchen, aber auch gepunktete, getigerte, weiße und wächserne, die die ganze Nacht über ihre räuberischen Köpfe in deine Richtung streckten, lebendige, schamlose Organe, die einen schweren, süßen Gestank verströmten. Du machtest einen Bogen um sie, trotzdem hattest du ständig ihren giftig-gelben Staub an deinen Ärmeln und Wangen.

Irgendwo schlug ein Fenster zu, der Luftzug ließ das schwarze Tuch vom Spiegel rutschen. Zerzaust stürzten die Schwestern ins Zimmer. Nusja griff sich ans Herz, Chrystja nach Nusjas Hand. Ihre zahnlosen Münder standen vor Schreck und Empörung weit offen, rosa Haut schimmerte durch das schüttere Grau ihrer Haare.

Gefügig hast du das Fenster wieder geschlossen, den Spiegel verhängt, die Kerzen, die ausgegangen waren, wieder angezündet, die abgefallenen Lilienblätter weggefegt und die Schwestern wieder ins Bett geschickt.

Früh am Morgen kam der Vater an, aber wie konnte er helfen? Zu zweit seid ihr an den Sarg getreten und habt schweigend ein paar Minuten verharrt.

Es war trotzdem an dir, Löffel für den Leichenschmaus zu organisieren (»Mit Gabeln darf man nicht essen«) und mit den Nachbarn auszumachen, wer den Sarg tragen würde. Nicht alle waren sofort dazu bereit. Man hatte die Großmutter nicht gemocht.

Bei der Verabschiedung aber war das Haus trotzdem voller Menschen. Sie brachten noch mehr Blumen, noch mehr Lilien, die in Eimer gestellt oder zwischen die bestickten Kissen auf Großmutters Bett gelegt wurden. Du kanntest viele Leute nicht. Wer war der ausgedörrte Opa mit den feuchten Augen, der beim Gehen die Füße nachzog und von einer Frau mit rundem Gesicht und dichten Brauen an der Hand geführt wurde? Wer war der ältere Herr im braunen Anzug, der befahl, schleunigst alle Hocker und Stühle umzudrehen, »damit sich die Seele nicht hinsetzt«, und der Verblichenen fünfzig Gramm Wodka einzuschenken? Nusja flüsterte dir zu, der Opa sei der Bruder des Küsters und habe nach dem Krieg in der Kirche sein zweites Zuhause gefunden, und der Herr im Anzug sei der Gynäkologe, der fast alle Bewohner des Städtchens auf die Welt gebracht hatte, »auch deinen Vater und dich«.

Allerdings wusste Nusja nicht, wer die Frau im schwarzen, knielangen Kleid mit geschlossenem Kragen und schwarzen Strümpfen war (bei dieser Hitze, in diesem schweren, klebrigen Liliendunst). Du hieltest sie für etwa fünfzig Jahre alt, aber ich bin nicht sicher, ob du als junger Student das Alter von Frauen richtig schätzen konntest. In Wahrheit konnte kaum jemand sagen, wie alt diese Frau wirklich war: Die Haut in ihrem Gesicht, schneeweiß und allzu glatt, schien zwischen Backenknochen, Kinn und Stirn aufgespannt zu sein. Das glatt gekämmte Haar war zu einem Knoten zurückgebunden.

Irgendwo in deinem Kopf tauchten Bilder auf, die du inmitten der Hektik und der herumlaufenden Menschen in einen Winkel deines Bewusstseins geschoben hattest: Dein Vater zieht die unbekannte Frau an der Hand hinter sich her, die Brille rutschte ihm vom Nasenrücken, der schweißnass war vor Nervosität.

Die Frau stand in der Tür, die Beine für einen sicheren Stand gespreizt, die Arme vor der Brust verschränkt, die Ankommenden zwängten sich an ihr vorbei, reichten Kränze weiter. Sie betrachtete deinen Vater geringschätzig, von oben herab, sie war um einen Kopf größer als er, der plötzlich in sich zusammengesunken war. Dir wurde bewusst, dass dein Blick die an der Wand lehnende Silhouette der Unbekannten streifte, während du versuchtest, die kleine Schrift und die Kalkulationen im Heft des Bestattungsbüro-Chefs zu entziffern. Ihre Schuhe mit den hohen Bleistiftabsätzen leuchteten zwischen den verdreckten Gummistiefeln hervor, die kreuz und quer auf dem Bretterboden lagen. Sie berührte ihr Gesicht mit den Fingerspitzen, ohne ihren spöttischen Blick von deinem Vater zu wenden. Du wusstest selbst nicht, wieso du in der Dunkelheit des Vorzimmers die dünnen Narben auf dem trotz des Alters makellosen Gesicht der Frau erkennen konntest, während du einen Beweis dafür suchtest, dass der Gauner vom Bestattungsunternehmen euch betrügen wollte. Die Narben umspannten ihr Gesicht wie die klebrigen Fäden des Seidenspinners. Und wieso konntest du durch das eintönige Raunen von Gebeten Dutzender Menschen an Großmutters Sarg das hysterische Flüstern des Vaters ins Ohr der erzürnten Schönheit hören: »Verschwinde, verschwinde von hier, bitte!«?

Nun musterte Nusja sie voller Misstrauen und begann, die anderen Leute beinahe in voller Lautstärke über sie auszufragen. Die Frau ging nach draußen, zündete sich eine Zigarette an und wanderte auf der Veranda hin und her. Die Leiterin des Kindergartens »Teremok« sagte, sie sei die Tochter des Direktors der Wohnungsverwaltungsbehörde. Der Tierarzt Jaziw, über dessen graues Gesicht sich ein deutliches Netz aus violetten Äderchen zog, erinnerte sich daran, dass sie die erste Frau des Pharmazeuten aus der Apotheke auf der Halyzka-Straße war. Die Saatgutinspektorin, Frau Ljuda, ließ ihre Brille bis auf die Nasenspitze rutschen, und mit einem Mal weiteten sich vor Zorn ihre Nasenflügel: Das ist doch die Schlampe, die zum 40. Todestag ihres, Frau Ljudas, Manns hier herumgelümmelt war. Anhelina Wsewolodiwna, die Vorsitzende der Interessenvertretung für Kulturarbeiter, erkannte die Frau sofort: Sie war am neunten Tag nach dem Tod des Chorleiters Bobrjanskyj plötzlich aufgetaucht. Großmutter Nusja, die mit einem Mal einer kampflustigen Prinzessin glich, rief aus, dass das eindeutig die Bestie sei, die man vor zwanzig Jahren von der überfüllten Verabschiedung des Pfarrers Lysnyk verjagt hatte. Und Baba Chrystja stellte fest, dass die Frau auf einem ihrer frühen Fotos mit der Leiche eines OUN-Angehörigen zu sehen sei, der in den Höhlen des Klosters in Rukorak ausgeräuchert worden war. Sie habe die Filmrolle mit diesem Foto im Garten unter dem Birnbaum vergraben, in einer italienischen Fleischkonservendose aus dem Jahr 1942, die für Wehrmachtsoldaten bestimmt gewesen war und die sie unweit des Nahirnja-Tunnels gefunden hatte.

Deine Mutter kam aus irgendeinem Grund ins Wanken, wurde ganz blass im Gesicht und lehnte sich völlig geschwächt an den lackierten Spiegel zwischen den Fenstern, den Kopf legte sie an das dunkle Tuch, das den Spiegel verdeckte. Ihr Blick war orientierungslos und kindlich. Sie ließ ihn von einem Gesicht zum anderen wandern und verbarg die Panik nicht, die sie erfasst hatte. Sie streckte dir die Hand entgegen.

Und du hast gegen sie alle gewettert und durch die Zähne gezischt – wenn alles, was sie über die Frau sagten, wahr wäre, dann wäre sie jetzt 120 Jahre alt. Du ermahntest alle, sich anständig zu benehmen und vernünftig zu werden. Was macht es für einen Unterschied, wer diese Frau ist und wieso sie gekommen ist. Sie weint und ist sichtlich aufgewühlt, offenbar hat sie ihre Gründe. Das genügt.

Du bemerktest den aufmerksamen Blick des Vaters auf dir. Als würde er ihn zum ersten Mal nicht eilig und zerstreut über dich hinwegschweifen lassen, sondern innehalten und dich erkennen. Die Zeit blieb für einige Sekunden stehen, während ihr euch überrascht ansaht.

Baba Nusja folgte deiner Anordnung und schaltete auf Trauer und Tränen um. Sie erinnerte sich daran, dass Uljana zu Beginn der 1930er Jahre im frühen Teenageralter von ihrem Vater neue Kleider und Schuhe verlangt hatte. Der Vater liebte sie allzusehr, ganz unverdient – so sagte Nusja es: »unverdient«, und stockte dabei nicht einmal. Und wie er ihr einmal ein getupftes Kleid mit großer Schleife auf der Brust und Perlmuttknöpfen an den Ärmeln geschenkt hatte und daraufhin große Probleme bekam: Er wurde von der polnischen Polizei verhaftet, weil ihn jemand beschuldigte, das Kleid gestohlen zu haben. Am nächsten Tag wurde der Vater wie durch ein Wunder entlassen.

In diesem Kleid ging Uljana zum Rendezvous mit Soldaten und anderen Verehrern, die sie an verschiedenen Enden der Stadt aufgabelte, sie verschmähte niemanden, ihr wisst schon, wen ich meine. Nach diesen Worten trat rund um Nusja absolute Stille ein. Das Schweigen brach deine Mutter, die zum wiederholten Mal feststellte, dass Uljana doch noch ein Kind gewesen sei, von was für Verehrern konnte denn hier die Rede sein. Nusja erwiderte darauf bereitwillig, es seien andere Zeiten gewesen, andere Sitten. Uljana habe nichts Besonderes getan, sie habe mit den Männern nur gescherzt und geflirtet, sie an der Nase herumgeführt; sie machte das, weil sie so unglaublich selbstverliebt war.

Nusja erzählte, dass Uljana sie einmal zu einem Rendezvous mitnehmen und ihr einen neuen Verehrer zeigen wollte. Chrystja brach daraufhin in Gelächter aus und widersprach: Rede dir ruhig ein, dass du für Uljana so wichtig gewesen bist, dass sie ihre Verehrer mit dir besprechen wollte, aber rede es nicht den anderen ein. Den Zuhörern erklärte sie, dass Uljana Nusja manchmal als Alibi mitgenommen habe, um dem Misstrauen und dem Zorn der Mutter zuvorzukommen. Aber kaum hätten sie den Torhowyzja-Hügel hinter sich gelassen, hätte Uljana Nusja fortgejagt.

Bei diesen Worten rutschte der Teller, der vor dem Foto von Uljana gestanden hatte, überraschend vom Tisch und begann in der völligen Stille dumpf dröhnend auf dem Boden große Kreise zu beschreiben. Der Teller kreiste und kreiste, als würde er von jemand Unsichtbarem angetrieben, er beschrieb Dutzende, ja Hunderte Kreise und fesselte den Blick aller erblassten Anwesenden. So ging es ungewöhnlich lange. Niemand wagte es, sich zu bewegen, als hätten alle Angst, die Aufmerksamkeit des Tellers auf sich zu ziehen. Es schien, als hielten alle den Atem an. Schließlich landete der Teller, ohne vorher langsamer geworden zu sein, auf der Unterseite.

»Ich habe ja gesagt, ihr müsst ihr fünfzig Gramm Wodka einschenken«, sagte der Gynäkologe.

»Brot, Brot, man muss ihr Brot hinlegen«, flüsterten die Babas hektisch.

»Sie hat Feste so sehr geliebt! Sie hat es geliebt zu essen.«

»Alle sind zusammengekommen, und ihr hat man nichts gegeben.«

»Ihre Seele ist gegangen!«, flüsterte der Pfarrer, verfolgte mit den Augen etwas unter der Decke und bekreuzigte sich. Danach begann er das Ritual, betete das Trisagion und das Vaterunser und fuhr fort:

»Retter, mit den Geistern der verstorbenen Gerechten lass die Seele deiner Dienerin Uljana ruhen und nimm sie an zu einem gesegneten Leben in deiner Nähe, du Menschenliebender. In deinen Wohnungen, o Herr, wo alle deine Heiligen ruhen, ruhe die Seele deiner Dienerin Uljana, denn du bist der Einzige, der die Menschen liebt.«

Du fühltest, wie die Luft während des Gebets noch zäher wurde, die Lunge schmerzte und zog sich vor Sauerstoffmangel zusammen, auf deinen Schläfen lastete ein schmerzhafter Druck, der Gestank der menschlichen Körper und der Blumen drang in Nase und Rachen. Du spürtest, dass die Schweißtropfen unter deinem schwarzen Hemd heimlich deinen Rücken hinabkrochen.

Die Frau fiel rücklings um und schlug dumpf mit dem Hinterkopf auf den Boden. Die Leute, die hinter ihr gestanden hatten, traten blitzschnell zur Seite und gaben so den Boden für ihren Fall frei.

Du hast noch kurz gesehen, wie die Haarsträhnen, die sich aus ihrer Frisur gelöst hatten, nach oben flogen. Du stürzt zu ihr. Die Großmütter brabbeln durcheinander. Der Priester verstummt.

Du beugst dich über ihr blutleeres Gesicht. Ihre Augen sind nicht ganz geschlossen, stehen halboffen: Unten sieht man die weißen Sicheln ihrer Augäpfel.

»Trag sie zum Bett«, ordnet Chrystja an.

Du gehorchst und hebst die Frau ungeschickt auf Sofort spürst du, dass ihr schweißnasses Synthetikkleid an deiner feuchten Kleidung kleben bleibt. Dir schlägt der Geruch von Sommermonsun, geöffneten Muscheln und schwitzenden Meerespflanzen, die auf die angewärmten weißen Steine des Ufers gespült worden sind, entgegen. Deine Hände rutschen von ihrem Körper ab, so nass seid ihr beide, so feucht ist die Luft. Ihre Arme und Beine, ihr Rumpf entgleiten deinen Händen, du kannst sie kaum halten, kaum tragen. Ihr Körper ist weich, erhitzt, formbar. Dir scheint, als würden deine Finger darin versinken, Vertiefungen hinterlassen, Löcher, die nie wieder verschwinden, sich nicht mehr schließen würden. Du löst deinen Blick nicht von ihrem Gesicht. Ihr Kopf ist so weit nach hinten gekippt, dass er jeden Moment vom Hals abreißen könnte. Nasse Haarsträhnen kleben an Wangen und Kinn. Von ihren Ohrläppchen fallen schwere Tropfen zu Boden.

Die Anwesenden folgen dir Schritt für Schritt. Schieben dich, stützen dich und zupfen von allen Seiten an dir. Sie bewegen sich hektisch und sind laut. Nusja pustet der Frau ins Gesicht und verteilt dabei Spucke. Chrystja versucht an ihrem Kleid Knöpfe zu finden, um es zu öffnen.

Du brüllst, findest keine Worte, aber du merkst, dass du mit dem Brüllen deinen Vater vertrieben hast, der eben mit ausgestreckten Armen neben dir aufgetaucht war, der mit anfassen, dir helfen wollte. Du nickst unaufmerksam in seine Richtung und hebst gleichzeitig den Körper etwas höher, um ihn besser fassen zu können, dabei rutscht deine rechte Hand zwischen ihre Beine und verbrennt sich regelrecht an dem erhitzten Fleisch. Dein Handgelenk gerät in den Schraubstock ihrer Schenkel, deine Handfläche liegt auf ihrem Steißbein. Mit der Linken hältst du sie an den Schultern, stützt ihren Kopf mit dem Ellenbogen. Du bringst ihr Gesicht an deine Wange, versuchst ihren Kopf zu halten, um ihn so wenig Erschütterungen wie möglich auszusetzen. Ihr Gesicht ist von feinen Narben in Segmente zerteilt und von einem durchsichtigen Flaum bedeckt. Als du ihren Hals unabsichtlich mit deiner Nase berührst, spürst du, dass ihr Schweiß eiskalt ist. Aber dort, wo deine Hand festsitzt, wird es immer enger, immer heißer. Der rutschige Leib pulsiert, schwillt an, und deine Hand pulsiert im Takt mit und versucht nicht, sich aus der Falle zu befreien.

Als du sie auf das Bett der Großmutter legst, in das Nest aus bestickten Kissen, verlierst du das Gleichgewicht, der Teppich rutscht unter deinen Füßen weg, und du fällst einfach auf sie, auf die Bettdecke, in die Tiefe des Bettes. Über euch drängen sich Menschen: deine Eltern, die Schwestern der verstorbenen Großmutter, der Priester und der Kirchendiener, die Nachbarn, der Gynäkologe, der Tierarzt Jaziw, die Saatgutinspektorin Frau Ljuda, die Vorsitzende der Interessenvertretung für Kulturarbeiter Anhelina Wsewolodiwna und andere. Du drückst ihren Körper mit deinem Gewicht in die Matratze, dein Gesicht wird ganz nass von ihrem feuchten, zerzausten Haar. Sie atmet dir jäh ins Ohr, und du spürst, dass sich ihre Oberschenkel noch enger schließen, so fest, dass deine Hand schmerzt. Sie schaut dir ernst in die Augen und lässt dich nicht los.

Die anderen ziehen an deinen Schultern: »Steh auf, komm schon, du zerquetschst sie ja, sie braucht Hilfe.« Aber du kannst nicht aufstehen, denn sie gibt deine Hand nicht frei. Du siehst sie fragend an, aber ihr Blick ist beinahe ausdruckslos, da sind nur Beharrlichkeit und Bestimmtheit, als wüsste sie genau, was sie gerade macht. Dir scheint, als zerriebe sie deine Hand zwischen ihren Schenkeln. Du hast den Eindruck, als drückte sie nun den Rücken durch. Als öffneten sich ihre Lippen, als würde ihr Atem schneller, als stöhnte sie.

Dann ziehst du mit all der Kraft, die du nur irgendwie aufbringen kannst, an deiner Hand, wie ein Wolf, der sich aus der Falle befreien will und bereit ist, sich die eigene Pfote abzureißen, nur um sich zu retten. Du fällst rückwärts auf den Priester und den Kirchendiener, wirfst die beiden fast um, und die Frauen stürzen sofort dorthin, zu den Kissen, zur Ohnmächtigen, helfen ihr, schirmen sie von dir ab. Du bleibst alleine zurück, ein wenig abseits. Spürst die Anwesenheit von Großmutter Uljana hinter dir. Sie liegt weiterhin im Sarg, ihr Gesicht wie das Blütenblatt einer großen Lilie aus Kunststoff.

Dir wurde kalt. Du hältst die rechte Hand an deine Nase und riechst daran.

Fotografie: Stadtpanorama durch einen Vorhang aus Wolken