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"Die Geschichte von Sofia" erzählt von einer leidenschaftlichen, heimlichen Liebe im Schatten der Weltpolitik und vom ukrainischen Kampf gegen die sowjetrussische Übermacht. Im Zentrum der Intelligentsia im Kiew der 20er-Jahre stehen der Dichter Mykola Zerow, seine schöne Frau Sofia und deren Geliebter, der mysteriöse Autor, Wissenschaftler und sowjetisch-deutsche Doppelagent Wiktor Petrow. Doch unter dem Stalinismus wird die "Sowjetukraine" nicht nur Opfer einer mörderischen Hungersnot, auch das blühende literarische Leben wird gnadenlos vernichtet. Als Zerow 1934 verhaftet und 1937 von Stalins Schergen erschossen wird, spielt Petrow eine zwielichtige Rolle. In der "Geschichte von Sofia", dem abschließenden Band des Amadoka-Epos, führt Andruchowytsch alle Fäden der großen Trilogie zusammen und zeigt eindrucksvoll, dass wir die Gegenwart der Ukraine nur verstehen können, wenn wir ihre Geschichte kennen.
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Seitenzahl: 771
Sofia Andruchowytsch
Sofia Andruchowytsch
Amadoka-Epos 3
Aus dem Ukrainischen übersetzt von Alexander Kratochvil und Maria Weissenböck
Residenz Verlag
Unser besonderer Dank gilt dem Ukrainian Book Institute, das diese Übersetzung trotz der schwierigen Bedingungen großzügig unterstützt hat.
Die Arbeit der Übersetzer*innen wurde im Rahmen des Programms »Neustart Kultur« aus den Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.
© 2024 Residenz Verlag GmbH
Salzburg – Wien
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Keine unerlaubte Vervielfältigung!
Umschlaggestaltung: Boutiquebrutal.com
Typografische Gestaltung, Satz: Lanz, Wien
Lektorat: Jessica Beer
ISBN ePub:
978 3 7017 4697 2
ISBN Printausgabe:
978 3 7017 1765 1
Das Amadoka-Epos
DER WUNSCH
DAS UNDURCHDRINGLICHE
DIE WIRKLICHKEIT
Amadoka war laut antiken Quellen der größte See Europas und lag auf dem Gebiet der heutigen Ukraine, seine tatsächliche Existenz aber gilt keineswegs als gesichert. Amadoka ist ein Symbol für das Vergehen und Vergessen von Zeiten, Landschaften, Kulturen und Menschen und ebenso für die oftmals widersprüchliche Erinnerung an sie.
Im Zentrum des ersten Bands steht Romana, eine Kyjiwer Archivarin. Sie glaubt, in einem namenlosen Soldaten, der 2014 schwerverletzt aus dem Krieg in der Südostukraine zurückkehrt, ihren verschollenen Ehemann Bohdan zu erkennen: Der Mann ist zu verstümmelt, um identifiziert zu werden, und zu traumatisiert, um sich zu erinnern. Romana versucht, dem Mann erzählend Gedächtnis und Identität zurückzugeben.
Einige Jahre zuvor hatte ein Archäologe dem Archiv einen geheimnisvollen Koffer mit Fotos und Dokumenten übergeben, bevor er in den Krieg zog. Der Mann hatte Romana überredet, mit ihm gemeinsam in die riesige Wohnung seines Vaters, eines Professors und plastischen Chirurgen, einzubrechen. Als Romana wenig später mit dem Professor die Sache mit dem Koffer klären möchte, freunden die beiden sich an. Der Professor erzählt sowohl von seiner Mutter Uljana als auch von dem Konflikt mit seinem Sohn Bohdan.
Nach Monaten, in denen Romana sich hingebungsvoll um den schwerverletzten Soldaten kümmert, gelingt es ihr, ihn nach zahlreichen Operationen mit zu sich in eine Datscha am Stadtrand zu nehmen. Der Inhalt des Koffers, den Romana hier aufbewahrt hat, wird nun zum Ausgangspunkt einer Suche nach der gemeinsamen Vergangenheit.
Im Zentrum der »Geschichte von Uljana« steht das Heranwachsen von Bohdans Großmutter Uljana und ihren beiden Schwestern in den 1930er-Jahren im galizischen Städtchen Butschatsch mit seiner multiethnischen Bevölkerung. Der Vater der drei Mädchen arbeitet für Abel Birnbaum, den jüdischen Schächter des Städtchens. Zwischen Uljana und Abels Sohn Pinkas wächst eine ungestüme, jedoch heimliche und verbotene Liebe. Pinkas ist es auch, der Uljana vom gigantischen verschwundenen See Amadoka erzählt.
Mit der nationalsozialistischen Besatzung 1941 beginnen die Deportationen der jüdischen Bevölkerung. Uljanas Vater versucht unter Lebensgefahr zu helfen, manche im Ort beteiligen sich aktiv am Morden, wieder andere schlagen sich auf die Seite der anrückenden Sowjets oder kämpfen mit Partisaneneinheiten in den Wäldern einen verlorenen Kampf – so auch Matwij Krywodjak, der Pinkas’ kleine Schwester Feiga versteckt. Zu Kriegsende jedoch zieht sich eine Schlinge aus Geheimnis, Verrat und Gewalt unerbittlich zu – und weder Uljanas Liebe noch ihre Familie werden ihrem grausamen Schicksal entgehen …
Diese dramatische Vergangenheit ist es, die Romana dem traumatisierten Bohdan nach und nach enthüllt und mit der sie ihm seine Identität wiedergeben möchte.
Dieses Haus ist die Verlängerung meines Körpers. Oder mein Körper ist die Verlängerung dieses Hauses. Es sind meine Wände, in denen sich Mäuse einnisten, es ist mein Dach, das rissig wird, wenn die Sonne vom Himmel brennt, es sind meine Ecken, die voller Spinnweben und Flusen sind, in mir rieselt kaum hörbar der Putz von den Wänden und landet wie große Schneeflocken an einem reglosen, frostigen Morgen auf dem Boden.
Ich kann blind durch dieses Haus gehen. Ich kenne jede Stufe, spüre mit den Zehen jede Ritze zwischen den Dielen, jeden Riss im alten, rauen Lack. Ich weiß, wo und wie ich meine Schritte setzen muss, damit der Boden nicht knarrt. Ich weiß, wohin ich treten muss, damit das Haus jämmerlich aufheult, damit es winselt wie ein frierender Welpe oder einen verzweifelten Schrei ausstößt, der durch Mark und Bein geht.
So schleiche ich durch die Dunkelheit, mache kein Licht an, leuchte nicht mit dem Handy. Neun Stufen hinunter, ein vorsichtiger Schritt auf der sechsten, die morsch ist und unter den Füßen kippen kann wie ein schwankendes Brett über einem Bach. Begleitet werde ich vom gleichmäßigen Gurgeln des Wassers in den Heizkörpern. Wenn ich die Klospülung drücke, verursache ich kurz das Rauschen eines Wasserfalls und spüre, wie ein Zittern durch den Körper meines Hauses geht.
Ich drehe den Wasserhahn in der Küche auf, als führte ich ein Reinigungsritual durch. Ich warte, bis das Wasser, das in den Rohren gestanden hat, abgeflossen ist, und lasse eiskaltes Wasser, das gerade noch in der Erde unter dem Haus geschlummert hat, in ein Glas rinnen. Es kühlt meine Kehle, die Speiseröhre, den Magen. Das schläfrige, kalte Wasser macht mich wach.
Neun Stufen hinauf (Achtung, die sechste!), vier Schritte von der Tür des Zimmers, in dem ich schlafe, bis zur Tür, hinter der mein Mann schläft. Noch zwei Stufen. Ich trete auf den Teppich. Unter meinen Füßen winden sich Muster in der Dunkelheit: Rhomben, Schlangenlinien, Schnörkel. Ich weiß, dass ich mich genau jetzt in dem dunklen Spiegel sehen könnte, der schwärzer ist als die Nacht.
Meine Schritte, so vorsichtig ich sie auch setze, lassen die Möbel vibrieren: die hohen Barhocker mit den geschnitzten Beinen, die Bücherregale, die Schranktüren und die Bretter der blauen Kommode. Aber mein Mann wacht nicht auf.
Er hat wieder Albträume: Er stöhnt, murmelt vor sich hin, wälzt sich im Bett herum, hat sich in Decke und Laken verheddert. Seine Arme und Beine haben sich verfangen, er ist gefesselt, kann sich nicht bewegen – das nährt seinen Ärger, seinen Zorn und seine Verzweiflung, richtet sie gegen ihn selbst. Die Luft im Zimmer ist getränkt von seinem intensiven, würzigen Geruch. Er, das gefangene Tier, hat Angst. Er ist in seine eigene Falle getappt.
Ich empfinde Mitleid und Zärtlichkeit. Vorsichtig lege ich mich auf den Matratzenrand, den Kopf in die rechte Hand gestützt. Mit der linken berühre ich seine vom kalten Schweiß nasse Stirn. In den Vertiefungen seiner Narben haben sich wie nach einer Gletscherschmelze ganze Seen gebildet.
»Bald werden alle Gletscher schmelzen. Und was ist dann?«, sage ich leise. »Werden wir beide diesen schrecklichen Augenblick erleben? Ich will das Ende der Welt gemeinsam mit dir erleben. Ich will in deiner Umarmung sterben, hörst du?«
Er antwortet nicht. Er schläft. Meine Worte haben etwas in seinem Kopf berührt, in seinem schläfrigen Bewusstsein; er scheint genau hinzuhören, welche neue Wendung das Gespräch nimmt. Er hört zu bis zum letzten Wort, dann antwortet er: zuerst geduldig, ironisch, sogar nachsichtig, später immer nervöser und gereizter. Seine Sprache ist die eines Schlafwandlers: Sie besteht aus Sätzen und Wörtern, sie ist voller Intonation und Emotion, sie ist exakt und artikuliert, aber ich verstehe kein Wort. Diese Sprache ähnelt keiner Sprache, die ich identifizieren könnte. Es ist die lautliche Entsprechung eines Textes, der auf den Kopf gestellt und gespiegelt wurde. Ich verstehe ihn mit den Fingerspitzen, wenn ich die Arterien an seinem Hals berühre, wenn ich seinem Puls lausche.
Meine Berührung lässt ihn aufschreien, schrecklich und lang, wie ein Sterbender. Als sein Schrei schließlich abreißt, sehe ich im gräulichen Licht, dass er aufgewacht ist. Er schaut mich mit angstgeweiteten Augen an. Er atmet schwer. Er röchelt. Es schnürt ihm die Kehle zu. In seinen Ohren rauscht es. Ich höre sein Herz pochen. Ich sehe, wie stark sich sein deformierter Brustkorb hebt, als würde er jeden Moment zerbersten.
Sein Körper ist vor Schreck gelähmt. Jetzt hat er die Sprache verloren, alle Sprachen – die Sprache seines Traums und die Sprache, in der er mit mir spricht. In der er mir antwortet.
»Du hast mich gerufen«, erkläre ich sanft und lächle beschwichtigend. Ich will ihn mit meinem Aussehen, meinem ruhigen Gesicht und der leisen, vertrauten Stimme beruhigen wie eine Mutter ihren schreienden Säugling: allein mit ihrem Geruch und ihrem gleichmäßigen, tiefen Atem.
»Du hast mich gerufen, du hast immer wieder meinen Namen gerufen«, flüstere ich und strecke meine Fingerspitzen in seine Richtung, berühre seine schweißnasse Schulter, zeichne Buchstaben darauf. Ich weiß, dass er sich nicht an meinen Namen erinnert. Immer und immer wieder schreibe ich meinen Namen auf seine feuchte Haut, schreibe mich ein in die Windungen seines Gehirns.
»Alles ist gut«, fahre ich fort, streichle über seine Backenknochen und nehme sein Gesicht in meine Hände. Ich mag das Gewicht seines großen Kopfes, ich mag seine hervortretenden Sehnen. »Du, Kleiner, hör zu«, sage ich, »alles ist gut, du hattest nur einen bösen Traum.«
Und ich erzähle ihm seinen Traum.
Du hast geträumt, dass du in seinem Blut liegst, das sich mit Schlamm vermengt hat. Die ganze Nacht über hat es geregnet, und das gesamte Feld ist matschig. Die Erde ist schwarz und riecht nach Asche, Kohle und Eisenbahnschienen. Sein Blut hat sich mit Öl vermischt, es ist aus seinem Hals geflossen, nachdem eine Sprenggranate ihm den Kopf abgerissen hat. Sein Körper wurde von innen zerfetzt, und du hast ihn nicht mehr erkannt. Vor wenigen Stunden noch konntest du nicht einschlafen und hast die Härchen studiert, die seinen Nacken entlangwachsen, und die Rhomben, Schlangenlinien und Schnörkel seines Tattoos, dessen Tentakel sich fast bis auf seinen Schädel erstrecken, sein Ohr umarmen, sich auf seinem Rücken verzweigen und die linke Schulter fest umschließen wie ein Schuppenpanzer. Die Tätowierung fließt seinen Oberarm hinab, umschifft den Ellenbogen und rollt als letzte, schwächer werdende Welle über seinen Handrücken wie über den Kies des Ufers, wo sie in einzelnen dunkelblauen Tropfen zwischen den Fingerknöcheln verebbt.
Regen trommelt auf das notdürftige Dach des Unterstands, und deine nervöse Schlaflosigkeit geht in eine Art Ruhe, fast schon Behaglichkeit über. So viele Tage und Nächte sitzt ihr schon fest, ohne hinauszukönnen, ihr langweilt euch, spielt Karten, hört Befehle, die alle anderen betreffen, nur nicht euch. Die meisten Jungs schnarchen. Irgendwer ist nach draußen geklettert, um zu rauchen, und verflucht die hinkende Katze, die aus einem zerbombten Dorf in der Nähe zu euch gekommen ist, um euch um Futter anzubetteln. Du hörst die Schritte des Rauchers im Morast und bekommst selbst Lust auf eine Zigarette. Gerade hast du deine Hose zugeknöpft und willst mit dem rechten Fuß die verdreckten Stiefel aus der Ecke holen, als der Raucher aufschreit und so wüst zu schimpfen beginnt, dass du sofort verstehst, dass es diesmal nicht um die Katze geht. Plötzlich bemerkst du, dass das typische Pfeifen der Granaten in der Ferne schon seit einigen Sekunden verstummt ist, und du erstarrst. Die Welt um dich ist in schwere, bis aufs Äußerste geblähte Stille getaucht. Diese ungute Stille dämpft das Geräusch des Regens, der euch bisher beschützt hat, so gut er konnte, doch nun ist auch er machtlos. Die Detonation reißt einen Teil der Wand weg und du wirst an das andere Ende des Raums geschleudert, einfach über deinen Bettnachbarn hinweg. Du stößt mit dem Kopf gegen etwas Hartes und verlierst wahrscheinlich kurz das Bewusstsein. Im nächsten Moment läufst du aber schon neben ihm durch den weichen Morast. Deine Füße stecken in den nicht gebundenen Stiefeln, deshalb kann von Laufen keine Rede sein. Du rührst mit den Schuhen im schwarzen Matsch, der deine Füße einsaugt, dich als Ganzes einsaugt – die Erde hat ihr unersättliches Maul aufgerissen. Das Pfeifen bricht nicht ab, und die orangerosa Leuchtstrahlen der Granaten durchkreuzen die schwarzen Regenstreifen über euch. Du hast weder gesehen noch gehört, wie es ihn erwischt hat. Die Druckwelle hat dich einfach umgeworfen, du hast nichts verstanden und nur gespürt, dass Schlamm und Teer in kalten und heißen klebrigen Strömen über dir zusammenschlagen, dass du vom Morast eingesaugt wirst. Du versuchst, etwas Festes, Sicheres zu fassen, Halt zu finden, aber deine Finger gleiten nur durch samtig-schleimigen Erdbrei, bis du im Schlamm seinen Arm ertastest und ihn zu dir ziehst; du erkennst die Ranken der Tätowierung, die da und dort auf der Haut zu sehen sind. Der Arm kommt dir viel zu leicht entgegen, du musst keinerlei Anstrengung unternehmen: Einen Augenblick lang denkst du, dass du plötzlich übermenschliche Kräfte bekommen hast, wenn du so mühelos den Körper eines erwachsenen Mannes zu dir ziehen kannst und er dir leicht wie eine Feder erscheint. Aber es stellt sich heraus, dass es nur der Arm alleine ist, er hängt an keinem Menschen mehr, und auch die Tätowierung ist nicht mehr vollständig und daher völlig sinnlos geworden, sie ist nur mehr eine Art Beschriftung der Gliedmaßen, gibt ihnen Namen und Zugehörigkeit, auch wenn ihr Besitzer nicht mehr lebt, nirgends mehr zu finden ist – wem gehören seine Einzelteile also? Er hat sich im schwarzen Morast aufgelöst.
In der Morgendämmerung beugen sich alte Frauen mit Kopftüchern über dich und schütteln ihre schwarzen Köpfe: »Söhnchen, ach Söhnchen«, wiederholen sie unaufhörlich, »was soll denn das?«
Er hört mir schweigend zu und zeigt keinerlei Emotionen. Es ist nicht auszumachen, ob sein Herz vor Schmerz und Verzweiflung zerreißt, ob er sich ärgert, ob er mir glaubt oder nicht. Um uns herum blinken die kleinen Lämpchen der Haushaltsgeräte rot und grün wie biolumineszente Tiefseelebewesen, die sich am Meeresgrund verbergen.
»Vielleicht«, sage ich zu ihm und lege seine raue Hand in meine, »hast du irgendetwas davon wirklich erlebt. Und die Erinnerungen kommen im Traum zu dir.«
Er schweigt und schaut mich nicht an. Sein Blick ist aufs Fenster gerichtet, auf den Spalt zwischen Gardinen und Wand. Dort kann man vor dem Hintergrund des dunklen Himmels die Umrisse einer Wolke erahnen.
»Erinnerst du dich?«, frage ich und nähere mich seinem Gesicht, um ihm in die Augen schauen zu können.
Aber er wendet seinen Blick ab. Ich richte mich auf und setze mich neben ihn. Sein Körper liegt vor mir wie eine Landschaft, die ich betrachte, unsicher, ob ich sie mir nur einbilde.
Wenn ich nicht an seiner Seite bin, blättert er wieder die Fotos durch. Der Sarg auf dem Tisch. Der verschwommene helle Fleck zwischen den Lilien, der eher an eine Plastiktüte erinnert als an ein Gesicht. Er weiß nicht, wer das ist. Er fühlt nichts. Er glaubt nicht einmal, dass das Ding, das sich da in der Truhe auf dem Tisch befindet, ein Mensch ist. Ein Mensch, den er kannte. Der ihm nahestand.
Die Schwarz-Weiß-Fotografie einer kleinen Stadt. Die engen Straßen, in denen Autos kaum Platz haben. Zweistöckige Häuser drängen sich aneinander, sie gleiten von den Hügeln. Dachziegel und Holzschindeln. Ein Durcheinander aus Baumkronen, Dächern und Turmspitzen. Statt einer Straße breitet sich der rastlose Körper eines Flusses aus.
Mit Moos bewachsener, schwarz gewordener Stein. Diese Steinbrocken entpuppen sich bei längerer Betrachtung als Gestalten: Herakles zerfetzt das Maul des Nemeischen Löwen, Herakles tötet die neunköpfige Hydra. Neptun beruhigt die stürmische See.
Poröser Stein, von Wind, Regen und Frost geschliffen. In den entstellten Gesichtern der Helden erkennt Bohdan sein eigenes Gesicht. Die Gestalten sind in wilder Unruhe über der Stadt erstarrt.
Am besten gefällt ihm der Gefangene. Er sitzt im Schneidersitz am Rande des Abgrunds. Seine Arme sind hinter dem Rücken gefesselt. Obwohl er seiner Freiheit beraubt ist, wirkt er dennoch ruhig. Interessiert betrachtet er die Straße unter sich. Dort spazieren Krähen. Scheuchen Tauben auf. Menschenströme fließen dahin, mal träge, mal schnell.
»Weißt du noch, von welchem Künstler diese Skulpturen sind?«, frage ich, nachdem ich mich Bohdan lautlos von hinten genähert und ihm die Hand auf die Schulter gelegt habe. Er zuckt nicht einmal, als hätte ihn mein plötzliches Auftauchen weder erschreckt noch verwundert.
»Pinsel«, antwortet Bohdan, ohne den Kopf in meine Richtung zu drehen. »Johann Georg Pinsel, ein Bildhauer des 18. Jahrhunderts. Man weiß nicht, woher er kam und wohin er verschwand. Man weiß nichts über ihn, gerade einmal, dass er mit einer Witwe verheiratet war, die dann wieder Witwe wurde und noch einmal heiratete. Es sieht so aus, als könnte man über den Charakter und die Gewohnheiten der Witwe mehr sagen als über ihren zweiten Mann.«
Ich lache, und er hebt den Blick, als hätte er nicht erwartet, dass ich die Ironie seiner Worte wahrnehme. Die Fotos von Pinsels Skulpturen fesseln seine Aufmerksamkeit. Während er sie betrachtet, vergisst er einige Zeit, dass er sich selbst vergessen hat. Die ekstatisch verdrehten Körper der Steinfiguren verzaubern ihn, die hageren, starken, von einem inneren Feuer zerrissenen Gestalten, deren Gefühle sich in einem wilden, zuckenden Tanz zeigen, wie im Fieber oder unter Qualen, wenn sich das Innere nach außen kehrt.
»Du hast mir vor ein paar Wochen von Pinsel erzählt«, sagt er und zeichnet mit dem Zeigefinger den straff nach innen gezogenen muskulösen Bauch der Allegorie der Tapferkeit nach, ihre flachen Brüste, die kräftigen Gliedmaßen, das sanfte Gesicht mit den nach oben verdrehten Augen, die halb zwischen den Säulen der Ikonostase versteckte Gestalt. Er ist überzeugt, dass ich die Erste war, die ihm von Pinsel erzählt hat, aber auf diesen schlechten Fotos von Körpern aus Stein und Holz, an denen der Zahn der Zeit genagt hat, erkennt er beständig etwas, das ihm allzu verwandt ist.
»Du verdrehst die Augen genauso wie sie« – und ich demonstriere an mir seine Ähnlichkeit mit der Allegorie der Tapferkeit. »Siehst du, auf ihrer Schulter zeichnet sich ein Männergesicht ab«, mache ich ihn aufmerksam. »Sie bewahrt einen Mann in ihrem Inneren.«
Bohdan betrachtet die Gesichtszüge, die auf der weißen Schulter hervortreten. »Ist das ein Symbol von Kraft und Stärke?«, überlegt er. »Eine Frau, der männliche Kraft zuteilwurde? Eine Frau, die einen Mann in ihrem Körper bewahrt? Ihn nicht hinauslässt? Festhält?«
Ich werfe ein Foto von Herakles, der die neunköpfige Hydra tötet, auf die Allegorie der Tapferkeit. Die Hydra windet sich unter dem muskulösen Helden, sie schlägt um sich. Die Körper der beiden umschlingen sich, sie halten einander im Schraubstock des Todes fest, der so leicht mit einer leidenschaftlichen Umarmung zu verwechseln ist.
Bohdan tippt mit dem Finger auf Herakles: Zur Strafe für die Brutalität, mit der Herakles die Bevölkerung von Euböa und deren König vernichtet hatte, ließ Hera den Helden in geistige Umnachtung versinken.
Die Mythen kennt er, man muss sie ihm nicht in Erinnerung rufen.
Ich ziehe ein Bild vom Heiligen Onufrij unter dem Stapel hervor und lege dabei ein gemeinsames Foto von Bohdan und mir frei, das sich ganz unten versteckt hatte. Ich weiß, wie sehr er dieses Farbfoto hasst. In einem Wutanfall hat er Rahmen und Glas zerschlagen und nur durch ein Wunder das glänzende Papier nicht zerfetzt. Trotz allem ertappe ich ihn oft dabei, dass er das Bild betrachtet, wenn er alleine ist. Ich weiß genau, dass mein Gesicht ihn wenig interessiert. Bohdan betrachtet sich selbst, wie er einst ausgesehen hat.
Ich sehe ihn vor dem Spiegel: Er studiert sein Spiegelbild, dreht seinen großen, abstoßenden Kopf, betrachtet ihn von allen Seiten und sucht Ähnlichkeiten mit dem gutaussehenden Mann auf dem Foto. Aber wie kann er Ähnlichkeiten finden, wenn der perfekt geformte Schädel an mehreren Stellen zertrümmert wurde und nun eher einer Art Kohlstrunk ähnelt, mit vielen Knoten und Wucherungen. Wo einst seidiges Haar wuchs, sind nun Löcher, Furchen und dunkelgraue, blauviolette Narben, auf denen kein einziges Härchen sprießt. Das Haar wächst da und dort in einzelnen, schütteren Büscheln nach, in fahlen Strähnen unbestimmter Farbe, wie das Gras vom letzten Jahr, das Ende Februar plötzlich unter dem Schnee hervorguckt.
Während er auf dem Foto eine hohe helle Stirn sieht, elegant von einigen dünnen Linien durchzogen, stößt sein Blick im Spiegel auf eine dunkle, raue Oberfläche voller Unebenheiten. Seltsamerweise erscheinen Bohdans dunkle Augen auf dem Foto leuchtend graugrün. So etwas kommt vor, wenn im Augenblick des Fotografierens die Sonne hell scheint und ihre Strahlen sich etwa in den Fenstern der umliegenden Häuser brechen. Der Bohdan auf dem Foto hat Augen, die erfüllt sind von zerronnenem Licht und opalgrünem Schnee, obwohl Bohdans Augen in Wirklichkeit dunkelbraun sind, undurchdringlich und dämmrig schimmernd. Die Augenhöhlen haben nun unterschiedliche Formen, sie liegen nicht mehr auf einer Achse, alle Achsen in Bohdans Gesicht, die es früher schmal und harmonisch nach allen Gesetzen der göttlichen Proportion zusammengehalten haben, sind aus dem Lot geraten. Das linke Auge ist nur ein Schlitz und zur Schläfe hin gerückt, das rechte Auge ist geweitet und fast rund, das Lid ist geschwollen und unbeweglich, das Auge drängt sich an die flachgedrückte, zertrümmerte Nase. Wie soll man diesen Buckel und die langgezogenen Nasenlöcher nur identifizieren? Aus welchem Winkel muss man schauen, um in den vielen Vertiefungen, Gruben und Rillen die glatt geformten Wangenknochen, den kräftigen Kiefer und das Kinn zu erkennen?
»Aber dein Mund«, sage ich ihm jeden Tag, immer wieder, »dein Mund ist gleich geblieben. An deinem Mund habe ich dich erkannt.«
Im Spiegel betrachtet er seine angespannten Lippen, die er so fest zusammenpresst, dass sie blau werden, und vergleicht sie mit den Lippen auf dem Foto. Er versucht genauso ungezwungen zu lachen, wie er an jenem Tag gelacht hat, als er vor der Mauer des Archivs den Arm um meine Schulter gelegt und mich an sich gedrückt hat. Aber sein halbgelähmter Mund gehorcht ihm nicht: Die Mundwinkel rutschen hinunter und zittern, sie entstellen das traurige, hoffnungslose Gesicht noch mehr. Ich weiß, dass er keine Ähnlichkeit erkennt.
Ständig quält mich der Gedanke, wie ich ihm klarmachen kann, dass er mir so noch näher ist als an dem Tag, als jenes Foto gemacht wurde und er mich zum ersten Mal an sich drückte, sodass meine Wange seine Schulter berührte und mein Lippenstift Spuren auf dem Ärmel seines weißen Leinenhemdes hinterließ. Dass er damals so hübsch war wie ein Engel von Michelangelo, hinderte mich nicht daran, all das in ihm zu sehen, was er wirklich ist. Und nun, da er an den abgetrennten Holzkopf von Pinsels Engel mit der abgesägten Nase erinnert – an diesen leidvollen, traurigen, schiefen Kopf, dessen Gesichtsausdruck sich abhängig vom Blickwinkel verändert –, nun, da Narben und gebrochene Knochen sein ganzes Wesen, sein wahres Ich deutlich machen, ja ganz und gar nach außen kehren, bin ich bereit, alles zu tun, um bei ihm zu sein, um ihn zu beschützen, mich um ihn zu kümmern, seine Haut zu werden, die die offenen Wunden vor Berührungen durch die Außenwelt abschirmt.
Wie soll ich ihm das nur klarmachen?
Die Oberfläche eines Neutronensterns ist glatt und kalt. Man könnte sich in ihr sehen wie in einem Spiegel. Nur ist die Anziehungskraft eines Neutronensterns so stark, dass er jeden physischen Körper, der in seine Nähe kommt, in Atome zertrümmert. Zuerst verdreht er die Gelenke, dann dehnt er die Haut und reißt alles in Stücke. Der Körper wird zu Staub. Der Staub zerfällt in noch kleinere Teilchen. Nichts bleibt übrig.
Ich betrachte mich im Badezimmerspiegel. Ich denke an den Neutronenstern. An seine äußere Kruste aus Eisen. An seine Atmosphäre. An die elektrische Leitfähigkeit seiner inneren Kruste. Ich könnte mich in der Oberfläche eines Neutronensterns nicht sehen.
Ich sehe mich im dunklen Badezimmerspiegel. Aber irgendetwas stimmt mit ihm nicht. Mit allem stimmt etwas nicht: mit dem Spiegel, mit dem Badezimmer, mit der Dunkelheit, mit dem Spiegelbild, mit mir.
Mit dem Neutronenstern stimmt alles. Seine Masse entspricht ein bis zwei Sonnenmassen. Sein Radius misst 10–20 Kilometer. Er wächst mit zunehmender Masse. Eine Umdrehung beträgt den Bruchteil einer Sekunde.
Ich denke an den Neutronenstern, als ohne Vorwarnung eine Frau das Badezimmer betritt und sagt: »Mein Gott, wieso stehst du hier im Dunkeln?«
Sofort macht sie das Licht an. Sie kommt zu mir. Wieder kommt sie mir viel zu nah. Wieder schaut sie mich an. Wieder streckt sie die Hand aus, um mich zu berühren. Ich weiche zurück. Sie dreht beide Wasserhähne zu. Das Wasser hört auf zu rinnen. Das Wasser hört auf zu plätschern. Stille macht sich breit. Die Frau betrachtet ihr Bild im Spiegel und auch dieses andere Bild, das einen Schritt nach hinten gemacht hat. »Was machst du hier?«, fragt die Frau. »Stimmt etwas nicht?«
Ich schweige lange. Ich ziehe es vor, mit meinen Worten sparsam zu sein. Die Gedanken, diese Gedanken, die ihr hier gerade lest, bedürfen keiner Worte. Euer Gehirn verwandelt sie in Worte. Ich habe damit nichts zu tun. Auf gar keinen Fall!
Die Frau dreht sich um. Wieder macht sie einen Schritt in meine Richtung. Treibt mich in die Ecke. Schaut mich an. Atmet. In ihrem Blick liegt eine Frage. Sie will etwas von mir. Ich erstarre. Wende den Blick ab. Die Lippen zusammengepresst. Sie nimmt meine Hand. Ich ziehe sie weg. Verstecke sie hinter meinem Rücken. Ich muss mich von ihr fernhalten. Ich muss mich von ihr fernhalten.
»Stimmt etwas nicht?«, fragt sie. »Ist etwas passiert? Stimmt etwas nicht?«, hallt ihre Stimme wider. »Stimmt etwas nicht?«
»Alles in Ordnung«, ertönt endlich eine Stimme. Das war ich. Ich habe Wörter aus mir herausgepresst. Jetzt habe ich mich verschluckt. Da hast du’s. »Alles in Ordnung«, wiederhole ich lauter.
»Komm, ich helfe dir beim Rasieren«, sagt sie und streckt ihre Finger nach meiner Wange aus.
»Ich will mich nicht rasieren«, sage ich.
Meiner Zunge fehlt ein Stück. In meinem Kiefer ist Metall. Mein ganzer Mund ist steif und rostig. Deshalb gehorcht mir die Sprache nicht. Das sagt die Frau. »Bald wirst du wieder sprechen«, sagt sie. »Bald wirst du dich erinnern.«
Ein paar Wörter gehen noch. Ich kann sie aussprechen. Aber es gibt welche, die mir in der Kehle stecken bleiben und mich stechen. Oder sie fallen stückweise aus mir heraus. Oder sie brennen. Oder zerrinnen. Ich weiß nicht, was ich mit ihnen tun soll. Sie liegen in meinem Mund, kalt und unangenehm. Ich kenne sie nicht.
»Soll ich dir beim Zähneputzen helfen?«, fragt die Frau.
Und wieder passiert es. Ein Pulsar, elektromagnetische Strahlung in meinem Kopf. Ich bewege mich nicht, weiß aber, dass die Frau alles bemerkt. Sie erschrickt. Sie hat Angst, dass ich sie schlagen, ihr etwas antun könnte. So viel liegt in ihren Augen, in ihrem Gesicht. Mehr, als ich ertragen kann. Mehr, als ich wissen will. Sie weiß mehr über mich, als ich selbst über mich weiß.
Ich will mir nicht die Zähne putzen. Ich werde heute nicht Zähne putzen. Ich werde mich nicht waschen. Ich will mich hinlegen, die Augen schließen und mir die Decke über den Kopf ziehen. Ich will über den Neutronenstern nachdenken. Darüber, wie heiß er geboren wird. Und wie er innerhalb von tausenden Jahren abkühlt.
Ich kneife die Augen zusammen. Ich weiß, dass sie vor mir steht. Ich weiß, dass sie mich ansieht.
Das ist meine Frau. Meine Ehefrau. Sie hat auf mich gewartet und mich gefunden. Sie hat mich aus jener Welt geholt. Sie hat die Anziehungskraft des Neutronensterns überwunden. Sie weiß alles über mich. Sie erzählt mir von mir. Sie bringt mir mein Gedächtnis zurück. Sie gibt mir ein Spiegelbild.
Pinkas’ Notizbuch zieht Bohdan an wie ein Magnet. Ich lege seine alte Kleidung um ihn herum aus, seine Schuhe, seine Regenjacke, den Schlafsack. Ich lasse seine liebste rautenförmige Kelle in der Lederhülle neben seiner Matratze liegen, sie soll das Erste sein, was er sieht, wenn er morgens die Augen aufschlägt. Es ist dieselbe Kelle, mit der er so viele Male Erde von tausendjährigen menschlichen Knochen geschabt hat. Mit der er abgelagerte Zeitschichten von Resten uralter Behausungen gekratzt und so das Rückenmark des Lebens berührt hat, das nicht zu pulsieren aufhört. Auf unseren runden Esstisch, der in der Farbe eines skythischen Schädels lackiert ist, lege ich sein Archäologiehandbuch und Herodots »Historien« mit dem sichelförmigen Abdruck einer Kaffeetasse auf dem Umschlag und den Spuren von Bohdans Fingern auf den Seiten. Er schiebt das Buch mit dem Ellenbogen weg, berührt es nicht einmal und greift nach dem Schafkäse auf dem kleinen Teller, der unter dem ungeschickten Druck der Klinge zerbröselt ist.
Manchmal vergräbt Bohdan sich in Bergen von Familienfotos und betrachtet sie, bis in seinen Augen vor Überanstrengung Äderchen platzen, aber diese Ausflüge in das Vergessen treiben ihn nur noch tiefer in die Verzweiflung. Er kennt die Namen aller Akteure auswendig, erzählt mir, was sich vor dem auf der Fotografie festgehaltenen Augenblick zugetragen hatte oder was danach stattfand, als sich die Personen wieder bewegten und ihr Leben abermals den gewohnten Lauf nahm. Er erklärt den einen oder anderen Ausdruck in den Augen seiner Baba Uljana, er erklärt Nusjas Grimassen oder den erschrockenen Gesichtsausdruck seines fünfjährigen Vaters, der wie angewurzelt in der Türöffnung steht. Bohdan kann das Haus auf dem Torhowyzja-Hügel beschreiben, die Veranda, die Spalten zwischen den Bodendielen, den Winkel im Vorzimmer, wo sich immer eingetrocknete Erde sammelte und die Gartenhacken standen, die niedrige Bank, auf der seit jeher ein und dasselbe rostige Vorhängeschloss mit seitlich wie ein Ohr abstehendem Bügel lag. Das Quietschen des Sofas, über das eine Decke gebreitet war, die Farben des Teppichs, der an der Wand hing, und jenes Teppichs, der die Luke im Boden bedeckte. Er zählt den Inhalt der Eichenholzkredenz auf, obwohl auf dem Foto außer dunkleren und helleren Flecken wenig zu erkennen ist: ungarische Fayence-Teller mit Goldrand, eine Suppenschüssel und eine Sauciere aus Porzellan, auf deren Boden deutlich ein kleiner schwarzer Adler über einem Hakenkreuz auszumachen ist, versilberte polnische Messer, Löffel und Gabeln und kleine Löffelchen mit gebogenem Stiel und rundem Bauch, ganz braun vom Alter (»Die mir als Kind aus irgendeinem Grund sehr gut gefallen haben«), dunkelblaue tschechische Kaffeetassen und ein Sektglas in der Farbe von rotem Traubensaft, eine Teekanne aus Neusilber, eine Tasse aus Kupfer, eine goldene Gabel mit zwei Zinken, ein paar Löffel und ein Becher mit eingravierten hebräischen Buchstaben, Gläser und eine Weinkaraffe aus der Glasfabrik Lilijen in Schowkwa und Schälchen aus Bereschany, sowjetisches Neusilber mit einem Emblem in Form einer Ente, Speise- und Dessertteller mit Sauerkirschen und olympischen Bärenmaskottchen darauf, außerdem ein Tontopf und tiefe Keramikteller.
Sorgfältig zählt er alles bis ins kleinste, unbedeutendste Detail auf, viele dieser Einzelheiten habe ich selbst schon vergessen, hatte sie früher vielleicht unbedacht erwähnt; er wiederholt jedes meiner Worte, alle Teile meiner Erzählung. Keine neuen Tatsachen, keine eigenen Erinnerungen schimmern durch diesen dicken Brei, mit dem ich ihn bereits seit einigen Monaten sorgfältig füttere, nichts wächst auf diesem Dünger, mit dem ich den ausgelaugten Boden aufpäppeln will, in der Hoffnung, auf ihm einen lebendigen Spross ziehen zu können.
All diese Bemühungen erschöpfen uns immer und immer wieder bis aufs Äußerste, sie saugen uns jegliche Hoffnung aus. Bohdan wird zornig: Die Fotografien fliegen durch die Luft, er trampelt mit den Füßen darauf herum. Ich hebe die Fotos auf und stecke sie in die durchsichtigen Hüllen auf den dicken Papierseiten des Fotoalbums, ich ordne, was nach Bohdans Wutanfall noch zu retten ist. Einige Wochen lang kehren wir nicht zum Thema Vergangenheit zurück. Wir unterhalten uns überhaupt kaum. Ich kümmere mich schweigend um ihn. Schweigend gestattet er mir, mich um ihn zu kümmern.
Aber ich sehe, dass er heimlich das mit der Zeit schwer gewordene Büchlein mit dem farbigen, weichen Ledereinband aus der Innentasche meines Mantels geholt hat und nun mit sich herumträgt, es unter seinem T-Shirt im Hosenbund versteckt. Wenn ich an Bohdan vorbeigehe und unabsichtlich mit dem Bauch seine Schulter berühre, wenn er auf einem Stuhl sitzt, oder mit der Brust seinen Rücken streife, nehme ich den vertrauten Geruch des muffigen Leders und schimmeligen Papiers wahr. Bohdan gesteht mir sein Interesse nicht, erklärt es mit keinem Wort. Und ich gebe vor, nichts zu bemerken, obwohl ich weiß: Pinkas’ Buch hat etwas in Bohdans Innerem berührt. Mir ist es noch nicht gelungen, das zarte, nackte Fleisch inmitten der morschen Baumstümpfe und der toten rötlichen Kalkablagerungen zu berühren, die Bohdans Bewusstsein überwuchert haben. Aber der tausendmal verratene und ermordete jüdische Junge, dessen Körper vor vielen Jahrzehnten verwest und zu Staub zerfallen ist, hat es geschafft, Bohdans tauben Gehirnzellen Leben einzuhauchen.
Ich bin mir noch nicht sicher, ob mir diese Beobachtung Freude oder Sorgen bereitet, ob sie mich erschreckt oder hoffen lässt. Mein Herz schlägt wie verrückt bis in die Kehle, wenn ich spät abends gebückt und zusammengekrümmt durch den Türspalt spähe und sehe, wie gierig Bohdan die schmutzigen, vergilbten Seiten von Pinkas’ Notizbuch umblättert, wie lange er über der einen oder anderen Doppelseite verharrt, wie er sich in Pinkas’ mohnkörnchenkleine Schrift vertieft. Bohdan kann kaum etwas entziffern. Ich habe ihm eingeredet, dass er Polnisch und Deutsch beherrscht, dass er an der Universität Latein und Altgriechisch studiert hat, aber er kann aus irgendeinem Grund nicht einmal ukrainische Wörter entziffern, von hebräischen ganz zu schweigen.
Mehr Interesse hat er an Pinkas’ Zeichnungen: Er vergleicht die Umrisse des Amadoka-Sees auf verschiedenen mittelalterlichen Karten, als läge der Schlüssel zu seinen Erinnerungen in diesen geschwungenen Linien, in den naiven schematischen Darstellungen von Bergen, Städten und Wäldern, Straßen, Schlössern und Sümpfen. Vielleicht ist es so, denke ich, und trete unruhig von einem Fuß auf den anderen, ohne zu merken, dass mein halber Körper taub geworden ist – vielleicht ist es so, vielleicht liegt das Geheimnis tatsächlich dort verborgen. Und ich weiß nicht, ob es gut oder schlecht wäre, wenn es Bohdan gelänge, Pinkas’ Botschaft zu entschlüsseln. Sie zu lesen. Ich weiß nicht, ob ich es mir wünsche oder ob ich Angst davor habe. Ich weiß nur, wie sehr ich Bohdan beschützen will. Wie sehr mir der Gedanke, meinen Mann wieder zu verlieren, Angst einjagt.
Bohdan bewundert Pinkas’ Zeichnungen: Skizzen von den Straßen der Stadt – die gemauerten Häuser, ihre brunnentiefen Torbögen, ihre von Flieder und Johannisbeersträuchern überwachsenen Innenhöfe, schattig und feucht, die Flusswindungen der Strypa, über die sich Weiden beugen, das Haus mit der geschnitzten Holztraufe, der Brunnen bei der Synagoge und die Synagoge selbst mit ihren riesigen Fenstern, den bogenförmigen Portiken und die runden Dachgewölbe; er bewundert die Szenen auf dem Marktplatz, auf denen man kleine wohlproportionierte Gestalten in langen Gewändern und mit breitkrempigen Hüten sieht – ihre Bärte wehen im Wind und die Tücher auf ihren Köpfen sind mit wunderlichen Knoten festgebunden, an Stirn und Armen treten Tallit und Tefillin als kubische Vorsprünge hervor. Die Gestalten sind so klein wie Satzzeichen, wie Buchstaben des hebräischen Alphabets, trotzdem kann man erkennen, dass die abgebildeten Menschen einander grüßen, dass sie Neuigkeiten austauschen, dass sie mit ihren Blicken die herumlaufenden Kinder verfolgen, und dass sie in Gedanken versunken den Horizont betrachten und zu verstehen versuchen, was genau die Staubwolken, die sich zwischen Himmel und Erde erhoben haben, in die Stadt bringen werden. Bohdan erkennt bereits die Ruinen des Schlosses und die Hügel, die Weite von Feldern und Himmel, die Nahirnja-Brücke, den Tunnel, den Kopf des heiligen Nepomuk, das Rathaus mit dem Barockturm, die Wendeltreppe im Turm, den Blick auf die Stadt vom Fenster, das ganz oben im Turm ist, und die Detailansichten von Pinsels Skulpturen, die er mit den Fotos vergleicht und dabei an Herakles’ Ohr, das Maul des Löwen und die muskulösen Oberarme des Kosaken denkt.
Nur das Gesicht des Kindes, das unzählige Male auf den Seiten des Buches abgebildet ist, erkennt er nicht. Das Köpfchen mal größer, mal kleiner, von vorne und im Profil, sich ständig wiederholende Ansichten, ganze gezeichnete Filme – der Kopf dreht sich, langsam erblüht ein Lächeln, Girlanden aus Emotionen. Ist es einer von Pinsels Putti, oder eine weitere unbekannte Allegorie? Auf Stirn und Hals fallende Haarsträhnen, gerötete Wangen, volle Lippen. Große, ernste Augen blicken wie vom Grund eines Sees, wie aus jener Welt aus der Zeichnung heraus. Bohdan hat eine Ahnung, wer dieses Mädchen sein könnte, es ist kein Engel aus Stein oder Holz, sondern ein lebendiges Kind. Von irgendwoher weiß er das sicher.
Auf einer Zeichnung hält ein hagerer, sehniger Mann, dessen Gesicht im Schatten liegt, nur seine scharfen Backenknochen und eingefallenen Wangen sind zu erkennen, das Kind auf dem Arm. Ein paar Seiten weiter ist eine neue Zeichnung: Auf einer gepflasterten Straße wird das Mädchen von einer Frau in elegantem Kleid und Hut an der Hand geführt. Bohdan erkennt das Mädchen sogar von hinten: Das sind doch ihre Locken. Und sie sind zweifelsohne hell. Hier schmiegt sich das Mädchen mit der Wange an den großen Kopf eines Kalbes, ihr Körper ist fast vollständig vom Betrachter abgewandt. Die Wärme der Rinderzunge. Der mächtige heiße Atem. Das feuchte Maul. Das Mädchen schließt die Augen und lauscht dem Körper des Tiers, lauscht all den inneren Stimmen.
Hier sitzt sie vor dem Eingang eines Hauses. Die Mauer ist nur angedeutet, die Veranda, die Gardinen im Fenster und die Pelargonien auf dem Fensterbrett sind mit wenigen Strichen skizziert. Dafür ist das Mädchen sehr genau gezeichnet. Es trägt ein Kleid und eine Schürze, geschnürte Schuhe und hohe Socken. Es hat Grübchen auf den Knien und in der Schürze ein paar Walnüsse, geschlossene und aufgeknackte. Bohdans Blick bleibt an den Walnüssen hängen, es ist, als füllte sich sein Mund mit zähem Speichel, der einen bitteren nussigen Beigeschmack hat. Die weißen, so winzigen Kerne, sparsam und beinahe schematisch dargestellt, fesseln seine Aufmerksamkeit. Unbewusst riecht Bohdan an seinen Fingerkuppen. Er bemerkt diese Bewegung nicht einmal, aber ich bemerke sie, während ich mich lautlos nähere und dabei die knarrenden Bodendielen meide. Ich bewege mich leise wie der Heilige Geist. Aber in meinem Inneren zerreißt alles und stürzt mit Getöse ein, so muss es einem Verbrecher einen Moment vor der Überführung gehen.
Mein Bauch zieht sich süßlich zusammen. Walnüsse. Ich weiß nicht, ich habe keine Ahnung, was es mit ihnen auf sich hat und warum mich diese Unruhe ergreift, dieses Gefühl einer derart brennenden und unerwarteten Gefahr, aber von diesem Augenblick an beginne ich alle Walnüsse, die Bohdan im Haus oder im Hof finden könnte, zu verstecken. Früh am Morgen sammle ich die Nüsse vom letzten Jahr auf, trage sie in den Wald, leere sie unter eine Föhre und streue Nadeln darüber.
Einen Moment lang halte ich inne, weil ich daran denke, dass ich ein paar Jahre zuvor Bohdans Vater Walnüsse mitgebracht habe. Nun muss ich sie vor seinem Sohn verstecken.
Noch vor kurzem machten wir jeden Abend, wenn ich von der Arbeit nach Hause kam, einen Spaziergang. Je länger der Herbst andauerte, desto weniger scheute ich Treffen mit anderen Menschen. In der kalten Jahreszeit kamen nur wenige Leute hierher, die meisten überwinterten in ihren Stadtwohnungen und fühlten sich geborgen in dem Wissen um die unmittelbare Nähe tausender Menschen hinter den Wänden, unter dem Boden und über der Decke. Jene, die geblieben waren, um in ihrer Datscha zu überwintern, brauchte man nicht zu fürchten. Sie ähnelten eher Traumgestalten als echten Menschen. Hin und wieder begegneten wir einem von ihnen im feuchten, unbehaglichen Dämmerlicht, irgendwo auf dem Weg, der zwischen den Föhrenstämmen zu den nackten, dicht verzahnten Sträuchern führte, in deren Zweigwerk sich Ballen des abendlichen Nebels festgesetzt hatten. Das konnte ein Alter mit blaugestreifter Sportkappe sein, der eine Karre durch den Wald zog, die er mit penibel ausgesuchten Zweigen füllte. Oder ein Säufer-Pärchen unklaren Alters, das stets umgeben war von einer Wolke aus Ausdünstungen und intensiven Gerüchen. Sie strömten entweder eine helltönende, unerträgliche Verbundenheit aus, nackt wie eine offene Wunde – Liebe –, oder sie verwünschten einander nicht weniger heftig, manchmal trotteten sie auch mit hängenden Köpfen in die Dämmerung hinein: Sie zog ein Bein nach und winselte, er hielt verzagt eine Axt in der Hand. Manchmal kroch eine unbestimmbare Gestalt umgeben von einem Rudel wilder Hunde zwischen den fernen Bäumen herum. Gelegentlich rannten die Hunde in unsere Richtung, mit einem Gebell, das im ganzen Wald widerhallte. Sie waren wütend, verschluckten sich an ihrem Geheule und stachelten einander mit ihrer Panik und ihrem Zorn auf – unweigerlich stellten wir uns vor, wie sich ihre dünnen, kräftigen Körper auf uns stürzten, wie ihre Zähne uns innerhalb von Sekunden lebendig in Stücke rissen. Doch sobald die Hunde näher kamen, wedelten sie nur mit dem Schwanz und lachten breit mit heraushängender Zunge. Bohdan kniete sich vorsichtig hin und wie in Trance streichelte er ihre Rücken und Köpfe, kraulte sie hinter den Ohren, entwirrte mit den Fingern ihr strubbeliges, verfilztes Fell. Verloren stand ich neben ihm und erkannte ihn nicht wieder, ich beobachtete verwundert, wie die Hunde genüsslich um seine Gunst buhlten. In seinem Blick, in den Bewegungen seiner Hände und in seinem Gesichtsausdruck zeigte sich überraschend etwas Weiches und Schutzloses – der durch einen Türspalt fallende Lichtstreifen. Ich nahm eine Entspannung wahr, die er sich mir gegenüber noch nie erlaubt hatte. Das dauerte so lange, bis irgendwo aus dem hallenden, einem Pavillon gleichenden Wald ein durchdringender Pfiff ertönte, ungeduldig, verärgert und penetrant. Die Hunde vergaßen Bohdan und mich augenblicklich und preschten zu ihrem Herrn, sie ließen uns in der Taubheit des leeren Raums zurück.
Schließlich verdunkelte sich der Herbst so sehr, dass die Tage überhaupt nicht mehr anfingen. Unsere langsamen Schritte brachen in den Körper des feuchten, von Pilzmyzel durchzogenen Sandes ein, durch das knirschende, zottige Moos, durch die rutschige Schicht aus vermoderndem Laub. Wir spazierten beinahe blind dahin, konnten uns in diesem finsteren Brei kaum orientieren.
So warm ich Bohdan und mich auch anzog, so viele Schichten an Pullis, langen Unterhosen, Jacken, Schals, Mützen und Kapuzen wir auch übereinander trugen, wir froren trotzdem. Schuhe und Socken waren klatschnass. Unsere Gesichter wurden taub, sodass keinerlei Mimik mehr möglich war. Wenn ich mich, wie so oft, umdrehte, um mich zu vergewissern, dass es Bohdan gut ging, konnte ich sein Gesicht im Dunkeln nicht erkennen.
Manchmal begann es während unserer Spaziergänge zu regnen. Das trügerische Schweben winziger, unsichtbarer Tropfen in der Luft verwandelte sich mit einem Mal in einen eisigen Regenguss. Der Wind frischte auf und schaukelte die Föhrenwipfel über uns. Die Föhren knackten und knarrten, ihre schlanken Stämme bogen sich und tanzten, als wären es keine Bäume, sondern auf tausendfache Größe gewachsene Tiere. Der Wind peitschte den Regen in großen Böen auf unsere Körper, schnalzte kräftig gegen unsere Wangen, Flanken und Rücken.
Eilig kehrten wir nach Hause zurück, und jedes Mal spürte ich die Anwesenheit einer reglosen Gestalt hinter den Gardinen, hinter dem Geflecht aus Weinranken auf der Veranda oder im dunklen Spalt der leicht geöffneten Eingangstür des Hauses gegenüber, eine misstrauische Aufmerksamkeit, die auf Bohdan und mich gerichtet war. Ich zügelte meinen Zorn, zähmte mit einer kleinen Bewegung die zunehmende Gereiztheit, die das Interesse unserer Nachbarin, dieser kleinen, buckligen Frau, bei mir auslöste. Irgendwie hatten wir ihre Neugier geweckt, sie riss sich sogar von ihren Beeten mit Petersilie und dem Glashaus mit seltenen Tomatensorten los. Irgendetwas an uns zog sie an oder erschreckte sie. Was konnte sie über uns wissen? Konnte sie eine Gefahr werden?
Wie aus Bosheit schmolz ihr alter Schäferhund Sefir in Bohdans Anwesenheit dahin: Er wedelte mit dem Schwanz, winselte, bettelte, dass Bohdan zu ihm kam, erstarrte vor Wonne, sobald Bohdans Hand seinen Nacken berührte.
Ein, zwei Minuten beobachtete ich ihre Zärtlichkeiten eifersüchtig. Ich verstand den Hund. Auch ich war stets hungrig nach Bohdans Berührungen. Ich beobachtete die beiden und versuchte herauszufinden, womit der Hund meinen Mann verführte. Vielleicht könnte auch ich seine Tricks nutzen?
Aber ich wusste, dass sie in meinem Fall nicht wirken würden. Ich berührte Bohdans Schulter und schob ihn sanft zur Seite. »Lass uns nach Hause gehen«, sagte ich zu ihm. »Wir sind ja schon ganz nass.« »Geh du«, antwortete er, »ich bleibe noch ein bisschen. Ich komme gleich nach. Schau nur, was für ein guter Hund er ist.« Und er zeigte auf die vor Wonne entspannte Schnauze des Tiers. Hinter den Gardinen verbarg sich eine Gestalt und beobachtete uns. »Du musst dir die Hände gut waschen«, sagte ich zu Bohdan. »Der Hund stinkt schrecklich.« »Ich mag den Geruch«, antwortete er mit gedämpfter, fremder Stimme.
Wir kehrten in unser Haus zurück. Schmutzbäche strömten von uns herab auf die blauen Küchenfliesen. Schnell warf ich meine Jacke auf den Boden und begann Bohdan auszuziehen. Er protestierte dumpf, aber ich ließ ihm keine Wahl: Ich kletterte auf einen Hocker, den ich neben ihn geschoben hatte, und zog ihm einen Pullover nach dem anderen aus, dann und wann verlor ich einen seiner Arme oder seinen Kopf in der nassen Wolle, oder auch meinen Kopf oder einen Arm. »Du bist völlig durchnässt«, sagte ich, »du musst sofort raus aus dem nassen Zeug, es fehlt mir gerade noch, dass du dich jetzt erkältest« – und ich rieb sein Gesicht und seinen Kopf vorsichtig mit einem Handtuch trocken, rubbelte seinen nackten Oberkörper so lange mit dem rauen Stoff ab, bis er ganz rot war. Er brummte, versuchte mich abzuwimmeln, machte ein paar Schritte von mir weg, stand dann aber wieder still und ließ mich gewähren, bis meine Hände zu seiner Gürtelschnalle vordrangen, bis das kalte Klirren der Schnalle die Stille zwischen uns durchbrach. Dann griff er nach meinen Händen, hielt sie fest und schob sie weg. »Was ist?«, stellte ich mich dumm. »Schau nur, wie nass alles ist, du musst dich umziehen.« Bohdan antwortete nicht. Sein Atem wurde heiser und angestrengt. Ich spürte seine Wut, spürte seinen Widerwillen.
»Gut«, gab ich schließlich nach und seufzte tief. »Ich bringe dir eine trockene Hose und trockene Unterwäsche. Und du ziehst dich unterdessen aus. Wenn du nicht willst, dass ich dir helfe, musst du eben selbst zurechtkommen«, warf ich ihm fast gekränkt hin, ging die Treppe hinauf und drückte das klatschnasse Handtuch, das ganz von Bohdans Geruch durchdrungen war, an mein Gesicht.
Habe ich erwähnt, dass er mich bat, manche Geschichten immer und immer wieder zu erzählen, unzählige Male? Zum Beispiel die Geschichte von Uljana, als man ihr verbot, Pinkas zu treffen. Oder die von ihrer Fahrt mit dem Boot. Oder die, wie es Pinkas gelang, zu überleben. Und dann natürlich, wie und warum Uljana ihn tötete.
Er fragte, ob ich wüsste, was mit Matwij Krywodjak weiter geschehen war. Erfuhr man etwas über sein Schicksal? Hatte Uljana ihn geliebt? Wer ist diese Zoya und woher war sie gekommen? Was für eine Frau kam zum Begräbnis von Baba Uljana und warum wurde sie ohnmächtig? Warum haben ihn seine Eltern verlassen, als er ein Kind war? Von wem hatten sie die Wohnung in Kyjiw? Und warum ist er jetzt mit Romana hier, in dem windschiefen Datscha-Häuschen, und nicht in der gemütlichen Wohnung, auf die er offensichtlich ein Anrecht hat? Wo sind seine Eltern? Wo sind seine Verwandten? Wo sind die Menschen, die er kannte? Wo sind die Menschen, die ihn kennen?
Ich antwortete, so gut ich konnte. Aber ihr wisst ja selbst – denkt nur an die Warnung der Psychiaterin Slonowa, die sich im Krankenhaus um Bohdan gekümmert hatte: Ein Übermaß an Information könnte ihm schaden. Ich wusste sehr gut, dass zu hoch dosierte Medikamente leicht zu Gift werden konnten. Deshalb portionierte ich meine Antworten sorgfältig, wickelte sie in Papierchen und lenkte das Gespräch eilig auf etwas anderes.
»Nein, über Matwij Krywodjak ist nichts Genaues bekannt«, antwortete ich leise und sanft. »Er hatte keine Verwandten, und Uljana und er waren nicht verheiratet, deshalb war es unmöglich, auf offiziellem Weg etwas über sein Schicksal zu erfahren. Aber es gab Gerüchte: Einmal tauchte ein Fremder in Uljanas Haus auf, der behauptete, acht Monate mit Krywodjak die Pritsche geteilt und mit ihm im Wald gearbeitet zu haben. Sie gehörten der Brigade an, deren Aufgabe es war, die Stämme der Bäume aus dem Schnee zu graben, der meterhoch lag. Denn wenn ein Stamm zu weit über dem Boden abgesägt wurde und ein hoher Baumstumpf stehen blieb, wurde die ganze Brigade hart bestraft. Er beschrieb Krywodjaks Körper, der an einen Baumstamm gefesselt und mit einer dicken Schneeschicht bedeckt einer Eisskulptur ähnelte, die man zufällig eines Morgens freigelegt hatte. Er war nackt und seine Haut schien derart rein und durchsichtig, dass man durch sie hindurch seine Knochen, Sehnen und die inneren Organe sehen konnte. ›Man sagte‹, erzählte der Mann (denn mit eigenen Augen hatte er es nicht gesehen), ›dass Krywodjak ein unnatürlich großes Herz hatte. Es füllte den gesamten Brustkorb aus, hatte die anderen Organe verdrängt und verformt. Wie hatte er mit dieser Anomalie so viele Jahre leben können? Das Herz schimmerte durch die durchsichtige Haut und leuchtete bleich in den Farben des Polarlichts. Es gab keine Spuren eines gewaltsamen Todes‹, sagte der Fremde, ›abgesehen von den Fesseln, mit denen Krywodjak an den Zedernstamm gebunden worden war. Sein Gesicht wirkte, obwohl es ganz starr war, entspannt und ruhig, als überblickte er mit seinem inneren Auge eine endlose Weite, in der alle Möglichkeiten gleichzeitig wahr werden können.‹ Wieso man ihn umgebracht hatte? Ach, er hatte seine Hände überall im Spiel: Er pflegte die Kranken (und wer blieb in einem Arbeitslager im Norden schon gesund?), gab anderen etwas von seiner jämmerlichen Ration Brot ab, übernahm Schichten von denen, die gar nicht mehr konnten, versuchte die Begleitposten häufig zu etwas zu überreden, bat ständig um ein Gespräch mit der Lagerleitung, weshalb ihn viele für einen Denunzianten hielten. Wer weiß, wieso sie ihn umgebracht haben. Gründe gab es viele.«
»Nur«, sagte ich zu Bohdan, »glaubte deine Baba dem Fremden nicht. Er bot an, ihr bei der Ausreise in den Westen, vielleicht sogar nach Kanada, behilflich zu sein, oder besser nach Neuseeland. Er bot an, ihr mit Geld auszuhelfen, aber wenn ich mich richtig an deine Erzählungen erinnere, Bohdan, verlor sie am Ende völlig die Nerven, beschimpfte ihn aufs Wüsteste, und nachdem sie ihn in hohem Bogen aus dem Haus geworfen hatte, lief sie ihm noch lange schimpfend hinterher – vorbei an den neugierigen Nachbarn, die aus ihren Häusern geschwärmt waren, um sich das Spektakel anzusehen.«
»Liebte Uljana Krywodjak? Ach, was wäre sie zornig geworden, hätte sie deine Frage gehört. Sie hätte gesagt: ›Du hast nichts als Grillen im Kopf!‹
Überlege selbst: Empfindest du Liebe zu mir, seit du das Gedächtnis verloren hast und ich dich wiedergefunden habe? Und doch ist sie da, die Liebe, ob du dich an sie erinnerst oder nicht, und unabhängig davon, was wir erlebt, erfahren und gefunden haben, sind wir von ihr umgeben, auch wenn wir sie nicht bemerken, wie wir die Luft und den eigenen Atem nicht bemerken. Wie wir das Einatmen, das Ausatmen und die Leere dazwischen nicht bemerken.
Pinkas und Matwij waren für Uljana wie Ein- und Ausatmen, Bohdan.
Sag, was denkst du: Was ist diese Leere zwischen dem Einatmen und dem Ausatmen?«
So antwortete ich ihm, so gut ich konnte: Wer ist diese Zoya – was denkst du selbst? Woher haben sie die Wohnung – darauf bist du längst selbst gekommen, das ist doch klar. Aber was für einen Unterschied macht das schon. Warum sind wir nicht dort? Weil du dich mit deinem Vater zerstritten hast, Bohdan, weil du gekränkt bist, weil du ihn nie mehr wiedersehen und nie wieder mit ihm reden willst, nichts von ihm wissen willst. Du willst von ihnen beiden nichts wissen – von ihm und von deiner Mutter. Sie existieren für dich nicht.
Wieso? Ich habe dir die Geschichte von Pinsels Heiligem Onufrij ja schon erzählt. Soll ich sie dir noch einmal erzählen? Ja? Okay, ich erzähle sie dir.
»Aber denk daran, Bohdan, denk immer daran: Sie haben dich als Kind nicht verlassen, weil sie dich nicht liebten. Sie haben dich nicht vergessen. Es hat sich einfach so ergeben. Es war eine Abmachung auf Zeit. So war es für alle besser. Sie waren sicher, dass sie dich bald holen würden, dass ihr bald wieder zusammen sein würdet.
Nur, weißt du, Bohdan, die Mitglieder deiner Familie schaffen es nicht, zusammen zu sein. Sogar wenn sie einander räumlich nah sind, trennt sie die Leere. Wie Einatmen und Ausatmen. Einatmen. Ausatmen.«
Ich hatte den Eindruck, dass Bohdan alles verstand. Manchmal, wenn ich eine seiner Fragen nur in Andeutungen beantwortete, wenn ich mit ihm sprach wie mit einem Kind, wurde sein Blick nackt und blank. Er schaute mich direkt und mit einem leichten Lächeln in den Augen an, und ich konnte die Frage von seinem Gesicht ablesen: Wie lange willst du dieses Theater noch spielen? Hör endlich auf damit. Ich weiß alles.
Er hielt mich zum Narren, aber gleichzeitig spürte ich eine Gefahr, die von ihm ausging. Wozu war er fähig? Wie unüberlegt handelte ich? Wie viel war mir noch erlaubt? Wann würde das Ende kommen und wie würde es aussehen?
Ich wollte nicht darüber nachdenken. Jetzt war er hier, bei mir. Ich war bereit zu erzählen, so viel er brauchte. Und ich erzählte.
»An jenem frühen Morgen im Mai oder September vor sieben oder neun Jahren trat ich aus dem Wald bei Swenyhorod in den Nebel hinaus, der in fedrigen Schwaden von der Strypa her aufstieg. Einige Schwaden waren kaum zu erkennen, fast durchsichtig, eher eine Andeutung von Nebel, der die Umrisse der umliegenden Welt verhüllte. Andere hingegen glichen geschlagener Sahne, Schneewehen oder Styroporbrocken.
Ich sah nur eine kleine Insel saftiges Gras unter meinen Trekkingschuhen, die den feuchten Boden aufwühlten, der mit lautem Schmatzen antwortete. Ich ging dem kaum hörbaren Geräusch der Strömung entgegen, denn die optischen Anhaltspunkte waren allzu trügerisch. Schließlich erreichte ich ein rundes Wasserbecken, das von eingemauerten Steinen umgeben war – ein kleiner Brunnen mit einer in grellen Farben bemalten Gipsstatue der Heiligen Maria. Da lichteten sich die Nebelschichten, ein plötzlicher Windstoß trieb sie auseinander, und vor meinen Augen breitete sich ein Panorama von Hügeln und Wiesen aus, von Gras überzogen wie von einem dichten Fell, eine Landschaft mit weichen, fast samtigen, tief abfallenden Falten, aus Travertinfelsen, die als löchrige Schädel und verwitterte Knochen unter der über sie geworfenen, wuchernden Pflanzendecke hervorgrinsten.
Wie du ja weißt, Bohdan, ist Travertin ein überaus wertvolles Gestein. Bereits die Römer errichteten Kirchen, Aquädukte, Badehäuser und Amphitheater aus Travertin. Wusstest du, dass das Kolosseum aus Travertin gebaut wurde? Ebenso wie die Säulen am Petersplatz in Rom und die Basilika Sacré-Coeur in Paris. Und was für makellose Travertingefäße, Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung hergestellte, in Ocozocoautla de Espinosa in Mexiko gefunden wurden – dünn und glatt, als wären sie mit flüssigem Licht gefüllt.
Hier, in den Höhlen der Travertinfelsen von Rukorak, befand sich im 13. Jahrhundert ein Kloster. In den Zellen lebten Mönche, die das Kyjiwer Höhlenkloster während der Zerstörung Kyjiws durch den Mongolenherrscher Batu Khan verlassen hatten. Eine der Höhlen wurde erweitert, für das Gebet wurde mehr Raum aus dem Stein gehauen, doch bald zeigte sich, dass die Gebete in dieser Gegend ungezwungen und wie von selbst zu ihnen kamen: an den Biegungen der Strypa, aus der die Mönche süß schmeckendes Wasser schöpften, oder wenn sie auf einem ausgestülpten Felsvorsprung saßen und das gegenüberliegende Flussufer betrachteten, bei Tag und bei Nacht, bei windstillem Wetter und wenn der Wind den Räuchergeruch aus Rukorak herüberwehte, das etwas weiter flussaufwärts lag.
Später wurde unter den Felsen des Höhlenklosters die Holzkirche des heiligen, immerzu guten Onufrij gebaut, des Einsiedlers in der ägyptischen Wüste, dem die Engel jeden Tag die heilige Kommunion brachten und den die Dämonen nicht verführen konnten, obwohl sie ihre raffiniertesten Tricks einsetzten. Der graue, struppige Bart des dürren und von der sengenden Sonne verbrannten Alten reichte bis über seine spitzen Knie, weshalb er keine Kleidung brauchte, um seine Nacktheit zu bedecken. Die Gewänder, die Onufrij getragen hatte, als er in die Einsamkeit ging, waren nach zwei Jahren in der Wüste zerfallen. Er ernährte sich von bitteren, trockenen Stängeln, die er zwischen den roten, aufgeheizten Steinen fand, seinen Durst stillte er mit zwei oder drei Tropfen Kondenswasser, das sich jeden Morgen an den Wänden seiner Höhle bildete.
Später wuchs in der Höhle nur für Onufrij eine Dattelpalme, deren Zweige nacheinander und in strenger Abfolge das ganze Jahr hindurch Früchte trugen. Die schweren, herabhängenden Rispen mit braunen Datteln wiegten sich über der reglosen Oberfläche der Quelle. An jeder Rispe wurden die Früchte zu einem anderen Zeitpunkt reif, damit sich der Alte, Gott bewahre, nicht an unreifen Datteln überessen könnte und keine unangenehmen Verdauungsbeschwerden bekäme.
Die Quelle mit frischem, kaltem Wasser war unter dem Baum entsprungen, um Onufrijs Durst zu stillen. Im durchbrochenen Schatten ruhten sich – den Rücken an den rauen Stamm der Dattelpalme gelehnt – von der Hitze ermattete Dämonen und Engel aus, die Onufrij zugehörig waren. Des Öfteren kitzelte ein Engel, der fest eingeschlafen war und mit weit geöffnetem Mund und hilflos nach hinten gekipptem Kopf dasaß, unabsichtlich den am nächsten sitzenden Dämon an Nase oder Ohr, der daraufhin einen schlechten Traum hatte. Der Dämon sprang auf, brüllte los wie das fürchterlichste aller Raubtiere, aus seinem Maul tropften Batzen stinkenden Schaums – aber Onufrij beruhigte ihn schnell, indem er ihm den Nacken tätschelte und sanft auf ihn einredete. Manchmal konnte man auch folgende Szene beobachten: Onufrij wusch einem Dämon die verklebten Augen mit Quellwasser aus, der das geduldig über sich ergehen ließ, nur sein Schwanz zuckte wie der einer zornigen Katze.
Als für Onufrij die Zeit gekommen war, seine Seele an Gott zurückzugeben, betete er und ging ruhig in jene Welt hinüber, seine leere und recht löchrige Hülle, die einer Schlangenhaut oder einem verrottenden Blatt ähnelte, ließ er zurück. Seine geflügelten und geschwänzten Gefährten hoben ein Grab für den heiligen Alten aus und beerdigten ihn mit allen Ehren, die für jene Wesen so viel bedeuteten.
Einer anderen Version zufolge bemerkten die Engel und Dämonen eines Tages, dass das Wasser in der Quelle trüb wurde, unangenehm zu riechen und dann zu versiegen begann, außerdem verfaulten die Früchte der Palme, bevor sie heranreiften. Daraufhin erhoben sich die Engel und Dämonen und entschwebten in die helle Weite des Himmels.
Onufrijs Körper lag bedeckt von seinem Bart, der einem Wüstengestrüpp ähnelte, im Scherenschnitt des Dattelschattens da, bis am Horizont (dort, wo die erhitzte Luft über dem Sand verschwommene Wellen warf und Wirbel bildete) zwei dunkle Punkte auftauchten, die sich zügig näherten. Es waren zwei große Löwen mit dichter Mähne, an deren kräftigen Pfoten große, spitze Krallen zu erkennen waren. Die Löwen gruben neben der Höhle, die Onufrij so viele Jahrzehnte beherbergt hatte, ein Grab für ihn. Vierzig Tage lang lagen die Tiere neben der Grabstätte und erwiesen ihm so die letzte Ehre.
Gut möglich, dass beide Versionen der Geschichte in Wahrheit eine einzige sind. Vielleicht gehörten die Tiere, die Onufrij für Wesen aus einer anderen Welt hielt, zur Familie der Katzen und hatten sich zum Einsiedler gesellt und ihn aus unbekannten Gründen nicht in Stücke gerissen. Es konnten ein Löwe und eine Löwin sein, die Onufrij in der Wüste aufgelesen und mit Datteln aufgezogen hatte. Heute noch nachzuvollziehen, wie alles tatsächlich gewesen ist, ist schwierig. Selbst die Erinnerungen des Mönchs Pafnutij, der den Heiligen Onufrij seinerzeit getroffen hatte, brachten nicht viel Licht in die Sache.
Dort also, im Nebel, sah ich deine Gestalt zum ersten Mal. Nein, nicht in der ägyptischen Wüste, du Witzbold (weißt du, dass du dich an nichts erinnerst, heißt nicht, dass du deinen Sinn für Humor verloren hast). Ich habe dich zum ersten Mal am Fuße des Felsenklosters gesehen, neben der Kirche des Heiligen Onufrij, in der Nähe des Dorfs Rukorak.
Ich näherte mich dir aus dem Nebel, schlich lautlos von hinten an dich heran und blieb reglos stehen, damit du mich nicht bemerktest.
Du standest vor dem Eingang der gemauerten Kirche, die im 18. Jahrhundert anstelle der früheren Holzkirche erbaut worden war. Eine Wehrkirche mit dicken Mauern, die vor feindlichen Angriffen schützen würden. Frauen und Kinder sollten sich durch die enge Öffnung hinter dem Altar zwängen, wo sich ein unterirdischer Gang öffnete, der weit aus dem Dorf hinausführte und irgendwo im Wald endete, an einem sicheren Ort, und die Männer währenddessen die Stellung halten, indem sie die schwere geschmiedete Eingangstür mit ihren mächtigen Schultern zudrückten.
Du wusstest natürlich, dass der geheime Eingang auf Bitten der Dorfbewohner fest zugemauert worden war und dass niemand die unterirdischen Gewölbe von Kirche und Kloster je erforscht hatte. Der Eingang sollte besser verschlossen bleiben, bevor man dort, in den dunklen Tunneln, etwas fand, das zu finden man bereuen würde. Falls dort etwas versteckt war, dann war es Gottes Wille. Wir haben bis heute ohne dieses Wissen gelebt und werden auch weiter so leben. In viel Wissen liegt viel Schwermut, und wer zur Erkenntnis beiträgt, nährt den Kummer.
Dieser Ort war für dich immer etwas Besonderes, auch wenn er gemischte Gefühle hervorrief. Baba Uljana fuhr mit dir von klein auf hierher, denn sie hegte eine besondere Liebe zu Travertin, zu Felsen, Höhlen, zu diesen in den Stein gehauenen Stiegen, zum Wasser, das sich als plätscherndes Band durch die Wiese schlängelte, zu blühenden Dotterblumen, zur Stille, die über den Wiesen lag, zur steinernen Kühle der Kirche, zum Geruch nach Pilzen, der aus dem Wald wehte, zur geweißten Statue des Heiligen Onufrij in der Felsengrotte und zum jungen Priester.