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Unerträglich sind die Spöttereien der Klassenkameraden, denen Frau Landgrafs Töchter wegen ihrer auffällig blonden Haare ausgesetzt sind. Eine Annonce bringt die kleine Familie auf die Idee, eine Hauslehrerin einzustellen, und so steht die Witwe mit Dorle und Paula eines Tages am Zug und wartet voller Spannung auf Ilse Bertram. Schick ist die noch junge Frau in ihrem braunseidenen Mantel mit passendem Schuhwerk und Handschuhen. In dem kleinen Ort wird sie bald argwöhnisch beobachtet. Gut, dass niemand von den engstirnigen Wiesbergern von ihrem geschiedenen Gatten weiß. Schnell wird die neue Stelle ein Zuhause für Ilse. Und ihrem Glück mit Heinz Pardingen kann auch der Klatsch nichts anhaben. Bis Ilse eines Tages auf der Kirmes ihren Exmann unter den Schaustellern entdeckt. Benno von Zednickau, durch seine Spielsucht völlig heruntergekommen, lässt sich die Gelegenheit nicht entgehen, seine frühere Frau zu erpressen. Voller Angst um ihre Zukunft nimmt Ilse zum nächtlichen Stelldichein einen Revolver mit. Unerklärlich sind die Ereignisse dieser Nacht, von denen keiner in Wiesberg etwas mitbekommt. Doch seitdem lebt Ilse in dem Wissen eine Mörderin zu sein. Jahre später taucht auf dem Schreibtisch des Rechtsanwalts Robert Salten der Name Benno von Zednickau wieder auf: Der Mann wurde vor wenigen Wochen erschossen??? Falsche Schuld und echte Reue – fesselnd und ergreifend erzählt der Roman von einer jungen Frau, die in der Enge einer kleinbürgerlichen Gesellschaft ihrem Schicksal trotzt.-
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Seitenzahl: 222
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Anny von Panhuys
Roman
Saga
Die geschiedene Frau
© 1920 Anny von Panhuys
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711570487
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com
Paula Landgraf nahm ihre jüngere Schwester fest an die Hand.
„Komm, Dorle, guck’ dich gar nicht um nach den Gassenbuben, die uns immer „Weissköpp“ schimpfen. Wir können doch nichts für unsere hellen Haare, der liebe Gott wird schon wissen, warum er sie uns gegeben hat.“
Sie zog die Schwester mit sich fort durch die schmale Enggasse nach der Hauptstrasse, wo die beiden vor einem kleinen Hause haltmachten, in dem sich ein nicht allzu grosser Laden mit heiserer Türschelle befand. Das war die Leihbibliothek und Buchhandlung von Frau Witwe Alwine Landgraf, die sie nach dem vor zwei Jahren erfolgten Tode ihres Mannes weiterführte. Frau Alwine sass selbst hinter dem Ladentisch, da der Gehilfe krank war, sie war ganz vertieft in einen abgegriffen aussehenden Band und blickte beim Eintritt ihrer Kinder sehr zerstreut auf.
Die zehnjährige Dora klagte: „Mutter, die Buben haben uns schon wieder ‚Weissköpp‘ geschimpft, und in der Schule haben Lene Schröter und Hilde Steiner auch gespottet und gesagt, Paula und ich wären Kakerlaken und gemeint, wir könnten uns am Kirmestag auf dem Juxplatz für Geld sehen lassen in solcher Bude wie die Zwerge und Feuerfresser.“
Die Frau biss sich auf die Lippen, um nicht laut zu stöhnen: Wann hört nur diese Qual einmal auf?
Schon von ganz klein waren Hohn und Spott hinter ihren Mädelchen hergezogen gleich allzu getreuen Vasallen. Und weshalb? Weil sie etwas zu hellblondes Haar besassen. „Mehr hell als blond,“ pflegte ihr seliger Mann immer zu witzeln, der gar nicht begreifen konnte, dass sie unter der Haarfarbe ihrer Kinder litt. Niemals hatte er Verständnis dafür gehabt. Oder doch so getan, als sei ihm das gleich, denn schliesslich war er an dieser entsetzlichen Haarfarbe — wenn man dabei überhaupt noch von Farbe reden konnte — schuld. Er war blond gewesen. Allerdings von einem warmen, kräftig getönten Blond, dagegen die Mädels — — Wie ein ins Elfenbeinerne hinüberspielendes Weiss war das Lockengewirr, das sich um die rosigen Kindergesichter spann. Ganz befremdend wirkten darunter die grauen grossen Augen mit den beinah schwarz zu nennenden Wimpern und den schmalen Bogen der ebenso dunklen Brauen. Die Einwohner von Wiesberg fanden die beiden Schwestern entschieden hässlich, und die arme Frau Landgraf musste das, wenn auch etwas umschrieben und verblümt, oft genug von guten Nachbarinnen hören.
Dann zeigte sie zwar stets eine kampfbereite Miene, die den Schwätzerinnen Vorsicht empfahl, aber sie fuhr sich auch zugleich mehrmals über ihr stets tadellos glatt gekämmtes Haar, als wollte sie sich überzeugen, ob ihre braunen Zöpfe noch an dem Platz lagen wo sie hingehörten.
Und auch jetzt, während sich Dora, die Jüngste, beklagte, machte sie die Bewegung nach ihrem Haar.
Mit einem Neidfünkchen in den Augen war die Kleine der Bewegung gefolgt. „Du hast es gut, Mutter, ach, wenn ich doch auch so schönes, braunes Haar hätte!“
Frau Alwine seufzte heimlich. „Dorle, du musst dich nicht ärgern über dumme Gören, die dich foppen wollen. Wenn du älter wirst, bekommst du auch dunkleres Haar.“
„Paula ist vier Jahre älter als ich und ist noch genau so weiss,“ wandte Dora zweifelnd ein.
„Paula ist auch noch zu jung, habt nur Geduld, euer Haar wird schon schöner werden,“ tröstete die Mutter.
Doch der Trost verfing bei Dora nicht. „Ach, dann werden wir lange warten müssen, und bis dahin sollen wir uns ausspotten und auslachen lassen? Nein, Muttel, lieber will ich sterben.“
Frau Landgraf erschrak und legte das Buch, darin sie vorhin gelesen, völlig beiseite. Durch und durch war ihr der impulsive Ausruf ihrer Jüngsten gegangen. „Wie darfst du so etwas Sündhaftes sagen, Dorle,“ verwies sie das Kind.
Doch Dorle liesss sich nicht einschüchtern. „Ach, Mutter,“ brach es aus ihrem übervollen Herzen, „ich mag gar nicht mehr in die Schule gehen, weil ich die Spöttereien kaum noch hören kann. Und wenn das noch lange Jahre so weitergehen soll —“
Sie brach ab und fing an zu weinen.
Frau Alwine lächelte gequält. „Ich will nachdenken, Kind, wie ich euch helfen kann.“
Paula sagte altklug: „Eigentlich ist die ganze Geschichte dummer Schnickschnack, aber weisst du, Mutter, auch ich wäre froh, wenn ich wenigstens die blöden Anutzereien in der Schule nicht mehr hören brauchte, wir können doch nichts dafür, dass wir Krüppel sind.“
Frau Alwine sprang entsetzt von ihrem Stuhle auf. „Was sagst du? Krüppel wäret ihr? Aber, Paula, bist du toll geworden, man nennt Menschen mit etwas hellem Haar doch nicht gleich Krüppel.“
Paula zuckte die Achseln. „Trude Wilde, die so dicke, schwarze Zöpfe hat, sagte neulich zu Klara Feldmann: Die zwei Landgrafs sind in meinen Augen „Krüppel“ und bleiben mit solchem Altleutehaar ihr Leben lang gezeichnet.“
Frau Alwine sprach erregt: „Ich werde zum Rektor gehen, mich über Trude Wilde beklagen.“
„Lass das lieber, Mutter,“ wehrte Paula ab, „denn dann rächt sich Trude und nachher guckt mich keine Mitschülerin mehr an.“
Frau Alwine seufzte. „Was soll ich dann tun?“ Ganz hilflos klang es.
Die resolute Paula war gleich mit Rat bei der Hand. „Schicke uns einfach nicht mehr in die Schule, Mutter, lass uns Privatstunden geben, Maria Holzdorf hat eine Erzieherin.“
Die Frau verwahrte sich förmlich entsetzt. „Maria Holzdorf ist auch die Tochter des reichsten Mannes von Wiesberg, er hat eine grosse Ziegelei, und seine Frau stammt aus einem der ersten Bankhäuser Hamburgs. Nein, Kind, mit solchen Leuten dürfen wir uns nicht vergleichen.“
Dorle liess die Unterlippe hängen und wandte sich ab, um zu verbergen, dass sich schon wieder dicke Tränen aus ihren Augen drängten. Paula nahm die junge Schwester, an der sie mit zärtlicher Liebe hing, in die Arme. „Nicht weinen, Dorle, ich habe noch Taschengeld, und du kaufst dir drüben beim Bäcker von den guten Bonbons, die du so gern magst.“
Die Zehnjährige war zufriedengestellt und trollte sich, nachdem ihr Paula das versprochene Geld für Bonbons zugesteckt, mit vergnügtem Gesicht.
Frau Landgraf nahm mit einem befriedigten Aufatmen wieder Platz, öffnete ihr Buch und setzte mit sichtlicher Aufmerksamkeit ihre Lektüre fort. Sie kümmerte sich nicht weiter um ihre Älteste, die wusste sich schon zu beschäftigen.
Paula langte sich eine bekannte und sehr verbreitete Familienzeitung herbei, deren letztes Heft erst vorhin gekommen war, und vertiefte sich darein. Erst sah sie sich die Modebilder an, darauf überflog sie die Stellengesuche auf der letzten Seite.
Plötzlich blieb ihr Auge auf einem Inserat haften. Sie las es mehrmals und legte dann das Blatt der Mutter über das Buch, mit dem Finger auf das Inserat weisend. „Lies das, Mutter, das wäre nämlich gerade, was wir brauchen.“
Erstaunt las Frau Landgraf. Sie begriff gar nicht, was das Mädchen von ihr wollte, sie dachte, von ihrer Romanlektüre weit von der Gegenwart fortgeführt, gar nicht mehr an das Gespräch, das sie vorhin mit ihren Kindern gehabt. Fragend blickten ihre runden, blanken Braunaugen zu der vor ihr stehenden Tochter empor.
Paula nahm das Blatt wieder an sich. „Mutter, weisst du denn gar nichts mehr davon, dass ich vorhin bat, du möchtest uns nicht mehr in die Schule schicken, das Dorle und mich?“
Die Frau nickte. „Ja, natürlich — —“
Ihr fing an zu dämmern, was Paula meinte.
Paulas feine Züge spannten sich an, hatten plötzlich etwas Tatkräftiges, ein Ausdruck prägte sich ihnen auf, den ihre Mutter an ihr kannte. Das junge Ding hatte manchmal etwas ungemein Energisches, es war fast, als stünden in solchen Augenblicken die zwei so kurzen und doch so starken Wörtlein: „Ich will!“ auf ihrer Stirn geschrieben.
„Ich werde dir vorlesen, Mutter,“ sagte sie, „höre aber, bitte, auch genau zu, es wäre fein, wenn wir auf so einfache Weise zu einer Erzieherin kommen würden.“
„Kind, Kind — du träumst! Eine Erzieherin kann ich euch nicht halten, und falls ich es könnte, was würden die Leute dazu sagen, wenn wir so hoch hinaus wollten.“
Paula lächelte ein bisschen altklug über den Einwand der Mutter weg und las: „Junge Frau, die das Lehrerinnenexamen glänzend bestanden, sucht Stellung als Erzieherin bei 1—2 Mädchen in einem kleinen, stillen Ort in einfacher Familie. Honorar bescheiden.“
Paula blickte fast triumphierend auf die Mutter. „Was sagst du dazu, das passt doch ganz wunderbar für uns, nicht wahr?“
Frau Alwine Landgraf zog die Stirn kraus und erwiderte abweisend: „Das ist sicher nix Gescheites, eine Dame, die ein glänzendes Examen gemacht hat, braucht nicht zu schreiben ‚Honorar bescheiden‘.“
Paula lächelte. „Ach, Mutter, sie hat wahrscheinlich selbst Geld und ihr liegt vielleicht nur daran, in einen kleinen, stillen Ort zu kommen.“ Sie legte ihren rechten Arm schmeichelnd um den Hals der Älteren. „Mutter, du solltest doch auf die Annonce antworten. Möglicherweise haben wir Glück. Die Dame könnte Vaters Zimmer kriegen und Essen bleibt jeden Mittag übrig.“ Leiser fügte sie hinzu: „Es ist hauptsächlich wegen Dorle, das arme Ding weint so viel, weil die Mitschülerinnen alle so garstig zu ihr sind. Du hast doch Dorle auch lieb, Mutter, Dorle ist so zart und fein.“
Frau Landgraf war keine willenskräftige Natur. So lange ihr Mann lebte, stand sie ganz unter seinem Einfluss, ihr war es am angenehmsten, wenn man schwierige Angelegenheiten für sie ordnete, was aus dem gewöhnlichen Kreislauf des Alltags heraussprang, störte sie. Nur nicht zu viel denken, am wenigsten über Dinge, die eine gewisse Verantwortung in sich trugen.
Paula hatte es deshalb nicht einmal allzu schwer, die Mutter zu überreden, die Annonce zu beantworten.
Am Abend, nachdem ihre Töchter schlafen gegangen, setzte sie sich hin und schrieb den Brief. Sie war nicht besonders federgewandt, aber sie hatte eine nette, klare Handschrift und malte die Buchstaben sehr sorgfältig. Sie schrieb:
Werte Frau!
Ihre Annonce habe ich gelesen, und meine älteste Tochter, sie ist vierzehn Jahre, hat gemeint, vielleicht würden Sie hierher zu uns nach Wiesberg kommen, das ist ein sehr schön gelegenes kleines Örtchen im Taunus, und ich besitze hier eine Leihbibliothek und Buchhandlung. Ich bin Witwe und habe ausser meiner Ältesten, die Paula heisst, noch ein zehnjähriges Mädchen, mein Dorle, sie ist unser Liebling und will nicht gern in die Schule hier gehen, weil Kameradinnen das arme Kind verhöhnen. Dorle hat nämlich, ebenso wie Paula, zu hellblondes Haar, man könnte meinen, es sei weiss. Die Kleine weint, wenn eine böse Zunge sie „Weisskopf“ nennt und „Kakerlak“. Wenn Ihnen das Leben bei uns einfachen Leuten genügen würde, so schreiben Sie und senden Sie uns ein Bild von sich, man möchte doch gern wissen, mit wem man es zu tun hat. Ihre Honoraransprüche müssten Sie noch äussern. —
So schrieb Frau Alwine unter der angegebenen Chiffre an die Expedition der Frauenzeitung in Berlin. Zehn Tage später kam richtig eine Antwort, trotzdem Paula gemeint, nun brauche man nicht mehr zu hoffen.
Etwas erregt öffnete die Empfängerin den starken, gelblichen Umschlag und entnahm ihm einen Bogen, dem ein ganz sanfter Geruch entströmte. Paula, die neben der Mutter stand, sog den Duft mit Wohlgefallen ein.
„Wie nach blühenden Veilchen riecht der Brief,“ sagte sie, und dann haschte sie nach der kleinen Photographie, die eben dem Briefe entfiel.
Sie fing das Bildchen auf und stiess, nachdem sie es betrachtet, einen Laut des Entzückens aus. „Mutter, ist die goldig!“
Frau Alwine zog ihr das Bildchen aus den Fingern und betrachtete es ebenfalls.
Ja, Paula hatte recht, was das Bild zeigte, war „goldig“. Ein schmales, feines Gesicht, grosse, dunkle Augen und weichlockige, tiefe Scheitel. Dazu ein kleiner, üppiger Mund, dessen leicht geöffnete Lippen kleine, gerade Zähne etwas sichtbar werden liessen. Das Hübscheste an dem Gesicht aber war der Ausdruck. Er war von unendlicher, hinreissender Lieblichkeit, von einer schmerzlichen Süsse.
„Der muss man gut sein, glaube ich,“ sagte Paula leise, dann drängte sie: „Lies doch vor, Mutter, ob sie zu uns kommen will und ja, wie heisst sie überhaupt? Ich bin schrecklich neugierig, Mutter, ganz schrecklich!“
Die beiden befanden sich im Laden, denn Frau Landgraf vertrat den noch immer kranken Gehilfen. Es war um die fünfte Nachmittagsstunde, und die heisere Türschelle, die ein paar Minuten stillgestanden, meldete sich schon wieder. Da schob Frau Landgraf den Brief in die grosse Tasche ihrer schwarzen Lüsterschürze, die sie stets im Hause trug und gab einem Jüngling mit allzu farbenfreudiger Krawatte sein gewünschtes Buch. Eine dicke Rentnerin mit ihrem Mops watschelte herein.
„Beste Frau Landgraf, suchen Sie mir recht was Unterhaltendes heraus und mit gutem Ende, denn wenn sich die Liebenden am Schluss nicht kriegen, muss ich vor Mitleid immer so sehr weinen, ich bin so sehr zart besaitet.“
Frau Landgraf grub ein Buch aus einem der im Hintergrund stehenden dichtgefüllten Schränke. „So, bitte, Frau Nautius, das ist sehr schön.“
Die dicke Rentnerin mit den faltigen Hängebacken blinzelte pfiffig. „Haben Sie’s auch selbst gelesen, Frau Landgraf?“
„Natürlich, sonst würde ich es Ihnen nicht empfehlen, denn Sie verstehen doch viel von Literatur.“
Frau Nautius lächelte selbstgefällig. „Da haben Sie recht, von Literatur verstehe ich ziemlich viel.“
Sie blieb noch stehen, schien noch nach einem Gesprächsstoff zu suchen, und dabei irrten ihre Augen auf dem Ladentisch umher, wo neben dem ihr zugedachten Buch die kleine Photographie lag, die von der Erzieherin mitgesandt worden war. Frau Nautius war langjährige Kundin und betonte das in ihrem Benehmen durch eine gewisse Vertraulichkeit.
Sie nahm das Bildchen einfach in die Hand und betrachtete es. „Wer ist denn die schöne Person, wohl gar eine Verwandte? Darauf können Sie aber stolz sein,“ fragte und lobte sie in einem Atem.
Die andere erwiderte kurz: „Es ist eine junge Lehrerin, eine Bekannte von uns.“
Vorläufig mochte sie noch nicht mehr sagen, denn noch wusste sie nicht, was in dem vorhin erhaltenen Briefe stand.
„Nein, wirklich, nur eine Lehrerin ist das?“ verwunderte sich die Dicke, „auf alles andere hätte ich eher geraten als darauf.“
Sie blickte neugierig drein und hätte gern noch etwas über die auffallend schöne Lehrerin gehört, doch da Frau Landgraf beharrlich schwieg und erst nach einer geraumen Weile meinte, es sei heute prachtvolles Frühlingswetter, ging sie, zur grössten Freude Paulas, die ihre Ungeduld, zu erfahren, was der Brief enthielt, kaum noch zu zügeln vermochte.
Erst las die Mutter allein. Paula wollte ihr dabei über die Schulter sehen, aber mit einer Handbewegung wehrte Frau Landgraf ab. Zunächst wollte sie selbst wissen, was in dem Briefe stand. Sie war bald damit fertig, denn er war nur kurz und lautete:
Sehr geehrte Frau Landgraf!
Unter den eingelaufenen Chiffrebriefen schien mir der Ihrige für mich am passendsten. Ich möchte, da es sich um meine erste Stellung handelt, gern bei Menschen unterkriechen, die darauf etwas Rücksicht nehmen und auch noch auf etwas anderes: Ich bin eine geschiedene Frau, mein Mann wurde als schuldiger Teil erklärt, und weil ich mein Leben auf ganz neuer Grundlage aufbauen muss, habe ich mich meines Lehrerinnenexamens erinnert, das ich vor meiner Ehe machte. Da ich mich in dem Grossstadtleben nie recht wohl fühlte, sehne ich mich nach Kleinstadtluft und bin gern bereit, zu Ihnen zu kommen. Ich verfüge über ein kleines Vermögen und würde mir als Monatshonorar von Ihnen vorerst nur zweihundert Mark erbitten. Beiliegend ein Bild von mir. Mein Eintritt kann sofort erfolgen. Ich würde mich freuen, wenn ich Ihre Töchter unterrichten dürfte und erbitte möglichst bald Antwort.
Inzwischen bin ich mit aller Hochachtung
Ihre ergebeneIlse Bertram.
Als Adresse war angegeben „Pension Gärtner“ am Steinplatz.
Nun durfte auch Paula den Brief lesen, und sie tat es in ihrer ganz eifrigen Art, war ganz bei der Sache. Mit einem fragenden Blick gab sie ihn der Mutter zurück.
„Ich denke, wir können es riskieren,“ lächelte diese, „der Brief hat so etwas Aufrichtiges und unsere Verhältnisse übersteigen ja die gestellten Ansprüche nicht, auch für Dorle wäre es ganz besonders gut!“
Das Gespräch musste abgebrochen werden, da sich Kunden einstellten. Aber noch am gleichen Tage beantwortete Frau Landgraf den Brief, und von da an sprachen Paula und Dorle nur noch von Frau Ilse Bertram und fieberten ihrer endgültigen Nachricht entgegen, ob sie eintreffen würde. Der Bescheid kam dann, und Dora jubelte laut auf. Paula fühlte sich, nun erhielten sie eine Erzieherin wie die reiche Maria Holzdorf. Frau Landgraf ging zum Rektor und meldete ihre Kinder ab, auch den Grund verhehlte sie nicht. Er blickte sie mit spöttischen Zwinkeraugen an. „Weil ein paar unüberlegte Mitschülerinnen Ihre Mädchen neckten, schafften Sie gleich eine Erzieherin an? Eine empfindliche Mutter sind Sie, finde ich.“
Dasselbe mit anderen Worten äusserten auch ihre Bekannten, und ein kleines Reuegefühl ward in Frau Landgraf wach, doch wohl etwas zu übereilt gehandelt zu haben. Aber nun war es zu spät, die Sache wieder rückgängig zu machen, schon vor Tagen hatte Frau Bertram sich zum Antritt der Stellung bereit erklärt, und gestern abend war ein Telegramm eingelaufen: „Komme morgen sechs Uhr Wiesberg an.“
Paula und Dora hatten diese letzte Nacht kaum geschlafen, und Frau Alwine Landgraf selbst war auch ein bisschen durcheinander. Nun trat eine neue Hausgenossin in ihren kleinen Familienkreis, von der sie eigentlich gar nichts wusste. Ihr fiel erst zu spät ein, dass man bei solchen Gelegenheiten sich doch über das Woher zu erkundigen pflegt. Was der Vater gewesen und ähnliches. Keine einzige Empfehlungsadresse war ihr gegeben worden, wo sie nach dieser Frau Bertram Erkundigungen hätte einziehen können, aber sie hatte auch keine verlangt. Nun musste sie schon auf ihren guten Stern vertrauen, und da sie keine schwerblütige Natur besass, stand sie denn mit ihren beiden Töchtern in lächelnder Spannung auf dem Bahnsteig der kleinen Taunusstation und erwartete mit ihnen den Zug, der Frau Bertram bringen und gleich einlaufen musste.
Frau Landgraf trug ihr sonntägliches, dunkelblaues Tuchkleid mit gelblichem Spitzeneinsatz und Kragen. Es sah sehr solide und spiessbürgerlich aus, und die Mädchen hatten ebenfalls die Sonntagskleider angezogen, schottisch karierte Hänger, die reichlich und lang gearbeitet, mit schwarzem Samtband aufgeputzt waren, dazu gesellten sich Bernsteinketten, während die Mutter ihr Kollier aus Granaten trug mit der dazu gehörenden Brosche und gleichem Armband. Frau Landgraf hatte gedacht, wenn man sich eine Erzieherin für seine Töchter kommen liess, musste man auch zeigen, man war eine Dame und wusste aufzutreten.
Es war ein wundervoller Frühlingstag, und der kleine Bahnhof lag mitten in einer Fülle von lichtgrünen Bäumen und Sträuchern hineingebettet. Das niedrige Stationsgebäude war schneeweiss angestrichen und hatte grellblaue Fensterläden. So farbenfreudig wirkte der kleine Bahnhof, dass es Ilse Bertram, die an einem Abteilfenster der zweiten Klasse stand, wie ein frohes Willkommen in der neuen Heimat dünkte. —
Langsam war der Zug eingefahren. Wiesberg war Kopfstation einer kurzen Nebenstrecke. Drei Augenpaare flogen den Zug entlang, dessen Türen sich jetzt öffneten.
Allzu viele Reisende stiegen nicht aus, doch da Wiesberg Kurort war, befanden sich schon einige frühe Kurgäste darunter; die Saison begann in acht Tagen.
Paula seufzte. „Mutter, sie ist nicht gekommen!“ und Frau Landgraf nickte verstimmt, während sie brummte: „Hätte ich nur mein gutes Kleid nicht angezogen, schade dafür.“
Ilse Bertram stand indes, einen schmalen Koffer aus Krokodilleder in der Rechten, und blickte sich um, ob niemand da war, sie abzuholen. Eben erst sah sie das Dreiblatt, und nach kurzer Musterung ging sie lächelnd darauf zu. So ähnlich hatte sie sich die Familie vorgestellt.
Plötzlich sagte eine tiefe, klangvolle Stimme dicht neben der kleinen Gruppe: „Habe ich das Vergnügen mit Frau Alwine Landgraf, ich heisse Ilse Bertram.“
„Ach nein!“ stiess die mollige Frau Landgraf überrascht hervor, und dann lachte sie etwas verlegen. „Natürlich bin ich Frau Landgraf, und ich freue mich, dass Sie gekommen sind, Frau Bertram. Seien Sie herzlich willkommen!“
Eine breite Hand in hellgrauem Baumwollhandschuh streckte sich der schlanken Ilse Bertram entgegen, und diese nahm die dargereichte Hand und presste sie einen Augenblick lang fest zwischen ihren, von glattem, dunkelbraunem Dänenleder umkleideten Fingern.
„Guten Tag, Paula! — Guten Tag, Dora!“ Auch die Mädchen erhielten einen warmen Händedruck. Sie blickte die beiden Allzublonden prüfend an. „Ich hoffe, wir werden sehr gute Freunde werden.“
Die Mädchen nickten stumm und befangen.
„Nun wollen wir nach Hause gehen“, sagte Frau Landgraf, und Ilse Bertram war es, als hätte die brave Spiessbürgerfrau etwas Wunderschönes gesagt.
Nun wollen wir nach Hause gehen.
Nach Hause! Schon immer wäre sie gern nach Hause gegangen und hatte doch seit Jahren nicht gewusst, wo ihr Zuhause lag. Viele Wege war sie schon in ihrem noch jungen Dasein gewandert, aber ein richtiges, warmes, liebes Zuhause hatte an keinem Wegziel auf sie gewartet. Vielleicht wartete es hier auf sie. Es schien alles so nett und traulich hier, so eng und begrenzt.
Sie ging neben Frau Landgraf her durch die schmalen Strassen, Paula hatte sich ihres Handköfferchens bemächtigt, und Dora beobachtete, ob man ihnen mit der feinen Dame auch überall die nötige Aufmerksamkeit schenkte. Auch Frau Landgraf achtete darauf, während sie mit Frau Bertram plauderte und hatte die Genugtuung, festzustellen, man verrenkte sich förmlich die Hälse, um ihnen nachzuschauen.
So etwas wie Frau Bertram sah man allerdings nicht alle Tage in Wiesberg.
Sie trug nur einen einfachen, allerdings sehr faltenreichen braunseidenen Mantel, aber wie fielen die Fallen und welch ein tadellos beschuhter Fuss kam darunter hervor, auch konnte man sich noch an einem guten Stück seidenglänzenden Strumpfes erfreuen, der ebenso wie Schuhe, Mantel, Handschuhe und der weiche Seidenhut braun war. Sogar ein Schirm in der Farbe war vorhanden.
Ilse Bertram aber ahnte nicht, wie sehr sie auffiel, ihres Erachtens nach war sie sehr schlicht gekleidet, ganz wie es ihrem jetzigen Stande zukam.
Frau Landgraf erklärte die Sehenswürdigkeiten des Ortes, an denen man vorbeikam. „Das ist die ,protestantische Kirche‘ und da drüben ist das ‚Quellenhotel‘, da der ‚Sprudelhof‘ und dort rechts geht es nach dem ‚Schlossberg‘.“
Ilse Bertram hörte wohl die Worte, aber sie gingen eindruckslos an ihr vorüber, sie sah die Berge hinter den Häusern aufragen und dachte, ob man von dort hoch oben wohl weit in die Welt hinausschauen konnte? Dann wollte sie niemals hinaufsteigen, immer sollten sie sich ihren Augen und Sinnen vorbauen gleich einer Mauer, bis ihr heisses Herz still und friedlich geworden, und ihre Augen zufrieden waren mit einem so engen Umkreis, wie Tausende von Menschen auf der weiten Herrgottserde ihn besassen.
Dora sagte schüchtern: „Ich bin glücklich, dass Sie zu uns gekommen sind!“
Ilse Bertram blickte fast erstaunt auf das Kind. Ach ja — da hatte sie wahrhaftig ein Weilchen vergessen, weshalb sie überhaupt hier war. Ihre grossen schwarzen Augen wurden glänzender. Das Kind gefiel ihr, ebenso Paula, die Gesichter waren unregelmässig aber fein geschnitten und sehr lebendig. Das Haar von einem ganz verblassten Gelb war sogar hübsch und eigenartig, besonders im Gegensatz zu den dunklen Grauaugen, aber es war hässlich und steif geordnet, sein Reiz dadurch in das Gegenteil umgewertet.
Frau Landgrafs Besitz bestand aus einem zweistöckigen Häuschen, das unten den Laden und Lagerraum, sowie ein Kontor enthielt, während die Wohn- und Schlafräume im ersten Stock lagen, zu denen noch ein paar bequeme Mansardenzimmer kamen. Die Rückseite des Häuschens war von einem ziemlich grossen Garten eingefasst, der mit dem Hof ineinanderglitt. Vor der Haustür wartete Lina, das langjährige, schon ältliche Dienstmädchen Frau Landgrafs und begrüsste die Erzieherin. Nachher kam sie verdutzt zu ihrer Frau gelaufen.
„Frau Landgraf, das ist im Leben keine richtige Erzieherin. Gucke Se doch die von Holzdorfs dagegen an.“
„Frau Bertram kommt aus der Weltstadt Berlin und ist jung. Sie hat eben „Schick“, wie man das nennt.“
Lina sagte belehrt: „Na ja, unsereiner versteht das nicht so.“
Paula führte Frau Bertram auf ihr Zimmer. Es lag nach dem Garten hinaus und enthielt als Glanzstück einen Korbstuhl mit bunten Kattunkissen. Einfach war die Einrichtung, die Möbel stammten noch von Frau Landgrafs Mutter und waren aus Birnbaumholz. — Frische würzige Luft von Wiesen und Äckern, die unfern begannen, strich durch die weit offenen Fenster und die schneeweissen, etwas zu sehr gestärkten Vorhänge blähten sich wie Segel im Winde. Ein Strauss gelber Narzissen stand in einer dunkelvioletten Glasvase, eine, wie man sie auf Jahrmärkten kauft. Ilse Bertram lächelte und legte den Hut ab. Sie legte ihn auf die grüne Steppdecke des Bettes, und Paula verharrte unschlüssig, ob sie nun wohl gehen musste oder noch bleiben durfte. Frau Bertram gefiel ihr so gut wie ein schönes Bild, sie konnte sich nicht satt an ihr sehen, überhaupt jetzt, da sie den Hut abgesetzt hatte. Nun zog sie auch den Mantel aus, und ein rehfarbenes Kleid mit breitem, losem, gleichfarbenem Seidengürtel kam zum Vorschein. Um Halsausschnitt und Ärmel waren weisse Streifen geheftet.
Ilse Bertram fühlte förmlich den Blick des jungen Mädchens, und mit einladender Handbewegung wies sie auf den Korbstuhl. „Setze dich, bitte, Paula, ich will mir nur die Hände waschen, dann habe ich Zeit, mich mit dir zu unterhalten.“
Sie entnahm ihrem Handköfferchen allerlei Dinge, die Paula mit staunenden Augen musterte und stellte sie auf dem Waschtisch auf. Einiges kam auch auf die Kommode.
Kristall funkelte, Silber blitzte.
Dann plätscherte Wasser, ein feiner Duft von Seife und Wohlgeruch zog durch das Zimmer.
Nach dem Waschen trat Frau Bertram vor den Spiegel und bürstete über ihr reiches, braunes Haar, über dem leichte, dunkelkupferne Schatten lagen.
Förmlich sehnsüchtig hingen Paulas Blicke an dem Haar.
Ilse Bertram rief Paula zu sich, und während sie über ihren viel zu straff geflochtenen Zopf strich, fragte sie: „Soll ich dir das Haar einmal ordnen, dass es hübsch wird?“
Paula erwiderte traurig: „Hübsch wird das niemals. Man verspottet Dorle und mich, und Friseur Ulrichs Ria hat gesagt, wir wären Albinos.“
„Unsinn! Albinos sind Menschen oder Tiere, deren Haar, Augen und Haut der Färbestoff fehlt. Wenn man so dunkle Brauen und Wimpern, so dunkelgraue Augen und so lebendige Haut hat wie ihr, ist dieses Wort hinfällig.“
Sie löste den straffen Zopf Paulas und fuhr mit dem Kamm durch das leichte Haar. Sie zog einen grossen Scheitel und flocht zwei Zöpfe, die sie um den schmalen Kopf legte. Lose und weichlockig bauschte sich das Haar nun über Stirn und Schläfen, lag tief, begrenzte die Brauen. Ganz verwandelt sah Paula aus, und nach einem Blick in den Spiegel ward ihr Gesicht hell und froh.
„Ach, liebe, gute Frau Bertram, machen Sie Dorle auch so hübsch, bitte, bitte!“
Ilse Bertram nickte. „Hole dein Schwesterchen!“
„Dorle! Dorle!“ rief Paula durchs Haus, und die kleine, glattgestrählte Dora kam und ward auch so ein weissblondes, süsses, zopfumstecktes Defreggerköpfchen.
Von dieser Stunde an gehörten Ilse Bertram die Herzen der zwei Mädchen.
Später brachte Lina mit Hilfe eines Gepäckträgers den Koffer der Erzieherin. Er war ziemlich gross und sah sehr vornehm aus. Frau Landgraf hatte auf einen Schliesskorb gerechnet. Dass eine Erzieherin so gediegene Sachen besass! Sie musste aus einer guten Familie stammen. Gelegentlich konnte man sie ja ein bisschen darüber ausfragen.
In den nächsten Tagen versuchte sie das ein paarmal, aber sie erfuhr nicht viel dabei. Der Vater war Gutsbesitzer in Pommern gewesen und seit Jahren tot, auch der geschiedene Gatte war Gutsbesitzer und reiste im Ausland. Sie selbst hatte schon jung ihr Lehrerinnenexamen gemacht, ohne eigentlich daran zu denken, dass sie es einmal brauchen würde. Nun