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Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2018: Wer sich mit Familie Hirsch einlässt, darf nicht empfindlich sein und empfindlich war Tamara wirklich nie. Doch nun sind ihre Eltern tot und Tamara Hirsch reißt Wände nieder in diesem alten Haus im märkischen Sand, in dem ihre Familie nach der Verfolgung durch die Nazis wieder ihren Mittelpunkt fand.
Eindrücklich, poetisch und kraftvoll erzählt Franziska Hauser die Lebensgeschichte der bezaubernd eigensinnigen Tamara Hirsch - erzählt damit die Geschichte ihrer eigenen Familie, eine Geschichte aus politischen und persönlichen Fallstricken, bis dem Leser die Luft wegbleibt.
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Seitenzahl: 529
Wer sich mit Familie Hirsch einlässt, darf nicht empfindlich sein und empfindlich war Tamara wirklich nie. Doch nun sind ihre Eltern tot und Tamara Hirsch reißt Wände nieder in diesem alten Haus im märkischen Sand, in dem ihre Familie nach der Verfolgung durch die Nazis wieder ihren Mittelpunkt fand. Eindrücklich, poetisch und kraftvoll erzählt Franziska Hauser die Lebensgeschichte der bezaubernd eigensinnigen Tamara Hirsch – erzählt damit die Geschichte ihrer eigenen Familie, eine Geschichte aus politischen und persönlichen Fallstricken, bis dem Leser die Luft wegbleibt.
Franziska Hauser, geboren 1975 in Pankow/Ostberlin, hat zwei Kinder. Sie studierte Fotografie an der Ostkreuzschule bei Arno Fischer und ist Autorin. Im Frühjahr 2015 erschien ihr Debütroman Sommerdreieck, der den Debütantenpreis der lit.COLOGNE erhielt und auf der Shortlist des aspekte-Literaturpreises stand.
www.foto-haus.info
FRANZISKA HAUSER
DIEGEWITTERSCHWIMMERIN
ROMAN
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Eichborn Verlag in der Bastei Lübbe AG
Originalausgabe
Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Umschlaggestaltung: NETWORK! Werbeagentur GmbH
Umschlagmotiv: © Maria Dorner / Plainpicture
eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7325-5766-0
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Für Tanja
Die tatsächliche Geschichte meiner Familie habe ich als Grundlage für diesen Roman verwendet, meine eigene Sichtweise entspricht aber nicht der Sichtweise anderer. Einiges habe ich dazuerfunden und möchte in keiner Weise den Anspruch auf die Wahrheit erheben. Nicht alle Personen sind mit meiner Ausführung einverstanden, haben aber freundlicherweise der Veröffentlichung in Form des freien literarischen Romans zugestimmt.
In den Himmel über der Terrasse blase ich Zigarettenrauch. Ein Sekundenbruchteil hat sich angefühlt wie die Ewigkeit, und es ist, als stünde ich hier seit Langem. Wie ein Wachwerden, ohne geschlafen zu haben. Warum bin ich geworden, wie ich nicht sein will?
Der Polizist fragt am Telefon, ob ich die Tochter sei von Adele Hirsch und ob meine Mutter gern Schnaps getrunken habe. Gestern Nacht habe sie nämlich beim Abbiegen einen Seitenspiegel mitgenommen, sagt er zögernd, als hätte er die Straftat selbst begangen. Zu Hause habe sie der Polizei mit einem Glas Weinbrand in der Hand die Tür geöffnet. Der Beamte holt tief Luft. »Die Kollegen mussten sie mitnehmen, aufs Revier«, und macht eine Pause, »zum Blutabnehmen«, sagt er so langsam und nachdrücklich, dass ich misstrauisch werde. Meine Mutter sei aufgeregt gewesen. Im Auto habe sie nach Luft geschnappt. Auf der Wache sei sie seinem Kollegen in die Arme gefallen und gestorben.
»Meine Mama ist tot?«, frage ich das Handy und lasse es mit der Stimme des Polizisten in meine Manteltasche fallen. Meine Mama ist tot, rufe ich aufs Meer hinaus in den tobenden Wind. Dass sie so plötzlich gestorben ist, überrascht mich seltsamerweise wenig. Nur mit dem handfesten Schmerz habe ich nicht gerechnet.
Eine fast Achtzigjährige nachts auf die Wache zu schleifen, das sei ja unmenschlich, sagt eine fremde Frau am Ostseestrand. Sie hat mir die blödsinnige Frage gestellt, ob alles in Ordnung sei. Ich würde nicht in der Öffentlichkeit heulen, wenn alles in Ordnung wäre.
Die Frau muss denken, ich hätte meine Mutter geliebt. Habe ich das?
Der Schmerz wird größer, als ich es für angebracht halte, als hätte ich ihn mein Leben lang in mir aufbewahrt. Und ich fürchte, er könnte sich nicht nur auf den Tod meiner Mutter beschränken. Ein Augenblick ist das, um die Trauer nachzuholen, von der ich nicht wusste, dass sie nachzuholen ist. Das Meer treibt mich an. Es donnert mir seine gewaltige Aufforderung rhythmisch entgegen: Nur zu! Nur zu! Nur zu!, sagt es unaufhörlich, und ich weine über alles, worüber ich mir das Weinen einmal verboten habe.
Ich setze mich in den Sand und muss gleichzeitig lachen, weil mir Adeles heimliche Schwäche für Männer in Uniformen einfällt. Im Arm eines Polizisten zu sterben muss ihr gefallen haben.
Während der Autofahrt über die leeren Landstraßen komme ich mir verwaist vor. Jetzt bin ich nicht nur ein Mensch ohne Schwester, sondern auch ohne Eltern. Die Straße verschwimmt vor meinen Augen. Ich fahre an den Rand. Hupende Autos fahren vorbei, darin fluchende Menschen. Die Trauer ist jetzt greifbar. Sie handelt von Dascha. Ich muss nicht für mich, sondern auch für meine tote Schwester um unsere Mutter trauern. Ihre Trauer kann ich deutlicher nachvollziehen als meine eigene. Als hätte sie sich meinen lebendigen Körper dafür geliehen, und Daschas Trauer ist unerträglich, mit einer solchen Trauer kann man nicht leben. Ich erkläre mir selbst wie einem Kind, das ich zu trösten habe: Es ist nicht meine Trauer, sondern Daschas. Wegen dieser Trauer ist sie tot. Ich bin nicht tot, und meine Trauer ist viel kleiner als Daschas.
In einem vorbeifahrenden Auto wummert ein Bass, als hätte das Auto ein vor Anstrengung pumpendes Herz. Über der Herbstlandschaft stehen die Wolken wie eingefroren. Die schweren unten, die leichten darüber. Manche sind strahlend hell, andere bleigrau und ernst. Weit hinten zieht sich eine Pappelreihe um einen See. Vielleicht lasse ich mein Auto auf der Landstraße stehen und laufe über das stopplige Feld in den Wald. Wenn Dascha verzweifelt war, machte sie es so. Dann musste ich sie suchen, musste sie rufen und hätte sie nicht immer so anschreien sollen, wenn ich sie gefunden hatte.
»Meinen Achtzigsten könnt ihr ohne mich feiern«, hat Adele an ihrem neunundsiebzigsten Geburtstag gesagt.
Jetzt liegt sie aufgebahrt mit Kerzen in einem hässlichen lila gestrichenen Zimmer. Von meinem Finger ziehe ich den Jadering ab. Der ist aus Tibet. Ich habe ihn aus Adeles Schmuckkästchen genommen vor ein paar Wochen und schiebe ihn jetzt auf ihren toten Mittelfinger.
Der Streit um den Ring war in den letzten Jahren die engste Verbindung zwischen uns. Ich wollte ihn unbedingt haben. Sie wollte ihn mir nicht geben, obwohl er ihr schon zu groß war, als ihre Finger noch lebten. Der Ring war ihr Zepter. Hätte ich ihn nicht haben wollen, hätte sie ihn nicht behalten müssen. Während ich vor ihrem leeren Körper stehe, kommt es mir nicht abwegiger vor, mit ihr zu reden als vorher. Ich habe geglaubt, wenn sie mir den Ring gäbe, wäre das ein Beweis ihrer Liebe. »Da war doch welche, oder?« Ich lege meine Hand auf ihren Brustkorb. »War da welche?«
Vielleicht hat mein Vater ihr den Ring geschenkt, als sie zusammen in Tibet waren? Vielleicht war der Streit um den Ring unser Streit um meinen Vater? Vielleicht ist es unsinnig, darüber nachzudenken. Genauso unsinnig, wie einem Toten etwas zu essen hinzustellen.
»So, jetzt kannst du mir den verdammten Ring selber geben«, sage ich zu der Leiche und ziehe ihn wieder ab. »Siehst du, geht doch!«
Zu Hause finde ich in Adeles Schreibtisch einen gelben Post-it-Zettel. Darauf steht: Ich hatte euch doch alle lieb. Aber es war wohl nicht genug. Nein, war es nicht!, antworte ich innerlich. So rede ich jetzt mit ihr. Meine Mutter spricht aus Zetteln, ich in Gedanken.
Henriette sieht auf das Papier und schüttelt betrübt den Kopf. Über Adeles Tod zu weinen, sagt sie, wäre ein Weinen über alles Mögliche, aber kein Weinen um ihre Oma. Deshalb würde sie es lieber lassen. Neulich habe sie heulen müssen, als im Barbie-Kinderfilm ihrer Tochter am Ende doch die richtige Prinzessin gekürt wurde. Dass Adele tot ist, mache ihr allerdings nichts aus. Maja fragt, ob wir Oma im rosa Plastesarg mit Filmmusik durch weißen Blütenregen tragen sollen, damit Henriette traurig sein könne.
Ich stelle mir vor, wie meine Mutter uns zusieht. Sie sieht, wie Henriette nicht trauert, obwohl sie es von sich erwartet hätte, und wie traurig ich bin, obwohl ich es nicht erwartet hätte.
Majas Trauer ist in Ordnung. Sie macht ein betrübtes Gesicht, manchmal weint sie ein bisschen. Sie kümmert sich, sammelt Adeles Unterlagen, sortiert, beschriftet, telefoniert.
Alte Menschen sitzen auf Adeles Gartenstühlen, ohne Adele. Sie schütteln ihre faltigen Gesichter, tätscheln mir die Schultern, sagen nette Sachen mit zitternden Stimmen. »Jetzt sind sie beieinander. Sie waren ein großartiges Paar.«
Henriette sitzt mit verschränkten Armen, missmutigem Blick und wippendem Knie auf der vorderen Kante des Klappstuhls. Ich hoffe, diese ungnädige Haltung nimmt sie nur in meiner Gegenwart ein. Sie kann unmöglich immer so sein. Gereizt fuchtelt sie mit den Armen. »Kann ja sein, dass die irgendwann irgendwo mal großartig waren. Aber vielleicht hätten sie ein bisschen mehr für ihre Töchter da sein sollen!«
Ich bin mir nicht sicher, ob sie mich verteidigt oder ob sie meine Kindheit schlechtmacht. Henriette muss Erfahrungen geerbt haben, von denen ich ihr nie erzählt habe. Jedenfalls wollte ich ihr davon nicht erzählen. Hab ich es doch? Was nicht erzählt wird, ist nicht aus der Welt. Das weiß ich selbst.
Frau Grünstein lacht und wirft den Kopf in den Nacken. »Na, so ein Blödsinn! Das waren wunderbare Eltern! Dass sie so viel reisen mussten, war ja nun nicht zu ändern.« Meine Mutter hat sich die Grünstein wie eine Pflegetochter gehalten. Sie war ihr heilig und schien der einzige Mensch auf der Welt zu sein, der meiner Mutter vertraute. Frau Grünstein hebt die beringten Hände. »Das war ein Künstlerhaushalt. Der Alfred hat seine Töchter sehr geliebt.« Henriette murmelt abfällig in ihren Kuchenteller, als hätte sie auf diesen Satz nur gewartet. »Bisschen zu sehr!«
Ich fühle mich gebrandmarkt. Abgelehnt von der ganzen Beerdigungsgesellschaft. Bloßgestellt von meiner Tochter.
»Könnt ihr über was anderes reden?«, rufe ich zu laut und zu scharf. Frau Grünstein schrickt zusammen. Henriette fängt an, altes Kerzenwachs vom Tisch zu kratzen.
Die wackligen Köpfe empören sich leise. »Üble Nachrede … Nestbeschmutzung …«
»So war’s aber!«, sagt unvermittelt die Grünsteintochter, die nie etwas sagt. Still und furchtsam sitzt sie sonst neben ihrer Mutter wie ein treues Tier.
Frau Grünstein sieht ihre Tochter entsetzt an. »Wie kannst du das sagen?«
»Mama, ich weiß es einfach.«
Ich gehe ins Haus. An der Nische vorm Bad kommt es mir vor, als ginge ich an dem dürren blonden Mädchen vorbei, das ich vor über vierzig Jahren gewesen bin und das in die dunkle Ecke gedrückt wurde.
In meinem Körper funktioniert etwas nicht richtig. Es fühlt sich an, als wäre mein Blut kälter als meine Haut. Ich sehe den betretenen Blick des vergangenen Kindes und weiß, es hat noch mehr dieser Erinnerungen aufbewahrt. Die soll es behalten. Kein Essen für Tote, kein Nachdenken über das, was nicht zu ändern ist.
Die Nischenwand werde ich herausreißen, wenn ich das Haus umbaue. Beim Verabschieden nennt mich eine der alten Frauen »Tara Hemde raus«. So soll ich mich selbst genannt haben, als Kind, behauptet sie. Ich erinnere mich an das Lied, das ich sang, wenn ich morgens im Unterhemd am Fenster stand und auf Irmgard, unsere Haushälterin und Kindermädchen, wartete, bis sie mit den Milchflaschen aus der Elfenallee kam. »In der Chamissostraße, da steht ein blaues Haus, da guckt die kleine Tara im weißen Hemde raus.« Mein Vater hatte das Lied für mich erfunden. Jetzt kommt es mir vor, als wäre das Warten am Fenster vor sechzig Jahren der letzte saubere Moment in meinem Leben gewesen. Ich war frei, und alles hätte noch anders werden können.
Als die Gäste weg sind, winke ich meinen Töchtern hinterher, wie meine Eltern vor Kurzem mir hinterhergewinkt haben, zum Abschied, auf derselben Treppe.
Ich lege mich aufs Sofa, sehe in die Pappelblätter und träume von Häusern mit langen Gängen, leeren Räumen und verschlossenen Türen, die sich nicht öffnen lassen.
Als ich aufwache, ist es dunkel. Der letzte Gedanke, den ich aus meinem Traum mitnehme, ist die Verwunderung darüber, dass ich noch da bin. Es ist nicht die Verwunderung über den Ort, an dem ich aufwache, sondern über mich. Ich bin da.
Ich gehe durch alle Zimmer, bleibe ratlos in der Diele stehen, weiß nicht, wo ich anfangen soll. Eigentlich muss hier alles raus. Nur das geschwungene Marmortischchen in der Diele will ich behalten. Den großen Spiegel mit dem verschnörkelten weißen Holzrahmen auch. Als ich vor dem grünen Medizinschränkchen stehe, weiß ich, wo ich anfangen muss. Es ist überfüllt, wie immer. Ich reiße es von der Wand, trete die Tür mit Gewalt zu und schließe es ab.
Im struppigen Garten sieht es nicht nach Sommer aus. Mit einem Spaten steche ich eine Feuerstelle in den trockenen Rasen und lege das Schränkchen in die Mitte. Dann hole ich ein Brecheisen aus der Garage und heble vor dem Elternschlafzimmer die Türschwelle aus dem Boden. Die Schwelle und das Schränkchen gehören zusammen, müssen gemeinsam verbrannt werden. Dascha hat als Kind nächtelang auf dem verfluchten Stück Holz geschlafen. Ich werfe es aus dem Fenster. Den Knüppel mit der Aufschrift »Hausordnung« werfe ich gleich hinterher. Wie ich den spießigen Männerhumor gehasst habe! Wie ich die Farblosigkeit gehasst habe! Das kackbraune Sofa, die beigen Tischdecken, den schlammfarbenen Läufer, diesen ganzen hässlichen Sumpf. Ich werde alles ans Licht zerren, es zerstückeln, zerhacken und verbrennen.
Den alten Gong habe ich als Kind schon einmal in den Müll gesteckt. Am nächsten Tag hat er wieder im Schlafzimmer gestanden. Meine Eltern schlugen ihn nach dem Mittagsschlaf. Wie ein Roboter fing Irmgard daraufhin an, Kaffee zu kochen und Kuchen auf den Tisch zu stellen.
Diesmal wird ihn niemand zurücktragen.
In allen Schränken finde ich Schätze. Eine Bronzeglocke mit um den Stiel herumgeringelter Schlange, ein afrikanisches Schwert mit Köcher und Bambuspfeilen, einen filigranen Wandteppich, ein silbergefasstes Perlmuttschälchen. Ich putze auch die sauberen Gegenstände. Was ich putze, gehört mir.
Mit einem Vorschlaghammer gehe ich auf die kleine Wand los, die aus dem Badvorraum eine Nische macht. Niemand hört mich, wenn ich schreie. Es ist mein Haus. Die Schreie kommen aus meinem Bauch, wie beim Sprechtraining in der Schauspielschule, als wir unsere wahre Stimme finden sollten. Damals war ich erstaunt über den rauchig tiefen Ton.
Die Tapete platzt, der Putz bricht, staubige Krümel fallen herunter. Alle Muskeln wollen mitmachen, wollen dabei sein, wenn die nackten Steine sichtbar werden. Ich schlage auf die hässliche Wand ein, auf die hässlichen Erinnerungen, die in der dunklen Ecke stecken. Ich atme Staub ein. Die Steine brechen aus der Wandkante und lassen sich leicht herausschlagen, als wollten sie befreit werden. Zum ersten Mal scheint Tageslicht hinter die Nische, die keine Nische mehr ist. Ich muss husten. Ich muss rauchen. Ich habe gewonnen.
Abends stehe ich verstaubt in der Küche. In Gedanken baue ich um, entsorge, stelle neue Gegenstände hinein.
In den letzten Jahren habe ich mich in Zuständen befunden, von denen ich hoffte, sie würden bald vorbei sein. Arbeiten, Wäschewaschen, Essenkochen, Einkaufen, Saubermachen. Alles begann von Neuem, sobald es erledigt war. Die Zwischenräume waren zu klein, um darin zu leben. In meiner Kindheit waren die Tage, die nicht vergehen sollten, lang und bedeutend. Ohne Verpflichtungen, ohne Schlüssel, ohne Uhr, ohne Geld, ohne Schuhe im Sommer, trieb ich mich mit einer Freundin nachmittags auf den Straßen herum und fühlte mich so frei, als hätte ich kein Zuhause nötig, weil die ganze Straße mein Zuhause war, die ganze Stadt, die ganze Welt. Im Hof meiner Freundin schrieben wir mit Tinte einen Wunsch auf die Rückseite eines Efeublattes, das wir unter einen Stein legten. Noch tausend Wünsche bitte!, schrieben wir, weil wir zufrieden waren mit dem Moment und uns nichts Bestimmtes einfiel.
Ich überlege, ob es solche Momente mit einer solchen Bedeutung je wieder geben könnte. Jetzt fallen mir die tausend Wünsche alle ein, die ich mir damals hätte wünschen sollen.
Wenn das Haus aussieht, wie ich es haben will, wird dann auch mein Leben aussehen, wie ich es gern hätte?
Das schwere gravierte Silberbesteck – Kurhaus Masserberg – muss auch weg. Ich will nicht beim Essen an die Kindheitsferien mit meinen Eltern in dem alten thüringischen Hotel erinnert werden. Maja und Henriette liebten es, mit ihren Großeltern ins Kurhaus zu fahren. Ich teile das Besteck auf, stecke es in die Kisten meiner Töchter, ohne mir anzusehen, was sie sich darin zusammengepackt haben. Die Dinge, die in der Welt bleiben, sind unwichtig. Wichtig sind die Dinge, die wegmüssen.
Am Abend habe ich im Garten einen großen Haufen Plunder aufgeschichtet, über dessen Weiterverwendung ich nicht nachdenken will. Er soll verschwinden. Das Feuer wirft seine Funken in den Nachthimmel. Aus dem Medizinschränkchen schlängeln sich Flammen in Giftgrün und Lila.
Wenn meine Schwester noch leben würde, könnten wir das Gift gemeinsam verbrennen. Mit verschwommenem Blick sehe ich durch die Flammen hindurch Dascha in der dunklen Wiese hocken, auf der anderen Seite des Feuers. Sie beobachtet mich mit leicht schiefem Kopf, mit ihrem spöttischen Lächeln, den klugen, traurigen Augen. Sie sieht aus wie ich. Ständig wurden wir für Zwillinge gehalten. Beide hatten wir diesen schiefen linken Schneidezahn. Ich hätte gern ihren Leberfleck unterm Wangenknochen gehabt, ihren Hals, der noch ein Stück länger war als meiner. Ich war blonder, Dascha war schöner. Die Schönheit hat sich ihrem russischen Namen angepasst. Sie hätte im Märchen die Wassilissa mit den roten Wangen und samtbraunen Mandelaugen spielen können. Der Feuerqualm wischt Daschas Gesicht von der Wiese.
Ich heule die schwarze Rauchwolke an.
»Sie wissen wohl nicht, dass wir Waldbrandstufe drei haben!«, ruft ein unsichtbarer Nachbar durch eine Hecke. »Is’ mir scheißegal! Wir sind nich’ im Wald.« Der Nachbar schimpft unverständlich weiter. »Ich versteh kein Wort. Komm rüber, wenn du mit mir reden willst. Is’ alles offen vorne!«, rufe ich. »Bleibt auch alles offen«, sage ich leise zu mir.
Als ich die Terrassentür schließe, wirft die Zugluft den wackeligen Messingbilderrahmen um. Der Rahmen liegt auf dem Schränkchen im Flur. Das Schwarz-Weiß-Foto von Maja und Henriette beim Sackhüpfen ist schief. Auf der Rückseite drehe ich die umgebogenen Nägel über die schwarze Pappe und nehme das Bild heraus. Hinter dem Foto der Kinder steckt eins von mir. Da hatte ich diese verstrubbelte Kurzhaarfrisur wie Annie Lennox. Sie ist so alt wie ich.
Schmaler Kopf, schlanke Schultern, an den Ohren große Plastescheiben, schwarz-silber kariert. Ich war so verflucht dünn. An das Klappern der breiten Silberarmreifen kann ich mich noch genau erinnern. An die große gelbe Sonnenbrille, die ich fürs Foto über meine Stirn schiebe, auch. Das enge Nudelträgershirt war dunkelgrün. »Passt zu Blond«, hatte ein schwuler Freund gesagt. Die Achselhaare wären heute provokant.
Ich sehe mir durch einen vergangenen Spiegel in die Augen, die genauso geschminkt sind wie heute, mit braunem Eyeliner und Wimperntusche. Das schwarz-weiße Gesicht fängt an zu flimmern wie schweres Gas. Die Augen schwimmen auseinander, hängen bedrohlich herunter, links und rechts, Richtung Ohren. Um den Mund kriecht ein verletztes Zucken. Der unerträglich einsame Zustand fällt mir wieder ein. Dabei war ich ständig von Menschen umgeben.
Mit dem Ärmel wische ich die Flüssigkeit aus meinen Augen und sehe wieder klar. Ich schiebe das Foto zurück hinter das meiner Töchter.
Einsam fühle ich mich hier nicht mehr. Das Haus redet ständig mit mir.
Seit Wochen versuche ich, alle Ecken auszuradieren, die mich an die Einrichtung meiner Eltern erinnern. Ich sehe mich um und habe das Gefühl, die Vergangenheit aus den Ritzen kriechen zu sehen wie unbesiegbare Ratten, die unter meinem prächtigen Garten wohnen und in den Wänden zwischen meinen schönen Räumen. Sie spielen nicht mit. Sie untergraben meinen Plan.
Ich will meinem Onkel als Hausherrin begegnen. Er soll mich ernst nehmen. Er soll wissen, dass es jetzt mein Haus ist. Und er soll sehen, dass es schön ist.
Dann steht er mit seiner neuen Frau vor der Tür, tritt mit schweren Füßen über die Schwelle, als Stellvertreter meiner toten Eltern. In der Diele zieht er der Frau den Mantel aus wie einem Kind, geht ins Wohnzimmer, setzt sich genau dort, wo die hässliche Couch meiner Eltern gestanden hat, in einen kleinen Sessel. »Kaffee kriegst du erst, wenn ich dir das Haus gezeigt habe.«
Er beugt sich langsam vor, stützt die fleckigen Arme auf der Sesselkante ab und steht mit einem Stöhnen wieder auf. Seine Frau geht artig hinter ihm die Treppe hoch. Am oberen Absatz bleibt sie stehen, weil er vor ihr stehen geblieben ist. »Hast ja kaum noch Zimmer, ohne die ganzen Wände.« Ich wollte, er würde staunen. Er wollte, es wäre wie früher.
Seine Neue hat ein unscharfes Gesicht. Wie kann er dieses langweilige Huhn in eine Reihe stellen mit seinen beiden toten Frauen? Die habe ich damals gemocht. Jedenfalls kommt es mir jetzt vor, als hätte ich sie gemocht. Seine erste war die Schwester meiner Mutter. Seine zweite war deren Tochter. Niemanden in der Familie schien das zu wundern. Nur mir tat meine Cousine leid, die ihren Stiefvater heiratete und mit Mutter und Stiefvater zusammenlebte wie vorher. Sie hatte an demselben Mann die Rolle ihrer Mutter übernommen. Es musste seine Richtigkeit haben, dachte ich. Niemand sprach darüber.
Die neue Frau berührt das Treppengeländer im Runtergehen nur mit drei Fingerspitzen. Auf meinem Sofa lässt sie sich nieder, als müsste sie auf einem Komposthaufen sitzen. Bevor sie den Tassenrand berührt, schiebt sie die Zungenspitze heraus. Wie können Fingernägel so glänzen? An der Hochsteckfrisur steht kein Härchen ab. Als sie geziert ein rechteckiges Stück Serviette abreißt und sich damit die Nase putzt, pruste ich meinen Kaffee in die Tasse. Die Hände im Schoß, lehnt sie sich zurück, untätig wie eine Attrappe. Ihr Lächeln will mir sagen, dass ich den Grund ihrer Hoffähigkeit nie verstehen werde.
Ich will keine saubere Frau sein. Ich will mich benehmen, wenn ich es einsehe. Ich sehe es immer seltener ein.
Heute Morgen habe ich versucht, nicht wieder das schwarze Sackkleid anzuziehen. Alles sah falsch aus. Unvorstellbar, wie derselbe Bauch vor wenigen Jahren noch flach gewesen sein konnte und dieselben Brüste fest. Mein Kinn war noch vom Hals zu unterscheiden.
Dass der Besuch eine Quälerei wird, wusste ich. Dass die Frau so dämlich ist, wusste ich nicht.
Ob sie kacken müsse, frage ich laut, als sie leise darum bittet, die Toilette benutzen zu dürfen. Ihr Lächeln entgleist sanft.
Onkel Anton sieht ihr mit Belustigung hinterher. Er ist nicht mehr so grob wie damals. So grob wie mein Vater, so grob, wie es üblich war in diesem Haus. Als sie draußen ist, herrscht für den Moment eine familiäre Einigkeit zwischen dem Onkel Anton und mir: Wer sich mit uns einlässt, darf nicht empfindlich sein. So war es, als das Haus noch voll war. Als meine Eltern noch lebten.
Jetzt will er von seinen Krankheiten erzählen. Auch gut. Hauptsache, er redet nicht von den Kreditraten. Er wird keinen Cent zurückbekommen! Dass ich den Kredit als Entschädigung ansehe, werde ich ihm langsam sagen müssen.
Zu spät. Die Kinder und Enkel poltern in den Flur. Heute werde ich es ihm nicht mehr sagen.
Meine Töchter schleppen eine blau blühende Pflanze im Keramikkübel mit Seidenschleife. »Blauflügelchen? Wunderbar! Kann gleich auf die Terrasse.« Sie wissen, wie ich es haben will. Zwischen Stufen und Dachpfosten setzen sie den Kübel ab. Henriette hält den Kopf schief, geht ein paar Schritte zurück. Im kurzen Rock und mit hohen Stiefeln wird an ihr die Figur meiner Mutter deutlich. Diesen kugligen Hintern hatte ich nie. Es sieht aus, als hätte Henriette in ihrer Eigenwilligkeit selbst entschieden, welche Gene der Familie Hirsch sie erben wollte. Gebückt zerrt sie den Kübel näher zur Treppe. Es soll aussehen, als hätte die Pflanze selbst entschieden, dort zu stehen.
Der Onkel geht mit krummem Rücken zur Tür, will meinen Enkelkindern die Hand geben, aber sie haben ihre bunten Jacken in den Flur geworfen und rennen an uns vorbei in den Garten. »Wehe, ihr trampelt auf meine Blümchen!«, rufe ich hinterher.
Maja umarmt mich, umarmt den Onkel, umarmt sogar das unbekannte Huhn. Als Henriette ihm die Hand gibt, streckt er den Arm nach ihr aus. Sie lässt sich nicht umarmen. Es wird eine hilflose Schulterberührung. Mich umarmt sie auch nicht, schiebt sich an mir vorbei, setzt sich in den Sessel mit der japanischen Decke, tippt in ihr Handy.
»Das ist ihm zu viel Trubel«, sagt das Huhn entschuldigend. Im Flur lässt sie sich den Mantel wieder anziehen. Ich komme mit raus vor die Tür und ziehe sie hinter mir zu. Onkel Anton kippt den Kopf Richtung Straße. »Geh schon vor, setz dich ins Auto.« Sie lächelt, dreht sich um, geht. Er umgreift meinen Oberarm. »Dein Geburtstagsgeschenk ist der halbe Kredit«, macht ein Zeichen mit waagerechter Handkante und ein verschwörerisches Gesicht. Seine wabbeligen Lippen drückt er auf meine Wange. Ich ziehe meine Hände in die Ärmel meiner Strickjacke und schlinge sie fest um meinen Körper. »Weißt du eigentlich, wie widerlich das war, von euch begrapscht zu werden damals?« Die Augenbrauen zusammengezogen, hält er den Kopf schief, als verstünde er nicht, wovon ich rede. »Ihr wart für uns alte Männer und habt uns ständig da oben in die Ecke gedrückt. Das war einfach ekelhaft!«, sage ich, obwohl es überflüssig ist. Ich zeige ihm meine zitternden Hände. »Hier, guck dir das an!« Er sieht auf meine Finger, schüttelt irritiert den Kopf. »Aber ihr wart doch so niedlich.« Ich wiederhole seinen Satz als Frage.
Seine Pupillen sind wie ein Tunnel in die Vergangenheit. Ich sehe hinein und habe das Gefühl, er zieht sich dorthin zurück. Wie von weit her sagt er, als hätte er es vor Langem eingeübt: »Es tut mir leid, wenn ich euch belästigt haben sollte.« Er macht eine altertümliche Verbeugung. »Das wollte ich nicht«, dreht sich um und geht. Am Tor winkt er mir zu, wie früher, als seine Arme noch stark waren und ich mich noch vor ihm gefürchtet habe. Alt, schwach, ungefährlich lässt er sich zum Auto führen. Er verschwindet genauso unscheinbar in der Umgebung wie seine Frau mit dem unscharfen Gesicht.
Alles ist so lange her. Als das Auto abfährt, komme ich langsam wieder in der Gegenwart an. Wieso lebt der Mann überhaupt noch, denke ich, als hätte er nicht das Recht dazu. Ich schließe von innen die Tür und bin mir nicht mehr sicher, ob er wirklich noch lebt. Vielleicht ist er in diesem Moment gestorben. Herzinfarkt im Auto.
Im Flur hat jemand eine gelbe Plastetüte von Netto liegen lassen. Die räume ich hinter die Kellertür. Wenn ich meinen Körper nicht mehr hinkriege, soll wenigstens mein verfluchtes Haus perfekt aussehen!
»Kann mal jemand das Haus bewundern?« Henriette fragt entnervt, ob sie jetzt eine Stilnote geben soll, oder was. Ich sehe mich selbst an ihrer Stelle liegen, die Stiefel über der Lehne, mit meinem Vater streiten. Der schwenkte die Arme, lief im Zimmer hin und her. Er wollte diskutieren. Ich wollte nur gehässig sein.
Ich bin nicht wie mein Vater. »Dass ich keinen Stil habe, ist mir klar. Hast du mich für ’ne Künstlerin gehalten? War ich nie. Werde ich nie!« Henriette ist nicht wie ich. Sie stöhnt. Dafür, dass ich keine Künstlerin sei, sähe ja alles toll aus.
Mein Enkel fällt im Garten von dem schrägen Baum. »Scheiße! Meine Malve!«
Ich sollte nicht so brüllen. Er kriecht verschreckt ins Gebüsch.
Aus dem Schuppen hole ich Draht und einen Stock, um die geknickte Pflanze hochzubinden. »Komm raus da!« Der Junge hockt sich neben mich. Er soll den Draht halten. Von der Seite sieht er mich an, will wissen, wie böse ich bin. Ich sollte versuchen zu lächeln, aber dann könnte es passieren, dass ich versehentlich anfange zu heulen.
Ich wollte eine Lieblingsoma werden, meine Enkelkinder mit Schokoladenpudding verwöhnen, mit ihnen verreisen, alles nachholen, was ich mit meinen Töchtern nicht geschafft habe. Aber die Kinder nerven mich. Die kleinen Mädchen streiten sich auf der Wiese um den Liegestuhl. »Das ist mein Fliegestuhl!«, kreischen sie und zerren daran. Ich schließe die Augen, beherrsche mich, sie nicht anzuschreien, gehe an ihnen vorbei ins Haus.
Der Flurspiegel sagt mir, ich muss ein freundlicheres Gesicht machen. Ich verspreche ihm, auch das zu versuchen.
Meine Aggression lasse ich an der gebratenen Gans aus, zerknacke mit der fettigen Geflügelschere die Gelenke, lecke meine Finger ab. Zuerst kommt der Sterz auf meinen Teller. »Der Arsch ist meiner!«
Ich erzähle von dem verklemmten Huhn des alten Onkels. Meine Töchter reden mit ihren Kindern, tun, als würden sie mir nicht zuhören. Ich kenne ihre Art, durch Desinteresse eine Mauer gegen mich zu bilden.
Die Kinder wollen kein Fleisch, kein Gemüse, nur Klöße. Mein Vater hätte die Faust auf den Tisch gedonnert. Erst wird gekostet! Die Kinder hätten sich erschreckt. Dann hätte er das Gesicht vom platzenden Frosch gemacht, dabei geschielt und so getan, als würde er mit der Gabel voller Rotkohl seinen Mund verfehlen. Sie hätten gelacht und freiwillig gegessen. Er konnte meine Töchter, als sie klein waren, beim Essen ablenken, sie mit Späßen verwirren, mit Geschichten, Fratzen, sodass sie ihre Teller leer aßen, ohne es zu merken. Ich kann keine Witze, keine Fratzen. Ich kann die Stimmung nicht aufhellen.
Beim Abschied geht Henriette wieder an mir vorbei. Sie stülpt ihrem Kind einen zusammengerafften rosa Strickjackenärmel über den kleinen Arm, zieht das Händchen durch die Öffnung. Das Kind zieht die Hand zurück, schiebt die Unterlippe vor – »nicht die blöde Schreckjacke!« Mein Vater hätte sich gefreut. »Adelchen«, sagte er dann, »schreib das auf, ja?«, wenn Maja und Henriette Apfeleimer sagten statt Abfalleimer oder sonntags im Café Moskau schwarzer Teller Eis bestellten statt Stracciatella. Meine Mutter schrieb es auf.
Als ich den Staubsauger über den Teppich schiebe, höre ich den Nachbarn nicht, der plötzlich im Zimmer steht und die Arme ausbreitet. »Ha! Du erschreckst dich immer so herrlich, Tamara!« Der Alte lacht. In der Hand eine Flasche, deutet er zur Tür. »Na, wenn Frau Hirsch keine Klingel hat!«
Die Bronzeglocke mit der um den Schaft geringelten Schlange ist meine Klingel. Wieso versteht das niemand?
Er soll seine Dreckbotten ausziehen oder sich in die Küche setzen.
Die Flasche am langen Arm durch den Raum schwenkend sagt er: »Da hat Frau Nachbarin ja wieder eine traumhafte Theaterfassade aufgestellt!«, dreht sich um, tänzelt in die Küche.
Theaterfassade? Ist das alles, was von mir übrig geblieben ist? Die makellose Frau des Onkels hatte doch etwas Würdigendes gesagt über den Garten. Märchenhaft, oder so. Ich habe es nicht ernst genommen, war nur angewidert von ihrer seichten Stimme. Ich wünschte, sie wäre wieder hier. Wieso wird mir das jetzt erst klar? Das dumme Ding hätte mir aus der Hand gefressen, wenn ich es gewollt hätte. Verdammter Mist!
Der Nachbar gießt seinen Rum in das langweiligste Schnapsglas, das ich habe, und kippt ihn hinter seine vorgeschobene Unterlippe. Er hält mir die Flasche hin. »Rum, Tamaruschka?« Mir wird schlecht vom Alkoholgeruch. »Könntest mir auch ’n Tässchen Katzenpisse anbieten.« Ich hole ein kleines Glas mit Goldfuß und gravierten Vögelchen aus dem chinesischen Schrank, nehme ihm das andere weg. »Sauf wenigstens kultiviert!«
Wenn Henriette anruft, kann es sich nur um ein Problem handeln. »Habt ihr was vergessen?« Ich kann mich nicht erinnern, wann sie mich das letzte Mal Mama genannt hat. Den Nachbarn lasse ich sitzen. »Komme gleich wieder. Muss meiner Tochter was bringen.« In der Garage finde ich hinter Fahrrädern, Gartenbänken und Sonnenschirmen zwei alte Kindersitze. Ich werfe sie ins Auto. Von Weitem sehe ich Henriette mit einer Polizistin diskutieren. Meine Enkelkinder kommen auf mich zugehopst, zerren an meinem Kleid. »Oma ist unsere Retterin!« Henriette nimmt mir die Sitze ab. Meine Enkeltochter streckt mir ihre kleinen Arme entgegen. Ich beuge mich hinunter. Sie hält meine Wange, riecht nach Milchkeks und gibt mir einen Kuss von so entsetzlicher Zartheit, dass ich für einen Moment spüre, wie sich meine Anspannung aufzulösen droht.
Henriette schnallt die Kinder an und steigt ins Auto. Ihr Blick durch die Windschutzscheibe sagt mir, sie ist für die Rettung genauso dankbar wie ich für ihren Hilferuf. »Da hat Ihre Tochter ja Glück gehabt«, sagt die Polizistin. Ich winke dem Auto hinterher. »Die Kinder zapfen doch nur unser schlechtes Gewissen an.« Die Polizistin versteht mich nicht. Henriette versteht mich. Sie kennt mein schlechtes Gewissen und bedient sich daran im Notfall.
In der Nacht träume ich von einer Katzenkopfsteinpflasterstraße, die sich durch eine leere, heiße Landschaft zieht. Es regnet. Ich erkenne, dass einige Steine sich verfärben, im Nasswerden Worte bilden, Sätze, einen Text. Ich muss rückwärtsgehen, um ihn zu lesen. Der Text handelt von meinem Leben und davon, dass ich mich unvermeidbar in Staub auflösen werde, wenn ich weiter rückwärtsgehe. Die Straße wird irgendwann zu Ende sein.
Im Aufwachen wird mir klar, die Geschichte könnte in der Zukunft unendlich weitergehen. Zu Ende ist sie am Anfang, bevor es sie gab. Dahin will ich nicht zurück. Dahin werde ich gezogen.
Vor der Fotokiste, die im Arbeitszimmer meines Vaters stand, fürchte ich mich noch immer. Als Kind habe ich darin gekramt, an einem langweiligen elternfreien Nachmittag, und fand ein seltsames Bild, das zwischen den alten Familienfotos lag. Warum hatte jemand eine Mauer fotografiert? Am Bildrand stand ein Soldat mit Gewehr und zeigte in Kopfhöhe auf einen der dunklen Flecken an der Wand. Die Flecken wiederholten sich in gleichmäßigen Abständen. Ich starrte auf das Foto und wusste: Das Bild muss versehentlich in der Kiste gelandet sein. Es war ein Fenster zu einer Parallelwelt. Jemand, der dafür zuständig gewesen wäre, hatte vergessen, es vor mir zu verschließen. Von einigen Flecken sah ich dunkle Spuren hinablaufen. Hinab ins Gras, das am Fuß der Mauer wuchs. Ich erschrak über mein eigenes Verstehen. Warum wusste ich, was an der Mauer passiert war? Woher kannte ich die Geräusche der Gewehre? Wieso fühlte ich die Angst, ohne sie erlebt zu haben?
Es wäre unmöglich, die ganze Kiste in den Müll zu werfen, nur um dieses Bild nicht wiederfinden zu müssen. Genauso unmöglich, wie ein Zimmer im eigenen Haus nicht mehr zu betreten, nur weil einmal eine Spinne darin gewesen ist. Spinnen laufen hinter andere Möbel, Fotos verschwinden aus Kisten.
Ich ziehe die Kiste unter dem Regal hervor und stelle sie auf den alten Schreibtisch meines Vaters. Mir ist, als stünde ich wieder in seinem Arbeitszimmer, genauso wie es früher war. Das Haus hat manchmal die Eigenschaft, meinen Umbau an ihm zu ignorieren. Wie eine Fata Morgana spiegelt es mir das alte muffige Zimmer vor und setzt sich hinweg über die Gesetze von Zeit und Raum. Es bevormundet mich in meinem Anspruch, seine Herrin zu sein.
Ich ziehe ein kleines, gewelltes Foto aus der Kiste. Es ist menschenleer. Gustav Hirsch steht in schwungvoller Schreibschrift über einem Ladengeschäft. Marktplatz, Endingen um 1900 mit Bleistift auf der Rückseite. Heute Hirschplatz in Klammern dahinter.
Gustav, das war mein Urgroßvater. Es ist wie mit dem Bild von der Mauer. Die Parallelwelt öffnet ihre Fenster. Ich höre, wie das Glas der Schaufensterscheibe zerschlagen wird und klirrend auf das Pflaster springt. Ein Mann mit Stock geht vorbei, von links nach rechts, und lüpft grüßend den Hut.
Gustav Hirsch steht auf der Leiter, zieht mit spitzen Fingern das Glas aus den Fugen. Ihm sei die Puppe ins Fenster gefallen, behauptet er lachend. »Das musste ja mal passieren.« Die Schaufensterpuppe im guten Sonntagsanzug steht zwischen den Scherben. Vom Marktplatz gehen krumme Gassen ab, mit schiefen Fachwerkhäusern.
Die Passanten gehen aneinander vorbei, heben die Hüte.
Die Nacht, in der die Schaufensterscheibe zerschlagen wurde, hatte Friedrich in Vaters Bett verbringen dürfen.
Wenn er in Vaters Bett schlafen durfte, sah Napoleon auf ihn herab. Im Dunkeln konnte Friedrich nur die weißen Stellen erkennen. Den Lichtfleck auf Napoleons Stirn, das Augenweiß, das sturmverwehte Tuch an seinem Hals, die weiße Schärpe, das goldverzierte Innenfutter des Mantels mit dem zackigen Kragen und Napoleons Finger im weißen Handschuh, der auf der Krone lag. Friedrich hatte im Halbschlaf keine Angst, wenn die dunklen Teile des Bildes anfingen, sich zu bewegen, wenn er darin die Pferde aus dem Wald übers Schlachtfeld reiten sah, wenn der Vater schlief und sein Schnarchen über dem Kampf dröhnte.
Fast jeder Endinger ließ sich einmal ausmessen von Vater Hirsch. Jeder brauchte ein Hemd, eine Schürze, einen Anzug, einen Hut, ein Kleid, ein Paar Strümpfe, ein Paar Schuhe, und jedes Christenkind brauchte ein Konfirmationsgewand.
Die Hirsch-Kinder aber wurden auf dem Schulweg mit Steinen beworfen: »Ju-den-säu-e! Ju-den-säu-e!« Sie warfen keinen Stein zurück. Das hatte der Vater ihnen eingebläut: »Nicht zurückwerfen!«
Friedrich war mager für ein Landkind. Mager im Gegensatz zu den Schwestern mit ihren dicken Zöpfen, die ihnen hinterherflogen, wenn sie am Haus über die Wiese liefen. Mager im Gegensatz zu den Brüdern mit ihren kräftigen Beinen, die so schnell rennen konnten. Friedrich konnte auch rennen. Nicht schnell, dafür lange. In seiner hohen Stirn saßen die Brauen über wachen braunen Augen weit oben. Sein offenes Gesicht war spitz. Die Nase, das Kinn, die Wangenknochen wie aus Holz geschnitzt.
In Friedrichs Kindheit durfte man durch fremde Gärten, Scheunen und Ställe gehen und dabei Hecken platt trampeln, weil es eine Abkürzung war zur Badestelle am Fluss. Niemanden störte das. Es war eine Zeit, in der vernünftige Leute behaupten konnten, Geister gesehen zu haben, Frauen, die sich nachts in Katzen verwandelten, oder Pferde in Ungeheuer. Es war das ausgehende neunzehnte Jahrhundert im badischen Endingen. Ein paar Mädchen gab es in der Familie, die lieber gebildet sein statt verheiratet werden wollten. Ein paar Jungs gab es, die andere Interessen hatten als Macht und Verantwortung. Friedrich war einer davon.
»Warum henn die Jude die unschuldige Kindli von Endinge umbrocht?«, fragte Friedrich beim Essen. Die Kinder aus seiner Schule sagten, es sei vor über vierhundert Jahren gewesen. Die Juden hätten eine durchreisende Familie ermordet, um aus dem Blut ihr Brot zu backen. Der Hügel vor der Stadt, auf dem die Mörder verbrannt worden waren, hieß immer noch Judenbuk. Alle wussten davon. Alle sahen sonntags in der Kirche die Knochen der unschuldigen Kindlein ausgestellt. Der Vater sagte, es sei nicht wahr. Niemand würde mehr daran glauben. Die Juden hätten keine Kindlein ermordet, und die Endinger hätten mit den Juden vor allem ihre Schuldscheine verbrennen wollen. Aber davon solle Friedrich in der Schule nicht reden. Das sei besser.
Nach dem Essen saß Friedrich hinterm Haus am Waldrand. Er glaubte dem Vater und fühlte sich trotzdem schuldig.
Die Wiese war sonnengefleckt. Über dem Gras im Nichts sah er gasförmige Bewegungen wie Schatten, die ihren Zusammenhang verloren hatten. Ströme flossen zu Bergen übereinander, rollten sich vorbei, stiegen auf, zogen langsam um ihn herum, wurden unsichtbar. Er konnte erkennen, wie die Wärme seines Körpers ihn umhüllte, vor ihm aufstieg. Friedrich sah die Luft.
Wenn die Juden die unschuldigen Kindlein doch ermordet hatten, würden die Christen dann vielleicht die Judenkinder ermorden?
Von dem Tag an konnte Friedrich beobachten, wie ein Luftstrom um eine Mauer floss oder wie im Zimmer die Außenluft durch das Fenster hereinzog und dicht über dem Boden zur Tür kroch. Er hatte das beunruhigende Gefühl, dass die Kindlein überall waren, um ihn herum, und in ihm drin.
Mit Mitte vierzig bekomme ich meine jugendliche Freiheit zurück. Tagsüber bin ich darauf stolz. Mit meinem nächtlichen Verstand kann ich den Stolz nicht begreifen, sondern sehe mich als abgenutzte Mutter. Ich bin meines wichtigsten Amtes enthoben. Unnütz. Verbraucht. Fremde Kinder auf der Straße will ich an die Hand nehmen. Ihnen die Nasen putzen. Apfelstücke in die Münder schieben. Habe ich das gemacht bei meinen eigenen Kindern? Ich weiß nicht mehr.
Die späten westdeutschen Mütter mit den teuren Kinderwägen, über die ich vor ein paar Jahren abfällig gelächelt habe, beneide ich jetzt.
Ich sitze auf der Bettkante, zünde mir im Dunkeln eine Zigarette an, fühle mich verwahrlost und versuche, mir vorzustellen, es sei hell draußen. Ich kann mich nicht überlisten. Nachts halte ich Dinge für bedrohlich, die mir tagsüber nicht einfallen würden. Im Dunkeln erscheint es mir klar: Das neue Leben, ohne zu betreuende Kinder, kann ich nicht ausfüllen. Ich schließe die Türen der leeren Kinderzimmer, um die wartenden Betten nicht sehen zu müssen, wenn ich durch den Korridor gehe.
Mein Verstand will kein Baby mehr. Erst recht nicht von dem Pianisten. Der säuft zu viel. Der Gedanke, dass die Möglichkeit zumindest bestünde, ist trotzdem heilsam. Seine Kinder wären hübsch. Mein Körper will es unbedingt. Ich bin ein Körpermensch, höre auf meinen Bauch und fühle mich zerrissen. Muss ich ein Kopfmensch werden, um der Zerrissenheit zu entkommen? Ich will kein Kopfmensch werden. Der Pianist ist ein Kopfmensch. Deshalb säuft er ja so viel.
Mit dem Tageslicht wird sich das bewährte Muster über mein Leben legen. Meine Sinne werden sich ordnen und alles Unbrauchbare ausblenden. Ich werde meine Aufgaben haben und gebraucht werden. Im Moment ist es dunkel. Ohne Licht wird alles gleich. Mein stolzer Grundsatz, mich im Leben nicht bedienen zu lassen, alles alleine zu können, mir zu nehmen, was ich brauche, ist sinnlos geworden. Ohne zu wissen, was ich brauche, kann ich mir nichts nehmen. Die Prinzipien drehen sich um. Auf sonderbare Weise wird meine Wahrnehmung klarer. Wäre ich nicht so mutlos, könnte ich mich bestimmt in den weit geöffneten Raum fantasieren und irgendwelche heiligen Herrlichkeiten erkennen, die viel bedeutsamer sind als mein eigenes kleines Scheißleben.
Ich wollte immer raus aus dem DDR-Käfig. Jetzt ist der Käfig offen, und ich bin zu erwachsen, um rauszuwollen in die Welt. Stattdessen klammere ich mich an meine Aufgaben.
Als sich morgens meine Rolle aktiviert, sehe ich mich beleuchtet im Spiegel und muss mindestens so gut aussehen wie gestern. Mit braunem Kajal und Wimperntusche bemale ich meine Augen, die ich kaum öffnen kann. Sie tränen, während ich mit den Fingern Luft hineinwedle, um die Schminke zu trocknen. Das Licht blendet. Meine Beine zittern vor Müdigkeit. Wird es so noch mal gehen heute?, frage ich den Spiegel. Es wird gehen, sagt er. Ich werde meine Aufgaben machen, bis es wieder dunkel wird.
Mit Kaffeetasse und Zigarette stehe ich am Küchenfenster, sehe mir den verfluchten Herbst an und stelle mir vor, die Kinder würden wieder kleiner werden und Laub in die Luft werfen, zurück in die Bäume. Der Blätterregen würde raufwirbeln und oben an den Zweigen hängen bleiben.
Mit einer Hand massiere ich meinen Nacken. Durch den Schmerz, der darin sitzt, fühlt sich mein Griff an wie der einer fremden Hand, die den Schmerz von außen verursacht, weil sie zu fest in mein Fleisch greift. Aber so ist es nicht. Mein Schmerz kommt von mir.
Zum ersten Mal in meinem Leben liebe ich einen Mann, der mich nicht liebt. Es war doch immer andersrum.
Freundinnen, die an meinem Küchentisch saßen und weinten, habe ich nicht verstanden. »Such dir doch einen anderen, mein Gott!«
Ich will keinen anderen. Am liebsten würde ich mich unten im Hof in die raschelnden Berge wühlen und heulen, ob meiner Ohnmacht. Fremde Kinder würden hinter den Fenstern zusehen, wie ich meinen Kindern noch vor wenigen Jahren beim Klettern zugesehen habe. Niemand würde mich verstehen, wenn ich mit Bindfaden Blätter an die Zweige nähe, mit Reißzwecken feststecke, mit Spucke anklebe. Meine Verzweiflung könnte ich als Kunst verkaufen. Als Theaterstück. Verrückt werden ist auch eine Möglichkeit.
Der Pianist ruft am Nachmittag an und fragt, ob wir uns im Café treffen. Ich rufe meine Töchter an. Henriette sagt Ja, als wäre es ihr egal. Maja sagt Ja, als wäre es ihre Pflicht.
Das familiäre Einverständnis am Abend zu viert fühlt sich genauso vertraut an wie in den letzten Sommern am See. Nur die Leichtigkeit kommt nicht zurück. Er macht bissige Witze und trinkt zu viel. Ein Alkoholiker sollte nicht über einem Café wohnen. Ich lache nicht und esse zu viel. Es ist spät. Ich gehe mit ihm hoch in seine Wohnung. »Wartet hier. Komme gleich wieder runter und fahr euch nach Hause.«
In seiner Wohnung versuche ich, ihm das Versprechen abzunehmen, schlafen zu gehen und nicht weiterzutrinken. Er geht im Zimmer auf und ab wie ein hungriger Wolf. »Ich hab mich in deine Tochter verliebt!«
Vor der Wohnungstür höre ich jemanden die Treppe runterrennen. Hoffentlich war es nicht Henriette. »Pädophiles Arschloch!«, sage ich halblaut und schlage die Tür hinter mir zu.
»Henriette ist nach Hause gegangen«, sagt Maja und steht auf.
Auf dem Bürgersteig zerschellt eine Tasse vor uns auf dem Pflaster. Der Kaffee, den ich in seiner Wohnung gekocht habe, damit er aufhört, Wein zu trinken, sprüht in mein Gesicht. »Ich bin nicht pädophil!«, brüllt er von oben. Maja rennt zum Auto.
Auf dem Rückweg reden wir nicht. In Henriettes Straße sehen wir im Vorbeifahren gleichzeitig hoch zu ihrer WG. Es ist Licht in ihrem Zimmer. Ich fahre weiter.
Zu Hause halte ich in der Hofeinfahrt. Maja sieht mich fragend an. »Geh schon mal hoch«, sage ich. Sie donnert die Autotür zu. Ich fahre zurück, parke vor seiner Tür, bleibe im Auto sitzen. Wenn ich nur saufen könnte! Alles ist schrecklich im Dunkeln. Ich kann doch niemandem erzählen, dass er mir leidtut. »Du bist ja krank«, würde jeder sagen. Weiß ich selber. Irgendwann schlafe ich ein, wache nach Stunden auf, friere, und es ist immer noch dunkel, und es ist immer alles schrecklich.
Am Wochenende fahre ich mit Henriette zum Haus am See. Von selbst wird er nicht kommen, solange ich ihm kein Zeichen gebe. Ein belangloses Telefonat würde ausreichen. Ich könnte ihm von seiner Mutter erzählen, die ich gestern getroffen habe, mit der er nicht redet seit zwei Jahren.
Um den Pianisten nicht aus vertrauter Gewohnheit anzurufen, erzähle ich stattdessen Henriette von seiner Mutter. Nach ihrem Sohn hat sie nicht gefragt, sondern nur von sich selbst geredet, die dumme Kuh. Henriette zuckt mit den Schultern, geht in die Veranda und liest. Sie fragt nicht, ob er noch kommt. Ich frage nicht, ob sie vor seiner Wohnungstür war. Zum ersten Mal gibt es etwas zwischen uns, worüber wir nicht reden können.
Das Haus ist von Knöterich umwachsen. Von außen sieht es aus wie in einen Blätterteppich gehüllt. Von innen wie unter Gestrüpp vergraben. Die untergehende Sonne leuchtet es rosa an. Von der Seeseite scheint sie ins Haus und durch die Vorgartenfenster hinaus.
Henriettes Freund schiebt sein Fahrrad umständlich durchs Tor, lehnt es ungeschickt gegen einen Baum, dass es umfällt. Er kommt in die Küche, schiebt seine Brille hoch und gibt mir höflich die Hand. »Halloooo?«, sage ich mit meiner tiefen Theaterstimme, sehe belustigt zu Henriette, die in der Veranda ihr Buch weglegt. Henriette wirft mir im Vorbeigehen einen strengen Blick zu. Ich soll mich nicht über seine Förmlichkeit lustig machen. Sie zieht ihn in den Garten. »Gehen wir baden?« Durch das Fenster sehe ich die beiden Hand in Hand unterm orangerosa Himmel zum See gehen.
Mit neunzehn hatte ich keinen festen Freund. Sicher wäre ich nicht Hand in Hand mit ihm zum See gegangen, wenn ich einen gehabt hätte. Es wäre nicht so ein braver bebrillter Junge gewesen, sondern mindestens einer mit Lederjacke und Motorrad. Ich war cool. Noch nie bin ich mit einem Mann Hand in Hand gegangen.
Ich will ins Wasser, bevor es kalt wird. Henriettes Freund sitzt auf der Stegtreppe. »Bist du wasserscheu?« Der See sei ihm zu moderig, sagt er, und ohne Brille könne er nichts sehen. Ich werfe mein Kleid auf die Bank, und fast fällt er vor Schreck von der Treppe, als ich neben ihm ins Wasser springe. Ich wische mir die Haare aus der Stirn. »Was willste denn hier sehen?« Er hält seine Brille fest und zuckt mit den Schultern. Na, das Ufer zum Beispiel?
Als ich an Henriettes Kopf vorbeischwimme, erkläre ich, dass Hühnchen mit Rosmarin im Ofen und Schokoladenpudding mit Walnüssen auf der Kellertreppe stehen.
Im Zurückschwimmen sehe ich, wie Henriette nackt im flachen Wasser steht, ihr Haar auswringt, triefend auf die Treppe steigt und ihrem Freund beide Brillengläser ableckt. Er gibt einen Laut von sich, wie man ihn ausstößt, wenn sich ein nasser Hund schüttelt. Mit dem Hemdärmel putzt er seine Brille. Das hat sie von mir! Würde ich gern rufen.
Ich lasse die beiden alleine essen, im dunklen Vorgarten, und bleibe hinten, auf der Terrasse in der Abendsonne. »Wir schlafen nicht in der Hütte«, sagt Henriette, als sie die Teller in die leere Küche trägt. Ich weiß, warum sie nicht in der Hütte schläft. Man kann ringsherum hineinsehen. Sie will auf dem Dachboden schlafen, obwohl sie sich vor den Spinnen ekelt.
Später höre ich, wie beide versuchen, beim Sex leise zu sein. In dem Alter hatte ich keinen Spaß an Sex. Es war mir vorgekommen wie ein Zahlungsmittel, das ich richtig einzusetzen hatte. Jetzt sitze ich in der Dunkelheit rauchend auf der Terrasse und höre meine Tochter über mir husten und lachen. »Ich hab so viele Fusseln eingeatmet«, flüstert Henriette. »Hier, trink mal was«, flüstert ihr Freund. Die Männer, die ich gekannt habe, waren nicht so fürsorglich. Oder waren sie es doch, und ich habe es nicht gemerkt?
»Ich wusste gar nicht, dass Männer so fürsorglich sein können«, flüstert Henriette irgendwo über mir, und fast muss ich laut lachen. »Du scheinst überhaupt wenig Ahnung davon zu haben, wie Männer sein können.« »Na ja, meine Mutter hat Männer immer so behandelt, dass ich eigentlich nicht davon ausgegangen bin, dass ihr auch Menschen seid.« Ich drücke schnell die Zigarette in den Aschenbecher, verwedle den Rauch, damit er nicht zum Dachfenster hochsteigt. »Dann hab ich es ja nicht schwer mit dir.« »Dann hast du es nicht schwer mit mir.« Sie stöhnt leise. Die alten Dielen knarren unter den alten Matratzen.
»Sag mal, hast du das irgendwo gelesen, dass man bei Frauen in die Stellen greifen muss, so mit der vollen Hand, die füllig sein dürfen, also Po und Brüste?« In pädagogischem Tonfall sagt er: »Streicheln Sie ihren Bauch nur mit der flachen Hand. So geben Sie ihr das Gefühl eines flachen Bauches.« Henriette lacht verliebt.
Jetzt vermisse ich den Pianisten, dass es wehtut im Hals. Der absurde Gedanke, es gäbe irgendeine Möglichkeit, wie es gehen könnte mit ihm, schleicht sich wieder an. Das ist der Moment, in dem mir alle Nebenwirkungen egal werden. Hauptsache, der Schmerz lässt nach. Ich gehe ins Haus. Vor dem Telefon habe ich oft gestanden, wie jetzt, und versucht, den Zustand auszuhalten. Ich muss diesen Ort verlassen, um es auszuhalten. Oder diese Zeit.
Auf der Kommode steht ein Foto von Oma Ilse, als sie noch keine Oma war, sondern gerade Mutter. Sie steht im weißen Kleid vor einem Wintergarten.
Ilse sang nach dem Essen im Salon. Eine ihrer drei Schwestern war in die Hirschfamilie eingeheiratet worden. Friedrich vergaß die gebildeten Frauen, die er in Freiburg kennengelernt hatte und von denen er sich seit Monaten für eine zu entscheiden versuchte. Zwischen den drei Töchtern des Landwirtschaftsministerialbeamten fiel ihm die Entscheidung leicht. Ihm gefiel nur die singende. Ilse hatte ein gleichmäßiges Gesicht. Oval und ohne Abweichungen. Ihre Haltung war so gerade und voller Direktheit, ihre dunklen Augen so deutlich gezeichnet, dass Friedrich sie nicht mehr vergessen konnte.
Beim Singen wirkte sie, als stünde sie allein auf einem Berg. Die klare Stimme schien über die Zuhörer hinwegzufliegen, dorthin, wo Ilse lieber gewesen wäre als auf dem Podest im Musikzimmer. Sie wiegte ihren Körper leicht hin und her, sodass ihr Kleid neben dem schwarzen Flügel wie eine weiße Glocke schwang.
Beim Spaziergang durch den Wald zum Allmendsee blieb er mit ihr zurück. Friedrich erzählte von Theateraufführungen, die er in Freiburg gesehen hatte. Und weil er dauernd ihr gluckerndes Lachen hören wollte, erzählte er so, dass sie lachen musste.
Abends saßen sie zusammen hinterm Haus, die halbe Nacht. Er musste ihr weiches Gesicht küssen, ihren wohlriechenden Hals. Er musste seine Nase in ihrem schweren schwarzen Haar vergraben, seine Wange in ihr Dekolleté legen, bis am Morgen im Haus das Licht angemacht wurde.
Friedrich musste Ilse verabschieden. Sie hatte eine Stellung in Paris und sollte die Kinder einer adligen Familie erziehen.
»Der Bub het zu viali G’hirnwindunge«, meinte Vater Hirsch. »So viel kannsch im Lebe nit studiere, wie in sell kleiner Gauß raipasst.« Friedrich ließ sich einen Schnurrbart wachsen, trug eine runde Brille, studierte in München Mathematik, Physik, Chemie, ein bisschen Astronomie und Philosophie und wohnte in einem winzigen Pensionszimmer. Nachts wachte er auf und hatte wieder diesen Traum, in dem alles vollkommen gewesen war. Als er die Augen aufriss, jagte sein Blut durch seinen Körper, als würde es nach einem Ausgang suchen. Er setzte sich an den kleinen Sekretär, obwohl er wusste, dass es unmöglich war, sich an die Gleichung zu erinnern. Er hatte sie gesehen, fühlte sie noch und wusste, dass sie alles erklären würde. Sie lag in seinem Unterbewusstsein wie die Unendlichkeit, aus der er sich etwas schnappen musste. Aber die Gleichung schrumpfte mit jeder Zahl, die er ihr zuordnete, die er herauszerrte aus der unberührten Vollkommenheit. Am Ende blieb nur die Zwei. Mehr als die Lösung hatte er nicht eingefangen von dem Meisterwerk, das sich ihm im Traum so klar gezeigt hatte. Jetzt war es kaputt. Er hatte es kaputt gemacht, weil er es haben wollte. Im Traum konnte ihm die Zwei alles verraten, und das ganze Universum hatte hinter der Zahl gestanden, deren Bedeutung er jetzt noch spürte wie die einzig wahre Religion. Nur erklären konnte er sie nicht, weil sie sich mit jeder Erklärung selbst zerstörte. Friedrich fuhr sich mit den Händen über den Kopf, aber der Kopf war zu wach, um klar zu denken. Er legte sich wieder hin, und als er die Augen schloss, erschienen keine Gleichungen mehr. Ilse hatte sich vor die Zahlen geschoben und winkte ihm lachend aus einem fahrenden Zug. Friedrich dachte, es sei vielleicht gut, dass die Gleichung nicht greifbar war. Vielleicht würde sie Unglück bringen. Er wollte jetzt weiter von Ilse träumen, die ihm unaufhörlich zuwinkte mit wehenden Bändern an ihrem Hut: »Hallo, ich bin’s. Die Zwei!« Friedrich winkte zurück und hatte endlich verstanden.
Weil seine Doktorarbeit eine Summa cum laude bekam, durfte er zur Belohnung die Wehrdienstuniform nach einem Jahr wieder ausziehen.
Er wurde entlassen, als Ilse aus Paris zurückkam. In den Ferien stieg Friedrich nicht mehr bei den Eltern in Endingen aus der Breisacher Bahn, sondern bei Ilse. Sie trug ein hellblaues Kleid, einen weißen Hut, und ihr Gesicht war strenger geworden. Friedrich spazierte im Sonntagsanzug, ihre Hand haltend, an den Rand des Dorfes. Er sah sie von der Seite an und spürte, sie war zurückhaltender geworden. Interessanter auch. Friedrich war an der neuen Ilse noch interessierter als an der alten. Auf der Wiese versuchte er, ihr zu erklären, wie sich die Luft bewegt. Von ihrem Körper, sagte er, würde er die Wärme aufsteigen sehen.
Ilse legte seine Hand auf ihren Bauch, und Friedrich hatte das Gefühl, mit der Wärme würden reihenweise Teilchen, Zahlen und Grundelemente in seine Hand strömen. Er dachte an seinen Traum und fühlte sich verbunden mit der Unendlichkeit.
»Ein Christ wär mir schon lieber«, brummte Ilse in der tiefen Stimmlage des Vaters und lachte. »Die Religione«, sagte Friedrich und sah dabei in den Himmel, »behindere nur de Fortschritt.« Als Wissenschaftler sei er Atheist geworden. Als Humanist sei er in die Deutsche Friedensgesellschaft eingetreten, als Sozialist in die SPD. Ilse staunte und überlegte, ob sie dem Vater das erzählen durfte.
Sie sollte ihre Ausbildung zur Opernsängerin beenden, bevor sie heiraten und zusammen in die Stadt ziehen würden, fand Friedrich. Ilse zog die Augenbrauen zusammen und sah in die dunklen Tannen. Die Ausbildung sei ihr nicht mehr wichtig, behauptete sie. Singen wolle sie nicht so, wie man es von ihr verlangte, und nicht für fremde Leute.
Am Nachmittag saß Friedrich mit Ilses Schwestern auf der Treppe vorm Haus. Er redete vom Frauenwahlrecht, von Frauen in politischen Ämtern und in wissenschaftlichen Berufen. Die Schwestern waren begeistert. Ilse stützte die Ellenbogen auf die warmen Stufen, hielt ihr Gesicht in die Sonne, versuchte, mit geschlossenen Augen nachzudenken über die Frauenrechte. Sie konnte aber nur daran denken, wie Friedrichs Hand am Vormittag auf ihrem Bauch gelegen hatte. Die spürte sie jetzt noch. Ilse wollte nur Friedrichs Hand auf ihrem Bauch spüren. Nicht mehr die des Gesangslehrers.
Vor der Bühne fürchtete sie sich und fand es unerträglich, dass die Schwestern so viel hielten von ihrem Gesang.
Beim Singen fühlte Ilse sich vollkommen. Nur bewundert werden wollte sie dafür nicht. Am liebsten wollte sie für sich allein singen. Sie sang gerne, aber danach war sie jedes Mal traurig und leer. In dieses Gefühl passte kein Applaus.
Ilse brach ihre Ausbildung ab, und Friedrich bekam eine Stellung am Realgymnasium. Als Ilses Vater starb, musste Friedrich ihn nicht mehr fragen, ob er mit der Hochzeit einverstanden wäre. Ilses Mutter hatte nichts dagegen. Friedrichs Eltern auch nicht. Nur Friedrichs Bruder gefiel es nicht, dass schon wieder eine Schickse eingeheiratet werden sollte. Die Familie habe einen schlechten Ruf. Eine Sängerin könne kein achtbares Frauenzimmer sein, das wisse jeder, erklärte er den Eltern. Sie sollten ihr Einverständnis zurücknehmen, meinte er, und seine Frau meinte das auch. Aber die Eltern meinten es nicht.
Friedrich öffnete die Tür der Freiburger Wohnung in dem alten zweistöckigen Fachwerkhaus. Spinnenweben hingen wie Girlanden von der Lampe. Er zog Ilse durch die staubigen Zimmer, zeigte zur Wand. »Dohin kunnt dai Klavier.«
Vor dem Fenster stand eine alte Kastanie. Zwischen den Knospen konnte Ilse das Freiburger Münster sehen. Sie fühlte sich aufgehoben. Die Wohnung würde sie glücklich machen, wenn sie nicht mehr nach Staub, Holz und Schimmel, sondern nach Essen, frischer Wäsche und Menschen riechen würde. Friedrich umarmte Ilse von hinten und spürte unter der dünnen Seide ihre weiche Bauchdecke. Das Parkett knarrte erleichtert unter seinen Sohlen, als wollte es bewohnt werden, und Ilse wollte sich den Abläufen der Stadt fügen, dazugehören. Sie wollte auch Atheistin werden wie Friedrich und seine Wissenschaftlerfreunde.
Friedrich wurde Mathematiklehrer am Oberrealgymnasium und vom Staatsministerium zum Professor ernannt. Ilse trat aus der Kirche aus und heiratete Friedrich nicht vor Gott, sondern vor dem Standesbeamten.
Sie träumte nicht von einer eleganten Hochzeitsreise in einem teuren südfranzösischen Hotel, sondern wollte ganz alleine sein mit ihrem Mann, ihn nicht mit Schülern und Freunden teilen müssen. In den warmen Nächten, die sie in der Schwarzwälder Berghütte verbrachten, zogen sie die Matratzen vor das offene Fenster, konnten den Sternenhimmel sehen, die Waldluft riechen und endlich miteinander schlafen. Für Ilse eröffneten die Berghüttennächte eine neue Seite des Lebens, von der ihr noch nie jemand etwas erzählt hatte. Sie war mit Friedrich in eine unbekannte Parallelwelt getaucht, die jetzt wie ein geheimes Geschenk zu ihrem Leben gehörte. Bis auf Ilses Eindruck, an Friedrich sei alles noch schöner geworden, stand die berauschende Erfahrung in keinem Zusammenhang mit dem normalen Leben.