Die Glasschwestern - Franziska Hauser - E-Book

Die Glasschwestern E-Book

Franziska Hauser

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Beschreibung

Dunja lebt mit ihren zwei Kindern und deren Vater in der Großstadt, ihre Zwillingsschwester Saphie in einem kleinen Dorf an der ehemals deutsch-deutschen Grenze. Als der Zufall auf irrwitzige Weise zuschlägt und innerhalb kurzer Zeit die Männer der beiden sterben, nähern die Schwestern sich einander wieder an. Dunja zieht in Saphies Hotel und damit zurück in die Welt ihrer Kindheit. Die Geschichte zweier sehr verschiedener Frauen und über die menschliche Fähigkeit, sich immer wieder neu erfinden zu können.

Ein Generationenroman aus dem ehemaligen Grenzgebiet, der alte Geschichten, Geheimnisse und Lügen zutage fördert und gleichsam ein Vergeben der Vergangenheit und Annehmen der Gegenwart ermöglicht.

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Seitenzahl: 548

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungEiner Frau und einem Glasdrohet jede Stund’ etwas.Böses kommt geritten, geht aber weg in Schritten.Wer da fällt, über den läuft alle Welt.Leid währt nicht immer, Ungeduld macht’s schlimmer.Nichts ist schwerer zu ertragendenn eine Reih von guten Tagen.Was in der Seele brennt, man am Gesicht erkennt.Betrachte die Vergangenheit, und du wirst die Zukunft kennen.Besser eine Torheit, die aufweckt, als eine Tugend, die einschläfert.Ist das Kind in den Brunnen gefallen, wird er zugedeckt.Was man sich wünscht, das glaubt man gern.Einfalt hat schön Gestalt.Nicht aus jedem Kieselsteinkann man Glas machen.Jeder hat seinen Vogel.Alte Liebe rostet, wenn sie neue kostet.Es ist nichts so fein gesponnen, es kommt doch ans Licht der Sonnen.Niemand ist tauber als der, der nicht hören will.Blick erst auf dich, dann richte mich.Im schönsten Apfel sitzt der Wurm.Wer alles schluckt, wird schwer verdauen.Je mehr man rührt, je mehr es stinkt.Und wenn der ganze Schnee verbrennt, die Asche bleibt uns doch.Wo der Verdacht einkehrt, nimmt die Ruhe Abschied.Langsame Köpfe behalten lang.Wes das Herz voll ist, des gehet der Mund über.Süß getrunken – sauer bezahlt.Wer einen großen Sprung tun will, der gehet zuerst rückwärts.Wer wenig gesehen hat, staunt viel.Die Tat wird es weisen.Der Funke glimmt auch in der toten Asche.Wo es nass ist, da tropfet was.Ist das Haus fertig, so kommt der Tod.Ohne Feuer nur roh, ohne Leiden nicht froh.Nimm dir Zeit und nicht das Leben.Was du weißt, das sage nicht, was du siehst, verklage nicht, willst du Streit und Plage nicht.Dünkel geht auf Stelzen.Das Bessere ist der Feind des Guten.Was du weit wegwirfst, musst du weit wiederholen.Viele Köpfe gehen schwer unter einen Hut.Je enger der Käfig, je schöner die Freiheit.Jeder Abend des Tages Ende, jeder Morgen das Ende der Nacht.Danksagungen

Über dieses Buch

Dunja lebt mit ihren zwei Kindern und deren Vater in der Großstadt, ihre Zwillingsschwester Saphie in einem kleinen Dorf an der ehemals deutsch-deutschen Grenze. Als der Zufall auf irrwitzige Weise zuschlägt und innerhalb kurzer Zeit die Männer der beiden sterben, nähern die Schwestern sich einander wieder an. Dunja zieht in Saphies Hotel und damit zurück in die Welt ihrer Kindheit. Die Geschichte zweier sehr verschiedener Frauen und über die menschliche Fähigkeit, sich immer wieder neu erfinden zu können.

Ein Generationenroman aus dem ehemaligen Grenzgebiet, der alte Geschichten, Geheimnisse und Lügen zutage fördert und gleichsam ein Vergeben der Vergangenheit und Annehmen der Gegenwart ermöglicht.

Über die Autorin

Franziska Hauser, geboren 1975 in Pankow/Ostberlin, hat zwei Kinder. Sie studierte Fotografie an der Ostkreuzschule bei Arno Fischer und ist Autorin. Im Frühjahr 2015 erschien ihr Debütroman Sommerdreieck, der den Debütantenpreis der lit.COLOGNE erhielt und auf der Shortlist des aspekte-Literaturpreises stand.

www.foto-haus.info

FRANZISKAHAUSER

DIE

GLAS-SCHWESTERN

ROMAN

EICHBORN

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

  

Originalausgabe

  

Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

  

Textredaktion: Carsten Schmidt, Görlitz

Umschlaggestaltung: Massimo Peter-Bille

Unter Verwendung von Motiven von © Franziska Hauser

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

  

ISBN 978-3-7325-9021-6

www.eichborn.de

www.luebbe.de

www.lesejury.de

 

Für Micha

Einer Frau und einem Glasdrohet jede Stund’ etwas.

Keiner der anderen Restauratoren war je irgendwo runtergefallen.

Nur er.

Dunja hatte es einmal geträumt, und dann war es dreimal passiert. Beim ersten Mal hatte Winne sich den Kiefer, beim zweiten Mal den Arm gebrochen, und seine Kollegen nannten ihn seitdem »Der Auferstandene«.

Es steht auf einem blöden Foto, das am Spiegel im Flur hängt: Winne mit verdrehten Augen und heraushängender Zunge am Kreuz in einer Kirche. Wegen der losen Zähne musste er albernerweise jahrelang eine Zahnspange tragen. Wie sein Sohn.

Diesmal war es kein Loch im morschen Boden oder eine kaputte Empore gewesen, sondern der abgesperrte Balkon unterm Dach eines alten Fachwerkhauses, der ihn abwarf. Das Geländer hatte er selbst abgerissen. Von einer kleinen vereisten Pfütze unter dem pulverigen Schnee waren ihm die Füße weggezogen worden, und der Sims hatte sich nicht mehr greifen lassen, sondern Winne drei Stockwerke tiefer mit dem Genick auf eine kleine Steinmauer geschleudert.

Wie erschossen lag der Mann im Schnee, der wenige Sekunden zuvor entschieden hatte, einen Teil des geschnitzten Holzgiebels abzunehmen, ihn über den Winter in der Werkstatt zu restaurieren, neu zu bemalen und im Frühling wieder anzubauen. Der historische Balkon hatte entschieden, in diesem Jahr nicht mehr restauriert zu werden, und Winne einen Tritt gegeben.

Mutig war Winne nie gewesen. Auf Dächern fürchtete er sich. Nicht aus Höhenangst. Winne war schwindelfrei. Es lag daran, dass er sich nicht vorstellen konnte, was hinter ihm war. Winne hatte kein Gespür für seinen Körper. Er trat in Löcher, rutschte von abschüssigen Untergründen, stieß sich an Pfeilern und Balken, war gedanklich woanders, und manchmal dachte Dunja, Winne fühlte seinen Körper vollkommen anders, als er wirklich war. Er konnte komplizierte Balkenkonstruktionen entwerfen, und seine Berechnungen stimmten, aber sein kluger Geist war in eine stumpfe Hülle gesperrt. Seine körperlichen Sinne waren eingeschränkt. Als Kind hatte er kaum hören können, und man hatte ihn mehrfach operieren müssen. Farbenblind war er schon immer gewesen, und Dunja bezweifelte, dass er überhaupt einen Geschmackssinn hatte. An einem Partybuffet hatte Dunja ihn gefragt, ob es süß oder salzig sei, was er da aß. Er wusste es nicht. Er aß, was die anderen aßen.

»Lieber eine Tochter im Puff als ein Sohn beim Militär«, hatte Winnes Vater nur gesagt und war froh gewesen, dass die Wehruntauglichkeit seines Sohnes außer Frage stand.

Winne brauchte viel Körperkontakt, und Dunja hatte es für ein Zeichen überschwänglicher Zuneigung gehalten, dass er auf der Straße meist Hand in Hand gehen wollte. Aber Winne fühlte sich unsicher, wenn kein anderer Körper neben ihm war. Die Kinder hatte er lieber getragen, als sie im Wagen zu schieben. Dann war er gebückt hinter ihnen gegangen, als sie laufen lernten, die Kinderhände an seine Zeigefinger gehängt.

Mit dem toten Ex-Mann im Kopf will Dunja nicht einfallen, wo sie ihr Handy hingelegt hat. Sie ruft es mit dem Festnetztelefon an, und es klingelt im Bad. Auf der Waschmaschine vibriert das Handy, die Maschine schleudert, oder andersherum, aber nicht ihr eigener Name steht auf dem Display, sondern Saphies. Dunjas Schwester ruft an, und Dunja ist irritiert. Nichts stimmt mehr. »Saphie?« Ihre Schwester fängt sofort an zu reden und erzählt mit ungewohnt hoher Stimme, Gilbhart sei am Morgen vom Hometrainer gekippt und gestorben. Er habe mit dem Gesicht auf dem Teppich gelegen, wie umgehauen. Schlaganfall. Das ganze Hotel stehe unter Schock. Dunja hört ein fluchendes Jaulen, als würde die schleudernde Waschmaschine neben ihr die schwere Arbeit beklagen. »Das ist die Zimmerfrau«, sagt Saphie. »Saphiiiie!«, brüllt Dunja ins Telefon und schlägt die Tür des Badezimmers hinter sich zu. Saphie quietscht seltsam, und Dunja kann sich nicht vorstellen, welches Gesicht Saphie zu diesem Laut macht.

»Winne ist auch tot.« Sie macht eine Pause. »Vom Dach gefallen.« Es klingt wie ein Scherz. »Heute früh.«

»Was?«

Die Verbindung, die sie eben noch zueinander gesucht haben, wird zu einem schwarzen Loch und lässt die Schwestern wie zwei Sterne im All um Lichtjahre auseinanderrasen. Eine unheimliche Stille entsteht, und die Telefonleitung will nicht das leiseste Geräusch mehr übertragen.

»Aber, das ist doch total …« Saphie stockt. »Was?« Dunja sieht sich in ihrem Flur um. Irgendetwas muss diese beiden Tode veranlasst haben, denkt sie. Sie würde gerne fragen, was es sich verdammt noch mal dabei gedacht hat, ihren Ex-Mann und den Mann ihrer Schwester am selben Tag sterben zu lassen.

Das Schicksal hat ihnen gleichzeitig denselben Schlag erteilt und gesagt: Seht zu, wie ihr klarkommt, wenn ihr einander nicht helfen könnt.

Dunja kann nicht schlafen. Sie sieht auf die Uhr und denkt, sie müsste irgendetwas tun. Schließlich steht sie auf, setzt sich ans Küchenfenster und macht das Licht nicht an. Sie fühlt sich wie von einer Krankheit befallen, die sie bisher nie hatte. Obwohl sie nicht unglücklich ist, hat sie nichts gegessen, nur für die Kinder gekocht und gewusst, sie wird sich demnächst zum Essen zwingen müssen. Sie schaltet die Herdplatte an. Wie ein sich mit Lava füllendes Gesteinsloch beginnt der Cerankreis die Küche zu beleuchten. Sie starrt in dieses Rot, spürt die Hitze an ihrer Stirn und ist ganz erfüllt. Es gibt nichts Lebendigeres als den Tod, denkt sie. Das muss eine Anomalie sein, den Tod schön zu finden. Bestimmt ist es verboten. Kann man etwas tun gegen diese beglückende Empfindung?

Gilbharts Tod kommt ihr bemitleidenswerter vor als Winnes, obwohl Gilbhart keine Kinder hinterlässt. Winnes Tod passt zu seinem Leben, wie eine logische Folge. Mit großer Verbissenheit hatte Winne alles so schnell wie möglich erreichen wollen. Vielleicht hat er gewusst, dass er sich beeilen musste, weil sein Leben nicht sehr lang sein würde.

Sie schiebt den Topf mit dem kalten Gulasch über das Rot, bis es dunkel ist in der Küche. Das Schneeräumfahrzeug rasselt durch die leere Straße. So wird sich das Geräusch ins Unterbewusstsein fremder Kinder prägen, genau wie es sich ihren Kindern eingeprägt hat, als sie noch klein waren. Als sie noch einen Vater hatten, denkt Dunja jetzt und massiert sich das Gesicht mit beiden Händen.

Die Stadt ist leise im Schnee. Dunja kippt das Fenster an, und Schneegeruch weht herein.

Sie hört ein Knistern vom Herd, hat das Gulasch vergessen und hört die Katze nicht um die Tischbeine streichen. Dunja fischt ein Stück Fleisch aus dem Topf, lässt es fallen, die Katze riecht daran, schreckt zurück und schlägt es mit der Tatze. »Dummes Ding. Das beißt nicht. Das ist heiß!«

Plötzlich kann sie sich wieder genau daran erinnern, wie glücklich sie als Kind war über eine Katze. Ihr Leben hat seit Langem endlich wieder eine große Bedeutung. Es ist wie ein Rausch. Wie Berühmtsein. Nach diesem Gefühl sucht sie seit Jahren.

Winne wird die Familie nie mehr mit seiner ständigen Angst um das Überleben der Firma belästigen, er wird niemanden mehr auf sich warten lassen oder nicht anrufen oder enttäuschen, und er kann nie mehr irgendwo runterfallen.

Dunja sucht nach der Haltung, die zu diesem Tod passen könnte. Aber da passt keine. Da ist nur die Sorge um ihre Kinder und die Wut auf Winne, den Kindern einen solchen Schmerz angetan zu haben.

Zwei lange Tränen laufen über ihre rechte Wange, bevor eine halbe aus dem linken Lid quillt und in den Wimpern hängen bleibt.

Sie beschließt, Winne endgültig loszuwerden. Einen Toten kann sie in ihrem Leben nicht brauchen. Letztes Jahr wollte sie schon den lebenden Mann loswerden, und dann war er ausgezogen, und alles war langsam einfacher geworden. Sie ruft sich den Abend in Erinnerung, als Winne sie vor den Kindern dumme Sau nannte, weil er ein Werkzeug suchte und Dunja gestand, es einem Nachbarn geborgt zu haben. In Wutzuständen konnte er grenzenlos böse werden, und dann wuchs Dunjas Unschuld im selben Maße wie seine Schuld. Das Ungleichgewicht war irgendwann unerträglich geworden. Trotzdem wird sie mehr Tränen brauchen, um Winne von sich abzuspülen. Hoffentlich werden ihre Lider demnächst noch welche hergeben.

Jetzt kommt ihr schon zum zweiten Mal der Gedanke, Gilbhart könnte über Winnes Tod wieder anfangen zu trinken, bis ihr einfällt, Gilbhart ist auch tot. Der wird sich nie mehr betrinken.

Dunja kann sich Gilbhart schlechter tot vorstellen als Winne.

Sie hört, wie jemand ins Bad geht. Die Duschtür quietscht und wird zugedonnert. Es ist Augusta. Jules geht vorsichtiger um mit den Türen. Halb acht zeigt die Uhr am Herd. Augusta will offenbar zur Schule gehen, ihr normales Leben weiterführen, fürs Abi lernen, wie bisher, nur ohne Vater. Der Duschkopf fällt in die Wanne. Jedes Mal überlegt Dunja, ob es Ungeschicklichkeit ist, Gleichgültigkeit oder Absicht, dass Augusta alles fallen lässt. Am liebsten poltert ihre Tochter in Holzschuhen durch die Wohnung.

Ständig sagt jemand, wie froh Dunja sein könne, mit neununddreißig schon erwachsene Kinder zu haben. Aber Dunja hätte lieber wieder kleine Kinder. Kleinen Kindern könnte sie erzählen, ihr Vater sei im Himmel oder im Weltall oder im Paradies. Sie könnte ihnen den Tod erklären, und sie würden ihr alles glauben. Erzieherinnen und Lehrerinnen wären aus Mitleid besonders fürsorglich. Aber Dunja kennt weder Jules’ Professoren noch Augustas Lehrer und von ihren Freunden auch nur noch wenige.

Augusta lässt den Toilettendeckel zufallen. Dann hört Dunja den Föhn rauschen. Etwas fällt auf die Fliesen. Macht Augusta Krach, um ihre Mutter zu verjagen wie einen bösen Geist? Warum begreift Dunja das erst jetzt?

Es ist zu einer unnützen Angewohnheit geworden, den Kindern Frühstück zu machen. Augusta stürzt morgens ein Glas Leitungswasser runter, steckt sich irgendetwas Greifbares in den Mund und knallt die Tür zu. Die Finsternis, die Dunja in so vielen Wintern morgens mit Tee und Kerzen und süßen Eierkuchen erträglich machen wollte, stört Augusta nicht. Sie spricht mit Dunja nur das Nötigste, vermeidet es, ihre Mutter anzusehen, und benimmt sich, als wäre Dunja schuld an Winnes Tod. So benahm sie sich schon, als Winne noch gar nicht tot war, als Dunja ihn nur verlassen hatte.

Winne ist zweimal gestorben und Dunja doppelt schuld.

Jules hatte als Erster von Winnes Tod erfahren. Winne wird seine Ex-Frau vor den Kollegen als Biest verflucht haben. Auf den Baustellen wird er sich in den Brotpausen als das Opfer einer zickigen Frau aufgespielt haben. Darauf ein Bier, und alle werden sich einig gewesen sein. Das würde erklären, warum es keiner gewagt hat, sie anzurufen. Jules musste es ihr sagen, und er musste es auch seiner Schwester sagen. Augusta war daraufhin stumm in die Knie gegangen, hatte im Korridor gesessen, den Hinterkopf gegen die Wand gelehnt, wie selbst vom Dach gestürzt und vom Schmerz überfallen. Eine Weile hatten sie zu dritt im Korridor auf dem Boden gesessen. So hilflos und einsam. Schließlich war Augusta aufgestanden, hatte die Wohnung verlassen, und Jules war in seinem Zimmer verschwunden. In der sinnlosen Bereitschaft, ihren Kindern zu helfen, war Dunja genau an der Stelle sitzen geblieben, an der ihre Kinder auseinandergegangen waren.

Jules steht normalerweise um neun auf, mit zerrauftem Haar, trinkt einen Kaffee und geht in die Uni. Als Dunja die Kinder morgens noch wecken musste, war sie manchmal erschrocken. Statt der zappelnden weichen Kinderbeine, denen man die Füße kitzeln konnte, hingen an den schlafenden Köpfen schwere, behaarte Glieder. Dunja sieht die Kinder noch müde am Frühstückstisch sitzen. Sie hasste dieses frühe Aufstehen, dieses kopflose Rotieren in der Küche, jeden Morgen, ohne zur Besinnung zu kommen, Schulbrote zu schmieren, zerknitterte Zettel zu unterschreiben, identische Strümpfe zu suchen, Zöpfe zu flechten und den Kindern für jeden Handgriff ein Kommando zu geben: »Iss deinen Eierkuchen, trink deinen Tee, zieh deine Schuhe an, nimm deine Tasche, hör auf zu trödeln.« Jeder Tag hatte mit einem enormen Kraftaufwand begonnen, und Dunja hatte erst in der Mittagspause Zeit, mal für fünf Minuten in eine Teetasse zu starren.

Das ist vorbei. Dunja starrt in ihr Gulasch.

Sie erschrickt. Gerade war ihr entfallen, dass Winne tot ist.

Die meisten Zufälle haben keine Bedeutung. Sie lassen sich nicht verarbeiten oder verwenden. Man kann mit ihnen nichts anfangen, staunt nur, wie über Unfälle oder Naturereignisse, erzählt jemandem davon und vergisst sie wieder.

»Hab ich’s doch gleich geahnt!«, hat Dunjas Mutter gesagt und sich die Hände verzückt vor den offenen Mund gehalten, als sie damals Dunjas neue Wohnung betrat. »Das ist die Wohnung, in der ich aufgewachsen bin, bis ich in die Schule kam.« Sie war durch den langen Flur geschritten, wie durch ein Museum oder eine Kirche. »Hier im Korridor hab ich Fahrrad fahren gelernt.« Dunja ließ ihre Mutter plappern – »Hier stand das Klavier, da die Standuhr …« – und überlegte kurz, ob der Zufall etwas bedeutete. Aber Dunja war genervt von diesem Zufall. Sie wollte nicht, dass er etwas bedeutete, sie wollte eine eigene Wohnung, ein eigenes Leben, eine eigene Familie, außerhalb des Reviers ihrer Mutter.

Ihre Mutter meinte, es gäbe keine Zufälle.

Sie vergaß, was Dunja ihr erzählte. Aber was Dunja ihr nicht erzählte, hatte die Mutter jedes Mal angeblich schon vorher gewusst. »Ich hab’s doch gewusst!«, rief die Mutter, wenn Dunja schwanger war oder jemand heiratete oder einen Job bekam. Die Mutter schlug die Hand auf den Tisch, und alle verdrehten die Augen. Als die Mutter gegangen war, hatte Dunja damals am Küchenfenster gestanden, ihr hinterhergesehen und gedacht, es muss irgendwann eine Erklärung für diesen Zufall geben.

Dunjas und Saphies Zwillingsleben war nie von Parallelen durchzogen gewesen. Wenn Dunja einen neuen Job hatte und ihr Leben aufregend war, gab es bei Saphie keine Veränderungen, und wenn Saphie versuchte, sich von Gilbhart zu trennen, und zu diesem Zweck kopflos verreiste, dann lebte Dunja nur ihren Alltag.

Es war lächerlich, den wenigen Minuten, die Dunja vor Saphie zur Welt gekommen war, eine Bedeutung beizumessen. Dunja blieb zwar die Ältere, daran war nichts zu ändern, aber die Mutigere war Saphie. Dunja ließ sich nicht alleine ins Dorf zum Bäcker schicken, also ging Saphie, und die unterschiedlichen Zwillingsmädchen wurden wie zwei Seiten einer Medaille.

Lenka war zehn Jahre jünger und durch den Abstand fast ein Einzelkind. Sie wollte sich an allem außer an ihren großen Schwestern orientieren und entschied sich aus Protest ständig für die komplizierteste aller Möglichkeiten. Lenka wollte ein außergewöhnliches Leben führen.

Das außergewöhnliche Leben hatte man Saphie zugeschrieben. Aber keine der Schwestern hatte die Erwartungen der Familie Lenzing erfüllt. Dunja sollte die Werkstatt des Vaters übernehmen und Lenka in der Großstadt Karriere machen, mit sicherem Job und solidem Mann. So hatten es sich die Mutter und die Tanten vorgestellt. Aber die Mädchen hatten die Rollen getauscht.

Dunja und Saphie wurden nie für Zwillinge gehalten. Selbst wenn sie es als Kinder gerne wollten und für einen Tag die gleichen Zöpfe, Kleider und Ohrringe trugen. Bis sie fünfzehn wurden, war wenigstens zu erkennen, dass sie Schwestern waren. Danach schrieben ihnen die unterschiedlichen Eigenschaften verschiedene Züge in die Gesichter. Saphie kam in die Pubertät, und Dunja ließ diese Phase aus. Ein paar Jahre lang ignorierten sie einander, eine Weile konnten sie sich nicht leiden.

Erst als Dunjas Kinder auf der Welt waren, sahen sie einander wieder, und Dunja war froh, mit den Kindern an den Wochenenden im Hotel wohnen zu können. Saphie hielt die 203 für Dunja frei und stellte den Kindern zwei Liegen ans Fußende des Doppelbetts. Dort schliefen Augusta und Jules Fuß an Kopf, bis sie dafür zu groß wurden. Dann bekamen sie die Kammer unterm Dach, die nur im Notfall belegt wurde.

Böses kommt geritten,geht aber weg in Schritten.

Dunja spürt, wie ihr Oberschenkel in ihrer Hüfte dieselben Kreise zieht wie ihre Füße auf den Pedalen. Sie findet die Straße wieder nicht, hat sie schon beim ersten Mal ewig gesucht und gemerkt, sie wollte die Straße gar nicht finden. Das Beerdigungsinstitut war unauffindbar. Saphies Therapeutin hatte gesagt: »Wenn es Ihnen schlecht geht, denken Sie nur an das, was Sie gerade tun. Ich gehe einkaufen, ich koche, ich fahre Auto. Sagen Sie es wie ein Mantra vor sich hin.«

Dunja will zu keiner Therapie. Sie stellt sich vor, wie man sie dort auseinandernehmen würde, in alle Einzelteile zerlegen, und niemand würde wissen, wie man sie danach wieder zusammenbaut. Die Vorschläge, die Saphie von ihrer Dorftherapeutin bekommt, können sie sich sowieso teilen.

»Seit wann lässt du dich von irgendeiner Beichtmutti verhören?«, hatte Dunja am Telefon gefragt. Sie habe gedacht, nur Städter gingen zur Psychotherapie. »Mann, ich muss hier funktionieren, Dunja, ich muss das Hotel alleine schmeißen und mich um die Beerdigung kümmern. Ich würd durchdrehen, wenn ich die Therapeutin nicht hätte.«

Saphie ging schon seit Jahren zur Therapie, hatte es ihrer Schwester nur nicht erzählt. Dunja fragt nicht, was vor Gilbharts Tod der Grund dafür gewesen ist. Der Grund wird sich womöglich mit seinem Tod erledigt haben, und diese Tatsache stünde dann da wie ein hässliches Geschenk.

Wäre Winne nicht tot, würde Dunja Urlaub nehmen und nach Hause fahren, um ihrer Schwester mit dem Hotel zu helfen. »Wäre Gilbhart nicht tot«, hatte Saphie am Telefon gesagt, »dann wär ich jetzt bei euch.« Sie einigten sich darauf, dass Winne zuerst beerdigt werden musste. »Man kann Augusta und Jules ja nicht zur Beerdigung ihres Onkels schleifen. Erst mal muss der Vater unter die Erde«, entschied Saphie pragmatisch. Dunja kam es während dieses seltsamen Gespräches vor, als würde jemand mithören. Als würde sie jemand auf die Probe stellen, um herauszufinden, ob sie die richtige Entscheidung träfen. »Beerdigen wir Gilbhart zwei Tage später? Schaffen wir das?«

»Schaffen wir«, sagte Saphie mit schwacher Stimme.

Seit Winnes Tod ist alles intensiver. Dunja sieht Dinge, die ihr vorher nicht aufgefallen sind. Alles hat jetzt eine Bedeutung. Selbst das schmutzige Tauwasser, das aus dem Schneematsch rinnt, gefällt ihr. Es spricht mit ihr, begrüßt sie und verabschiedet sich, bevor es in den Gully fließt. Dunja fühlt sich wie in einem Fieberrausch. Sie sieht alles mit neuer Brille, oder ohne trübe Brille. Farben flimmern, Gerüche lassen sich schmecken, Geräusche sammeln sich zu einer Komposition, und alle Menschen, denen sie begegnet, haben sich für Dunja schön gemacht.

Vor ein paar Monaten wollte sie den lebendigen Mann, den sie nicht mehr geliebt hat, nur aus ihrem Leben entfernen, und jetzt, wo er sich noch dazu aus seinem eigenen Leben entfernt hat, ist sie wieder in ihn verliebt. Ihre Gefühle sind heillos vermengt. Dunja kann sie nicht mehr auseinanderhalten, sich für keines dauerhaft entscheiden. Sie ist ihm dankbar für seinen Tod.

Vor dem Bestattungsinstitut Hartung schließt Dunja ihr Fahrrad an. Jules und Augusta wollten erst in einer halben Stunde kommen, aber ihre Räder sind schon da. Verdammt! Dunja wollte Winne zuerst sehen. Das Fahrradschloss verheddert sich zwischen den Speichen, während Dunja es hektisch um die Laterne legt.

»Streuobstwiese zu verkaufen«, liest ein alter Mann laut von einem Zettel, der an der Laterne klebt. »Wo soll denn da eine Streuobstwiese sein?« Er schüttelt den Kopf und geht weiter.

Dunja wird von Hartung zum Hof geführt, und aus einer Art Garage hört sie Augusta schreien. Dunja fängt an zu rennen. »Sie können doch nicht einfach die Kinder da reinlassen! Idiot!« Hartung hebt die Hände. »Das sind doch keine Kinder mehr, Frau Lenzing.« In der Garage ist schummriges Licht, schwere Musik dudelt, und Stoffbahnen hängen vor den Wänden wie in einem Laientheater. Augusta und Jules hocken auf dem plüschigen Boden. Über ihnen thront der aufgebahrte Vater.

Eine Erinnerung blitzt auf: Die Kinder schreien vor Angst, versuchen, sich auf einer zu schnell geschleuderten Spielplatz-Drehscheibe festzukrallen, während Winne danebensteht und telefoniert. »Jetzt hilf ihnen doch mal!«, brüllt Dunja mit Eiswaffeln in beiden Händen. Winne hilft ihnen nicht, liegt nur steif und tot da und weiß nichts vom Leid seiner Kinder.

Jules streichelt Augustas Rücken, und ein tiefer Laut, den Dunja nie mit ihrer Tochter in Verbindung gebracht hätte, wird aus Augustas Brust gestoßen und von den Vorhängen schalltot gemacht. Dunja kniet sich neben die beiden und spürt, sie stört das Ensemble. Augustas Körper zittert. Dunja legt den beiden ihre Arme um die Schultern und lässt aus ihrem rechten Auge Tränen in Jules’ Haar fallen. Das linke Auge will keine hergeben.

Ihr fällt wieder ein, wie sie damals mit Winne in der Eingangshalle des Krankenhauses gesessen hatte. Als das Taxi vor der Glastür hielt, waren sie zusammen aufgestanden und auf dem Weg zur Automatiktür dem Blick der Krankenschwester begegnet, die hinterm Empfangstresen hockte und entsetzt die Augen aufriss. Sie hatten ihren vier Stunden alten Sohn in der Babyschale auf der Sitzgruppe vergessen. Als Dunja sich umsah, hatte dieser einsame blaue Autositz für einen Moment nichts mit ihnen zu tun. Winne war mit Riesenschritten zurückgesprungen, als müsste er den schlafenden Säugling vor dem Ertrinken retten. Der Schreck saß ihnen noch tagelang in den Gliedern. Als Beobachter hätte man denken können, jeder sei davon ausgegangen, der andere nehme das Kind mit. Aber Dunja wusste, sie hatten es in ihrer Erschöpfung beide vergessen.

Die Geschwister bilden eine Einheit. Das hat Dunja sich oft gewünscht, dieses Einverständnis, wie es zwischen ihr und Saphie inzwischen gewachsen war. Die Geschwister können gemeinsam um denselben Vater trauern. Dunja gehört nicht mehr dazu. Früher war es, als fließe Strom von ihrem Körper in den ihrer Kinder, wenn sie einander umarmten. Jetzt ist die Verbindung schwach wie Reststrom, den man nicht nachweisen kann. Sie kann den leidenden Kindern nicht helfen. Sollen sie denken, Dunja würde über den toten Winne weinen, obwohl sie im Moment über ihre eigene Hilflosigkeit weint. Wenn Winne damals sagte, er würde sie lieben, dachte Dunja, diese Ansage konnte nichts mit ihr zu tun haben. Nicht mit der Frau, die sie war, sondern eher mit einer Frau, die Winne in ihr sehen wollte, und darüber weint sie jetzt auch.

Augusta hat ihrem Vater die alte Zimmermannshose rausgesucht und ein rot kariertes Holzfällerhemd. So sah er aus, als die Kinder klein waren, als er kein Geld hatte, kein Auto und keine Firma. Die Sachen sind ihm zu eng. Er sieht fremd und irgendwie kaputt aus. Mit seinem Schädel stimmt etwas nicht. Irgendwo in diesem toten Körper muss doch etwas von dem Mann sein, den sie geliebt hat. In seinem Gesicht kann Dunja ihn nicht mehr erkennen. Diesen Mund mit den schmalen Lippen und den großen Zähnen hat sie geküsst?

Aber der Anblick seiner Hände sticht plötzlich in ihre Brust, dass ihr davon schwindlig wird. Ihre Ohren rauschen, alles wird unscharf, Silbersterne tanzen vor ihren Augen wie damals im Sportunterricht, jedes Mal, bevor sie ohnmächtig wurde. Sie setzt sich in einen Sessel und versucht, wach zu bleiben.

Streuobstwiese. Als sie aufwacht, hat sie dieses seltsame Wort im Kopf und dazu das Bild eines alten Mannes, der mit einem Bauchladen über die Wiese geht und tropische Früchte ausstreut. »Frau Lenzing, hallo, trinken Sie mal ’n Schluck Wasser.« Hartung biegt Dunjas Finger auseinander und klebt sie um das Wasserglas. Jules nimmt ihm das Glas aus der Hand und hält es seiner Mutter an den Mund. Hartung tätschelt Dunjas Wange wie einem Kleinkind. »Geht Ihnen gleich besser.«

Augusta und ihr Freund sitzen Dunja im Café gegenüber. Dunja denkt, sie hätte sich lieber neben Augusta setzen sollen, außerhalb ihres feindseligen Blickwinkels. Nach der Trennung standen die Kinder auf Winnes Seite. Da stehen sie immer noch. »Du bist schuld«, hört sie Augustas Gedanken brüllen wie einen unerträglichen Ton, der nur in Dunjas Kopf Resonanz findet.

Sie war Winne das letzte Mal in diesem Café begegnet. Da saß sie mit Jules am Fenster. Als Winne reinkam, hatte er nur seinen Sohn begrüßt und Dunja ignoriert. Aber dann hatte Winne ihr doch einen erschrockenen Blick zugeworfen, als Jules sagte: »Ich ziehe zu Papa um. Okay?« Winne stotterte: »Hast du das mit deiner Mutter so besprochen?« Jules lachte und hielt es für einen Scherz. Er nahm seinen Laptop und seine Bücher und setzte sich an Winnes Tisch. Er hatte nur diesen kleinen Umzug von Tisch zu Tisch gemeint.

»Ich glaube, ab achtzehn muss bei Tischwechsel die Bedienung informiert werden und nicht mehr die Eltern«, hatte Dunja die Situation mit einem holprigen Lachen retten wollen und dafür einen verächtlichen Blick von Winne geerntet. Sie hatte in diesem Blick erkannt, wie verraten er sich vorkam. Dunja hatte alles mitgemacht, alles ausgehalten, um jeden Preis eine Familie sein wollen. Dann hatte sie ihn fallen gelassen, und er muss gedacht haben, es wäre ihr gleichgültig, ob er den Absturz überlebt oder nicht.

Sie habe letzte Nacht nicht geschlafen, behauptet Dunja, dabei ist sie wach wie nie. Müde ist sie seit Winnes Tod nicht mehr, und vielleicht liegt das weniger an Winnes Tod als daran, dass sie kaum etwas isst. Augustas Freund will Dunja zum Bleiben überreden, bekommt dafür offenbar einen Tritt unterm Tisch, sieht Augusta fragend an und verstummt. Dunja spürt hinter ihrem Rücken ein erleichtertes Ausatmen, als sie das Café verlässt. Auf dem Gehweg fürchtet sie, Winne könnte plötzlich vorbeifahren.

»Ich mache alles mit, solange du mich ansiehst, mit mir redest und mit mir schläfst«, hatte Dunja zu Winne gesagt und es als Ermunterung gemeint, als er sich vor seiner Firmengründung fürchtete. »Aber wenn’s schiefgeht?«, hatte er ständig gesagt, war nervös durch die Wohnung getigert und hatte Dunja angesehen wie ein kleiner Junge, der sich vorm Zahnarzt fürchtet. Als die Firma gegründet war, hatte Winne aufgehört, mit Dunja zu reden, dann hatte er sie seltener angesehen und schließlich aufgehört, mit ihr zu schlafen. Das sei nicht wahr, hatte er behauptet und mit ihr geschlafen, ohne dass es beiden gefiel. Es war nur die Erfüllung einer Pflicht. Winne hatte sich danach umgedreht und die Diskussion am nächsten Morgen vergessen. Seitdem war Dunja nach jedem Sex traurig gewesen und hatte ihn selbst nicht mehr gewollt.

Der Rückweg ist kürzer als der Hinweg. Dunja fährt mechanisch strampelnd, ihrem Fahrrad gehorchend, das nach Hause will. Ihr Bewusstsein hat sich seit der Ohnmacht abgesetzt, und sie sieht die vorbeirasenden Häuserfassaden, Schaufenster und Autos wie einen Film ablaufen. Wenn sie jetzt mit etwas oder jemandem zusammenstößt, wird sie im Nachhinein sagen, sie könne sich das selbst nicht erklären. An der Ampel spürt sie unter den Stiefelsohlen, wie die Straße für eine U-Bahn-Länge bebt. Das ist ihr nie aufgefallen, obwohl sie oft hier gestanden hat. Sie stellt sich unter dem Asphalt ein schwarzes Loch vor, das wie im Film jeden Moment aufbrechen könnte.

Zu Hause schleudert die Waschmaschine, und die Blätter des Zitronenbaums auf dem Fensterbrett vibrieren. Dunjas ganze Wohnung vibriert. Sie fühlt sich verjagt: Verschwinde, sonst geht hier alles kaputt, sonst wirst du weggeschleudert. Alles wackelt und schwankt. Saphie wäre die Einzige, die ihr helfen könnte, ihren Zustand unter Kontrolle zu kriegen. Dunja will wieder auf festem Boden stehen.

Als Saphie endlich rangeht, schluchzt Dunja sofort los. »Saphie, meine Kinder hassen mich. Die wirken so einsam, und ich biete mich ihnen ständig als Vaterersatz an. Aber sie wollen mich nicht, verstehst du? Ich kann ihnen einfach nicht helfen. Denen geht es ohne mich besser als mit mir.« Saphie unterbricht sie: »Ach na ja, das wird sich wieder ändern. Geh heiß duschen. Das mach ich jetzt auch. Mir hilft das.«

Ach na ja. Das sagt Saphie, wenn sie über etwas nicht reden will. Dunja hasst es, wenn Saphie ach na ja sagt. Aber jetzt beruhigt sie die Vorstellung, sechzig Kilometer voneinander entfernt gemeinsam zu duschen. Dunja duscht lieber kalt, bis sie es nicht mehr aushält, schließt die Augen und kommt langsam wieder in sich an.

Wer da fällt, über den läuft alle Welt.

Auf dem Fluss am Friedhof treiben langsam klimpernd die Eisschollen. Es ist zu eng im Flussbett. Jede Scholle will zuerst aufs Meer getragen werden. Einige Trauergäste sehen auf den Fluss, andere betrachten den dunklen Sand im Erdloch mit traurig versonnenem Lagerfeuerblick. Dunja kann sich nicht entscheiden, ob sie glücklich oder unglücklich ist. Sie darf nicht glücklich sein, wenn ihre Kinder unglücklich sind, denkt sie.

Wenn sie Hunger hatte, machte sie den Kindern Essen, wenn sie müde war, legte sie die Kinder schlafen, wenn ihr kalt war, zog sie die Kinder an, wenn sie krank war, kochte sie den Kindern Tee, wenn sie traurig war, tröstete sie die Kinder. Sie betrachtet Augusta und Jules, die rechts neben ihr am Grab stehen. Ob sie merken würde, wenn sie bekifft wären? Jetzt haben beide diesen Drogenblick, sehen verwirrt aus, als wüssten sie nicht genau, wo sie sind, und lassen sich von ihren Freunden führen und stützen wie Gehbehinderte.

So war es Dunja gegangen, als ihr Vater starb. Wochenlang war sie zerstreut und unkonzentriert gewesen. Alle zusammengesetzten Wörter waren aus ihrem Gehirn radiert. Sie hatte im Unterricht sekundenlang überlegen müssen, bis ihr Flughafen, Friedhof oder Blaubeerquark einfiel. Sie war ständig zu früh oder zu spät gekommen, hatte die falschen Unterrichtsmaterialien mitgenommen, hatte Wassergläser und Kaffeetassen über die Lehrbücher gekippt und beim Reden den Faden verloren. Am Grab ihrer Mutter, ein Jahr später, hatte sie noch immer um den Vater getrauert.

»Die Kinder werden klarkommen«, hätte Winne jetzt gesagt. Das hatte er ständig gesagt, wenn die Kinder ein Problem hatten. »Kinder brauchen Probleme.« Wer nie Probleme habe, könne nicht lernen, mit Problemen klarzukommen, meinte Winne und hatte es nie für nötig gehalten, die Probleme der Kinder zu lösen.

Dunja friert. Saphie friert nicht. Sie steht mit offenem Mantel links neben Dunja und hält ihre Hand. Saphie hat abgenommen und trägt das Haar nicht hochgebunden wie sonst. Im Vorbeigehen glotzen Winnes Kollegen in Saphies Ausschnitt.

Der dichte Schnee rauscht in einer Esche, die ihre braunen Blätter im Herbst nicht hergeben wollte, und die dicken Flocken erlöschen im selben Moment, da sie den nassen Boden berühren, als fielen sie ungehindert durch ihn hindurch, um unter der Erde weiterzuwirbeln.

Vor dem Friedhofstor hält Winnes Firmenauto. Sein Partner steigt aus. Hektisch tippt er auf seinem Handy herum, kommt in gemächlichem Dauerlauf als Letzter ans Grab, steckt das Handy in die Manteltasche. »Sie haben Ihr Ziel erreicht«, sagt die Navigations-App aus dem Mantel, und Saphie muss lachen. Dem Partner steht der Schweiß auf der Stirn. Mit rotem Gesicht nimmt er das Handy wieder raus, drückt drauf rum und steckt es ein. Dunja nickt ihm segnend zu wie ein Priester, und er nimmt die Mütze ab.

Die Sekretärin der Firma weint wie ein Kind. Ihre Schultern springen auf und ab. Sie starrt ins Grab, als unterziehe sie sich freiwillig einer Folter. Vielleicht hatte Winne ein Verhältnis mit ihr, überlegt Dunja. Sicher sollte sie davon nichts wissen. Ihr schlechtes Gewissen, ihn verlassen zu haben, war Winne wichtig. Er hätte es Dunja nicht so leicht abgenommen. Vielleicht wussten die Kinder davon, denkt Dunja jetzt. Es würde erklären, warum Jules der Sekretärin die Vollmachten für Winnes Konten und Versicherungen übertragen hat. Niemand hat Dunja gefragt, ob sie die Auflösung seines Lebens verwalten könnte. Nein, so etwas kann sie nicht.

Während man Beileidsfloskeln ausspricht, Dunjas Hand schüttelt, ihre Schulter tätschelt, ihren Hals umarmt, kommt Dunja sich vor wie eine Betrügerin. Als müsste sie die geschenkte Aufmerksamkeit für eine Empfindung, die sie nicht hat, unauffällig in ihren Manteltaschen verschwinden lassen.

Auf dem Rückweg zur Kapelle sagt Saphie: »Aggi und Jules müssen sich ablenken. Solln sie irgendeinen sinnlosen Scheiß machen. Partys, Escape Room, Sport, Wellness vielleicht. Was meinst du?«

Dunja flüstert: »Wie solln die sich ablenken, wenn wir sie jetzt zu Gilbharts Beerdigung schleifen?«

»Ach na ja. Vielleicht ist das ja gerade gut. Vielleicht kann man sie vom einen Toten mit einem anderen Toten ablenken, wer weiß.«

»Saphie, du redest viel zu laut für eine Beerdigung.«

»Meine Therapeutin sagt, ein Trauma wird nicht so tief ins Unterbewusstsein geprägt, wenn man Computerspiele spielt oder ganz viel arbeitet.«

»Na da kann sich ja bei dir nichts einprägen.«

»Eben! Bin extra mit dem Zug gefahren und hab die ganze Zeit Patience gespielt. Solltest du auch machen. Oder schnell wieder arbeiten gehen.«

Dunja stöhnt und will sich nicht vorstellen, wie sie am Montag wieder vor der Gruppe Birgit oder der Gruppe Annemarie steht und Wörter an die lackierte Wand schreibt, im Raum Helsinki oder Warschau, in der finnischen oder polnischen Etage einer gigantischen Firma, und die müden Mitarbeiter animieren muss, damit sie ihre Gehirne bewegen und Deutsch lernen, damit sie die Jobs machen können, die Dunja nicht machen will. »Weißt du eigentlich, dass du mit dem Fremdsprachenunterricht der Wirtschaft einen größeren Nutzen bringst als neunzig Prozent aller Angestellten?«, hatte ein alter Unternehmensberater zu Dunja gesagt. Wozu soll sie der Wirtschaft einen Nutzen bringen, denkt Dunja jetzt. Und wozu soll überhaupt jemand Deutsch lernen? Vielleicht sollten einfach alle Englisch lernen.

Dunja sieht aus dem Zugfenster über die trübe Schneelandschaft. Sie fährt in einen neuen Teil ihres Lebens. Es ist weiß und leer. Neblig und ungenau. Sie kann daraus machen, was sie will.

Saphie schläft mit halboffenem Mund. Der Lidstrich ist auf einem Auge zur Hälfte abgebröckelt. Dunja spiegelt sich in der Scheibe, um zu sehen, ob sie unter den Augen auch diese bläulichen Schatten hat oder dieselben feinen Falten in den Augenwinkeln, aber das schwache violette Spiegelbild zeigt ihr weder Falten noch Schatten.

Augusta lässt die dünnen Beine wie ein Weberknecht über die Armlehne in den Gang baumeln, den Rücken an Jules’ Schulter gelehnt, und fädelt konzentriert ihr Ohrhörer-Kabel auseinander. Dann spiegelt sie sich mit prüfendem Blick in der gegenüberliegenden Scheibe und steckt sich eine Strähne hinters Ohr.

Dunja würde gerne noch mal erzählen, wie Jules als Kind gefragt hatte, was das für ein Tier sei, das Zugendethier. Damals, als Augusta sich Austa nannte und Jules Uhls. Augusta würde die Augen verdrehen: Mama, das erzählst du uns jedes Mal.

Dunja wollte nie in der Stadt leben. Sie hatte sich ein Haus im Wald gewünscht. Es steht noch in ihrem Hinterkopf. Da steht es, seit sie mit achtzehn Winne kennengelernt hat und es wichtiger war, auf keinen Fall schwanger, wie sie es sofort war, zurück ins Dorf zu gehen, um dick und dumm zu werden wie ihre Cousine mit ihrer grauen Jogginghose und dem lila Kinderwagen. Die sah aus wie ausgestopft im Museum, wenn sie in der neuen Siedlung auf der Bank am Spielplatz saß und ihr Kind mit Milchschnitten vollstopfte. Dumm wie ’n Meter Feldweg, hatte Saphie gesagt. Die bekam gleich das zweite, lief mit dem riesigen Bauch durch die Siedlung wie auf Eiern und blökte ihr Kind an. Die Vorstellung, neben ihrer Cousine auf dem Spielplatz zu sitzen, wurde mit der Schwangerschaft plötzlich zur entsetzlichsten Idee, die Dunja vom Leben haben konnte. Mit einem Kind in diesem Dorf festzusitzen, dem die DDR ihre launische Trägheit hinterlassen hatte: Das arme Kind würde dieselbe Kindheit wiederholen müssen, die Dunja gerade erst beendet hatte.

Dabei war es Saphie, die unbedingt wegwollte. Dass sie es nie getan hat, lag erst an Gilbhart und später am Hotel. Leute aus der Stadt kamen, kauften Höfe, feierten im Hotel Großstadtpartys, und das Dorf wurde langsam eine Kleinstadt.

Vielleicht ist es eine ihrer wenigen Gemeinsamkeiten, dass beide Schwestern nicht so leben, wie sie es sich einmal vorgenommen haben. In der Stadt, dachte Dunja, würde ihr Leben richtig beginnen. Irgendwann war aber das Stadtleben ein leeres Versprechen geworden.

Dann blieb sie wegen der Kinder, die Stadtkinder geworden waren.

»Man muss ein Ziel haben«, sagte Winne, als er diesen verkommenen Bahnhof am Stadtrand kaufte und jeden Cent hineinsteckte. Vielleicht hatte er damit tatsächlich sein Navigationsziel erreicht.

Dunja sieht vor dem Zugfenster schon die ersten Reihenhäuser und überlegt, wo ihr Ziel ist. Sie müsse ja noch allen Ausländern der ganzen Stadt Deutsch beibringen, hatte sie noch vor wenigen Wochen gesagt, als sie müde war und nach Hause wollte, anstatt mit ihren Freundinnen in einer verrauchten Kneipe zu sitzen. Unterwegs hatte sie sich über den blöden Satz geärgert und befürchtet, diese Aufgabe würde unweigerlich ihr Leben okkupieren wie ein endloser Fluch.

Auf dem Bahnhofsparkplatz lässt Dunja nicht ihren Sohn an der Beifahrertür einsteigen wie sonst, sondern setzt sich selbst neben Saphie. Heute spielt es keine Rolle, wer in Saphies winzigem Auto die längsten Beine hat. Heute sind die Kinder wieder Kinder. Heute müssen Dunja und Saphie die Lage im Griff haben. Es soll aussehen wie ein normaler Schicksalsschlag. Nicht wie ein absurder.

Während sie ins Dorf fahren, redet nur Saphie. Ständig sagt sie ach na ja. »Und das wollte Gilbhart mal kaufen«, Saphie zeigt nach rechts, »war der alte Julmond schneller. Ach na ja.«

Vor einer geschlossenen Kneipe fährt Saphie langsamer und liest das Schild an der Tür. »Geschäftsaufgabe!«, spottet sie. »Na, das hätt ich euch vorher sagen können, dass man eine Kneipe nicht Flopp nennen darf. Ha!« Der Schriftzug sitzt wie zum Hohn in Giftgrün über der Tür. Dunja ist dankbar, dass Saphie die schwermütige Stimmung vertreibt. So etwas kann sie.

Mittags sitzen sie wieder, wie zwei Tage zuvor, in einer Kapelle. Der Pfarrer erwähnt in seiner Rede Winnes Tod und nennt Saphie und Dunja die Glasschwestern. Dunja hat fast vergessen, dass sie hier so genannt wurden. Vielleicht werden sie immer noch so genannt, wenn die Leute über sie reden. Dunja trug als Kind ihren Glasschmuck nur, wenn Saphie ihren auch trug. Der Vater hatte den Mädchen bunte Ohrringe, Ketten und Armbänder aus Kugeln, Tropfen, Würfeln und kleinen Glastieren gefertigt. Damit waren sie in der Schule aufgefallen.

Auf dem Land vergeht die Zeit langsam. Die Glasbläserei Lenzing gab es schon lange vor Vaters Tod nicht mehr. Aber das spielt hier für niemanden eine Rolle.

Dunja stellt sich vor, es wäre ihre eigene Beerdigung. Sie sieht sich selbst wie einen Geist zwischen den Menschen umhergehen, sieht Saphie und die Kinder ohne die beiden Männer, die dazugehört hatten. Sie sieht auf die Urne und weiß, der Anblick macht nur Lebendige traurig. Ihr Geist geht durch den Mittelgang, niemand sieht zu ihr, sie öffnet knarrend die Kapellentür, und jetzt drehen sich tatsächlich alle Köpfe um. Lenka steht in der Tür.

Sie hält ein paar gelbe Tulpen in beiden Händen wie einen Brautstrauß, macht ein entschuldigendes Gesicht, setzt ihre Stiefelabsätze leise auf und zieht im Gehen umständlich ihren schwarzen Mantel aus, wobei ihre Armreife klimpern. Sie beugt sich zu Augusta und Jules, umarmt beide und kniet sich dann vor ihre Schwestern, lässt sich umarmen, schluchzt laut und macht ein entsetztes Gesicht, als wäre sie durch die Berührung mit den Schwestern in die Realität übergetreten und würde erst in diesem Moment von dem Doppeltod erfahren. Saphie und Dunja rücken auseinander, lassen Lenka zwischen sich sitzen und rücken wieder zusammen, Schenkel an Schenkel, Arm in Arm. Lenka dreht vorsichtig den Kopf, sieht sich die Leute an. Nur die paar alten Frauen in den hinteren Reihen, die zu jeder Beerdigung kommen, sind ganz in Schwarz wie sie. Lenkas weite Ausschnitte lassen grundsätzlich eine Schulter frei, und die riesigen Goldreife, die sie an den Ohren trägt, berühren beinahe ihre Schlüsselbeine. Sogar ihre Tränen sind schwarz und ziehen graue Bahnen über ihre schönen Wangen. Lenka kann sich nicht mehr beruhigen. Saphie und Dunja trösten sie, wie vor Jahren, als Lenka klein war und weinte, wie Kinder weinen, wenn sie sich alleine nicht helfen können. Sie presst die Hände auf ihren Brustkorb, spreizt die angeklebten Fingernägel, um das stoßweise Einatmen zu zügeln, um nicht mit jedem Schluchzer ein Wort des Pfarrers zu verschlucken. Sie weint auch am Grab, während Saphie mit unbewegter Miene neben ihr steht, als hätte sie auf diesem Friedhof zufällig etwas anderes zu erledigen, wäre im Vorbeigehen stehen geblieben, um in fremden Gesichtern fremde Empfindungen abzulesen. Vielleicht begreift sie wirklich nicht, was hier passiert, denkt Dunja und fragt sich, ob außer ihr jemand Saphies Verirrung sieht oder ob man sie für gefühlskalt hält.

Außenstehende müssen Lenka für die trauernde Witwe halten. Sie weint auf dem Rückweg, weint im Auto und schüttet ihren großen Schwestern und der ganzen Trauergemeinde ihre aufgesparten Tränen im Schwall vor die Füße. Erst beim Kaffee im Hotel hört sie auf und fängt an zu sprechen. Sie sei in Madrid gewesen und nach dem letzten Konzert sofort losgeflogen. Es tue ihr entsetzlich leid, dass sie zu Winnes Beerdigung nicht da gewesen sei.

Die Tränen haben die Schminke von ihren Wimpern gewaschen. Aber Lenkas dunkle Augen sehen sogar ohne Farbe geschminkt aus. Kein Puder könnte ihre gebräunte Haut weicher machen. Jules, der an Winnes teurer Kamera bisher nur technisch interessiert war, beschäftigt sich mit dem Porträtmodus und fotografiert vor allem Lenka. Sie registriert es mit professioneller Selbstverständlichkeit, zieht ihr Haar im Gespräch automatisch auf wie einen Vorhang zwischen Gesicht und Objektiv. Dunja sieht über Jules’ Schulter, während er durch die Bilder scrollt. Auf jedem Bild fällt zuerst Lenka ins Auge. So war es immer. Lenka war schon als Kind der Fixpunkt aller Familienfotos. Neben ihren wachen Augen sieht jedes andere Gesicht verkrampft aus. Ihre Haltung, straff wie die einer Bodenturnerin, lässt alle anderen Körper neben ihr unförmig wirken.

Lenka ist kaum neun Jahre älter als Jules und damit eher in seinem Alter als in dem ihrer Schwestern. Neben Lenka sitzend, hält Augusta den Kopf in eine Hand gestützt und dreht Haarsträhnen um ihre Finger. Dunja beneidet die kleine Schwester nicht um ihre Beliebtheit, aber dass Augusta ihre Tante ständig anfasst, macht Dunja eifersüchtig. Die beiden verschlingen ihre Hände, betrachten ihre Nägel, halten zwanzig Finger ins Licht.

»Du musst diesen Unterlack benutzen, davon werden die Nägel richtig hart.«

»Ich mags, wenn das Rot einen Tick ins Orange geht.«

»Oder du nimmst Öl.«

»Fang bloß nie an, die Nagelhaut abzuschneiden!«

»Riecht irgendwie eklig, dieser Lack.«

Dunja geht raus in den Hof. Es ist kalt und dunkel. Kein Raucher sitzt mehr auf der überdachten Holztreppe. Nur an einem der Autos lehnt jemand. Sie geht über den Kies und saugt die klare Luft in ihre Großstadtlungen. Der Tannenwaldduft war für sie jedes Mal eine Kindheitserinnerung, wenn sie zu Besuch war. Jetzt kommt der harzige Geruch nicht mehr aus der Vergangenheit. Dunja riecht alles neu, ohne sich an Vergangenes zu erinnern. Zigarettenrauch mischt sich dazwischen. »Alles klar mit dir?«, fragt Dunjas Cousine mit mütterlicher Stimme, obwohl sie ein Jahr jünger ist. Sie hat einen völlig schiefen Mund, und Dunja überlegt, ob der als Kind schon so schief war und wie schief er erst in zwanzig Jahren sein wird. Heute trägt sie keine Jogginghose, sondern hat ihre dicken Beine in eine Jeans gepresst. »Will nur Luft schnappen.« Die Cousine streicht Dunja über den Rücken, wie es heute viele getan haben. »Die Luft is echt saugut. Lass mal ’n Stück runtergehen.«

Die Cousine geht über die Straße zur steinernen Tischtennisplatte, legt sich darauf und zeigt mit ihrer Zigarette in den Himmel.

»Jetzt häng die da oben zusamm rum, spieln Skat, trinken Bier und ham endlich mal genug Zeit.« Dunja legt sich daneben. »Na, wenn du meinst.« Sie sieht in die Sterne und hört nur das Rauchausblasen der Cousine und das Rascheln ihrer Jacke.

»Bist du noch im Pflanzenmarkt an der Kasse?«

Die Cousine nickt lange und bedächtig, als würde sie im Kopf die Jahre zählen. »Hmmm!«

»Und is das okay da?«

»Ja, is okay. Ich mag Blumen und so. Nur wenn die Chefin da ist, darf ich den Mund nicht aufmachen.«

»Warum das denn?«

»Haben die Kollegen mir verboten, weil ich immer sage, was scheiße läuft. Wahrscheinlich wär ich längst rausgeflogen, wenn die anderen nicht auf mich aufpassen würden.« Sie lacht. »Selbst wenn ich vorher drüber nachdenke, gibt’s trotzdem jedes Mal ’n Drama. Keine Ahnung, warum.« Die Cousine sieht Dunja von der Seite an und stößt sie mit dem Ellenbogen. »Wieso fragst ’n? Brauchst ’n Job? Willste hierbleiben in unsrer schönen Luft, hä?«

Dunja lacht. »Oh Gott, nee!«

Funken schießen hinterm Berg pfeifend in den Nachthimmel. Dunja ist überrascht von der schnellen Gelenkigkeit ihrer dicken Cousine, die sich auf den Bauch dreht und auf die Platte stellt. »Da is wieder ’ne Hochzeit aufm Wasserturm.«

Dunja stellt sich neben ihre Cousine. »Echt? Aufm Wasserturm?«

»Darf Saphie nicht sehen. Wird sie bestimmt sauer, dass die ihr neuerdings ständig die Hochzeiten wegnehmen.«

Die Funken senken sich in bunten Bögen herab, wie eingeübt. Den Reflex, außergewöhnlich Schönes den Kindern zeigen zu wollen, muss Dunja unterdrücken. Kein Regenbogen hatte einen Wert, wenn die Kinder ihn nicht sahen. In den letzten Jahren war es albern geworden, wenn Dunja aus dem Autofenster auf die Pferdekoppeln zeigte.

Sie überlegt, ob es ihrer Cousine jetzt genauso geht. Die Frauen stehen schweigend nebeneinander, und eine Verbundenheit schleicht sich zwischen sie. Wie ein hochgejagter Funke sieht Dunja auf sich selbst herab und weiß für einen Sekundenbruchteil, wie lächerlich gering der Unterschied zwischen ihr und ihrer Cousine ist. Die Cousine dreht eine Zigarette, holt ein rosa Döschen aus ihrer Jackentasche und krümelt Gras in den Tabak. »Musst du probieren, is aus meinem Gewächshaus.« Dunja zieht und hustet.

Es fängt an zu schneien, als regnete die Feuerwerksasche herab. »Du hast hier nie richtig hergepasst«, die Cousine schüttelt den Kopf. »Hast nicht geraucht, nicht gekifft, nicht gesoffen, warst nur so dabei, aber irgendwie auch nicht.« Die Cousine versucht, etwas aus Dunjas Augen zu lesen, und bläst langsam den Rauch aus. »Wonach hast du denn nur gesucht?«

Dunja zuckt mit den Schultern. »Keine Ahnung. Hab’s wohl nicht gefunden.«

Sie friert und wird endlich müde. Dunja geht rein, bleibt vor dem Schlüsselbrett stehen und überlegt, welches Zimmer sie nimmt.

Ein Mann mit schwarzem Pferdeschwanz und einem kleinen Koffer kommt ins Foyer und steigt über eine im Weg liegende Tasche. Er sei in Zimmer 201 verabredet, sagt er und geht die Treppen rauf. Dunja und die Cousine sehen ihm hinterher. »201 ist Lenka, oder?«, flüstert die Cousine und macht ein besorgtes Gesicht.

Dunja nimmt sich den Schlüssel vom schönen Erkerzimmer. »Bestimmt einer von ihrer Crew«, sagt sie. »Lenka hat doch schon oft irgendwelche seltsamen Leute herbestellt.«

Um sich nicht verabschieden zu müssen, lässt sie ihre Tasche im Saal. Darin ist nichts von Wert, nichts, was sie braucht, denkt Dunja, während sie die Treppe hinaufgeht. Drinnen macht Dunja kein Licht an, zieht sich aus und sieht in den Himmel zwischen den schwarzen Tannenzweigen. Der Schnee fällt dichter. Die Flocken werden von den Fenstern des Saals unter ihrem Zimmer beleuchtet und legen sich auf die Nadeln. Als Dunja im Bett die Augen zufallen, erscheint ein Körper aus weichem Glas. Sie kann ihn spüren, so nahe kommt er. Dunja erschrickt und reißt die Augen auf. Aber da ist nur schwarze Nacht, und vor dem Fenster tanzen gleichmäßig die Flocken. Sie schließt die Augen, sieht aber weiter das Zimmer und das Fenster mit den Flocken. Der gläserne Körper steht im Raum, direkt neben ihrem Bett. Er sieht aus wie der gläserne Mensch, den Dunja als Kind im Dresdner Hygiene-Museum gesehen hat. Es war ein Klassenausflug, und schon im Bus wurde von dem gläsernen Menschen geredet wie von einem verbotenen Geheimnis.

Dunja kann die leuchtenden Organe sehen, das schlagende Herz, die Blutgefäße und die vernetzten Nervenbahnen. Die Unversehrtheit des gläsernen Körpers faszinierte Dunja als Kind. Alle anderen Körpermodelle bestanden aus aufgeschnittenen Teilen, abgehackten Gliedmaßen oder herausgenommenen Organen. Die Brutalität der zerstückelten Modelle entsetzte Dunja. Nur der gläserne Mensch wirkte gesund in seiner transparenten Vollkommenheit, wie ein Heiliger.

Dunja liegt im Erkerzimmer und kann die Augen nicht mehr öffnen. Der fremde Körper beugt sich über ihr Bett und steckt ihr eine süße Beere in den Mund, deren violetter Saft ihren Hals hinabfließt. Dunja lässt sich mehr und mehr Beeren geben und weiß, man muss nach einer guten Beere aufhören, wie am Brombeergestrüpp im Sommer, bevor man eine schlechte erwischt.

Von einer bittersauren Beere wird sie wach, überlegt, wo in diesem Zimmer die Tür ist, und denkt, der gläserne Mensch sitzt noch im Dunkeln und wartet auf sie. Als sie wieder einschlafen will, hebt sich das ganze Haus über eine Welle und sinkt wieder herab, als läge sie in einer Kajüte auf See.

So kann sie nicht schlafen. Sie steht auf und geht barfuß in Hemd und Slip hinunter in den Saal, um ihre Tasche zu holen. An der Bar sitzt noch eine Frau und telefoniert mit schläfriger Stimme.

Dunja geht ins Foyer, vorbei an der Rezeption und dem großen Spiegel, über die kalten Fliesen, die Stufen hinunter, zieht die schwere Tür auf und bleibt in der Eisluft stehen, die gegen ihre nackten Beine prallt, gegen ihre Stirn und ihr unter den Armen ins Hemd fährt. Sie will spüren, wie die Kälte ihr wehtut, aber sie spürt nichts, friert nur und weigert sich zu zittern. Sie klemmt den Schirmständer in die Tür, steigt darüber hinweg und geht die Stufen runter, quer über den verschneiten Rasen Richtung Straße und dann über den spitzen Kies. Der Kies ist weich wie ein Teppich. Sie bleibt stehen, sieht auf ihre nackten Füße und weiß; sie sind taub.

»Wart mal kurz, hier läuft ’ne Schlafwandlerin durch den Schnee.« Die Frau steht jetzt in der Eingangstür, nimmt das Handy vom Ohr und kommt auf Dunja zu. Dunja weiß, sie wird fragen, ob alles in Ordnung sei, ihre Hand auf Dunjas Schulter legen und ein besorgtes Gesicht machen. So machen es alle. Dunja hat es satt. Bevor die Frau etwas sagen kann, läuft sie an ihr vorbei, holt ihre Tasche, geht die Treppe hinauf über den weichen Läufer, der ihr jetzt wie spitzer Kies in die Fußsohlen sticht.

Leid währt nicht immer,Ungeduld macht’s schlimmer.

Lenka verbringt die Zeit im Hotel liegend. Im Bett, in der Badewanne, im Liegestuhl, auf Saphies Sofa. Jedes Mal ist es wie ein Krankenbesuch, wenn Dunja morgens abfährt und sich von Lenka verabschiedet.

Sie klopft nicht an Lenkas Zimmertür. Sie hört Saphie von draußen: »Was hast du dem geschrieben? Bist du denn total irre? Du kannst doch nicht irgendeinem wildfremden Typ mitteilen, dass du gerne gefesselt werden möchtest!« Dann sitzt Saphie auf Lenkas Bettkante. »Hast du gestern Abend diesen Typ mit dem Zopf gesehen?«, fragt Saphie, als Dunja reinkommt. Dunja nickt. »Hmm.«

»Mensch, Dunja, du kannst doch hier nicht irgendwelche kranken Leute reinlassen! Du hättest mir Bescheid sagen müssen.« Lenka sitzt nackt im Bett und feilt ihre Nägel mit einer gläsernen Feile. »Der war total höflich. Überhaupt nicht krank«, sagt sie beinahe unbeteiligt.

Saphie schüttelt angeekelt den Kopf und wirft die Arme hoch. »Du bist krank! Kommst zur Beerdigung und bestellst dir erst mal einen Sadisten aufs Zimmer.« Lenka pustet auf ihre Fingerspitzen und lacht. »Ich weiß wenigstens, was ich brauche, und hab nicht so ’n Schiss vorm Leben wie du, dass ich mich hier im Kaff zwischen den Kühen verstecke, um irgendwann auch ’ne Kuh zu werden«, sagt Lenka im unpassenden Tonfall einer freundlichen Verkäuferin. »Hast du so was mit Gilbhart nie gemacht? Das ist ja krank, Saphie. Fang mal an zu leben. Krieg erst mal raus, was Sex ist, dann könn’ wir weiterreden.«

Dunja betrachtet die Pfosten unter dem Bett und überlegt, ob sich daran Seile befestigen lassen. Sie beugt sich interessiert hinunter, während Saphie erklärt, was alles hätte passieren können und dass sie so etwas gefälligst woanders machen soll, »aber nicht hier in meinem Hotel«. Lenka hört nicht zu, sondern sieht grinsend zu Dunja und zeigt auf sie mit der Nagelfeile. »Dunja versteht mich.«

Im Zug hat Jules den Laptop auf dem Schoß. Augusta lehnt den Kopf an die Schulter ihres Bruders und klappt ein Buch auf. »Habt ihr schon mal über den Bahnhof nachgedacht?«, fragt Dunja. Jules sieht hoch. »Scheiße, der Bahnhof.« Dann sieht er zu Augusta. »Keine Ahnung.« Augusta zuckt mit den Schultern.

»Was hätte Papa gewollt?«, fragt Jules sachlich. »Dass wir da wohnen?«

»Ich will da nicht wohnen!« Augusta verschränkt beleidigt die Arme. »Da braucht man ’n Auto. Willst du da wohnen?«

Jules schüttelt den Kopf. Beide sehen Dunja an, wie Kleinkinder, die auf die Entscheidungen ihrer Mutter angewiesen sind. Dunja muss lachen. Sie klatscht in die Hände. »Ihr könnt da Partys feiern oder das Ding vermieten, es gehört euch.« Dunja macht eine großzügige Handbewegung: »Lasst euch was einfallen.«

Jules nickt. Augusta rollt ihre Unterlippe zwischen Daumen und Zeigefinger und sieht in ihr Buch. Dunja soll es nicht merken, wenn Augusta überlegt. Vor allem soll sie dann keine Fragen stellen.

Am Abend sitzen sie zu dritt in der Küche, und es ist so, wie Dunja es nie haben wollte. Zusammen zu essen war nur ihr wichtig. Sie hat es eingefordert, erst von Winne und später von den Kindern. Aber jetzt ist es vollkommen falsch. Sie muss irgendetwas tun, aber die einzige Tätigkeit, die ihren Händen einfällt, ist, den Tisch abzuräumen und das Geschirr in die Spülmaschine zu stecken.

Sie ist erleichtert, als Jules und Augusta in ihren Zimmern verschwinden. Es geht ihnen nur zu dritt schlecht und jedem besser alleine.

Als sie die Balkonblumen gießt, fällt ihr Blick auf die Strippe, deren abgerissenes Ende vom Balkongeländer ins Leere baumelt. Sie fummelt den Knoten auf und denkt an die Zeit, als an der Strippe ein Körbchen hing. Es verband ihren Haushalt mit dem Haushalt der befreundeten Familie im ersten Stock. Für ein paar Jahre war ihr Leben fröhlich gewesen. Beim Wäscheabnehmen hatte Dunja oft ein T-Shirt in der Hand, das sie ins Körbchen legte, weil es Jules zu klein geworden war, oder ein fremdes Unterhemdchen, das sie an die Türklinke der Nachbarwohnungstür hängte, ohne sich zu wundern, wie es in ihrer Wäsche gelandet war. Im Sommer besprühten die Kinder einander auf dem Hof mit Wasser, bevor sie allesamt nass hochkamen, um auf Dunjas Balkon Melone zu essen. Das Leben hatte in diesen Sommern so ausgesehen, als würde es für immer so bleiben. Nur die Katze, die zum ganzen Haus gehört und wohnt, wo sie will, erinnert noch an das alte Gemeinschaftsgefühl. Dunja wickelt die morsche Strippe um ihre Hand und lässt sie in den Mülleimer fallen.

Als sie später im Bett liegt, will sie den gläsernen Menschen zurückholen. Aber er bewegt sich nicht mehr, steht nur da wie eine Statue und kommt nicht näher. Dunja stellt sich vor, dass er im Hotel geblieben ist, darin herumgeistert und nach ihr sucht.

Da sie nicht schlafen kann, steht sie auf und fängt an, Unterrichtsmaterial zu sortieren, legt sich für morgen ein paar Übungen zurecht, Rollenkarten für einen Dialog über Kleidung und Farben. Den Rest nimmt sie aus dem Lehrbuch, das wieder acht von zehn Schülern vergessen haben werden. Sie wird es nicht kopieren. Sollen die ihr verdammtes Buch mitbringen, wenn sie Deutsch lernen wollen. Dunja ignoriert Schüler, die sich einbilden, sie sei persönlich daran interessiert, es ihnen beizubringen; Schüler, die sich von ihr füttern lassen, sich zurücklehnen mit verschränkten Armen, als säßen sie im Kino.

Dunja schläft ein paar Stunden und wacht auf, weil wieder der Duschkopf in die Wanne fällt. Als Augusta die Wohnungstür zuschlägt, steht Dunja auf, und bevor Jules aufwacht, geht sie los. Draußen ist es kalt, nass und dunkel. Dunja kratzt flache Eischips von ihrem Sattel, nimmt den größten zwischen Daumen und Zeigefinger und lässt ihn schmelzen. Etwas ist anders mit ihr. Zur Arbeit fährt sie nicht aus Pflichtbewusstsein. Eher aus Gewohnheit oder einfach, weil sie gerne Fahrrad fährt, wenn es außer ihr niemand gerne tut. Es gefällt ihr sogar, dass die Kälte so unfreundlich ist und der leichte Schneeregen die Leute belästigt, indem er ihnen beharrlich in die Sachen kriecht. Wie jeden Morgen kommt ihr vor der Schule der schwarze Junge entgegen, der nie einen Schal trägt, dann kämpft sich der Professor mit dem Kastenfahrrad vor der Kreuzung den Berg hinauf. Wenn sie ihm schon am Park begegnet, muss sie sich beeilen. Er ist zuverlässiger als die Kirchturmuhr. Dunja weiß, in seinem Kasten sind Cola, Mentos, Alaunsalze, Gasflaschen, Spülmittel, Luftballons und manchmal Riesenspinnen, exotische Insekten, Krebstiere, Schlangen, Echsen, verschiedene Schnecken und große Frösche. Zu Hause hängt das Foto von Jules mit einer Vogelspinne, größer als sein Handteller. Es gab keine abwegige Kinderfrage, die der Professor nicht beantwortete, und keinen Kindernamen, den er sich nicht merkte. Selbst die endlosen blonden Lisas, Luisas, Luises, Lenas, Laras, Linas, Lauras, Lottas und Lillys konnte er auseinanderhalten.

So jemanden gab es im Dorf nicht, und Dunja wusste, die Kinder wären zwar auf dem Land der Erde, den Jahreszeiten und den Wettern näher gewesen, aber den Wissenschaften, Künsten und Kulturen ferner.

Dunja fährt vorbei an dem Fleck auf dem Asphalt, der neulich noch eine plattgefahrene Ratte war, schließt ihr Fahrrad zwischen Fahrräder, steigt über Pedale und zerrt die schweren Bücher aus der Satteltasche. Im Fahrstuhl der Firma ist sie froh, nicht zu den Angestellten zu gehören, die ihre Tage wie angekettet vor Monitoren verbringen und ein paar freie Abendstunden mit ihrem ganzen Tageslicht bezahlen. Als sie ein paar Monate als Sekretärin gearbeitet hatte, war sie sich vorgekommen wie eine Topfpflanze.

Als die Kinder älter waren, schmiedete sie zu Hause Silberschmuck, den zu verkaufen ihr nie eingefallen wäre, bis Winne ein paar Teile in einen Laden brachte. Von dem Geld konnte sie neues Silber und ein paar Werkzeuge kaufen. Übrig geblieben war nie etwas.

Die Gruppe ist müde. Die Schüler legen die Köpfe auf den Tisch, antworten träge und weigern sich, neue Wörter in ihre Köpfe zu lassen, um ihre Gehirne nicht komplett lahmzulegen.

Es ist seltsam, unter Menschen zu sein, die keine Ahnung davon haben, was ihr passiert ist. Mein Mann ist übrigens gestorben, könnte sie sagen. Vielleicht würde das die Müdigkeit vertreiben. Dunja stellt sich die irritierten Gesichter vor. Sie könnte ein dickes schwarzes Kreuz an das Whiteboard malen, ein Männlein daneben, eine Hand mit Ehering, ein Herz und auf sich selbst zeigen. Sie könnte ihnen die Wörter Unfall, Beerdigung, Grab und Witwe beibringen und sein und haben üben. Für die Muslime wäre das Kreuz nicht sofort verständlich, denkt Dunja und lässt es.