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Auf einem Friedhof erfuhr ich von der Bedeutung des Festes zur Wintersonnenwende.
Was ich aber letzten Endes dabei niederschrieb, war ein kleiner Auszug aus einer Vergangenheit, die sich hoffentlich nie wiederholen wird.
*** Diese Geschichte ist ursprünglich in der Anthologie der Federschwinger "Midwinter Tales" erschienen. ***
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Ich kann mich nicht erinnern, wann sie mir zum ersten Mal auffiel. Wahrscheinlich war sie schon da, als ich an der Hand meiner Mutter das Grab meiner Großeltern besuchte. Vielleicht fiel sie mir auch nicht auf, weil sie irgendwie zum festen Bestandteil unseres Friedhofes geworden war. Sie und ihre alte, verbeulte Gießkanne mit dem Loch im Boden.
Meine Mutter nickte ihr immer nur grüßend zu, ich habe nie gehört, dass sie mit Namen angesprochen wurde. Genauso wenig, wie sie selbst etwas sagte. Sie war nur immer da. Mit ihrem grauen Kopftuch, das sie nur in der Sommerhitze hin und wieder abnahm. Dann konnte man ihre dunklen Haare sehen, die in sorgsamen Wasserwellen lagen.
Im Laufe der Zeit begriff ich, dass sie das Grab ihres Mannes besuchte, das in der Reihe hinter unserem Familiengrab lag. Beide Reihen schlossen direkt an den kleinen Rundweg an, in dessen Mitte der Brunnen stand. Das war gut für sie, denn so verlor sie nur wenig Wasser auf dem kurzen Weg. Immer hinterließ ihre löchrige Gießkanne eine feine Tropfspur auf dem sandigen Weg.
Im Laufe eines Jahres gab es viele althergebrachte Tage, an denen die meisten ihre Gräber besonders schmückten. An einem Tag im Jahr unterschied sich ihr Grab allerdings von allen anderen. Am 21. Dezember, der nicht zu diesen Tagen gehörte, brannten viele große und kleine Lichter, ein bunter Blumenstrauß brachte Farbe in das ansonsten vorherrschende Immergrün und den darauf liegenden Schnee.
Meine Mutter konnte es mir nicht erklären, denn die Inschrift auf dem Stein zeigte Daten aus dem Sommer. Ich glaube, da hörte ich zum ersten Mal vom Tag der Wintersonnenwende. Der Ton, in dem meine Mutter mir von diesem alten Fest erzählte, war ein wenig abschätzig:
»Das war früher der Tag, den Heiden für heilig hielten. Wer ein guter Christ ist, der feiert Weihnacht und nicht diesen heidnischen Aberglauben. Wer weiß, wo sie das gelernt hat. Die Frau ist nicht von hier.«
Als dann mein Vater an einem 21. Dezember starb und am Morgen des Heiligen Abends beigesetzt wurde, hörte ich die Frau mit der löchrigen Gießkanne die ersten Worte sagen.
»Er ist dem Lauf der Sonne gefolgt. Weil er an diesem Tag starb, wird er stets ein Stückchen mehr bei dir sein. In jener Nacht war das Tor zwischen den Welten durchlässig. Menschen, die uns an jenem Tag verlassen, sind nie ganz fort.«
»Hören sie auf, dem Kind Unsinn zu erzählen. Wir sind gläubige Christen!« Meine Mutter hatte mich unwillig von ihr weggezogen, obwohl mir selbst ihre Worte tröstlich klangen.
Das mit dem Glauben war so eine Sache. Je älter ich wurde, desto weniger tat ich es. Da mein Schulweg durch den Friedhof führte, sah ich sie fast jeden Tag. Doch sie sagte nie wieder etwas und ich auch nicht. Ich ging im Laufe der Jahre immer seltener gezielt auf den Friedhof. Nur zu den üblichen Terminen, die sich einfach gehörten und natürlich zum Gedenken an meinen Vater.
Eines Tages, ich war inzwischen selbst verheiratet, war sie nicht da. Als ich mit meinem Mann am Tag unserer Hochzeit nach einem alten Brauch meinen Brautstrauß auf das Grab meines Vaters gelegt hatte, hatte sie mir noch still zugenickt. Nun war es seltsam, die alte Gießkanne verlassen und trocken am Brunnen hängen zu sehen. Ich fragte eine andere Besucherin nach der Frau und mir wurde erklärt, dass sie krank geworden war.
»Sie lebt allein, niemand kann sich um sie kümmern. Wahrscheinlich stecken sie das alte Weib jetzt ins Pflegeheim und sie kann nie wieder kommen. Das Grab hier wird dann wohl verfallen.«