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Sybil Volks

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Beschreibung

Können Menschen ihr Glück machen? Oder fällt es ihnen zu wie die Sterne in diesem Kometensommer? Ausgerechnet zum großen Fest in Haus Tide – Inge Boysen wird 80, ihre Enkelin 18 - hat sich Komet »Fortune« über der Nordseeinsel angekündigt. Eine ungewöhnliche Festgesellschaft versammelt sich im alten Haus hinter dem Deich: Familie Boysen, geladene und ungeladene Gäste, Glücksritter, Spinner und Sternengucker. Die einen hoffen, »Fortune« verheiße Fülle und Freuden, andere sehen den Weltuntergang nahen, Inge stellt für alle Fälle Champagner kalt. Das Himmelsereignis setzt eine Reise in Gang: Inge, ihre Kinder und Kindeskinder, Nachbarn, Postbote, Astronom und Vogelwartin – sie alle machen sich auf, ihr Glück zu suchen, zu finden und notfalls zu erfinden. Und Sohn Boy, der mit einer waghalsigen Wette das Elternhaus gerettet hat, muss erleben, wie schnell das Blatt sich wieder wendet – für ihn, Haus Tide und die ganze Familie.  

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Seitenzahl: 424

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Sybil Volks

Die Glücksreisenden

Roman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Für Hannah und Margret

 

Und für Anne,

den hellsten Stern an meinem Himmel

Die Mitspieler im Kosmos Boysen

 

Inge, Fixstern der Familie

 

Enno, der älteste Sohn

Kerrin, seine Frau

Inka, Adoptivtochter der beiden

 

Boy, der zweite Sohn

 

Gesa, die älteste Tochter

Jochen, ihr (Noch-)Ehemann

Marten und Kaija, Kinder von Gesa und Jochen

Matteo, Gesas Geliebter

Stella, Baby von Gesa und Matteo

 

Berit, die zweite Tochter

Johanna, Berits Liebste

 

Dr. Ilse Johansen, Inges Freundin

 

Ahab, einäugiger Kater

 

Fortune, Komet

I

Einer dieser anderen Tage

»Das Glück ist keine leichte Sache.

Es ist schwer, es in uns selbst,

es ist unmöglich, es anderswo zu finden.«

Nicolas Chamfort

 

Charlie Brown: »Eines Tages werden wir alle sterben.«

Snoopy: »Das stimmt, aber an allen anderen Tagen nicht.«

Heute ist einer dieser anderen Tage. Ein Tag, an dem sie alle leben. Ein Tag im Frühling, den sogar sie noch erlebt, Inge Boysen, bald achtzig Jahre alt, vor Kurzem für tot erklärt – aber nichts da. Hier steht sie, in Pantoffel – der zweite ging beim Durchqueren des Zimmers verloren – und Nachthemd am offenen Fenster, fröstelnd in den Windböen der Aprilnacht, und hört das Rauschen der See, die unsichtbar hinter dem grauen Deich liegt.

Ein Rauschen ist manchmal auch in ihrem Kopf, ein Zittern der Gedanken, eine Frequenz, die sie als Störsender auszuschalten versucht. So lange, bis sie schließlich, so glaubt Inge jedenfalls, die Botschaft verstanden hat: Dieses Jahr ist ein Geschenk. Eine milde Gabe, eine wilde Zugabe? Eine Extrarunde, ein Sahnehäubchen, ein Obendrauf, ein Bonustrack – ein nie zuvor gespielter Song, der das Live-Album »Inge Boysen« verlängert.

In diesem Augenblick hört sie es näher kommen, das rhythmische Schlagen der Flügel in der Luft, das Schnattern und Rufen, noch bevor sie die dunklen Silhouetten am Nachthimmel erblickt, scharf umrissen im Mondlicht. Inge lauscht der anschwellenden Vogelzugnachtmusik – zum letzten, zum vorletzten Mal, wer weiß? Die Ringel- und Weißwangengänse kehren aus den Winterquartieren zurück, werden sich Speckpolster anfuttern auf den fetten Inselwiesen, bevor sie weiterziehen in den Norden, um neue Gänschen auszubrüten wie jedes Jahr. Sie wissen es nicht, die Gänse und Gänschen, dass in diesem Sommer Meteoriten auf Nordfriesland regnen werden, die vom Kometen »Fortune« stammen. Und zwar aller Voraussicht nach in den Tagen um ihren, Inges, Geburtstag herum. Ihren achtzigsten.

Noch steht es in den Sternen, wie viel Stein oder Staub von ihnen übrig ist, wenn die Himmelskörper auf die Erde treffen. Doch schon jetzt haben sie einige Gräben auf der Insel beziehungsweise zwischen den Bewohnern hinterlassen. Sogar in ihrer eigenen Familie. Die einen hoffen und glauben, der Meteoritenschwarm bringe Glück, die anderen ahnen und munkeln, dass er nichts als Unglück verheißen könne. Dritte wiederum heben wortlos den Zeigefinger an die Stirn, wenn die Sprache auf »das Ereignis« kommt, und kehren zum heißen Tee oder kühlen Bier zurück.

Ihr für gewöhnlich schweigsamer Bürgermeister und Postbote beendet jede Ansprache, die sein Amt ihm abverlangt, neuerdings in Anlehnung an den römischen Staatsmann Cato mit den Worten: »Im Übrigen bin ich der Meinung, dass dieser Komet ein Hirngespinst ist.« Eine kleine, aber stimmgewaltige Fraktion jedoch weiß, dass riesige Brocken »Fortune« nirgends sonst als auf ihrem bescheidenen Eiland einschlagen werden, und ihre Wortführerin, die Königin der Kurverwaltung, wird nicht müde, mit tiefer gelegter Stimme daran zu gemahnen, dass »Fortune« keineswegs »Glück«, sondern »Schicksal« bedeutet. Good fortune oder bad fortune, das ist hier die Frage! Inges Frage jedoch, ob die Kurverwaltung über den Juli hinaus überhaupt noch Buchungen annehme, wurde von der Dame keiner Antwort gewürdigt.

Nein, Inge sieht in »Fortune« keinen Wink des Schicksals, sondern ein Zwinkern des Zufalls. Und vor dem Zufall hat Inge den allergrößten Respekt. Aber gewiss wird sie deshalb nicht das im Juli geplante Geburtstagsfest verlegen. Sicherheitshalber gleich in den Herbst! Manchmal beschleicht sie der Verdacht, dass Kerrin, abgesehen von ihrem Aberglauben, andere Gründe umtreiben, die Feier möglichst weit hinauszuschieben.

Inge streckt den Kopf aus dem Fenster und atmet die kühle, salzige Luft. Die Gänse ziehen hoch oben am Nachthimmel, ihrem Kompass folgend, nach Norden. Wenn es der Zufall partout wollen sollte, dass ausgerechnet am großen Doppelgeburtstagsfest zum achtzigsten und achtzehnten von Inge und Inka Boysen ein Stück »Fortune« in den Garten von Haus Tide kracht, wäre es wohl das Mindeste, dieses mit einem Glas Champagner in der Hand zu begrüßen!

Draußen, aus dem im Dunkeln liegenden Garten, erklingt ein Miauen. Mit einem Satz springt von hinten aus dem Zimmer Kater Ahab aufs Fensterbrett. Sein einziges Auge glüht grün, seine Ohren zucken. Lautlos setzt er im Gras auf, das feucht ist vom Abendtau, und fort ist er, auf der Jagd nach dem fremden Miauen, auf dem Sprung in die Frühlingsnacht.

»Viel Glück, mein Junge!«, ruft Inge ihm nach und hält die Nase in den Wind. Selbst ihre Menschennase kann sie riechen, die Verheißung, die jedes Jahr um diese Zeit in der Luft liegt. Noch in ihrer alten Brust erzeugt es ein Echo, das Flügelschlagen hoch oben am Himmel. Das aufgeregte Flattern des Anfangs.

Vielleicht sollte sie es dem Kater gleichtun und noch einmal da draußen ihr Glück suchen. Inge sieht sich selbst wie in einem Trickfilm, beim Sprung über die Fensterbank, mit achtzigjährigen, dürren Beinen und einem Pantoffel. Besser vermutlich, sie sucht es altersweise drinnen im Warmen, das Glück – am allerbesten im eigenen Inneren, solange es dort noch lebendig und warm ist. Und das ist es noch, oder? Hand aufs Herz.

Aufgescheucht von solcherlei Fragen macht es einen Hüpfer in Inges Brust: Was fange ich an mit der Extrarunde, dem Obendrauf, dem Bonustrack? Schnell, viel zu schnell wird ihre Zeit um sein. Ihre Kinder wissen es nicht, die Ärzte wissen es nicht, aber sie weiß es. Sie weiß es, seit sie dem Tod am Ende des vergangenen Jahres von der Schneeschippe gesprungen ist. Ihr wurde kein neues Leben geschenkt. Ein neues Jahr, nicht mehr.

Inge schließt das Fenster, geht zum Sekretär, nimmt den braunen Umschlag heraus  – »nach meinem Tod zu öffnen«. Der letzte Wille, noch immer ungeschrieben. Vergeblich sucht sie nach der erlösenden Erkenntnis: Wie kann sie dieses Haus über ihren Tod hinaus für die Kinder und Enkelkinder bewahren? Es vor dem Verkauf retten, nachdem es Hunderte von Jahren weitergegeben wurde in der Familie. Eines dieser heute hoch im Kurs stehenden alten Friesenhäuser, für das die Käufer Unsummen hinblättern, die kein Erbe den weichenden Geschwistern zahlen kann. Für sie einfach ihr Haus Tide.

Ihr Haus Tide mit den Segelschifffliesen, dem Bilegger, den Wandbetten, in denen schon viele ihrer Vorfahren zur Welt kamen oder von ihr gingen. Unter Inges Wandbett, auf das sie sich jetzt setzt, stößt ihr nackter Fuß an etwas Weiches. Da ist er ja, der einzelgängerische Pantoffel, hockt unter dem Bett und sagt nichts.

Sie knipst die Nachttischlampe an, erblickt ihr Gesicht im Spiegel gegenüber – ein weißer Haarschopf, hellblaue Augen, ganz wie es sein soll. Nicht wie an jenem 28. Dezember des vergangenen Jahres, als sie im Spiegel schwarz gesehen hat. Das Tuch, das ihn bedeckte, wie man seit jeher die Spiegel in den Räumen der Toten verhüllt, hatte ihr unmissverständlich verkündet: Du bist tot. Und sie war darauf hereingefallen. Inges Mundwinkel zucken, ein Grinsen macht sich breit. Es war eine aufregende, turbulente Zeit, die auf ihren Tod folgte. Wenn es post mortem so in Wirklichkeit wäre … Na, da ließe sich drüber reden. Doch es war alles nur ein Missverständnis.

Ihre Schwiegertochter Kerrin hatte das Tuch eigenhändig über den Spiegel gehängt, sie voreilig für tot erklärt und Kinder und Kindeskinder herbeizitiert. Und alle waren sie gekommen. Alle bis auf Boy, der am anderen Ende der Welt zur See fuhr. Sogar Gesa war gekommen, mit ihrem dicken Bauch und ihrem Ehemann, der für den dicken Bauch nicht verantwortlich war und das wusste. Tja, und dann kamen sie nicht wieder weg. Autos sprangen nicht an, jedes Quartier auf der Insel war ausgebucht, und schließlich schneite und stürmte es, wie es seit Ewigkeiten nicht geschneit und gestürmt hatte. Für den Schneesturm zumindest – Inge hebt mit Blick auf ihr Spiegelbild zwei Finger zum Schwur – zeichnet sie nicht verantwortlich. Wer auch immer der Übeltäter war, er hatte ganze Arbeit geleistet. Der Wind knickte Äste im Garten, schleuderte Vögel wie Federbälle durch die Luft, klatschte die Gischt der tobenden See an die Fensterscheiben. Der Schnee türmte sich zu hohen Wänden ums Haus, das Eis ließ Stromleitungen reißen und Funkmasten brechen. Da saßen sie also: eingesperrt miteinander, ohne Strom, ohne Netz. Waren endlich beisammen in jenen aus der Zeit gefallenen Tagen. Doch das Problem mit Haus und Erbe hatten sie nicht gelöst.

In der Küche tätschelt Inge den Bilegger, ihren alten Beileger-Ofen, der durch die Küchenwand als gusseiserner schwarzer Kasten in die Wohnstube ragt und diese mitheizt. Auch jetzt im April wird er noch befeuert, die Tage können kühl und die Nächte kalt sein. In den Schneesturmtagen hat er sie vor dem Erfrieren bewahrt. Für einen Augenblick blitzt das Bild vor ihr auf: Familie Boysen in dieser Küche bei flackerndem Kerzenschein, sich aneinander festhaltend, einander ausweichend, auf und ab wandernd, während nebenan in der Stube Gesa mit Kerrins Hilfe das voreilige Kind zur Welt brachte. Mit der Rückkehr von Strom und Licht, dem Urknall des neuen Jahres, war in der Neujahrsnacht Stella kometengleich in ihre Familie gestürzt.

Ohne Licht zu machen, holt Inge mit einem Griff die Kanne und ihre Lieblingstasse aus dem Schrank und setzt Teewasser auf. Wie wird sich Gesa entscheiden? Für das alte oder das neue Leben, den mittelalten oder den jungen Mann? Wann kommt Boy endlich aus Chile zurück – und was zum Teufel treibt er dort die ganze Zeit? Wird Berit, trotz aller Widrigkeiten, ihr Buch schreiben? Und wird sie selbst es noch lesen können? Wie ergeht es Enno, allein auf seiner Reise um die Welt, nachdem auch er, so scheint es, noch einmal knapp dem Sterben entronnen ist. Und wie wird Inka es verkraften, wenn sie an ihrem achtzehnten Geburtstag die Wahrheit über ihre Herkunft erfährt?

Der Teekessel pfeift, Inge schüttet kochendes Wasser in die Kanne. Ein Schwall geht daneben. Ihre Hände zittern, wie sie es manchmal tun, seit sie letztes Jahr tot war. Vorübergehend zumindest, zur Probe. Beim Aufwischen des vergossenen Wassers verbrennt sie sich die Finger. Auf einmal kommt es ihr nicht mehr vor wie ein Sahnehäubchen, das geschenkte Jahr, eher wie ein Berg aus Schutt und Geröll, den sie auf allen vieren hochkriechen, wieder hinabrutschen und niemals überwinden wird. Ein Berg aus Fragen und Aufgaben, für die sie nach wie vor keine Lösung hat.

Der Kandis in ihrer Tasse knackt, als sie den Tee daraufgießt. Und während Inge zusieht, wie sich der harte Zucker in der heißen Flüssigkeit auflöst, kommt es ihr in den Sinn, dass das Leben am Ende keine Rechenaufgabe ist, nicht wahr? Keine Gleichung, die eine Null ergeben muss oder so was.

Zurück in ihrem Zimmer, hört Inge ein Wimmern von oben durch die Decke, Schreien und kurz darauf tapsende Schritte. Sie sieht Gesa vor sich, ihre Tochter, die barfuß aus dem Bett steigt, schlaftrunken ihr Baby aus dem Bettchen hebt und es an die Brust legt. Gut, sie hier zu haben, Gesa und Stella. Es ist wie ein Versprechen, dass das Leben weitergeht in Haus Tide.

Inge blickt Richtung Spiegel, für den Bruchteil einer Sekunde sieht sie ihn leer. Dann erscheint wieder das Gesicht einer alten Frau, das wohl ihres sein muss, was sie zuweilen noch immer erstaunt. Das bin ich!, hat in einem aufblitzenden Augenblick zum ersten Mal das Kind in dem spiegelverkehrten Abbild erkannt. Das bin ich!, hat sich später das Mädchen mit geflochtenen Zöpfen versichert. Auch das Gesicht der jungen Frau mit dem aufgemalten Schönheitsfleck und das der mittelalten mit ersten Fältchen um die Augen waren ihr seinerzeit im Spiegelbild als »ich« erschienen. Und nun das. Eine alte Frau mit Knitterfalten und schmal gewordenen Lippen. Zur Sicherheit zieht Inge eine Grimasse. Genau wie die Alte im Spiegel.

»Es ist einfach so«, sagt Inge der alten Dame ihr gegenüber, laut und langsam, damit die es auch kapiert, »es wird ohne dich weitergehen. Also, vergiss den blöden Berg, denk ans Sahnehäubchen.«

Da fällt ihr ein: Irgendwo hinten im Kühlschrank steht ein letzter Rest Himbeersirup vom Sommer, den sie mit Wasser mischen wird, und irgendwo unten in der Nachttischschublade wartet der allerletzte Schokodrops, den sie sich vom Mund abgespart hat, womit jetzt Schluss ist. Auf dem Nachttisch liegt ein Stapel Papier, von dem sie das oberste Blatt zur Hand nimmt, um die ersten Sätze noch einmal zu lesen.

»All das Kommen und Gehen in unserer Familie«, hat Berit geschrieben, »begann mit einem angekündigten Tod und einem unangekündigten Sturm. Mond und Flut, Schnee und Sturm, Brüder und Schwestern, Geliebte und ungeborene Kinder trafen ohne Vorwarnung aufeinander.«

Noch einmal geht Inge zum Fenster, auf wackligen Beinen, doch diesmal mit beiden Pantoffeln, und öffnet es. Heute kein Schneesturm in Sicht, nur eine frische Frühlingsbrise, die das Branden der See bis ins Haus trägt. Wenigstens die See war immer da und wird bleiben, denkt man, doch selbst Insel und Meer verharren nicht an ihrem Platz. Noch vor wenigen Jahrhunderten ist dort, wo jetzt die Wellen rauschen, Land gewesen; nicht weit hinter dem Deich, auf dem jetzigen Meeresboden, lag eine Wiese, darauf die untergegangene Westerwarft. Und in ein, zwei Jahrhunderten, vielleicht schon viel früher, wird man hier, genau über ihrer Stube, reichlich Wasser unterm Kiel haben und sich von einem anderen, fernen Ufer an das untergegangene Haus Tide erinnern. Oder auch nicht.

Draußen im Garten maunzt Ahab, alleine, nicht im Duett. Tja, schlechte Karten bei den Katzen, armer schwarzer Kater. Und dennoch wird er, einäugig hin oder her, nicht aufhören, dem Glück hinterherzujagen und dem Schicksal auf die Sprünge zu helfen. Genau wie sie, Inge Boysen, bald achtzig Jahre alt, vor Kurzem für tot erklärt, aber nichts da. Ein neues Jahr wurde ihr geschenkt, nicht mehr. Aber auch nicht weniger.

Inge lehnt sich weit aus dem Fenster. Von ihr aus kann »Fortune« kommen. Der Wind rauscht durch die hellgrünen Blätter wie ein nie zuvor gespielter Song. Die Geschichte hat eben begonnen.

 

*

 

Was für ein Tag! Sonne und Regen und wieder Sonne, dichte Wolken, die aufreißen, weggeblasen werden, ein makelloses Blau freigeben, das sich über dem Tag aufspannt. Ein überirdisches Blau, das die ganze Zeit da ist, über der Erde, über den Wolken, man muss nur daran glauben und kann es oft nicht. Gesa läuft auf dem Weg hinter dem Deich bis zur Sandbucht, nimmt Tempo auf, allmählich kommt sie wieder in Form. Das hat sie vermisst mit dem dicken Bauch, das Laufen, die Leichtigkeit, den Fahrtwind im Leben. Ihr Haarband ging unterwegs verloren, die Haare flattern, Wind gibt’s hier oben mehr als genug, und jetzt kommt das Schönste. Die letzten Meter hoch auf die Deichkuppe, nun wieder wie früher im Laufschritt, und da liegt sie vor ihr, glitzernd in der Aprilsonne, die graue Nordsee.

Ein paar Minuten später – Gesa steht in der Sandbucht, in den Anblick des Meeres versunken – sind aus dem Nichts schwarze Wolken aufgezogen. Dicke Tropfen prasseln auf den Sand und färben ihn dunkel. Zum Unterstellen gibt es hier nichts. Einen Augenblick später liegen die Kleider im Sand, Gesa läuft nackt ins Wasser. Eine Sekunde bleibt ihr Herz stehen, das Blut stockt in den Adern, Beine und Füße schmerzen, sie schwimmt mit kräftigen Zügen hinaus. Sie hat anderen als Rettungsschwimmerin oft erklärt, man soll sich erst abkühlen, aber bei ihr funktioniert das nicht. Entweder mit einem Sprung ins kalte Wasser oder gar nicht. Na ja, sie hat auch als Frauenärztin anderen Frauen oft erklärt, wie man verhütet.

Nach einer Weile tut’s nicht mehr weh. Das Herz pumpt Wärme durch die Adern, Arme und Beine bahnen einen Weg durch die Wellen. Nun hat sie es also getan, früher als geplant: anbaden. Das Wasser ist noch viel zu kalt, um länger zu schwimmen. Doch es ist so ein verdammt gutes Gefühl, dass ihr Körper jetzt und hier nur ihr gehört, kein Baby im Bauch, kein Kind auf dem Arm. Sie krault, Gesicht unter Wasser, Zugphase, Druckphase, Beinschlag, ein gleichmäßiger, kraftvoller Rhythmus. Dazu in ihrem Kopf ein zauberischer Gesang: »When I saw you first, the time was half past three. When your eyes met mine, it was eternity.«

Ein kurzes Auftauchen, Atemholen, Gesa schaut zurück, sie ist ein ganzes Stück abgedriftet von der Sandbucht, hat sich weit hinausgewagt. Hören und sehen würde sie hier niemand, wenn … nicht daran denken. Kaum hat sie daran gedacht, fährt ein jäher Schmerz in die Wade, der Muskel wird hart und versteift sich. Ihr Herz hämmert gegen die Rippen. Gesa dreht sich auf den Rücken, streckt das Bein durch, zieht die Zehen nach oben. Der in der Wade zusammengeballte Schmerz explodiert und flutet den Körper. Sie beugt das Bein, streckt es, beugt es, streckt es. Der Krampf löst sich. Ruhig atmen und ruhig zurückschwimmen. Atmen, schwimmen, nicht an Untergang denken. Mit einem Mal hört sie klar und deutlich Jochens Stimme: »Komm zurück, Gesa. Du schaffst es. Komm zurück!«

Zitternd trocknet sich Gesa mit ihrem Sweatshirt ab, zieht die Windjacke über und steigt in die nass geregnete Jeans. Die Jacke klebt auf der nackten Haut. Mensch, Gesa, sagt sie sich, du solltest allmählich Vernunft annehmen. Zu Hause wartet ein Säugling auf dich. Und in Hamburg zwei weitere Kinder. Und ein Ehemann. Und ein Geliebter. Und überhaupt. Dann sprintet sie los. Sie hat Rückenwind. Ihre Füße fliegen über den Weg hinter dem Deich, als hätte sie eine Ladung Superbenzin getankt. Heute Abend ist er hier! Und sie hat angebadet! Der Frühling kann kommen! Beim Laufen wird Gesa wieder warm, ein angenehmes Prickeln unter der Haut strahlt bis in die Zehen und Fingerspitzen. Ein bisschen leichtsinnig mag es gewesen sein, aber schön war es doch.

 

»Gesa!« Kerrin lässt beinahe den Wäschekorb fallen, als sie triefend an ihr vorbeistürmt. Aber für die Schwägerin hat Gesa jetzt keine Zeit. Gerade so viel, um die schmutzigen Schuhe in der Diele auszuziehen, sonst macht Kerrin sie einen Kopf kürzer. Dann läuft Gesa zum Kinderwagen, der in der Stube steht, zuverlässig in Kerrins Hörweite, da muss sie sich keinerlei Sorgen machen. Trotzdem ist sie jedes Mal froh, die kleine Stella heil und vollständig vorzufinden, vom schwarzen Schopf bis zu sämtlichen Zehen. Das gehört, ebenso wie das Laufen, zu ihrem Post-Schwangerschafts-Trainingsprogramm: Stella in Kerrins oder Inges Obhut alleinzulassen, fünfzehn Minuten, eine halbe Stunde, und dann festzustellen, dass es bei ihrer Rückkehr noch da ist, das Kind, meistens friedlich und munter. Gesa muss sich zurückhalten, das schlafende Baby nicht aus dem Bettchen zu reißen, begnügt sich damit, die Decke zurückzuschlagen – alles noch dran –, es aus nächster Nähe zu betrachten und seinen Duft einzusaugen.

Heiß geduscht und im geblümten Frotteebademantel, der noch aus ihren Jugendtagen hier hängt, kommt Gesa in die Stube, wo Kerrin sich über den Kinderwagen beugt. Stella ist wach geworden und gurrt.

»Na, dann kann ich wohl gehen«, sagt Kerrin und geht, noch bevor Gesa sagen kann, sie könne ruhig bleiben.

Gesa setzt sich mit dem Baby in den Sessel mit dem Rücken zum Bilegger und lässt die Wärme in sich hineinströmen. Stella fuchtelt mit ihren winzigen Händen, gähnt und verzieht das Gesicht. Ein Wunsch hat sich erfüllt: Ihre Tochter sieht Matteo so ähnlich, dass allerletzte Zweifel (oder Hoffnungen, was Jochen betraf?) bezüglich des Vaters ausgeräumt waren. Der Gedanke an Jochen versetzt Gesa einen Stich, die Erinnerung an sein Gesicht, als er die Kleine zum ersten Mal sah. Aber welch ein Zauberkunststück der Natur, Matteo in Stella wiederzufinden mit Haut und Haar. Zu wissen, dass er in diesem neuen Menschen weiterleben wird und ihr eigenes Leben begleiten, selbst wenn …

Das Baby wird unruhig, beim ersten Jammerlaut fühlt Gesa ein Ziehen in der Brust, als hätte es dort an einer Schnur gerissen. Stella grapscht nach Gesa, tritt mit den Beinen in die Luft. Gleich darauf schnappt ihr Mund zu, saugt mit voller Kraft, die Brustwarze schmerzt. »Sachte, sachte, kleines Ungeheuer«, murmelt Gesa, »ich krieg dich schon satt.«

Hier in diesem Zimmer ist er zur Welt gekommen, ihr kleiner Stern, in der Neujahrsnacht, im Alkoven, dem Wandbett mit den himmelblauen Holztüren. Der Schneesturm raste ums Haus, sonst war es still, so still, als wäre die Welt ausgestorben. Matteo war nicht da, der hätte da sein sollen; Jochen war da, der nicht hätte da sein sollen. Beide konnten sie nichts dafür. Niemand kam mehr auf die Insel, ins Haus, niemand kam mehr aus dem Haus, von der Insel herunter. Es war Kerrins Schuld, dass sie alle zusammen hergekommen waren, Jochen und sie und die Kinder, weil Mutter gestorben war. Und dann doch nicht. Ja, auch Kerrin war da, bei Stellas Geburt, die Nervensäge Kerrin mit ihren rettenden Händen.

Gesa nimmt die Kleine vorsichtig von der Brust, legt sie an die andere. Ohne Kerrin hätte sie es nicht geschafft. Vermutlich wäre Stella gestorben. Vielleicht wären sie alle beide gestorben. Die Schwägerin hatte ein Wunder vollbracht, und bei jeder Gelegenheit erinnerte sie Gesa daran. Aber ohne Kerrins Fehlalarm wäre das Wunder gar nicht notwendig gewesen! Sie hätte ihr Baby in Hamburg bekommen, im Geburtshaus, mit dem sie selbst als Frauenärztin zusammenarbeitete, und zwar mit Matteo an ihrer Seite. Also waren sie mindestens quitt.

Mehr als drei Monate ist das her, der Winter ist ins Land gegangen, und sie ist immer noch hier. Alle sagen, sie muss sich endlich entscheiden. Entscheiden, wie es weitergeht und wann und wo und mit wem. Jochen sagt es. Matteo. Marten und Kaija. Ihr Bruder Enno. Ihre Partnerin in der Frauenarztpraxis. Nur Mama nicht. Mama sagt, lass dir Zeit. Du kannst bleiben, so lange es dir guttut. Und es tut ihr gut, unendlich gut, hier zu sein, im Haus der tausend Erinnerungen, dem Haus, in dem sie selbst einmal Kind war.

Das Saugen wird ruhiger, hört ab und zu ganz auf, immer wieder fallen Stella die Augen zu. Gesa wischt einen Tropfen Milch von ihrem Bauch, leckt ihn vom Finger. Wie viel Zeit man damals hatte, als Kind! Eine einzige Jahreszeit war unendlich. Ein Schuljahr – ein unüberschaubares Dickicht. Sechs Wochen Sommerferien – ein endloses Feld voller Möglichkeiten. Der Alkoven in dieser Stube – ein Traumland, in dem keine Uhren tickten. Stella liegt schwer in ihrem Arm, mit offenem Mund und geschlossenen Augen. In der Fontanelle auf ihrem Kopf pulsiert es. Der kleine Schädel ist noch offen, das ganze Leben darin, so wundervoll, so erschreckend. Aber sie, Gesa, ist kein Kind mehr. Sie hat selbst Kinder, das Leben geht weiter. Das Leben vergeht. Ihr Leben, Matteos, Jochens, Martens und Kaijas Leben. Sie haben recht, und sie haben ein Recht darauf – sie muss sich entscheiden.

Gesa legt das Baby in den Alkoven und sich selbst daneben. Wenn sie bloß nicht so müde wäre, so unendlich müde. Sie gibt sich noch Zeit bis zum Sommer. Okay? Bis zum großen Fest! Wenn die Entscheidung bis dahin nicht in ihrem Kopf und Bauch gefallen ist, wird sie als Erleuchtung mit den Sternschnuppen fallen.

 

Im Dämmerlicht hinter den geschlossenen Holztüren des Wandbetts blickt Gesa auf braune, grüne und blaue Muster. Allmählich erwachend erkennt sie die Umrisse der Kontinente und Meere auf der Weltkarte, die Marten und Kaija an die Decke des Alkovens geheftet haben. Nicht mehr im alten Zuhause, noch nicht im neuen (wo immer das sein mag), ist sie im Zwischenreich von Haus Tide gelandet. Neben ihr schläft Stella, Daumen im Mund, Knie angezogen und Po in die Luft gereckt, als läge sie noch im engen Bauch. Gesas Augen wandern über Nord- und Südamerika, die Antarktis. Ihre alte Reiselust, ihre herbstliche Sehnsucht nach dem Süden ist versiegt, nichts zieht sie mehr in die Ferne. Seit sie mit Matteo neue Kontinente entdeckt hat, ohne jemals das Land zu verlassen. Diese Neue Welt, ihr Amerika, hat es die ganze Zeit gegeben, gleich hinter der unsichtbaren Tapetentür ihres alten Lebens. Wie konnte sie den Lichtschein übersehen, der all die Jahre durch die Ritzen gedrungen sein muss? Auf einmal blitzte er auf, und sie hatte die Tür aufgestoßen und war hinausgetreten. »By now we know the wave is on its way to be. Just catch that wave, don’t be afraid of loving me …«

Ja, sie hat sich von der Welle erfassen, umwerfen, mitreißen lassen, sich verschlucken und kopfüber herumwirbeln lassen, sie hat die Welle eingefangen, ist auf ihr geritten, hat sich von ihr tragen lassen, bis sie wieder an Land gespült wurde, ausgerechnet ans Ufer ihrer Heimatinsel. Und hier ist sie gestrandet, Gesa Boysen, 47 Jahre alt, mitten im Leben, mitten zwischen zwei Leben, an ihrer Seite ein süß duftendes, taufrisches Leben – genau hier, wo sie selbst ursprünglich aufgetaucht ist, das Licht der Welt erblickt hat.

Gesa stößt die Türen des Wandbetts auf. Mittagssonne erfüllt den Raum in Haus Tide. Die Neue Welt ist noch nicht durchmessen, ihr Aufenthalt nur eine Atempause. Doch sie sieht kein Ziel am Ende des Weges. Kein Lichtschein verrät eine weitere Tür.

Ein Moment der Panik durchflutet Gesa, zum zweiten Mal an diesem Tag ermahnt sie sich, ruhig zu bleiben und zu atmen. In der Stille hört sie weder Matteos zauberischen Gesang noch Jochens »Komm zurück, Gesa«. In diesem Augenblick scheint es ihr möglich, dass sie hierher zurückgekehrt ist, um dies zu erinnern: dass nur auf eines Verlass ist, jenseits des Alkovens, des Hauses, des Deichs, auf das Kommen und Gehen der Gezeiten.

 

Kaija lässt das Fernglas wandern und hält Ausschau. Marten kniet neben ihr vor der Dachluke im Spitzboden, dem einzigen Fenster in Haus Tide, von dem aus man über den Deich blicken kann. Auf die See. An der Wasserkante weit draußen ist mit bloßem Auge nur ein heller Streif auszumachen.

»Lass mich mal!« Im Fernglas erscheint eine dichte Reihe pickender Vögel am Flutsaum. »Alpenstrandläufer, Pfuhlschnepfen, Knutts«, zählt Marten auf. »Cool, es werden immer mehr.« Er lässt den Blick über den Deich schweifen. »Rote Outdoorjacken, bunte Gummistiefel. Tatatata, die ersten Touris sind auch schon da!«

»Und wir müssen zurück nach Hamburg.« Kaija steht vorsichtig auf. Sie passt noch so eben unter die schräge Decke des Spitzbodens. »In die Schule und so ’n Scheiß.«

»Wir dürfen wieder nach Hause. Zu Papa.« Marten bleibt auf den Knien hocken. Ihm reichen die beiden Beulen von gestern. »Bloß weg, bevor der Italo hier auftaucht!«

»Pass auf, dass Mama das nicht hört!«

»Die hat mir gar nix mehr zu sagen!«

Gesa steht auf dem Treppenabsatz am Fuß der Leiter, Stella in einem Tuch vor die Brust gebunden. Bleib ruhig, er meint es nicht so. Es wird vorübergehen. Du bist erwachsen, du bist die Mutter. Sie tritt laut auf, als wäre sie in dieser Sekunde erst angekommen. »Hallo, ihr zwei! Wollen wir ins Watt spazieren? Vögel beobachten?«

»Oh ja! Gehen wir endlich rüber zur Hallig?« Kaija macht einen Hüpfer und stößt mit dem Kopf an die schräge Decke.

»Heute nicht, Pirat, dazu ist es noch zu kalt.« Sie betrachtet ihre Tochter von Kopf bis Fuß. »Aber wir könnten es dieses Jahr wagen. Allmählich bist du groß genug für den Priel.«

»Muss das da mit?« Marten zeigt auf das Tuch vor Gesas Brust.

»Ich denke schon, Marten. ›Das da‹ ist deine Schwester.«

»Halb.«

»Ich kann sie schlecht halb mitnehmen.«

Marten lacht. »Mal sehen. Nehmen wir die obere oder untere Hälfte?« Er feixt und macht eine Bewegung, die an den heiligen Martin mit seinem Schwert erinnert. »Rechte oder linke Hälfte?«

Gesa stolpert die Treppe hinunter. Sie sprudeln los wie die Milch, ihre Tränen, dagegen kann sie zurzeit nichts machen. Ebenso wenig gegen die Wut auf ihren Sohn, die sich hinter dem Brustbein ballt, als sie Kaija oben schluchzen hört. Sie will umkehren, ihm endlich die Meinung sagen. Dann steht ihr ein anderer Marten vor Augen, im Bett zusammengerollt in seinem Batmanshirt – ein Geschenk von Jochen, das Marten nachts seit Wochen ununterbrochen trug –, winselnd im Schlaf wie ein junger Hund, den man mit ebenjenen Füßen getreten hat, denen er vertrauensvoll hinterhergelaufen war.

Gesa kehrt noch einmal um. »Also gut, ihr beiden. Ich frag Omi, ob sie auf Stella aufpasst.«

»Ja, frag Ominge! Oder Kerrin.«

»Nein, Kerrin heute nicht mehr.«

 

*

 

Kerrin zielt und drückt ab. Yeah! Sie läuft zur Zielscheibe an der Scheunenwand und schaut nach. Mist! Die Patrone steckt fast in der Mitte, im Schwarzen, der Zehn, aber nur fast. Knapp vorbei ist auch daneben, so ist das beim Schießen. Nützt ja nichts, wenn man den Bock beinahe getroffen hat oder den Einbrecher oder wen auch immer. Nur ein Treffer ins Schwarze ist ein Sieg. Kerrin heftet eine neue Pappscheibe an die Wand, legt noch einmal an, zielt. Peng! Diesmal knapp vorbei auf der anderen Seite. Immerhin, sie wird stetig besser. Anfangs war sie froh, wenn sie die Scheibe überhaupt getroffen hat. Anfangs, das war gleich nach Ennos Einlieferung in die Klinik. Diese schreckliche Zeit. Diese unerträgliche Ungewissheit. Diese schlimmste Zeit ihres Lebens. Ein bösartiger Tumor, die Tage gezählt. Ennos Tage! Am Ende haben sie den Tumor herausoperiert, ihn angeblich vollständig entfernt, aber ein Tumor war es doch. In Ennos Kopf, Ennos Gehirn. Ennos Leben.

Komisch, es war Jochens Idee gewesen. Als Enno statt in ihrem Ehebett in der Klinik lag, unerreichbar, unansprechbar, ein stummes Gespenst, meinte Jochen, das könnte ihr helfen. Wenn sie das Schießen wieder lernte wie früher. »Wenn dir nichts Besseres einfällt!«, hatte sie den Schwager angefahren. Es kam ihr wie Verrat vor, Verrat an Enno. Jochen hatte ihr wortlos ein Taschentuch gereicht, denn ihr Vorrat war aufgebraucht für diesen Tag. Beim nächsten Besuch in Haus Tide, wo der Arme jetzt jedes Wochenende seine Kinder abliefert, weil Gesa es hier gemütlicher findet als zu Hause, drückte er ihr eine Schachtel in die Hand – Süße Versuchung zierte den Deckel in schnörkelig goldener Schrift. Auch Gesa hatte er bei der Ankunft eine Schachtel überreicht, aber ihre war größer. Gesas wiederum hatte eine rote Schleife. Es machte Kerrin verlegen. Solche Geschenke, während Enno in der Klinik lag. »Aber das wär doch nicht …«, setzte sie an, während es in der Pralinenschachtel klapperte, und Jochen unterbrach sie: »Schau erst mal rein.« Statt auf Trüffel und Kirschwasser fiel ihr Blick auf ein Hunderterpäckchen Zielscheiben aus Pappe und mehrere Packungen Munition. Flachkopf-Diabolos, Kaliber .177 in 4,48, 4,5 und 4,52 Millimeter. Der Mann hatte sich informiert. »Hoffe, es ist was Passendes dabei«, meinte Jochen. »Deine alte Knarre hast du doch bestimmt noch irgendwo unter der Matratze.«

Kerrin war kurz davor gewesen, ihm die Süße Versuchung vor die Füße zu werfen. Doch als sie den Deckel des Präsents wieder zuklappte, war ihr in der Tat mit einem Mal recht herzlich nach Schießen zumute. Andere Frauen bekamen Rosen und Pralinen, ihr überreichte man Pappscheiben und Patronen. Auch gut. Wie ihr wollt. Ohne ein weiteres Wort stieg sie die Treppe hinauf in ihr Schlafzimmer, Jochen mit ein paar Metern Abstand hinterher. Einen Moment blieb sie stumm vor dem Bett stehen und kostete es aus, dass die Verlegenheit nun ganz auf seiner Seite war. Unter der Matratze lag die Knarre nicht, sondern ganz hinten im Kleiderschrank, da, wo Männer nicht hinkommen, außer als Liebhaber in schlechten Filmen.

Schweigend war sie wieder hinunter in die angrenzende Scheune geschritten, Jochen noch immer auf ihren Fersen. Sie heftete eine Zielscheibe an die Wand. Nahm auf den ersten Griff die passenden Diabolos, Flachkopf 4,5 Millimeter – seltsam, so was vergisst man nicht –, lud das Gewehr. Und peng! Voll daneben. Glatt in die Scheunenwand. »Siehst du!«, hatte sie gerufen und die Flinte ins Stroh geworfen. Direkt neben Heide, Schnucke und die Lämmer, die erschrocken davonsprangen. Daraufhin hob Jochen das Gewehr auf und legte selbst an. Paff! Noch voller daneben. So was von daneben. Dass es keinen Lammbraten gab an dem Abend, war alles. Meine Güte, so schwer war es nun auch wieder nicht! Sie nahm ihm die Waffe aus der Hand. Ihr nächster Schuss ging in die Scheibe, ziemlich gut sogar, gleich in die sechs oder sieben. Tja, und dann hatte es sie gepackt.

Natürlich gab es Rückschläge, doch seitdem hat sie fast täglich geübt, und so langsam wird es. Knapp daneben wie eben oder Volltreffer, das ist jetzt der Standard. Kerrin legt noch einmal an. »Alte Knarre« traf es ganz gut, ihr Luftgewehr war noch eins mit unbeweglicher Kimme und Korn. Beim Zielen muss das Korn, die kleine Erhebung vorne am Lauf, mit seiner Oberkante eine Linie mit der Oberkante der Kimme bilden, der kleinen Aussparung am hinteren Ende des Gewehrs, »gestrichen Korn« nennt sich das, jawohl. Diese Linie wiederum muss unterhalb des Ringspiegels der Schießscheibe angesetzt werden und das Korn mittig unterhalb der Zehn. Das ist durchaus zu schaffen, dazu braucht sie keinen Diopter, kein Zielfernrohr, keine Schießhandschuhe und übrigens auch kein Abitur. Gute Augen, eine ruhige Hand und Konzentration, das ist alles. Und selbstverständlich schießt sie noch freihändig! Eine Stütze für tattrige Hände, wie sie ihr ab 46, also seit nunmehr fünf Jahren erlaubt wäre – das kommt wohl knapp vor dem Rollator.

Kerrin nimmt das Ziel aufs Korn, schießt … Volltreffer! Das Diabolo, das Patronenteufelchen, hat sich volle Kraft voraus in die Zehn gebohrt. Doch das ist kein Grund, selbstzufrieden die Hände in den Schoß zu legen, sondern erst der Anfang. Kerrin übt jetzt so lange, bis sie sieben Mal hintereinander ins Schwarze trifft. Denn mit dem Schießen, so viel weiß sie, ist es wie mit fast allem im Leben: Übung macht die Meisterin. Übung, Ausdauer und ein Ziel vor Augen. Talent wird sehr überschätzt.

»Und ja, Jochen«, sagt Kerrin, während sie ein neues Teufelchen nachlädt, »es hat mir geholfen!« Nach jedem Klinikbesuch ist sie als Erstes in die Scheune gegangen. Nach all den Apparaten, Wartezimmern, Warteschleifen, nach den Patientengesprächen, bei denen vor allem der Arzt sprach, tat es gut, den Lauf der Dinge wieder selbst in die Hand zu nehmen, auch wenn es sich nur um einen Gewehrlauf handelte. Dennoch, sie hat ein schlechtes Gewissen. Enno mochte keine schießende Ehefrau, deshalb ließ sie es damals ja bleiben. Unweiblich fand er das, genau wie Frauen in der Armee. Kerrin blickt über die Kimme und nimmt die Zehn aufs Korn. Aber war es vielleicht weiblich, sich überwältigen und auf den Boden drücken und … und … Wie war das noch mit der ruhigen Hand? So hat es jedenfalls keinen Sinn. Kerrin lässt das Gewehr sinken. Schluss für heute. Aber eines Tages wird sie es schaffen. Genau daran zu denken, an diese beiden über ihr schwitzenden, verzerrten Visagen, und ihnen je ein feines kleines Loch in der Mitte der Stirn zu verpassen.

Kerrin packt, noch immer zitternd, ihre Utensilien zusammen, beseitigt alle Spuren. Was sie in dieser Scheune neuerdings treibt, geht niemanden etwas an. Sie ist jetzt Strohwitwe, wird es noch viele Monate bleiben, und das hier ist ihr schmutziges kleines Geheimnis. Die Süße Versuchung wird mitsamt der Scheiben und Patronen weggeschlossen. Doch weiterhin stichelt das schlechte Gewissen. Auch weil sie gleich nach Ennos Abreise wieder damit angefangen und es ihm bis heute nicht erzählt hat. Keine Heimlichkeiten mehr in der Ehe, das hat sie ihm versprochen, um das verlorene Vertrauen wieder aufzubauen. So wahnsinnig erpicht auf ihren Schwur schien Enno aber gar nicht gewesen zu sein, in Gedanken schon abwesend, in der Karibik oder an sonst einem fernen blauen Ort, den sie selbst vermutlich niemals zu Gesicht bekommen wird. Doch das ändert nichts, sie hat es auch sich selbst geschworen. Schluss mit Lügen und Heimlichkeiten. Andererseits: Auch er hat sie mit dem verheimlichten Tumor in Angst und Schrecken versetzt. Und wo ist er jetzt bitte, ihr Enno? Ohne sie auf Weltreise gegangen! Seinen Lebenstraum wahr machen, nachdem er dem Tod ins Auge geblickt hat, sich einmal ausruhen und vergnügen, nachdem er sein Leben lang hart gearbeitet und für andere gesorgt hat – wer mochte ihm das verdenken? Sie jedenfalls gönnt es ihm, gönnt es ihm von Herzen, so sehr, dass sie als Beitrag zum Reisebudget ihre sämtlichen Ersparnisse für ihn geopfert hat. Nicht zum ersten Mal.

Kerrin seufzt. Es beunruhigt sie, dass es jetzt keinerlei Rücklagen mehr gibt für ein neues Reetdach, für Inkas Studium, Karstens Rückkehr nach Deutschland, für unvorhergesehene Ausgaben aller Art, die ungewisse Zukunft. Trotzdem, sie würde es wieder tun. Enno war jedes Opfer wert. Es macht sie glücklich, sich vorzustellen, dass er glücklich ist. Aber warum zum Teufel und Diabolo, warum nur ohne sie?

 

Als Kerrin aus der Scheune tritt, weht kühler Westwind ihr eine Prise Salzluft in die Nase. Sie kann die Wellen hinter dem Deich anbranden hören, es ist Flut. Auf der Wiese vor dem Haus biegen sich Osterglocken und Tulpen auf langen Stängeln. Veilchen bilden Farbinseln im saftig grünen Gras. Die dem Wind ausgesetzten Bäume sind nach wie vor fast kahl, die windgeschützteren haben zaghafte hellgrüne Blättchen getrieben; es ist alles noch viel winterlicher als auf dem Festland. Hier und da sind die Sturmschäden vom Jahresende sichtbar, von mehreren Bäumen mussten dicke Äste, die gebrochen waren, abgesägt werden.

Kerrin lehnt sich mit dem Rücken an den Stamm des Birnbaums. Bäume sind hier schwer zu ersetzen, sie wachsen langsam, sie werden nicht hoch und selten alt. Den alten Birnbaum hat es besonders getroffen. Eigenhändig hat sie zur Säge gegriffen – mit Enno war nichts anzufangen seit der Tumordiagnose – und ihren geliebten Baum amputiert. Rotz und Wasser hat sie geheult, während Äste und Zweige zu Boden krachten, zum Glück hat es niemand gesehen. Ihre Finger tasten über den zerklüfteten grauen Stamm. Das ist die Hauptsache: Der Birnbaum hat’s überstanden, auch Enno hat’s überstanden, den Schock, die Klinik, die Operation, und sie alle zusammen den Winter. Erde und Pflanzen riechen nach Wachstum und Vermehrung, Schafe und Lämmer springen tagsüber im Freien über die Wiesen, Gänse und Knutts kommen täglich in größeren Scharen, es liegt was, es fliegt was in der Luft. Frühling. Ihr erster Frühling ohne Enno seit werweißwievielen Jahren. Und das ist erst der Anfang eines langen, ennolosen Jahres.

Kerrin beugt sich über ihre Sprösslinge, Salat, Radieschen, Kohlrabi, Rettich, Kräuter. Es wird höchste Zeit, die Pflänzchen ins Freie zu setzen, um Platz im Frühbeet zu schaffen. Aber das ist hier immer so eine Sache, man weiß nie, ob nicht noch ein paar Frühjahrsstürme über die Insel fegen und die künftige Ernte verhageln. Der Himmel hat soeben von Pastellblau ins Bleigraue gewechselt. Ein Gänseschwarm zieht schnatternd über das Haus, lässt sich in einiger Entfernung auf der Weide der nächsten Nachbarn nieder. Bei Frerksens. Da sollen sie ruhig bleiben mitsamt ihren Hinterlassenschaften und das Gras kurz und klein fressen. Hatte dieser Frerksen doch die Stirn, sich beim ersten Gerücht von Inges Tod nach dem Preis von Haus Tide zu erkundigen. Dieser Geier, der es nicht abwarten kann, sich Haus und Grund seiner Nachbarn einzuverleiben!

In größerem Abstand als zuvor drückt Kerrin tiefe Mulden in die Erde, dazu braucht sie keinen Pikierstab, ein einfacher Stock genügt. Behutsam nimmt sie einzelne Setzlinge aus dem Boden und löst die Verwurzelungen. Nun kommen die künftigen Salatköpfe in die Mulden, alles wird mit Erde aufgefüllt und vorsichtig angedrückt. Frerksen jedenfalls, diesem Geier, sind die Gänse zu gönnen. Eigentlich sind Gänse, wenn sie nicht gerade in Scharen einfallen, gar keine so schlechten Tiere. Sie leben und fliegen im Familienverband, die Paare halten einander die Treue und die Familien zusammen wie Pech und Schwefel. Warum, fragt sich Kerrin, als sie die Pflänzchen angießt, frisch pikiert, ist das nicht auch bei den Menschen so?

In den meisten Familien, die sie kennengelernt hat, und auf einer Insel lernt man so einige kennen, sah es hinter den auf Hochglanz geputzten Fassaden ziemlich schäbig aus. Was da alles unter den Teppich gekehrt wurde – die Böden müssten Wellen schlagen. Im Haus ihrer eigenen Familie, in der sie in der weniger feinen Ecke der Insel heranwuchs, gab es keine Schauseite, keine Diele, man fiel holterdipolter mit der Tür in die unaufgeräumte Stube einer alleinerziehenden Mutter. Deshalb hatte Kerrin lange gebraucht, um zu durchschauen, dass ein makelloses Äußeres nicht unbedingt ein perfektes Innenleben widerspiegelt. Auch nicht bei der Familie Boysen.

In der ersten Zeit ihrer Ehe war Kerrin oft steif vor Respekt und stumm vor Furcht gewesen. Dabei waren alle freundlich zu ihr in Haus Tide, ja doch. Aber was wussten sie davon, welche Panik einen überfluten kann, wenn man schräge Blicke bemerkt und nicht weiß, was verkehrt ist an der Bluse, die man trägt, an dem Tisch, den man eingedeckt hat, an den Filmen, die man sieht, oder an den Wörtern, die man verwendet? Sie hat versucht, sich keine Blöße zu geben, nicht nachzufragen und die Dinge selbst herauszufinden. Hat sich Notizen gemacht, ein Wörterbuch angelegt und dazugelernt. Keine neonfarbene Kleidung, keine Leopardenmuster und Dauerwellen, keine Vorabendserien und Verkaufssendungen. Illustrierte sollten möglichst wenig Promis, nackte Busen oder bunte Bilder enthalten, Filme weder zu viel Blut noch Herzschmerz, Romane keine Helden und Bösewichte und nur wenige Adjektive (= Wiewörter), Erfrischungsgetränke keinen Farbstoff und Zucker. Kurz und gut, das Leben sollte nicht heiß und fettig, nicht zu laut, süß, üppig oder farbig sein, sondern alles dezent heruntergedimmt.

Selbst heute noch macht sich Kerrin manchmal Notizen, nur ist es bedeutend einfacher als zu Anfang ihrer Ehe, weil man fast alles im Internet findet. Sie hat dazugelernt, dass nicht alles Gold ist, was glänzt, nicht einmal bei den Boysens. Die Ehe zwischen Inge und Willem (Gott hab ihn selig) kam ihr nicht übermäßig glücklich vor. Dann der ewige Bruderzwist zwischen Enno und Boy. Berit, die nie eine eigene Familie und Kinder haben wird. Gesa wiederum, die ihre Familie leichtfertig zerstört, weil sie in ihrem Alter noch ein außereheliches Baby kriegen muss. Mit einem Liebhaber, der sie sowieso bald verlassen wird. Der Mann ist Ende zwanzig und Italiener, Herrgott noch mal! Und neuerdings das Gezerre um Haus und Geld, das ausgebrochen ist, nachdem Inge gestorben … also kurz tot war. Wenn ihre Schwiegermutter einmal wirklich ernst macht – das kann heiter werden.

Als Kerrin über dem Holzrahmen des Frühbeets den Glasdeckel schließt, spiegelt sich ein blitzblauer Himmel darin. Keine einzige Wolke weit und breit, als hätte es nie eine gegeben. Gleich morgen wird sie Möhren, Erbsen und Mangold aussäen. Vielleicht bald auch Sommerastern und Margeriten, obwohl alles, was zum bloßen Vergnügen blüht, Inges Hoheitsbereich ist. Einmal hat Kerrin gewagt, den Rosenstock über dem Rundbogen der Haustür zurückzuschneiden. Einmal und nie wieder – im Rosenkrieg mit Inge hat sie kapituliert. Aber sie kann ja Blumen für das große Fest pflanzen, auf die Wiese, wo die lange Tafel stehen wird. Ringelblumen, Löwenmäulchen und Inkas Lieblingsblumen, Klatschmohn. Obwohl – was weiß sie noch über Inkas Lieblingsblumen? Vielleicht sind es jetzt schwarze Tulpen, weiße Lilien, Witwenblumen und Teufelskrallen. Hauptsache morbide. Manchmal kommt es Kerrin vor, als wäre ihre Tochter im Auslandsschuljahr nicht in Petersburg, sondern auf einem anderen Stern.

Der Doppelgeburtstag mit ihrer Großmutter war Inkas Idee gewesen. Kerrins Zureden, die Volljährigkeit lieber bei einer großen Party mit Gleichaltrigen (und natürlich den Eltern) zu feiern anstatt zusammen mit den ganzen alten Leuten, hat nichts gefruchtet. Schließlich stellte sich heraus, dass dieser verfluchte Komet dahintersteckte. Der konnte Inkas Ansicht nach nur ein Zeichen des Himmels sein! Nicht nur, dass sie einen Tag nach ihrer geliebten Ominge Geburtstag hatte, zudem würde im selben Jahr, in dem Inge achtzig und sie selbst achtzehn wurde, »Fortune« auf die Insel niedergehen. Oder nein, neben der Insel ins Meer schlagen, sprach Inka mit leuchtenden Augen, während ihr die pechschwarz gefärbten Haare ins Gesicht fielen, und eine große Flutwelle würde sie alle davontragen, Alte und Junge, Greise und ungeborene Kinder, Liebende und Hassende, Freund und Feind, Wölfe und Lämmer, Torten und Braten, Gläser und Gabeln; die Tische würden zu Flößen werden und die Tischdecken zu Segeln, doch niemand würde der gewaltigen Welle standhalten, und alles, was von ihnen übrig bliebe, wären die Korken der Champagnerflaschen, die auf der totenstillen See trieben …

An diesem Punkt hatte Kerrin Inka zum Schweigen gebracht. Diese euphorische Stimme, die krankhafte Begeisterung, mit der ihre Tochter, deren Leben erst anfing, ihrer aller Ende beschwor! Das Schlimme war, dass Kerrin selbst in dunklen Momenten eine solche Katastrophe kommen sah. Am besten wäre es, die Feier zu verschieben, in der Zeit zu verreisen und die Schotten dicht zu machen. Aber Inge und Gesa hatten für ihre Ängste nur spöttisches Lächeln übrig, Enno war weit fort, und Inka … Inka wusste einfach nicht, wovon sie redete.

Kerrin trägt Pflanzenreste zum Kompost, der wiederum ganz allein ihr Hoheitsbereich ist. Sie ist sich nicht zu fein dazu, die Garten- und Küchenabfälle zu drehen und zu wenden, bis sie sich, belebt von Abermillionen winziger Wesen, in erstklassigen Dünger für die Nahrung der Zukunft verwandeln. Ein ermutigender Vorgang: Aus allem kann noch etwas werden. Im Komposthaufen stochernd prüft Kerrin, ob er gut durchgerottet ist, langt mit der bloßen Hand hinein und führt etwas braungraue Masse unter Augen und Nase. Bei so was hilft die Herkunft vom unfeinen Ende der Insel. Eigene Gärten hatten die Häuser nicht in der »Asisiedlung«, wie die Reetdachkinder, die in ihrem Leben noch keine Asisiedlung gesehen hatten, ihr Viertel nannten, aber Gelegenheit, sich die Hände schmutzig zu machen, gab es reichlich. Während Kerrin die Hände an der Gartenschürze abwischt, drängt sich der Gedanke auf, dass in ihrer eigenen kleinen Familie auch nicht alles rosig aussieht. Wenn sie nur an Inka und ihre Heimkehr denkt. Inka, die im Juli volljährig wird und ein Recht hat, alles zu erfahren … So ist es versprochen. An ihrem achtzehnten Geburtstag werden sie ihr sagen, wer ihre leibliche Mutter ist. Und das ist noch das kleinere Problem. Denn natürlich wird Inka auch nach dem Vater fragen.

Gerne würde Kerrin jetzt eine Runde Holz hacken, schade, dass im Frühjahr so wenig gebraucht wird. Das ist für sie die reinste Entspannung, viel besser als Yoga, Autonomes Training und wiesiealleheißen. Wie wäre es stattdessen mit einem zünftigen Frühjahrsputz? So lange scheuern und wienern, bis in jeder Ecke und unter jedem Teppich alles spiegelblank ist. Man fühlt sich selbst so auf Hochglanz hinterher.

Mit einer Handvoll Schnittlauch und Petersilie betritt Kerrin die Diele, schnuppert und läuft in die Küche. Mist! Sie eilt zum Ofen, dreht die Temperatur herunter, zieht die Auflaufform heraus. Zum Glück ist nur die Käseschicht etwas angebrannt, den Rest kann man essen. Jetzt hat sie über ihren Radieschen und Hochglanzgedanken die Zeit vergessen. Aber ist sie denn die Einzige hier im Haus? Gesa hätte ja auch mal was merken können, oder?

Doch Gesa liegt im Alkoven, malerisch dahingegossen neben dem schlummernden Baby, und schläft den Schlaf der Gerechten. Ausgerechnet Gesa! Eine Frau, die aus reinstem Egoismus ihre Familie auf dem Gewissen hat, einen Mann wie Jochen, den ihr eine Menge Frauen liebend gerne abnehmen würden, zwei wunderbare Kinder, während andere Frauen sich verzweifelt Kinder wünschen … Aber bei Gesa muss als Zugabe ein drittes her, so ein illegitimes Südfrüchtchen, wie Enno es nennt, mit rabenschwarzem Haar. Stella, der Stern. Einen Moment denkt Kerrin daran, dass sie selbst nach ihrer Geburt tagelang namenlos geblieben war. Ihrer Mutter war einfach nichts eingefallen. Schließlich bekam sie den Namen einer alten Tante, die Einzige weit und breit in der Verwandtschaft, die ein wenig Geld und Gut besaß. Doch das behielt Tante Kerrin, auch nachdem man sie zu ihrer Patentante gekürt hatte, weiterhin schön für sich.

Da liegt nun dieses winzige Wesen mit dem Daumen im Mund, einem Schopf seidenweicher Haare, öffnet die Augen mit den langen Wimpern und sieht dich an, ganz ernst, und dir werden die Knie butterweich. Du streckst die Arme nach der Kleinen aus, sie lässt sich von dir aufnehmen, mit ihrem leichten Silberblick blickt sie mitten hinein in dein nun auch butterweiches Herz – obwohl es nicht dein Kind ist und du selbst zwei großgezogen hast und viele andere auf die Welt geholt. Aber dieses Wesen, das ungerufen in diese Familie platzte, das du jetzt die Treppe hochträgst in dein Schlafzimmer, dieselben Treppenstufen, die du so oft mit Inka auf und ab gestiegen bist, leise singend, »kommt ein Vogel geflogen, setzt sich nieder auf mein’ Fuß«, dieses Kind bricht dir das Herz, beinahe wie Inka damals, und du merkst, ein wenig erschrocken, es ist auch dasselbe Lied, das du Inka so oft vorgesungen hast, »hat ein Zettel im Schnabel, von der Mutter ein’ Gruß«. Nur dass du Inka behalten durftest.

Im Schlafzimmer sieht Kerrin sich selbst mit Stella auf dem Arm im Spiegel. Und gleich daneben, vom Nachttisch neben ihrer Seite des Doppelbetts schauen ihr aus dem Bilderrahmen eine unfassbar junge Kerrin und ein unfassbar junger Enno entgegen. Enno hat einen Arm um ihre Schultern gelegt, mit dem anderen umfasst er Karsten, während sie selbst Inka hochhebt und lächelnd in die Kamera hält.

»Lieber Vogel, flieg’ weiter, nimm ein’ Gruß mit und ein’ Kuss«, singt Kerrin und hebt die glucksende Stella hoch in die Luft, »denn ich kann dich nicht begleiten, weil ich … weil ich hierbleiben …« Auf einmal kann sie den Anblick von Ennos unberührtem Bettzeug nicht länger ertragen. Mit der freien Hand reißt Kerrin erst das Kopfkissen, dann das Oberbett herunter, schleift es über den Boden und stopft es in den Kleiderschrank, der auf Ennos Seite so gut wie leer ist. Noch sehr lange leer bleiben wird. Sie schließt die Schranktür mit einem Tritt.

»Stella!?«, dringt es aus der unteren Etage zu ihr hoch. »Wo ist Stella?«

Im selben Moment beginnt das Baby zu weinen. Was ist das für eine Stimme? Was macht diese Frau in ihrem Haus? Schweigend bleibt Kerrin stehen, mit dem Kind auf dem Arm, bis die Stimme und mit ihr die Gegenwart unüberhörbar zu ihr vordringt. »Kerrin, hast du sie?!«

Rasch steigt Kerrin die Stufen zu Gesa hinab, weicht ihrem Blick aus und legt ihr das Baby in den Arm. Sie dreht sich um, läuft die Treppe wieder hoch, um so viel Abstand wie möglich zu legen zwischen Gesa und etwas, das in ihrer Kehle aufsteigt wie ein vergiftetes Apfelstück.

Oben im Schlafzimmer steht Kerrin still, mit nun leeren Armen, dem Spiegel zugewandt. Lässt den Blick wandern zwischen der jungen Foto-Kerrin im Kreis ihrer Lieben und der Spiegelbild-Kerrin von hier und heute, vor dem verlassenen Ehebett, dem leeren Nest. Das also ist aus ihr geworden: eine Frau in den Fünfzigern, Hebamme ohne Babys, »Familienmanagerin« ohne Familie, der Sohn zum Studium in den Staaten (wer weiß, ob er je zurückkommt), die Tochter zum Auslandsschuljahr in Russland (und ansonsten auf ihrem eigenen schwarzen Planeten), der Mann auf Weltumrundung per Traumschiff. Nur sie ist allein zurückgeblieben, um die Stellung zu halten, zu behüten und zu bewahren (das Haus, den Garten, die alte Mutter, das Baby der treulosen Schwägerin), bis die Herrschaften es sich einfallen lassen, heimzukehren – oder auch nicht.

»Das hättest du dir nicht träumen lassen, was?«, sagt Spiegelbild-Kerrin zu Foto-Kerrin. Aber dann fällt ihr auf, dass die lächelnde Kerrin im Fotorahmen sich gar nicht besonders wohlzufühlen scheint in ihrer sommersprossigen, jungen Haut. Linkisch steht sie da, mit schiefer Schulter unter Ennos Hand, das Baby umklammernd wie einen … Was für ein Unsinn, befindet die Kerrin von heute und nimmt das Bild zur Hand, du warst glücklich damals, ihr wart alle glücklich. Sie pustet den Staub vom Glas, nimmt das Foto aus dem Rahmen, legt es in Ennos leer geräumte Schublade. Und nun? Was nehmen wir stattdessen?

Kerrin sitzt auf dem Bett, umgeben von in Stapel sortierten Bildern. Eins nach dem anderen nimmt sie auf, prüft es und legt es zurück. Ihr Kopf fühlt sich an, als würde er gleich platzen. Sie öffnet das Fenster, und als ein heftiger Windstoß in die Stapel fährt, beginnen die Bilder zu flattern, auseinanderzurutschen. Kerrin nimmt den leeren Rahmen und stellt ihn an den alten Platz auf ihrer Seite zurück.

 

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