Die Gräber der Netherfields - Joseph Smith Fletcher - E-Book

Die Gräber der Netherfields E-Book

Joseph Smith Fletcher

0,0

  • Herausgeber: Heimdall
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

Der Archivar Middlebrook wird von Francis Raven, dem Schlossherrn auf Ravensdene Court, eingeladen, alte Dokumente und Bücher zu sichten und zu archivieren. Bereits bei der Wanderung zum Schloss trifft er auf einen seltsamen Seemann, der auf der Suche nach den Gräbern der Familie Netherfield ist. Am nächsten Tag findet Middlebrook am Strand die Leiche des Seemanns ... er ist ermordet worden! Als man die Familie des Ermordeten informieren will, stellt sich heraus, dass auch der Bruder am gleichen Tag und auf gleiche Weise getötet wurde! Welches Geheimnis trugen die Brüder mit sich? Warum suchten sie nach den Gräbern der Netherfields? Middlebrook gerät in ein Abenteuer – als er gemeinsam mit der Nichte des Schlossherrn auf eine Segeljacht entführt wird, lichten sich die Geheimnisse ...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 261

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.ddb.de abrufbar.

Hergestellt in Deutschland • 1. Auflage 2017

© Heimdall Verlag, Devesfeldstr. 85, 48431 Rheine,

www.heimdall-verlag.de

© Alle Rechte beim Verlag

Satz und Produktion: www.lettero.de

Gestaltung: © Matthias Branscheidt, 48431 Rheine

ISBN: 978-3-946537-01-4

Weitere Krimis der 20er, 30er und 40er Jahre

als E-Book, Print- und Hörbuch unter:

www.heimdall-verlag.de

www.meinaudiobuch.de

Über das Buch

Der Archivar Middlebrook wird von Francis Raven, dem Schlossherrn auf Ravensdene Court, eingeladen, alte Dokumente und Bücher zu sichten und zu archivieren. Bereits bei der Wanderung zum Schloss trifft er auf einen seltsamen Seemann, der auf der Suche nach den Gräbern der Familie Netherfield ist. Am nächsten Tag findet Middlebrook am Strand die Leiche des Seemanns ... er ist ermordet worden! Als man die Familie des Ermordeten informieren will, stellt sich heraus, dass auch der Bruder am gleichen Tag und auf gleiche Weise getötet wurde! Welches Geheimnis trugen die Brüder mit sich? Warum suchten sie nach den Gräbern der Netherfields? Middlebrook gerät in ein Abenteuer – als er gemeinsam mit der Nichte des Schlossherrn auf eine Segeljacht entführt wird, lichten sich die Geheimnisse ...

1. Das Gasthaus in den Klippen

Am 8. März 1921 brach ich von London nach Ravensdene Court auf. Erst zwei Wochen früher hatte ich erfahren, dass ein solcher Platz überhaupt existierte; aber das ist nicht verwunderlich, denn Ravensdene Court liegt an einer verlassenen Stelle der Küste von Northumberland. Ende Februar erhielt ich einen Brief, den ich ungekürzt wiedergeben möchte, denn er war die Einleitung zu einer Reihe sonderbarer, geheimnisvoller und gefährlicher Abenteuer. Ich wundere mich heute noch, dass ich sie bestand und heil davonkam.

»Ravensdene Court bei Alnwick, Northumberland,

den 24. Februar 1921.

Sehr geehrter Herr,

Mein Freund, Mr. Gervase Witherby, mit dem Sie auch gut bekannt sind, teilte mir mit, dass Sie einer der erfahrensten Experten für alte Bücher, Urkunden und dergleichen sind. Sie wären infolgedessen die geeignete Persönlichkeit, eine alte Bibliothek ihrem Wert nach zu schätzen und zu ordnen, und ich würde mich sehr freuen, wenn Sie diese Aufgabe übernehmen wollten.

Durch Erbschaft kam ich kürzlich in den Besitz dieses alten Gutes an der Küste von Northumberland, das seit Hunderten von Jahren einem Zweig meiner Familie gehörte. In der hiesigen Bibliothek befinden sich mehrere tausend teilweise sehr alte Bände, außerdem Broschüren, Handschriften, Dokumente und Zeitschriften. Mein Onkel, John Christopher Raven, war zwar ein großer Sammler; aber soweit ich die Sache bis jetzt übersehen kann, hielt er weder viel von Ordnung, noch ging er methodisch vor. Einen Flügel des Herrenhauses muss man mehr oder weniger als ein Museum bezeichnen, in dem Bücher, Papiere und Antiquitäten wahllos auf gestapelt sind. Ich bin weder ein Gelehrter noch ein Kenner und verstehe wenig von diesen Dingen; bis vor kurzem war ich im Dienste der englischen Regierung als Finanzbeamter in Indien tätig. Trotzdem ist es aber mein Wunsch, diese großen Sammlungen durch einen namhaften Gelehrten sachgemäß ordnen zu lassen, der mir auch für die zukünftige Fortsetzung und Erweiterung derselben Ratschläge erteilen kann. Ich wäre Ihnen daher zu großem Dank verpflichtet, wenn Sie als mein Gast hierherkommen und sich dieser Aufgabe widmen würden. Die Berechnung des Gehaltes für Ihre Tätigkeit überlasse ich vollkommen Ihrem Ermessen. Allerdings kann ich Ihnen nicht versprechen, dass der Aufenthalt hier sehr interessant für Sie sein wird, denn wir leben hier in einer sehr einsamen Gegend, und meine Familie besteht nur aus mir und meiner Nichte, einem jungen Mädchen von neunzehn Jahren. Aber vielleicht finden Sie in Mr. Septimus Cazalette, der eine hervorragende Autorität auf dem Gebiete des Münzwesens ist, einen angenehmen Gesellschafter. Er hält sich hier auf, um die ausgedehnten Sammlungen von Münzen und Plaketten, die mir mein Onkel hinterlassen hat, zu ordnen und zu bearbeiten. Das Klima ist hier an der See erfrischend und wohltuend. Sie werden in meinem Hause herzlich willkommen sein, und ich werde alles tun, was in meinen Kräften steht, um Ihren Auf enthalt hier so angenehm wie möglich zu gestalten. Indem ich hoffe, dass ich Sie bald hier begrüßen darf, verbleibe ich mit den verbindlichsten Grüßen Ihr ergebener

Francis Raven.«

Verschiedene Punkte in dem Brief bestimmten mich dazu, die Einladung nach Ravensdene Court anzunehmen. Der alte Herrensitz, die Tausende interessanter Bände und die Aussicht, vielleicht unbekannte Schätze zu entdecken, lockten mich. Vor allem gefiel mir der höfliche und wirklich liebenswürdige Ton dieser Einladung. Ich hatte gerade nicht viel zu tun; auch war ich in den letzten Jahren kaum einige Tage von London entfernt gewesen. Eine Reise in dem Norden besaß also große Anziehungskraft für mich. Nach einem kurzen Briefwechsel mit Sir Francis Raven kamen wir überein, dass ich Anfang März nach Ravensdene Court übersiedeln und bis zur Vollendung meiner Arbeit dort bleiben sollte.

Ich fuhr also am 8. März mit dem Nachmittagsschnellzug vom King’s Cross-Bahnhof ab. Die Nacht brachte ich in Newcastle zu und reiste am nächsten Morgen nach Alnmouth weiter. Diese Eisenbahnstation lag Ravensdene Court am nächsten. Kurz nach meiner Ankunft in Alnmouth begann auch schon das erste Kapitel meiner Abenteuer.

Es war ein besonders schöner, klarer Morgen, und da ich nicht gebunden war, zu einer bestimmten Zeit in Ravensdene Court anzukommen, entschloss ich mich, den Weg an der Küste entlang zurückzulegen. Die Entfernung dorthin betrug etwa sechzehn bis achtzehn Kilometer, wie ich aus meiner Karte festgestellt hatte. Ich sandte daher mein Gepäck mit einem Fuhrwerk voraus und schickte zugleich einen Brief an Mr. Raven, dass ich im Laufe des Nachmittags eintreffen würde.

Ich wanderte also durch das Dorf Lesbury zur Küste zu, und es dauerte nicht lange, bis ich das große, gewaltige Meer vor mir hatte, das sich schwarzblau in weite Feme hin erstreckte. Es war an diesem Tage spiegelglatt wie ein Landsee, und seine Oberfläche glänzte wie polierter Stahl im Licht der Frühlingssonne. Weit und breit war nach Norden, Süden oder Osten weder ein Segel noch die Rauchfahne irgendeines vorüberfahrenden Dampfers zu sehen. Ich stand unter dem Eindruck einer unendlichen Stille, die mir wie ein Vorspiel zu der Einsamkeit erschien, in die mich meine Aufgabe führen sollte.

Ich war damals ungefähr dreißig Jahre alt. Meine Jugend hatte ich in verlassenen Gegenden zugebracht, und ich besaß eine angeborene Vorliebe für Einsamkeit und eindrucksvolle Landschaftsbilder. Ich wusste sofort, dass ich diese Küste von Northumberland liebgewinnen würde; ich ließ mir genügend Zeit und wanderte mit Muße. Mr. Raven hatte in einem seiner Briefe erwähnt, dass um sieben Uhr zu Abend gespeist würde. Ich hatte also noch den ganzen Tag vor mir. Gegen Mittag schien die Sonne fast sommerlich heiß, so dass ich mich ruhig auf dem Rand der Klippen niederlassen konnte. Ich rauchte eine Pfeife und schaute in Gedanken versunken auf die unendlich weite Wasserfläche, auf der einst die Wikinger von Norwegen herübergekommen waren. Aber nach einiger Zeit sah ich überrascht auf, als ich plötzlich erkannte, dass ein Mann dicht in meiner Nähe stand und mich verstohlen beobachtete.

Ich war verwundert, in dieser Einsamkeit und Stille noch einem anderen lebenden Menschen zu begegnen. Landeinwärts konnte man weit und breit weder eine menschliche Wohnung noch einen Schuppen oder einen Schafstall entdecken. Zwar war das Gekreisch der Möwen zu hören, die um die Klippen flogen, aber erst die Stimme dieses Mannes, der mir ruhig »Guten Morgen!« wünschte, schien das große Schweigen zu brechen. Ihr Klang erschreckte mich fast, ich fuhr aus meinen Träumereien auf. Ich erwiderte den Gruß und musterte den Fremden. Er war von mittleren Jahren, untersetzt und trug einen sauberen, blauen Seemannsanzug. Die Farbe stand gut zu seiner sonnengebräunten Haut, seinem graumelierten Kopf und Barthaar und seinen goldenen Ohrringen. Er schien Zeit und Muße zu haben.

»Ein schöner Morgen«, bemerkte ich, denn ich war nicht abgeneigt, eine Unterhaltung mit ihm zu beginnen. Er hatte irgendwie mein Interesse erweckt.

»Ja, da haben Sie recht. Ein schöner Morgen und schönes Wetter. Wird wahrscheinlich anhalten«, meinte er und betrachtete See und Himmel kritisch.

Dann sah er auf meine Touristenkleidung und den kleinen Rucksack, den ich auf dem Rücken trug.

»Das richtige Wetter für Herren, die zu ihrem Vergnügen das Land durchstreifen wollen.«

»Sie kennen sicher diese Gegend sehr genau?«

»Nein«, entgegnete er kopfschüttelnd. »Ich stamme aus dem Süden und bin früher niemals hier gewesen. Es ist komisch. Fast die ganze Welt habe ich gesehen, aber hierher bin ich nie gekommen, obwohl meine Mutter in dieser Gegend geboren ist. Und da ich nichts Besonderes vorhatte, wollte ich mich einmal gern hier umsehen, denn ich habe schon viel von dieser Küste gehört.«

»Dann halten Sie sich wohl jetzt hier in der Nähe auf?«

Er hob eine seiner braunen, haarigen Hände und zeigte mit dem Daumen landeinwärts.

»Vorige Nacht habe ich in Lesbury übernachtet. Aber eigentlich wollte ich mich nach einem oder vielleicht auch mehreren Kirchhöfen umtun. Ich suche einen Namen auf alten Gräbern, aber ich weiß nicht genau, wo ich diese Kirchhöfe finden soll. Irgendwo zwischen Alnmouth und Bradnall Bay müssen sie liegen.«

»Ich habe eine gute Karte, vielleicht kann Ihnen die nützen.«

Er nahm sie dankend, entfaltete sie und fuhr dann mit seinem dicken Zeigefinger den Weg entlang.

»Hier sind wir jetzt. Sehen Sie, hier liegen Dörfer. Es werden auch Kirchhöfe da sein, denn die Leute müssen ihre Toten doch irgendwo begraben. Dort will ich nach dem Namen suchen, und wenn ich ihn gefunden habe, weiß ich, woran ich bin. Dann kann ich fragen, ob Leute dieses Namens hier leben. Aber augenblicklich weiß ich noch nicht, wohin ich mich wenden soll.«

»Wie heißt denn der Name?«

»Netherfield«, sagte er langsam. »Ein alter Familienname mütterlicherseits, wie ich immer gehört habe. Ich habe es auch in alten Büchern gelesen, die ich in Devonport aufbewahre. Den Namen kenne ich gut genug, aber ich weiß nicht, wo ich mich danach umschauen soll. Haben Sie nicht zufällig auf Ihren Wanderungen den Namen gehört?«

»Ich bin erst heute morgen in diese Gegend gekommen. Aber es gibt ja nur wenig Dörfer entlang dieser Küste, wie Sie aus der Karte sehen können. Sicher brauchen Sie nicht lange zu suchen. Ich glaube nicht, dass Sie mehr als zwei oder drei Kirchhöfe zwischen hier und Bradnall Bay finden.«

»Nun, ich muss eben sehen. Vielleicht lebt noch einer von ihnen, vielleicht ist die Familie auch ausgestorben. Mein Name ist Quick, Salter Quick. Und wenn ich nicht gerade auf See bin, wohne ich in Devonport.«

Er faltete die Karte zusammen und überreichte sie mir mit einer altmodischen Verbeugung. Ich erhob mich von der Klippe und schickte mich an, weiter zu wandern.

»Hoffentlich haben Sie Erfolg, Mr. Quick. Es gibt hier wirklich nicht viele Kirchhöfe, und die Grabsteine werden Sie auch bald geprüft haben.«

»Auf dem dort hinten habe ich nichts entdeckt.« Er wies mit seinem Daumen nach Lesbury. »Es ist auch schon sehr lange her, dass meine Mutter von hier fortgegangen ist. Aber nun bin ich einmal da und will meinen Vorsatz auch ausführen. Zeit habe ich genügend und Geld auch. Einmal muss man schließlich auch Ferien haben, und ich habe mir während der ganzen letzten dreißig Jahre keine Erholung gegönnt.«

Wir gingen zusammen der Küste entlang nach Norden weiter, und als wir um eine scharfe Wegecke bogen, sahen wir plötzlich ein kleines Gehöft, das auf halber Höhe der Klippen lag. In der Nähe standen mehrere kleine Häuser, eine halbverfallen Schmiede und drei Boote waren auf den gelben Sand gezogen. Darüber erhob sich auf einem Felsen ein langgestrecktes Gasthaus mit niedrigem Dach. An der Giebelwand war ein Mast angebracht, an dem eine alte, halbzerfetzte Fahne flatterte. Die Augen meines Begleiters leuchteten auf, und ich erriet seinen Gedankengang schnell genug.

»Wollen Sie ein Glas Bier mit mir trinken?«, fragte ich. »Sicher bekommen wir dort etwas.«

»Rum«, erwiderte er kurz. »Rum ist mein Getränk. Bier mag ich nicht, danach kriegt man einen kalten Magen.«

»Sie mögen recht haben«, entgegnete ich lachend.

»Aber jeder nach seinem Geschmack. Wir wollen hingehen.«

Er folgte mir schweigend auf dem Pfad zu dem einsamen Wirtshaus. Als ich mich einmal umsah, bemerkte ich, dass er den neuen Landstrich, der sich vor uns auftat, eingehend betrachtete. Von dem Gasthaus führte ein gewundener Weg zum Land hinauf, und in einiger Entfernung entdeckte ich einen Kirchturm. Salter Quick sah ihn auch und nickte bedeutsam.

»Dort werde ich mich einmal umsehen, aber zuerst muss ich essen und trinken. Heute morgen habe ich schon vor sieben gefrühstückt, und das Umherwandern macht hungrig.«

»Zu trinken werden Sie sicher bekommen, aber mit dem Essen ist es wohl etwas fraglich.«

Aber er zeigte nur auf das Gasthausschild, das über der Tür hing, und las die Inschrift laut und langsam vor.

»Gasthaus zum Fröhlichen Seemann. Gute Unterkunft für Mensch und Tier. Inhaber Hildebrand Claigue.«

Wir traten zusammen in eine niedrige, dunkle Gaststube ein, aber es war alles nett und sauber. Um einen großen, runden Tisch standen Stühle; auf dem Kamin sahen wir ein Schiffsmodell unter einer Glasglocke, und im hinteren Teil des Zimmers befand sich ein kleiner Schanktisch mit Flaschen und Gläsern. Dahinter stand ein großer Mann von mittleren Jahren. Er war glattrasiert und trug eine Brille, denn er las eben die Zeitung. Unsere Ankunft schien ihn keineswegs zu überraschen. Er wünschte uns freundlich Guten Morgen und sah dann erwartungsvoll von einem zum andern.

»Nun?«, wandte ich mich an meinen Wandergefährten. »Wollen wir etwas trinken? Nehmen Sie Rum?«

»Ja. Aber ich muss auch etwas zu essen haben.« Er sah den Wirt fragend an. »Haben Sie nicht eine große Portion kalten Braten mit Gurken, oder sonst etwas, und dann gutes, hausgebackenes Brot? Und ein Stück Käse?«

Der Wirt lächelte, als er die Rumflasche herunternahm.

»Ja, wir können Sie schon versorgen. Ein ordentliches Stück gekochtes Rindfleisch ist da. Aber zuerst nehmen Sie doch ein Glas Rum? Und was wünschen Sie, mein Herr?«, wandte er sich an mich.

»Ein Glas Bier, bitte. Ich bin nicht so hungrig wie unser Freund hier … bringen Sie mir ein Stück Brot und etwas Käse.«

Der Wirt stellte die Gläser vor uns hin und verschwand dann durch eine Tür hinter dem Schanktisch. Salter Quick trank auf mein Wohl und schaute sich dann um.

»Das ist hier ein Hafen, wo man einige Tage vor Anker gehen könnte. Ich glaube, ich wohne am besten hier, während ich die Gegend durchstreife. Sicher kommen abends Leute aus der Umgebung hierher, von denen man etwas erfahren kann.«

»Das wird sicher sehr angenehm für Sie sein«, pflichtete ich ihm bei. »Man kann es eigentlich nicht als eine ganz verlassene Gegend bezeichnen.«

»Salter Quick war schon in ganz verlassenen Gegenden«, erwiderte er mit einem rätselhaften Blick.

»Aber hier ist es nicht einsam. Und hier kann man gut essen und trinken!«

Er zeigte wieder mit dem Daumen – diesmal auf den Wirt, der mit einem voll beladenen Tablett eintrat.

Der alte Seemann nahm seine Mütze ab, betete kurz und machte sich dann mit großem Appetit an seine Mahlzeit, während ich mein Käsebrot aß.

»Ich war erstaunt, hier ein solches Wirtshaus anzutreffen«, sagte ich zu dem Wirt. »Woher bekommen Sie denn nur Ihre Gäste?«

»Ach, das haben Sie nicht sehen können. Sie kommen von Alnmouth … ich habe Sie beobachtet. Dicht hinter dem Haus liegt ein Dorf, es ist durch den Hügel verdeckt. Dort wohnen allerhand Leute. Abends ist die ganze Gaststube voll. Und außerdem haben wir auch etwas Durchgangsverkehr nach Süden und Norden.«

Quick, der mit vollen Backen kaute, sah auf. »Sie sagten, hier wäre ein Dorf? Da ist sicher auch eine Kirche und ein Friedhof da?«

»Natürlich! Aber weshalb fragen Sie danach?«

Quick nickte mir zu. »Ich habe diesem Herrn hier schon erklärt, dass ich nach Kirchhöfen suche, das heißt nach Gräbern, auf denen der Name Netherfield steht. Und ich muss Sie gleich fragen, ob Sie diesen Namen vielleicht hier auf dem Kirchhof gesehen haben? Wenn solche Gräber hier sind, dann bin ich am Ziel.«

»Nein, diesen Namen kenne ich nicht. Aber auf unserem Kirchhof finden Sie viel alte Steine, die schon längst von hohem Gras überwuchert sind. Leicht möglich, dass einer mit dem Namen darunter ist. Aber bestimmt kann ich das natürlich nicht sagen, ich habe mir die alten Steine noch nicht angesehen.«

In diesem Augenblick trat ein Mann in die Gaststube, der seiner rauen Kleidung nach ein Viehtreiber war. Claigue wandte sich sofort an ihn, und sein Blick verriet, dass er den neuen Gast als eine Autorität betrachtete.

»Sehen Sie, hier kommt jemand, der in der Nähe des Kirchhofs wohnt. Jim, hast du jemals den Namen Netherfield auf einem der alten Grabsteine gesehen? Dieser Herr fragt danach. Und ich weiß doch, dass du von Zeit zu Zeit das Gras auf dem Kirchhof abmähst.«

»Nein, den Namen habe ich niemals gelesen«, antwortete der andere. »Aber merkwürdig … neulich abends begegnete ich in der Nähe von Lesbury einem Mann, der mich dasselbe fragte. Er war nicht aus dieser Gegend …«

Er hielt inne, denn Salter Quick hatte Messer und Gabel auf den Tisch fallen lassen.

2. Ravensdene Court

Claigue und ich waren interessierte Beobachter. Es war uns sofort klar, dass die letzte Mitteilung so großen Eindruck auf Quick gemacht hatte, dass er Essen und Trinken vergaß. Obgleich er seine Portion erst halb aufgegessen hatte, schob er den Teller weit von sich. Er hob die Hand und sah den Sprecher mit einem durchbohrenden Blick an, als ob er ärgerlich wäre und nicht recht glauben könnte, was er gesagt hatte.

»Was war das?«, stieß er hervor. »Was sagten Sie da? Täusche ich mich nicht? Sie haben einen Mann hier getroffen, der Sie danach fragte, ob es hier Gräber mit dem Namen Netherfield gäbe? Antworten Sie mir bitte … ich frage Sie in allem Ernst.«

Der Treiber oder Schafhirt, oder was er sonst sein mochte, sah von Quick zu mir und dann zum Wirt. Er lächelte über Quicks aufgeregtes Wesen.

»Ja, Sie haben es ganz richtig verstanden … das habe ich eben gesagt. Es war auch ein Fremder, ich habe ihn vorher noch niemals in dieser Gegend gesehen.«

Quick trank sein Glas in einem Zuge aus. Er schien sehr erregt zu sein, denn seine Hand zitterte.

»Wann war er hier?«, fragte er mit heiserer Stimme. »Erst kürzlich?«

»Vorgestern Abend. Ich kam spät von Alnwick zurück und traf den Mann kurz hinter Lesbury. Wir gingen ein Stück miteinander und unterhielten uns. Er fragte mich, ob ich hier bekannt sei, und ob ich einen Kirchhof mit Gräbern der Familie Netherfield wüsste. Ich wusste aber nichts davon, aber ich sagte ihm auch, dass man auf vielen Steinen die Schrift wegen des hohen Grases nicht mehr sehen könnte. Und als wir dann zu dem Kreuzweg kamen, wo es auf der einen Seite nach Denwick und auf der anderen nach Boulmer geht, trennten wir uns, und ich habe seitdem nichts mehr von ihm gesehen oder gehört.«

Quick schob sein leeres Glas über den Tisch und gab dem Wirt ein Zeichen, es wieder zu füllen; zugleich bedeutete er ihm auch, dem Mann, mit dem er sprach, auf seine Kosten ein Glas zu geben. Dann starrte er eine Weile in Gedanken versunken auf die blaue See hinaus, aber plötzlich wandte er sich wieder an den Hirten.

»Wie sah der Mann denn aus? Können Sie ihn mir kurz beschreiben?«

»Das kann ich Ihnen leider nicht sagen, mein Herr. Es war schon dunkel, und ich habe sein Gesicht nicht sehen können. Aber er war stark und untersetzt, ähnlich wie Sie, und hatte auch ungefähr Ihre Größe. Er sprach auch so wie Sie, und ich hielt ihn für einen Seemann.«

»Sie haben nichts davon gehört, wo er geblieben ist?«, fragte Quick schnell.

»Nein. Er ging landeinwärts, auf Denwick zu, als wir uns trennten.«

Quick wandte sich an mich. »Bitte gehen Sie mir Ihre Karte noch einmal. Ich hätte mir selbst eine kaufen sollen, als ich hierher kam.« Er entfaltete sie und legte sie vor sich auf den Tisch, nachdem er noch einen kräftigen Schluck Rum genommen hatte. »Denwick? Ah, hier habe ich es … da ist auch ein kleines Kreuz bei dem Namen. Das bedeutet doch eine Kirche?«

Ich nickte und beobachtete ihn schweigend. Ich war neugierig, warum wohl zwei Leute in dieser Gegend nach solchen Gräbern suchten. Der Wirt schien denselben Gedanken zu haben.

»Es liegt Ihnen scheinbar viel daran, diese Grabsteine zu finden?«, fragte er direkt. »Und ein anderer Mann hat dieselbe Absicht wie Sie. Ich lebe nun schon sehr lange hier, aber ich habe diesen Namen nie gehört.«

»Ich kenne ihn auch nicht«, sagte der Hirte. »Von Alnmouth Bay bis Budle Point lebt niemand dieses Namens.«

»Sehen Sie, und er ist hier geboren und auf gewachsen, nicht wahr, Jim?«

»Niemals von hier fortgekommen«, pflichtete Jim mit einem kurzen Lachen bei.

Quick schien diese Bemerkungen nicht zu hören. Er legte die Karte plötzlich wieder zusammen und gab sie mir dankend zurück. Dann fasste er in seine Tasche und zog eine Anzahl Banknoten heraus.

»Was habe ich zu zahlen?«, fragte er. »Rechnen Sie alles zusammen, was hier am Tisch verzehrt ist, und noch ein Glas und eine Zigarre für Sie selbst.« Er warf eine Pfundnote auf den Tisch und erhob sich. »Ich muss weitergehen«, sagte er und sah mich an. »Wenn noch ein anderer nach diesen Gräbern sucht …«

Er sprach nicht weiter, sondern steckte das Wechselgeld ein, das ihm der Wirt herausgegeben hatte, und wandte sich dann der Tür zu. Aber Claigue hielt ihn zurück.

»Es geht mich natürlich nichts an, aber an Ihrer Stelle würde ich nicht soviel Geld zeigen, besonders nicht an öffentlichen Plätzen wie hier. Es gibt Leute in der Gegend, die Ihnen meilenweit folgen würden, um es Ihnen abzunehmen. So ist es doch, Jim?«

»Ja, das stimmt«, erwiderte der Hirte. »Lassen Sie es niemand sehen.«

Quick griff in die Tasche und zog einen Revolver heraus. »Solange ich das Schießeisen bei mir habe, passiert mir nichts, höchstens anderen Leuten kann es schlecht gehen.«

»Ich würde trotzdem vorsichtig sein«, meinte der Wirt. »Wenn es dunkel ist, kann man Sie leicht überfallen. Es ist hierzulande nicht gut, soviel Geld zu zeigen.«

Quick trat mit einem kurzen Gruß aus dem Schankraum.

Ich bezahlte meine bescheidene Zeche, fragte, wie weit es noch nach Ravensdene Court wäre, und folgte ihm dann. Er war noch in schlechter Stimmung.

»Was werden Sie jetzt machen?«, fragte ich ihn, denn ich interessierte mich für diesen seltsamen Mann.

Er scharrte mit der Spitze seines Stocks zwischen den Pflastersteinen und blickte nachdenklich zu Boden, als ob dort eine Entdeckung zu machen wäre. Plötzlich schaute er auf und sah mir voll ins Gesicht.

»Ich möchte Ihnen etwas mehr als vorhin erzählen«, sagte er leise und warf einen Seitenblick auf die offene Tür der Wirtschaft. »Sie sind ein Gentleman, wie ich sehe, und Sie werden mich nicht verraten. Ich will diese Gräber aus einem ganz bestimmten Grund finden. Deshalb bin ich diesen weiten Weg hergekommen. Man könnte fast sagen, dass ich von einem Ende Englands zum anderen gereist bin. Und nun finde ich hier einen anderen, der dasselbe sucht wie ich!«

»Wissen Sie denn, wer der Mann sein könnte?«

Er zögerte. »Nein. Zuerst in der Gaststube dachte ich, ich wüsste es, aber jetzt muss ich sagen, dass ich es nicht weiß. Aber immerhin werde ich den Weg nach Denwick gehen. Vielleicht kann ich ihn dort treffen oder wenigstens etwas über ihn erfahren. Gehen Sie auch dorthin?«

»Nein, ich gehe an der Küste weiter. Aber ich hoffe, dass Sie bei Ihren Nachforschungen nach den Gräbern Erfolg haben.«

Er nickte ernst. »Ich werde nicht eher von hier weggehen, bis ich sie gefunden habe«, erklärte er bestimmt. »Umsonst macht man nicht solchen weiten Weg. Leben Sie wohl.«

Er ging landeinwärts und schritt rüstig vorwärts, ohne sich noch einmal umzusehen. Auch ich machte mich auf den Weg, bog kurz darauf um eine hohe Klippe und verlor das Wirtshaus außer Sicht.

Während ich weiterwanderte, dachte ich über Salter Quick und unsere Unterhaltung im Gasthaus nach. Was beabsichtigte dieser verwitterte Seebär eigentlich, der so viele Länder gesehen und so manchen Sturm durchlebt hatte? Diese Geschichte mit den Familiengräbern kam mir reichlich unglaubwürdig vor. Ein Mann seines Schlages würde nicht den weiten Weg von Devonshire nach Northumberland zurücklegen, um die Gräber der Vorfahren seiner Mutter aufzusuchen. Dahinter steckte ein Geheimnis … aber welches? Sicher wollte Quick die Gräber der Netherfields aufsuchen, zu welchem Zweck es auch immer sein mochte, und ebenso sicher verfolgte ein anderer Mann dieselbe Absicht. Dadurch wurde die Sache nur noch rätselhafter. Warum tauchten zwei Seeleute unabhängig voneinander zur selben Zeit mit demselben Ziel in dieser entlegenen Gegend auf? Und was würde geschehen, wenn sie sich zufällig begegneten? Ich konnte keine Antwort auf diese Frage finden.

Kurz vor Einbruch der Dämmerung sah ich am oberen Ende einer Schlucht die grauen Mauern eines stattlichen Herrenhauses aus der Tudorzeit vor mir liegen. Das musste Ravensdene Court sein. Durch die Schlucht schlängelte sich ein kleiner Fluss über viele Felsen hinweg zum Meer. Die malerischen Umrisse des Schlosses hoben sich scharf vom abendlichen Himmel ab. Das war der richtige Platz für einen Bücherliebhaber und Sammler von Antiquitäten, um seine Schätze aufzuheben, dachte ich bei mir.

Ich folgte einem Pfad, der von den Klippen landeinwärts führte, und nach einigen Minuten näherte ich mich einem Tor in der Grenzmauer, die einen kleinen Park einschloss. Über die grauen Steine ragten viele alte Eichen und Buchen empor. Dichtes Gebüsch verdeckte ihre Stämme.

Ich trat ein und sah auf einer wohlgepflegten Rasenfläche ein junges Mädchen. Es musste Mr. Ravens Nichte sein, von der er mir geschrieben hatte. Sie spielte Golf, und hinter ihr stand ein kleiner Junge, der ihr den Beutel mit den Schlägern nachtrug. Er sah drollig aus in seinen großen Schuhen und seiner mächtigen Mütze. Sie schien sich eben zu überlegen, wie sie den Ball nehmen sollte, aber in diesem Augenblick entdeckte sie mich, hielt einen Augenblick inne und kam dann auf mich zu. Sie war groß und schlank, und ihr elastischer Gang verriet, dass sie viel Sport trieb. Man konnte sie nicht gerade schön nennen, aber sie sah doch sehr anziehend aus. Sie hatte klare, graue Augen und eine gesunde, frische Farbe. In keiner Weise war sie verlegen oder scheu und reichte mir freundlich die Hand zum Gruß.

»Sicher sind Sie Mr. Middlebrook?«, fragte sie. »Ich dachte mir schon, dass Sie den Weg über die Klippen nehmen würden. Ihr Gepäck ist heute morgen gekommen, und wir haben auch Ihren Brief erhalten. Aber Sie sind bestimmt nach diesem langen Weg sehr müde. Ich werde mit Ihnen zum Hause gehen und dafür sorgen, dass Sie Tee bekommen.«

»Ich bin gar nicht müde. Ich habe mir Zeit genommen, und es war ein sehr schöner Spaziergang. Lassen Sie sich bitte nicht in Ihrem Spiel stören.«

»Ach, das hat nichts zu sagen«, erwiderte sie leichthin und gab ihren Schläger dem Jungen. »Ich habe genug gespielt. Es wird auch schon zu dunkel, und sobald die Sonne untergegangen ist, bricht die Nacht hier schnell herein. Sie haben Ravensdene Court noch nicht gesehen?«

»Nein.« Ich sah zu dem Herrenhaus hinüber, das einige hundert Meter entfernt vor uns lag. »Es scheint ein romantisch gelegenes, malerisches, altes Gebäude zu sein. Sie kennen wahrscheinlich schon alle Ecken und Winkel in dem Schloss?«

Sie zuckte ihre schönen Schultern. »Oh nein. Ich bin erst vor wenigen Wochen hierhergekommen. Sie haben ganz recht, es liegt malerisch und romantisch. Ich glaube, es spukt auch ein wenig im Haus.«

»Das macht es nur noch interessanter«, entgegnete ich lachend. »Ich hoffe, dass ich das Vergnügen haben werde, den Schlossgeist kennenzulernen.«

»Ich nicht! Das Schloss ist schon ohne Spuk merkwürdig und altertümlich genug. Fürchten Sie sich denn nicht?«

»Wie steht es denn mit Ihnen?«, fragte ich dagegen und betrachtete sie näher.

»Ich weiß nicht. Sie werden alles besser verstehen, wenn Sie das Haus sehen. Es liegt eine sonderbare Atmosphäre über allem. Sicher hat sich früher einmal eine Tragödie hier abgespielt. Ich bin im allgemeinen kein Feigling, aber wenn es dunkel geworden ist …«

»Sie erhöhen den Zauber und Reiz dieses Platzes«, unterbrach ich sie. »Alles, was Sie mir erzählt haben, klingt entzückend.«

Sie sah mich halb fragend an und lächelte ein wenig. »Sie machen sich über mich lustig. Aber wir können ja abwarten. Allerdings machen Sie keineswegs einen furchtsamen Eindruck … Sie sehen überhaupt gar nicht so aus, wie ich Sie mir vorgestellt habe.«

»Wie hätte ich denn aussehen sollen?«, fragte ich, erfreut über ihre Aufrichtigkeit.

»Ach, ich hatte mir einen verschrobenen, kahlköpfigen alten Herrn vorgestellt, ähnlich wie Mr. Cazalette, der immer seine Schnupftabaksdose zieht und sich nur für Bücher und alte Papiere interessiert. Aber Sie sind ganz anders … und noch so jung!«

»Ich habe schon den eisigen Frost von dreißig Wintern hinter mir.«

»Das kann man kaum glauben. Ich bin wirklich sehr überrascht. Auch Onkel Francis hat sicher einen ehrwürdigen alten Herrn erwartet.«

»Hoffentlich wird er nicht unzufrieden mit mir sein. Aber ich habe Ihnen doch in meinen Briefen nie geschrieben, dass ich alt und kahlköpfig bin?«

»Das kommt von Ihrem großen Ruf. Man erwartet nicht, soviel Erfahrung und Wissen bei einem jungen Mann zu finden.«

Ich hatte schon gesehen, dass Mr. Francis Raven auf uns zukam. Er hatte eine große, stattliche Gestalt, ging etwas gebückt und war der Typ eines Engländers, der lange in Indien gelebt hat. Die Tropensonne hatte sein freundliches Gesicht braun gebrannt. In gewisser Weise machte er mit seinem grauen Schnurr- und Backenbart einen altmodischen Eindruck. Er kam mir mit ausgestreckten Händen entgegen.

»Willkommen in Ravensdene Court, Mr. Middlebrook«, sagte er schnell. »Wie ich sehe, haben Sie ja schon einen Führer durch den Park gehabt«, fügte er mit einem Blick auf seine Nichte hinzu. »Das freut mich. Hoffentlich gefällt es Ihnen hier.«

»Ich bin schon mit so viel Freundlichkeit empfangen worden, dass es mir leid tun wird, wenn ich meine Arbeit hier beendet habe.«

»Kommen Sie mit, ich werde Ihnen Ihre Räume zeigen«, lud er mich ein.

Das Haus hatte viele geheimnisvolle Ecken und Winkel. Meine eigenen Räume, ein Wohn- und ein Schlafzimmer im ersten Stock, waren sehr schön. Mein Gastgeber zeigte sich ängstlich bemüht, dass ich alle Bequemlichkeiten hatte, und ich sah selbst, dass alles gut eingerichtet war.

»Den Weg nach unten werden Sie ja wohl wieder finden«, meinte er, als er fort ging. »Wir speisen um sieben, vielleicht haben Sie nach Tisch noch etwas Zeit, sich das Gebäude ein wenig anzusehen. Ich werde Sie dann auch Mr. Cazalette vorstellen. Sie kennen ihn nicht persönlich? Oh, ein sehr bedeutender Mann!«

Ich hatte mich bald umgekleidet, und ebenso schnell war Miss Marcia Raven fertig geworden, denn ich traf sie in einem schönen Abendkleid, als ich um halb sieben unten in die Halle trat. Mr. Raven und Mr. Cazalette erschienen erst einige Zeit später.

3. Die Flut am Morgen

Mr. Cazalette war ein älterer, kleiner Herr, der etwas zur Korpulenz neigte. Er hatte breite Schultern, aber sie standen in keinem guten Verhältnis zu seinem großen Kopf. Seine Haut glich vertrocknetem Pergament, aber seine dunklen, durchdringenden Augen hatten einen gewissen Glanz bewahrt. Sonst war sein von vielen Falten durchzogenes Gesicht wenig beweglich. Auffallend war sein großes, stark ausgebildetes Kinn. Mochte er in seinem Fache noch so tüchtig sein, als Persönlichkeit war er mindestens ebenso bemerkenswert. Alles an ihm war seltsam. Er trug einen altmodischen blauen Frack mit goldenen Knöpfen, eine gelbbraune Weste und ein vielfach gefaltetes Hemd.

Mr. Raven stellte uns etwas umständlich vor, und ich begrüßte Mr. Cazalette mit besonderer Höflichkeit. Zu meinem Erstaunen lächelte mich der alte Gelehrte freundlich an.

»Sie sind in Ihrem Fach rühmlichst bekannt, und zweifellos werden wir ja bald Ordnung in dieses Chaos bringen. Aber wir wollen jetzt nicht darüber sprechen.«