Die Grenze des Himmels - Stephan Kinkele - E-Book
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Die Grenze des Himmels E-Book

Stephan Kinkele

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Beschreibung

 Ein historischer Roman um Liebe, Magie und Verrat im orientalischen Griechenland des frühen 19. Jahrhunderts Die junge Seherin Vasiliki entflieht 1812 der schamanischen Tradition ihrer Tante, um ein christliches Leben zu führen. Doch statt wie versprochen zu heiraten, gerät sie in den Harem des grausamen Ali Paschá, der mit Hilfe dunkler Kräfte Christen und Muslime in Hass, Krieg und Tod treiben will. Je weiter Vasiliki in die Vergangenheit und das Labyrinth der Geheimnisse des Herrschers vordringt, desto klarer erkennt sie die Verstrickung ihrer eigenen Sippe in eine Gefahr, die sowohl Christen als auch Muslime betrifft: Es geht um die Macht der Dschinn, denen Gott eine Chance gab, wenn sie die moralische Verwerflichkeit des Menschen beweisen. Unter Einsatz ihres Lebens muss Vasiliki lernen, dass jeder Religion eine dunkle Seite innewohnt, gegen deren Macht nur die Barmherzigkeit hilft...

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Veröffentlichungsjahr: 2019

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© 2019 Piper Verlag GmbH, München Redaktion: Sandra LodeCovergestaltung: FAVORITBUERO, MünchenCovermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutztBildnachweis (in Collage) Cover: Janina, in Albanien. Stahlstich von C. Reiss, ca. 1850. ©le voyage en papier - marc dechowBildnachweis Karte: Map of the Ionian Isles, aus: Travels in the Ionian Isles, H. Holland, London 1815

 

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Inhalt

Cover & Impressum

I. Buch

Die Ikone

Prolog

II. Buch

Schattenlicht

III. Buch

Der Ring

IV. Buch

Das letzte Gebet

Nachwort

Glossar

Für meinen Bruder Thomas

 

I. Buch

Die Ikone

 

Mein Kind, vergiss meines Gesetzes nicht, und dein Herz behalte meine Gebote.

Sprüche Salomons, Kapitel 3

Prolog

Die Anmut und Ruhe, mit der sich Vasiliki im letzten Moment ihres Lebens bekreuzigte, hätte mich warnen sollen. Als sie den Kopf hob und mich ansah, war es zu spät. Die Mündung meiner Pistole zielte zwischen ihre Augen.

Es war kalt. Schnee lag in der Luft. Unten im Hof rannten die Soldaten des Sultans durch das Klostertor. Mit erhobenen Säbeln hasteten sie an den Arkaden vorbei und stürmten den Unterstand am Stall. Ihre Schritte hallten auf der gefrorenen Erde. Kräftige Beine traten Türen ein. Kurz darauf verstummte das Stöhnen der Verletzten.

Vasiliki und ich standen uns auf dem Balkon gegenüber. Wir spürten beide, wie nah das Ende war. Angst stieg in mir auf, eisig wie der See, der unsere kleine Insel umgab.

Ich zögerte einen Augenblick, hob den Arm und drückte den Abzug. Der Schuss knallte mit unversöhnlicher Wucht. Dann schloss ich die Augen und verharrte im aufsteigenden Rauch. Mein Herz schlug wild, und mein Atem gefror.

Auch jetzt noch blickt sie mich an, hier am Tisch vor dem Fenster meines Zimmers, hoch über den Dächern der Stadt. Ihr Gesicht ist schemenhaft geworden im Laufe der Jahre, aber der Blick ist der gleiche geblieben. Ich habe lange gebraucht, um den Ausdruck in ihren Augen zu verstehen: Es ist nicht sie, die mich anblickt. Es ist Gott, der mich durch ihre Augen sieht.

 

Wir schreiben das Jahr 1834. Unten im Hafen von Nafplion drängen sich die Masten und Rahen von Briggs und Brigantinen. Die Flaute zwingt sie zur Ruhe. Bewegungslos ragen ihre Bugsprits in die drückende Hitze hinaus. Möwen segeln über das Wasser und hinüber zum leeren Kai. Ihr Gekreische ist das einzige Geräusch, das an meine Ohren dringt. Der Himmel über der Bucht verliert sich in wolkenlosem Blau. Nur am Horizont flimmern die Berge von Arkadien wie Wächter einer vergangenen Welt.

Ich fürchte mich nicht, auch wenn das Frösteln des Todes bereits meine Hände zittern lässt. Das Fieber ist aus den Sümpfen vor den Toren der Stadt ausgebrochen und schleicht durch die engen Gassen, um uns Sünder aufzuspüren. Bis auf mich wird es niemanden mehr finden, denn alle Verbrecher und Frevler der untergegangenen Welt sind verschwunden. Hat die Angst vor dem Schicksal sie vertrieben? Oder bilde ich mir das alles nur ein?

Vasiliki ist niemals geflohen, weder vor ihren Feinden am Hof in Ioannina, noch vor dem Pascha oder den Trümmern ihres Lebens nach zehn Jahren Gefangenschaft. Ich habe mich oft gefragt, woher sie die Kraft nahm, all das Elend zu überstehen. Im Basar behaupten die Leute, sie habe sich dem Pascha als achtjähriges Mädchen in den Weg gestellt, nachdem er ihr Dorf in Schutt und Asche gelegt und ihre ganze Familie getötet hatte. Aber das stimmt ebenso wenig wie die Legende, er habe sie als Kind in seinen Harem gesteckt. Die Wahrheit ist: Er war fünfzig Jahre älter als sie und hat sich ihre Seele einverleibt.

Heute würden wir ihn einen Wahnsinnigen nennen, einen Geisteskranken, aber damals war er unser Fürst.

Niemand am Hofe war so gefährdet wie dieses Mädchen. Stand sie dem Himmel näher als wir anderen im Palast? Oder lag es daran, dass die Muselmanen die Freunde ihres Herzens waren und wir Christen ihre Brüder im Blut?

 

Jetzt dringt nur noch die Stille durch das offene Fenster in mein Zimmer. Die Gassen unterhalb des Hauses warten auf den kühlen Abend. Wenn die Menschen sich aus ihren Häusern wagen und Straßen und Plätze wieder füllen, kehrt das Leben zurück mit Gedränge und Geschrei.

Ich war blind, damals vor über zwanzig Jahren, weil ich das Geheimnis ihrer Kraft nicht verstand. Doch am Ende habe ich durch sie das Ziel meines eigenen Lebens erkannt. Heute frage ich mich, was uns bewegt hat, einem Ungeheuer wie ihm zu dienen. Aber so ist es eben: Anthropi imaste, Menschen sind wir, und daran wird wohl niemand zweifeln. Wie gut, dass es keine Wahrheit gibt, sondern nur die Worte eines sterbenden Kriegers, wie ich einer bin; eines Ketzers, eines Greises mit zerfurchtem Gesicht. Um von dieser Frau zu berichten, habe ich all die Schrecken des Krieges überlebt. Glaubt mir, trotz des Zitterns meiner Hände fällt es mir leicht, sie vor mir zu sehen, kurz bevor ihre Geschichte wirklich beginnt.

1

Erst am Tage meiner Verlobung bin ich erlöst, dachte Vasiliki und bekreuzigte sich. Sie blinzelte in die Strahlen der Sonne, die im Blätterwerk spielten. Trotz des lieblichen Duftes von Styrax und Minze war es gefährlich, sich um die Mittagszeit am Flussufer aufzuhalten. Es war das Schattenlicht, das um diese Zeit wirkte und diesen Ort für die Kräfte der anderen Welt durchlässig werden ließ. Mein Herr und Schöpfer, beschütze mich, betete sie im Stillen und lauschte dem Rauschen des Wassers.

Um keinen Preis der Welt wollte sie eine Mágissa werden wie ihre Tante. Diesen Entschluss hatte sie am Vormittag gefasst. Nur ein Besuch zum Kaffee hatte es sein sollen, aber dann war doch das Gemurmel der Xemétrima dazugekommen, der geheimen Verse, und der Duft von schmelzendem Mastix in der bedrückenden Stille. Unbegreiflich, was ein Büschel Haare, ein Bindfaden und ein verschwitztes Taschentuch bewirken konnten. Nach den heiseren Worten der Tante betraten die Seelen der Toten den Raum.

Die Haare fest in der Hand, hatte sich Tante Sefiroula über das Glas gebeugt und mit dem Finger ein Kreuz ins Wasser gestrichen. Dann hatte sie einen Spiegel auf das Glas gelegt und hineingestarrt. Plötzlich fing sie an zu zittern. Ihre Augen zuckten unruhig hin und her. »Ich kann sie nicht lösen. Hilf mir, mein Kind, schnell, reiche mir die Ikone der Heiligen Mutter!«

Vasilikis Blicke folgten den Sonnenstrahlen durch das lichte Geäst. Wie einen Schutz gegen die unsichtbare Macht zog sie die Weste fester um ihren Körper. Seit sie sich erinnern konnte, hielt Tante Sefiroula das Gedenken an das Blutbad wach. Die Männer ihres Stammes waren seit einer Ewigkeit tot, niedergemacht von den Säbeln der Muselmanen.

Warum ließ ihre Tante die Verstorbenen nicht in Frieden nach all diesen Jahren und rief sie stattdessen immer wieder an? In den Augen des Priesters öffnete sie damit den Boten Satans eine Hintertür.

Als wolle sie sich unsichtbar machen, rutschte Vasiliki tiefer in das dichte Gras. Sie atmete in das Rauschen des Flusses und schloss die Augen. Heiliger Herr Jesu rette mich vor der Finsternis. Zuversicht strömte durch ihren Leib.

Ein Stein schlug neben ihr ins Gras. Erschrocken riss sie die Augen auf und starrte durch das Blätterwerk. Ein zweiter Stein landete dicht neben ihrem Kopf. Vasiliki rollte zur Seite und sprang hoch. Manchmal verirrten sich Ziegen in der Steilwand und lösten Steinschlag aus. Aber nirgendwo waren Tiere zu entdecken. Seit Wochen ging das so: Der Wind säuselte, ein jähes Geräusch, Bewegungen, die wie Schatten flatterten.

Plötzlich sah sie die Raben. Die Vögel hockten auf den Ästen der Platanen, ein ganzer Schwarm. Einer von ihnen hob den Schnabel. Er starrte sie mit schrägem Kopf und dunklem Auge an.

Sofort schlug Vasiliki das Kreuz. Raben brachten Verderben und Tod. Wie damals, einige Tage nach dem Weihnachtsfest, als Papa Gregorios die Kirchenglocke läutete wie ein Besessener. Sie war sofort zur Kirche gelaufen. Das Glockenseil riss den Papas vom Boden hoch.

Für gewöhnlich waren es christliche Kleften aus den Bergen, bärtige Männer, die auf dem Dorfplatz erschienen und Fleisch für ihre Vorräte verlangten. An jenem Tag aber waren es albanische Söldner gewesen. Ohne vorher zu verhandeln, waren sie durch die Gassen gestürmt, hatten Hoftore aufgebrochen und Höfe geplündert. Im Namen Allahs rissen sie Frauen aus den Häusern und fingen Ziegen und Schafe ein, schneller als jeder Klefte. Die Tiere nahmen sie mit, auch einige Frauen; anderen schnitten sie die Hälse durch. Von Angst und Schrecken gejagt, war Vasiliki vom Kirchhof geflüchtet. Sie wollte nach Hause, in ein sicheres Versteck, aber am Waldrand warteten die Raben auf sie und krächzten wild, als hätten sie den Teufel gesehen.

Jetzt lief sie gebückt unter den Weiden am Fluss entlang. Ihr Herz schlug hart und schnell. Sie hörte das Rauschen des Wassers, es strudelte wild zwischen Felsbrocken hindurch. Vasiliki wich dornigen Brombeeren aus, die den Weg versperrten.

Endlich begann der gepflasterte Pfad, der zum Dorf hinaufführte. Vasiliki sprang über die Stufen. In der Schlucht flatterten die Raben hoch, als hätte sie jemand aufgescheucht.

Wie ein verstecktes Nest schmiegte sich das Bergdorf in den Hang unterhalb der Gipfel, Schneefelder schimmerten im Sonnenlicht. Der Wald schützte die Häuser vor dem kalten Wind. Nach Süden erlaubten spärliche Eichen und Buchen die Sicht auf das Tal. Bis vor wenigen Wochen hatte Vasiliki kaum einen Gedanken an die Welt außerhalb der Täler verschwendet, an Zukunft, Ehe und Kinder, aber nun sehnte sie sich nach einem Leben in der Stadt.

Vor einigen Tagen war die jährliche Karawane ihres Vaters bei Papa Gregorios im Kloster eingetroffen und hatte neben Weizen, Oliven und Stoffen eine Nachricht überbracht. Nicht nur der Priester war erstaunt, nach so langer Zeit einen Brief von ihrem Vater zu erhalten. Für gewöhnlich schickte der nur Güter für ihren Unterhalt. Auch Vasiliki hatte verblüfft auf das Schriftstück in der Hand ihres Seelsorgers gestarrt, als er unter dem Olivenbaum im Klosterhof den Inhalt verlas. Ein junger Mann aus christlicher Familie suchte eine ehrbare Frau. »Ein Glück«, sagte Papa Gregorios und faltete das Papier zusammen. »Sie werden nicht sehr wohlhabend sein, aber Gott sei gelobt, dein Vater hat uns nicht vergessen.«

Den Rest der Woche schwankte Vasiliki zwischen Unbehagen und Freude. Sie hatte ihren Vater nur undeutlich in Erinnerung, aber jeder im Dorf wusste, dass er ein Soldat gewesen und kurz nach dem Tod ihrer Mutter verschwunden war.

Jetzt aber galt es, eine Entscheidung zu treffen, und je heftiger Vasilikis Herz schlug, desto deutlicher erkannte sie die Gelegenheit. Jetzt oder nie! Sie wollte keine Mágissa werden, und der Gedanke an den unbekannten jungen Mann reizte sie. Vielleicht liebte er den Klang der Laute und tanzte ebenso gerne wie sie… Ja, vielleicht kannte er sogar das Lied vom Mond im Garten der Liebe!

Geschrei holte sie zurück in die Gasse. An der Dorfquelle spielten Kinder. Wasser plätscherte in ein Becken aus Stein. Die Entscheidung war gefallen. Sie beruhigte sich. Ihr Vater bot ihr ein neues Leben an.

Vasiliki lief am überdachten Brunnenhäuschen vorbei und bog in die Hauptstraße ein. Nun galt es, Tante Sefiroula die Wahrheit zu sagen. Kein Weg führte an der Wahrheit vorbei. Das hatte sie oft genug gesagt.

Weiter oben im Dorf, zwischen den Häusern der Archonten, der ältesten Familien des Dorfes, bog Vasiliki in den Pfad zu ihrem Haus. Vor Jahren hatte ihr Vater der Tante das zweistöckige Haus zum Dank für ihre Dienste als Pflegemutter von einem albanischen Baumeister am Waldrand errichten lassen und geschenkt. Griechische Zimmerleute hatten die Holzarbeiten ausgeführt. Es war ein schönes Haus, aus Naturstein, mit einer Fensterfront aus Holz. Hohe Mauern umschlossen Hof und Garten, die Stallungen lagen etwas tiefer am Hang. Im Falle eines Angriffs wurden Schafe, Ziegen und Maultiere hier in Sicherheit gebracht.

Das Hoftor knarrte, als Vasiliki es aufschob. Sie lief über den gepflasterten Hof die Steinstufen zur Haustür hinauf und öffnete das Portal.

»Tante!«, rief sie in den Vorraum und schloss die Tür hinter sich. Im kleinen Flur des Hauses leuchteten Büsche und Bäume, die auf den ockerfarbenen Putz gemalt waren. In der guten Stube auf der rechten Seite herrschte Stille, aber im Vorratskeller links raschelte es. »Tante?«

Sefiroula stand in der hintersten Ecke des Gewölbes, einen Wald von getrockneten Kräuterbüscheln über sich. Sie hielt einen Beutel aus Hanf in der Hand und wählte gerade Hölzchen aus Körben. Im fahlen Schein des Zwielichts warf ihr Gesicht dunkle Schatten. Unter ihrem Kopftuch hatte sich eine Strähne gelöst. Sie ließ die Hand sinken und sah ihre Nichte an. In ihren Augen lag ein müder Schimmer.

Vorsichtig griff Vasiliki in ihre Tasche und zog die harzigen Späne hervor. Es waren keine gewöhnlichen Stückchen Holz, sie stammten von einer schwarzen Kiefer am Felsenrand, hoch oben am Berg. Mit seinen Wurzeln hatte der Baum sich im Gestein festgekrallt und in unwirtlicher Höhe überlebt. Tante Sefiroula räucherte Holz; sie würde die in dieser Umgebung gewachsene Seele des Baumes durch Feuer und Rauch in durchhaltende Kraft verwandeln.

Sefiroula nahm die Späne auf einer Handfläche entgegen und durchstöberte sie mit dem Finger der anderen Hand. Schließlich hob sie den Beutel und schüttete die Späne hinein. »Die Müllerin quält sich, schlimmer als je zuvor«, sagte sie. »Ich habe nur auf dich gewartet. Komm!«

Vasiliki biss sich auf die Lippe. »Es kann nicht Gottes Wille sein, dass wir die Toten rufen.«

Sefiroula ging zur anderen Seite des Gewölbes. »Woher willst du wissen, was Gott will und was nicht?« Sie nahm einen getrockneten Flaschenkürbis von der Wand. Mit einem schnellen Schwung zog sie ihn durch die Luft. Die trockenen Wacholderbeeren im Inneren der dünnen Kalebasse rasselten.

Vasiliki atmete durch. Sie spürte die Wirkung des Klanges sofort. Um sich gegen den Sog zu wehren, sagte sie: »Jesus hat vor Menschen gewarnt, die in seinem Namen Wunder vollbringen oder Dämonen austreiben. So steht es geschrieben. Papa Gregorios hat mir die Stelle gezeigt.«

Sefiroula steckte die Kalebasse in den Gürtel ihres groben Gewandes und nahm eine Baumwolltasche vom Balken an der Wand. »Nichts, was ich tue, steht im Widerspruch zu Gott«, erwiderte sie und verließ den Raum.

Vasiliki folgte ihrer Tante in die gute Stube.

Das kleine Zimmer war mit Holzdielen ausgelegt. In der Ecke brannte ein Licht, ein winziger Docht schwamm in einem Ölgefäß. Ikonen lehnten neben einem Räuchergefäß an der weiß gekalkten Wand. Eine kleine goldene Schale aus Messing zierte den Tisch. Sefiroula stand bei den Heiligenbildern.

Vasiliki verharrte in der Tür und lehnte sich mit dem Oberkörper gegen den Rahmen. »Papa Gregorios hat mir die Augen geöffnet. Du hast dich von Gottes Wort entfernt. Er schlägt eine Austreibung im Namen des Herrn vor.«

Ruhig und gelassen bekreuzigte sich Sefiroula und nahm eine der Ikonen hoch. »Glaubst du wirklich, die Toten stehen mit dem Teufel im Bunde? Ihr gewaltsamer Tod hat ihre Seelen an unsere Welt gebunden. Es ist unsere Aufgabe, ihnen zu helfen und ihren Kindern und Witwen. Warum willst du vor dieser Aufgabe fliehen?«

»Sefiroula… schnell, kommt!«, ertönte es vom Hof.

Die Tante ging zum Fenster und öffnete den hölzernen Laden. Sie hob den Arm und winkte zum Zeichen, dass sie verstanden hatte. Dann drehte sie sich um. »Wir gehen jetzt zur Mühle. Die Müllerin braucht uns.«

»Ich weiß nicht, Tante…«

»Du weißt nicht? Die Seelen unserer Männer sind unerlöst. Ohne dich werden wir ihr Geheimnis nicht lüften. Willst du, dass eine Frau nach der anderen zugrunde geht?« Sefiroula zog eine winzige Phiole hervor. »Da, nimm deinen Schluck. Er wird dich gegen die bösen Kräfte schützen. Der Priester ist ein Narr.«

Widerwillig nippte Vasiliki an der Öffnung. Sefiroula löste die Kalebasse von ihrem Gürtel und schüttelte das Instrument. Die Wacholderbeeren rasselten.

»Gottes Kraft ist unteilbar!«, rief sie aus.

Vasiliki schüttelte sich. Das trockene Rasseln lockte sie.

2

Wie eine unsichtbare Schlange glitt das Rasseln durch die Luft. Sefiroula trat mit ihrem Stab aus Eibenholz vor das Hoftor. Auf dem Pfad zum Dorf war niemand zu sehen. Um diese Tageszeit arbeiteten die Nachbarn in den Gärten oder hüteten das Vieh. Gut so, dachte sie. Keine Leute, kein Getuschel.

Vasiliki folgte ihr mit dem schwebenden Gang, der ihre Verbindung mit dem Rasseln bereits deutlich verriet. Schon als kleines Mädchen hatte Sie Anzeichen der Gesichte gezeigt. Nie würde Sefiroula vergessen, wie das Kind mit dem Flaschenkürbis in der Hand über den Lehmboden des Vorratskellers gekrochen war. Nach wenigen Augenblicken hatte sie sich aufgerichtet und mit einer tiefen Stimme gesprochen, die Sefiroula das Blut in den Adern gefrieren ließ. Den Klang dieser Stimme würde sie nie vergessen.

Über zehn Jahre waren seit diesem Tag vergangen. Vasiliki war zu einer jungen Frau herangewachsen. Sie hatte die schlanke Gestalt ihres Großvaters geerbt und die wilden Locken ihrer Mutter. Für gewöhnlich gelang es ihr mit Mühe, den Schopf mit einem Tuch zu bändigen, doch nun trug sie ihr Haar offen. Du wirst eine mächtige Mágissa, dachte Sefiroula.

Die beiden Frauen schlugen den Weg zum Brunnenhäuschen ein. Immer wieder hob Sefiroula den Flaschenkürbis und rasselte. Sie spürte die Geister um sich herum, aber sie vermochte nicht, wie Vasiliki in ihre Welt hineinzusehen.

 

Als sie im Dorf das Wasserbecken unter den Akazien erreichten, lehnte Sefiroula ihren Stab gegen den Stein und schöpfte als Erste mit bloßen Händen Wasser. Bald würden sich die Blüten der Akazien öffnen und das Summen der Bienen die Luft erfüllen.

Sie wusch sich das Gesicht und die Hände und trank einen Schluck. Vasiliki wusste zwar, dass sie über die Kraft verfügte, aber nicht warum. Sie hatte die schreckliche Zeit damals nicht miterlebt.

Während ihre Nichte sich schweigend und mit abwesendem Gesichtsausdruck erfrischte, ergriff Sefiroula erneut die Kalebasse und rasselte. Spatzen flogen hoch, Zweige wippten. Irgendwann muss ich dem Mädchen die Wahrheit sagen, dachte sie.

Am Ende der Gasse blieben die beiden Frauen vor der Tür eines Hauses stehen. Sefiroula zog eine Kerze aus der Tasche und kniete nieder. Sie entzündete das Wachslicht mit Zunder und Stein aus einem Lederbeutel, den sie unter ihrer langen Weste trug. Geschickt stellte sie die brennende Kerze in den Türrahmen.

3

»Sei gegrüßt, Müllerin«, sagte Tante Sefiroula. »Wie fühlst du dich?«

Die Frau machte keine Anstalten, sich zu bewegen. Sie lag auf ihrer Schlafstatt wie tot, das Gesicht ein erloschenes Feuer: kalt und grau zugleich. Leer starrte sie auf das Gebälk unter dem Dach. Ihre Tochter stand an der Bettstatt, die Hände hilflos vor dem Bauch gefaltet.

Sefiroula zog die Tasche von der Schulter und reichte sie ihrer Nichte. Vasiliki wusste sofort, was zu tun war. Sie ging in die Küche, wo sie die Tasche neben dem Kamin abstellte und niederkniete. Nacheinander holte sie den Mörser hervor, die Kiefernspäne, das Lorbeerholz und die getrockneten Zistrosen. Schließlich fand sie auch das Räuchergefäß und das geschnitzte Kästchen aus Holz und stellte es in den Kamin. Die beiden Frauen sprachen im Nebenraum. Es war nur ein leises Flüstern, aber Vasiliki hörte es doch.

»Ich habe meine Nichte mitgebracht. Sie wird uns helfen.«

»Ist sie nicht zu jung?«

»Mach dir keine Sorgen, meine Liebe. Sobald das Holz zu glühen beginnt, bist du frei.«

Das Reisig brannte. Vasiliki zog das Kästchen und den Mörser heran. Als sie den Deckel hob, stieg ihr der Duft von Königskerze, Johanniskraut und Engelwurz in die Nase.

Während sie die Kräutermischung im Mörser zerstieß, begann ihr Herz zu klopfen. Lorbeer süß und Kiefer schwer; Zistrosenzauber umso mehr. Dreh den Stößel dreh und dreh, dass vergeh das böse Weh. Auch geheime Verse zu sprechen war eine Sünde.

Vasiliki starrte auf den glatten Mörser aus Olivenholz »Mir ist schwindelig.«

Sefiroula kniete nieder und berührte ihre Schulter. »Das macht nichts, verreibe nur… Ich suche ihn jetzt im Haus. Ruf mich, wenn du seine Nähe spürst.«

Die Tante nahm das Räuchergefäß. Geschickt schob sie die heruntergebrannten Hölzer zusammen und pustete, bis die Glut das tiefe Schwarz durchdrang.

»Mir ist schwindelig…«

Sefiroula beugte sich vor und nahm eine Prise Kräuter aus dem Olivengefäß. Ihre Fingerspitzen färbten sich rot. »Hab keine Angst. Ich lege die Seelen unserer Helfer in die Glut und spreche den Satz.« Sie rieselte die Kräuter auf die Glut. Diese kräuselten sich still und lösten sich in einem Faden duftenden Rauches auf. »Höre mich!«, rief Sefiroula leise. »Komm heran!«

Von einem weiteren Schwindelanfall erfasst, ließ Vasiliki Mörser und Stößel los. Sie hatte plötzlich das Gefühl, im Nebel zu stehen. Die Kräuter zischten im Nebenraum. Tante Sefiroula hielt einen Krähenflügel in der Hand und fächerte den Rauch. Ihre Stimme klang wie aus weiter Ferne. »Bleib ruhig, mein Kind. Spürst du seine Nähe, oder sind es mehrere?«

Vasilikis verlor das Gleichgewicht. Sie spürte, wie sie auf den Boden sank. Ihre Atmung wurde flach. Sie hörte das Murmeln der Tante, aber der Raum, der sich um die geheimen Verse bildete, war anders als sonst. Hilf mir, Jesus Christus, begann sie zu beten, doch dann stand die Welt still.

 

Vasiliki blickte über eine Wiese auf das Ufer eines Sees. Nebel zog über das Wasser hinweg. Von einem Windhauch erfasst, öffneten sich die Schleier und gaben Gestalten frei: Reiter auf kräftigen Pferden umringten einen alten Mann. Der kniete vor einem Rappen, auf dem eine Gestalt in grünem Gewand mit Turban saß. Ebenso wie der Reiter seinen Säbel schwang, hielt der kniende Mann eine Ikone in der Hand. Er schien Vasilikis Anwesenheit zu bemerken, denn er drehte langsam den Kopf und hielt ihr das Gnadenbild entgegen. Das Pferd des Reiters stieg hoch. Der alte Mann drehte das hölzerne Bildnis um. Auf der Rückseite der Ikone leuchtete etwas Weißes auf, ein Zeichen wie mit weichen Pinselstrichen gemalt, aber schon sauste das Rasseln über die Wiesen und drang von Weitem zu ihr heran, ein Geräusch hart wie trockenes Salz. Es traf sie mitten ins Gesicht.

»Da bist du ja wieder«, sagte Tante Sefiroula und legte die Rassel zur Seite. Sie beugte sich vor und strich ihrer Nichte das Haar aus der Stirn.

Vasiliki lag auf dem Sofa, ein Kissen hinter dem Kopf. Sie zwang sich, die Augen offen zu halten, um nicht zurück in die Tiefe zu sinken. Sie war an einem anderen Ort gewesen! Vielleicht war ihr deshalb noch immer schwindelig. Die Leibhaftigkeit des Traumes machte ihr Angst.

Mit halb geöffneten Augen blickte sie in das Zimmer. Auf dem zweiten Sofa saß die Müllerin und trank Milch, als sei nichts geschehen. Staubteilchen wirbelten im milden Licht der Sonne hoch. Draußen vor der hölzernen Fensterfront raschelten die Blätter des Walnussbaumes im Wind. Hatte die Müllerin nicht eben noch wie tot auf der Schlafstatt gelegen?

»Ich muss aufstehen«, sagte Vasiliki und hob die Füße vom Sofa. Mühsam setzte sie sich auf die Kante.

»Bleib noch liegen.« Sefiroula legte ihrer Nichte die Hand auf die Schulter. »Du bist noch nicht wohlbehalten zurück.«

»Lass mich, ich will hinaus.« Vasiliki wehrte die Hand ab.

»Was hast du gesehen, mein Kind? Erzähl es mir.«

»Nein.«

»Glaubst du, dein Priester kann dir helfen? Der Mann ist dumm, und sein Herz ist hart, er will nur kämpfen und siegen. Wir Frauen sind dem Wirken der anderen Welt auf eine ganz andere Art verbunden als er!«

Vasiliki sprang auf und drängte ihre Tante zur Seite.

Erst in der Gasse wachte sie richtig auf und blickte sich rasch um. Sie stand allein zwischen den Mauern.

Die Wesen waren so echt und wahrhaftig erschienen – wie lebendige Menschen! Vor allem der alte Mann auf den Knien, mit dem Dolch und der Ikone. Wer war er, und was hatte er von ihr gewollt?

4

Vasiliki hastete den einsamen Feldweg zum Kloster des Heiligen Gerassimos hinauf. Der Wind fegte über die Wiesen. Tief und heftig sog sie die frische Luft in ihre Lungen. Wenn ihr jemand helfen konnte, dann war es Papa Gregorios. Er betete fünfmal am Tag und lebte von Wasser, Gemüse und Brot.

Das Klosterportal stand offen. Im kleinen Hof war es still. Von der Ruhe des Ortes berührt, überquerte Vasiliki den Hof und betrat die Kirche.

Papa Gregorios stand an der Ikonenwand. Sein Bart reichte bis an Wangen und Ohren und ließ zwei strenge Augen frei. Hinter seinem Hut fiel ein Zopf über die knochigen Schultern herab auf den Rücken.

Die Öllämpchen flackerten auf. Vasiliki fürchtete sich plötzlich davor, zu berichten, was ihr geschehen war. Einen Atemzug lang wusste sie nicht, wo sie hinschauen sollte. Hitze stieg in ihr hoch und griff nach ihrem Hals. Sie drehte sich um. Über dem Eingang der Kapelle drohte das Jüngste Gericht. Die Seligen stiegen in den Himmel, die Verdammten stürzten in die Hölle hinab.

Papa Gregorios kam näher. »Du zitterst ja, Mädchen. Was ist mit dir?«

Vasiliki blinzelte und fürchtete, kein Wort über die Lippen zu bringen. »Ich habe gesündigt, Vater. Ich war an einem Ort, der mir verboten ist.« Sie hob den Blick und sah den Priester an.

»Sefiroula übt einen schlechten Einfluss auf dich aus. Sie versucht, Gott ihren Willen aufzuzwingen, statt sich Ihm zu unterwerfen. Das ist Hochmut und übles Werk. Es wird höchste Zeit, dass du von hier fortkommst.« Er kniete nieder. »Wir sollten beten: Kommt her zu mir, all ihr Mühseligen und Beladenen, und ich werde euch Ruhe verschaffen.«

Vasiliki tat es dem Priester gleich. Während Papa Gregorios einen Rosenkranz mit einem Kreuz aus seiner Kutte zog und weitersprach, kämpfte sie erneut gegen das Zittern, das sie überwältigen wollte.

»Fürchtest du Unheil in finsterer Schlucht?«, fragte er und hielt das Kreuz in seiner Hand hoch. »Was ist es genau, was dich bedrückt?«

Vasiliki hätte sich am liebsten in eine der Ecken verkrochen. Wie sollte sie ihm erklären, was mit ihr geschah? Der Wind, die jähen Geräusche, flatternde Schatten und dann die Gestalt am See. Oft genug hatte sie den Frauen beim Backen in der Mühle gelauscht. Wer über die Gesichte verfügte, wurde zum Spielball der Toten und bezahlte mit seelischer und körperlicher Qual.

»Ich sehe Dinge, die nicht wirklich sind«, gestand sie regungslos. »Es scheint nur, als wären sie da. Zeichen, Stimmen, von denen ich nicht weiß, ob sie aus dieser Welt stammen oder aus einer anderen. Sie suchen meine Nähe.«

Papa Gregorios senkte die Hand auf sein Knie. »Du musst dich entscheiden zwischen Jesus und der Verführung durch den Teufel. Tugend und Rechtschaffenheit sind die Waffen gegen ihn. Je größer die Anstrengung, desto größer die Belohnung.«

»Ich bin zu allem bereit, Vater.«

Das Kreuz pendelte unruhig hin und her. »Fühlst du dich bedroht?«

»Manchmal weiß ich nicht mehr, wer ich bin.«

»Wir erbitten deine Vergebung, o Gott, und erflehen deine Verzeihung«, betete der Papas leise, »so wie du wünschst, dass sich deine Diener dir zuwenden. Und richte deinen Blick nach oben.« Er wies mit dem Kopf in die Kuppel der kleinen Kirche. »Dort ist das Firmament, aus dessen Mitte der Herr auf uns herabsieht. In seinem Blick findest du Erlösung, nicht im Murmeln von Beschwörungen. Jesus Christus wird dich schützen. Die Seele deiner Tante gehört bereits dem Herrn der Finsternis.«

Die Heiligen auf den Fresken blickten auf Vasiliki herab.

»Was ist mit den Männern unserer Sippe geschehen, Vater?«

Papa Gregorios stand mit einer raschen Bewegung auf. Sein hagerer Körper blieb krumm. »Das ist lange her. Du warst noch nicht geboren. Wie kommst du auf diese Frage?«

Mit wenigen Worten berichtete Vasiliki, was am Nachmittag bei der Müllerin geschehen war.

»Und deine Tante fordert dich auf, mit ihnen in Verbindung zu treten?«, fragte der Priester.

Plötzlich fühlte sich Vasiliki wie eine Verräterin. Im Haus von Sefiroula hatte sie das Laufen gelernt, in der gemütlichen Stube zum ersten Mal die Ostergeschenke entdeckt: Sesambrötchen, Apostelkuchen und rote Eier. Später war die Tante mit ihr zu den Wiesen oberhalb des Dorfes gelaufen und hatte ihr im hüfthohen Gras den Unterschied zwischen Adam und Eva erklärt. »Sie glaubt, Gutes zu tun«, antwortete Vasiliki schwach. »Sie ist der Meinung, Gottes Wort zu verwenden wie du, mit Räucherwerk und Öl.«

Papa Gregorios schnappte nach Luft. Er steckte den Rosenkranz ein. »Wenn ein Mann oder Weib ein Wahrsager oder Zeichendeuter ist, wird er des Todes sterben. Man soll sie steinigen. Dein Vater will, dass du keinen Tag länger bei deiner Tante bleibst. Er hat mich gebeten, dich in ein christliches Haus zu führen. Wie recht er doch hat. Du gehörst in ein Haus voller anständiger und gottgefälliger Menschen.«

Vasiliki hob den Kopf. »Vater, du hast mir noch keine Antwort auf meine Frage gegeben.«

Papa Gregorios’ Augen wurden schmal. »Hat deine Tante jemals mit dir über deinen Großvater gesprochen?«

»Ja, er ist ertrunken.«

Der Priester ging langsam zur Ikonenwand, wo er die rechte Pforte öffnete und in die Sakristei trat. Als er kurz darauf zurückkehrte, trug er eine Ikone vor sich her und hielt sie ins flackernde Licht der brennenden Kerzen. Die Oberfläche des Olivenholzes glänzte, war aber gleichzeitig von matten Flecken übersät. Der Heilige Salomon, der weise König von Jerusalem, deutete auf den Tempel, dessen Erbauer er war.

»Diese Ikone gehörte ihm«, sagte Papa Gregorios. »Ich habe sie gereinigt. Sie war voller Blut.« Er nickte ernst. »Der Zustand dieses heiligen Bildes zeigt, was für ein Sünder er war. Er hat den Feinden Gottes gedient, genau wie deine Tante. Die Hirten haben neben dieser Ikone Reste seiner Kleidung gefunden, oben in den Wäldern am Pass.«

Vasiliki holte tief Luft. Sie hatte plötzlich das Gefühl zu ersticken. Sie hatte die Ikone doch gerade erst in der Hand des knienden alten Mannes gesehen!

»Ich habe…«, stammelte sie.

Sanft legte der Priester seinen Arm um ihre Schultern und führte sie zum Ausgang der Kapelle. »Es wird allerhöchste Zeit, dass du aus diesem Dorf fortkommst. Übermorgen ist der Tag des Heiligen Kyrill. Kurz vor Sonnenaufgang brechen wir auf. Deine Tante darf nichts davon erfahren!«

Er drückte ihr das kleine Heiligenbild in die Hand und öffnete die Tür einen Spalt. Sonnenstrahlen fielen in einem schrägen Winkel herein.

5

Vasiliki hielt die kleine Ikone des Heiligen Salomon hoch und lief in der Küche auf und ab. »Ein Untoter, ein Wrúkolas! Kein Wunder, dass sich das ganze Dorf vor unserer Familie fürchtet und alle einen weiten Bogen um uns machen«, rief sie aufgeregt.

Im Kamin brannte ein Feuer. Sefiroula saß auf der Bank neben der Feuerstelle und zog gekämmte Wolle vom Rocken. Geschickt spann sie mit zwei Fingern eine Faser und wickelte sie auf den hölzernen Stab, der unter ihrem Arm klemmte.

»Wie konntest du mir ein Leben lang verschweigen, dass ich einen Großvater habe, dessen Gebeine nicht in geweihter Erde liegen? Warum hast du mir nichts von ihm erzählt?«

Sefiroula blickte kurz auf. »Dein Großvater war ein guter Mann. Er hat Menschen geheilt«, erklärte sie ruhig.

»In Gottes Namen, irgendeine Sünde muss er doch begangen haben, sonst wäre seine Seele frei. Er ist ein Toter ohne Grab. Was hat er nur getan, dass Gott ihm die Erlösung verweigert?«

Sefiroula setzte mit der rechten Hand die Spindel in Bewegung. Sie zwirbelte den Faden lang. »Gut, ich erzähle es dir. Es geschah in der Schlucht, dort gibt es eine Höhle, an der Stelle, wo der Fluss im Sommer kein Wasser führt.«

Vasiliki bückte sich. Sie griff nach den beiden Kämmen für das Kadern der Wolle. Sie schwieg und begann zu helfen. Die Tante sprach offenbar von der Stelle, wo sie einige Tage zuvor eingeschlafen war.

Sefiroula nahm den Faden ab und wickelte ihn um die Spindel. »Unser Dorf wurde angegriffen. Es war ein heißer Tag, kurz nach Maria Entschlafung. Wir lebten zu dieser Zeit oben auf der Alm in Hütten. Du warst noch nicht geboren. Ich hatte gerade die Ziegen gemolken, als ich den Lärm und das Geschrei hörte. Ich dachte sofort, dass es Muselmanen sind, die unser Lager überfallen. Das geschah damals öfters als heute. Ich lief hinunter in die Schlucht, wo wir uns im Notfall versammelten. Wir konnten damals noch zur Höhle hinaufklettern. Den Eingang hatten wir schon Wochen zuvor mit Felsbrocken und Steinen verschlossen und Buschwerk gesammelt und die Höhle von außen unsichtbar gemacht.«

Vasiliki zog die Wolle mit den Kämmen auseinander und zupfte die geglättete Wolle zurecht.

»Es herrschte große Aufregung, Frauen, Kinder und ein paar alte Männer waren da. Dein Großvater, den alle den Matsúkas nannten, half uns hinauf. Wie ein Prophet ragte er aus der Menge. Er trieb die Leute zur Eile an: Weiter, weiter! Als deine Mutter erschien, schimpften die Frauen, weil sie euren Erstgeborenen im Arm trug. Die Frauen wollten keine Wöchnerin im Versteck. Der Matsúkas befahl Ruhe und mahnte zur Eile. Jedes Geräusch in der Schlucht war von Weitem zu hören. Das Gezänk der Frauen wurde lauter. Es brauchte einige strenge Ermahnungen und Stockhiebe, bis wir endlich alle oben in der Höhle hockten. Mit den letzten Steinen verschlossen die Männer den Ausgang.«

Vasiliki spürte einen Druck in ihrer Brust. »Ich hatte einen Bruder?«

»Ja, der Erstgeborene eurer Familie. Seine Taufe stand kurz bevor. Er sollte den Namen Kimon erhalten.«

Für eine Weile herrschte Stille.

»Wir hörten ihre Stimmen, nur wenige Meter von der Höhle entfernt«, fuhr die Tante fort. »Wir hockten in der Dunkelheit und beteten. Ich hoffte inständig, die Ungläubigen würden den Weg durch die Schlucht weitergehen und verschwinden, doch sie blieben. Ich schwitzte und merkte, wie es in meinem Hals zu kratzen begann. Ich räusperte mich leise. Sofort stieß mir meine Nachbarin den Ellbogen in die Seite. Jedes Geräusch konnte uns verraten. Nur mit Mühe konnte ich ein Husten unterdrücken. Plötzlich begann der Säugling zu wimmern.«

»Oh Gott…«, hauchte Vasiliki. Ihre Hände mit der Wolle erstarrten. »Und?«

»Sein Schluchzen nahm zu, und die anderen Kinder in der Höhle wurden unruhig.«

»Hat meine Mutter irgendetwas getan, um ihn zu beruhigen?«

»Deine Mutter hat alles getan, um ihr Kind zum Schweigen zu bringen, aber der Kleine fing an zu schreien, und es gibt ein Gesetz, mein Kind. Das Überleben der Gemeinschaft kommt zuerst und dann das Leben eines ungetauften Kindes. So einfach ist das. Als dein kleiner Bruder nicht aufhörte zu schreien, war er dem Tod geweiht. Es ging alles sehr schnell.«

Vasiliki saß wie betäubt da. Dann fing sie wieder an, vorsichtig zu bürsten. Sie wagte die Frage kaum zu stellen: »Ihr habt ihn…?«

Sefiroula drillte den Faden. »Es war die Aufgabe deines Vaters.«

Vasiliki seufzte schwer. »Mein Vater hat…?«, hob sie an.

»… nein, hat er nicht.«

Die Antwort schien in der Spindel hängen zu bleiben und zu drehen und zu drehen. Sefiroula hatte die Augen zusammengekniffen, ihre Lippen waren dünn wie der Faden, sodass sie fast verschwanden. »Dein Großvater«, sagte sie schließlich, »hat seinen Enkel mit eigenen Händen erstickt.«

»Oh Gott«, stieß Vasiliki aus.

Sefiroula hielt die Spindel ruckartig an und griff nach ihr. »Ja, Gottes Wille geht seltsame Wege«, seufzte sie. »Dein Großvater hat uns gerettet und sich gleichzeitig schuldig gemacht.«

»Du hast gesagt, er war ein Heiler. Wie konnte er nur so etwas tun?«

Sefiroula hielt den Kopf gesenkt und wickelte den Faden auf. »Er hat sich erbarmt, mein Kind. Erbarmt hat er sich, denn es wäre die Pflicht deines Vaters gewesen.«

»Die Pflicht meines Vaters? Was ist das für eine Pflicht? Er hat sein Kind geliebt. Das kann ihm doch keiner zum Vorwurf machen!«

»Pflichten und Gesetze sind da, um erfüllt zu werden«, fuhr Sefiroula hoch. »Verstehst du? Deine Mutter hätte trotz ihrer Trauer stolz sein können auf sich und ihren Mann. Nun aber wurde sie zusätzlich für seine Feigheit verachtet. Dein Vater hat sich wie ein Feigling benommen, und dein Großvater hat menschliche Größe bewiesen. Für diese Größe haben wir ihn verehrt. Er hat sich für uns geopfert. Verstehst du das? Dieses Opfer haben wir ihm mit Liebe gedankt. Davon hat Papa Gregorios dir wohl nichts erzählt, was?«

Vasiliki ließ ihren Blick durch den kleinen Raum schweifen. In der Ecke brannte das Licht, ein winziger Docht in einem kleinen Gefäß mit Öl. Wie immer standen die Ikonen feierlich aufgereiht neben dem Räuchergefäß. Behutsam nahm sie die Ikone des Heiligen Salomon, die neben ihr lag, und betrachtete die dunklen Flecken auf dem Holz. Obwohl die Worte ihrer Tante sie noch innerlich bewegten, fiel ihr etwas auf. In ihrem Traum hatte sie keine Blutflecke auf dem Holz gesehen. Nur hochgehalten hatte der alte Mann das Gnadenbild und ihr die Zeichen auf der Rückseite gezeigt.

»Ich sehe deinen Großvater noch vor mir«, fuhr Sefiroula fort. »Er war der Erste, der aus der Höhle kroch. Er kletterte in das Flussbett und blieb stehen, wo die Ungläubigen nach uns gesucht hatten. Lange hat er in den Himmel geschaut. Ich bin sicher, er hat gebetet.«

Vasiliki hörte zu, während sie das Gnadenholz umdrehte und seine Rückseite betrachtete. Die Zeichen, die sie im Traum gesehen hatte, waren nicht mehr zu erkennen, nur das nachgedunkelte alte Holz und eine verwitterte Kerbe an der rechten Kante. War es Einbildung gewesen, was sie im Haus der Müllerin gesehen hatte, oder verstand sie die Botschaft nicht? Es war ihr Großvater, der Matsúkas, den sie gesehen hatte, aber was hatte er von ihr gewollt? Nach den Worten des Papas war er ein Wrúkolas, ein Untoter, ein Vampir!

Vasiliki drehte die Ikone wieder um und untersuchte das Bild, auf dem der Heilige Salomon neben einer Kirche stand. Das Holz lag kühl in ihrer Hand. König Salomon erwiderte ihren Blick und sah sie aus weiter Ferne an.

Plötzlich erregte etwas ihre Aufmerksamkeit. Sie beugte sich vor. War es eine Täuschung, oder lebten die Augen des Heiligen wirklich? Sie schimmerten winzig und dunkel. Es schien, als bewegten sie sich. Der Blick des Heiligen Königs löste eine überraschende Empfindung in ihr aus: Ein warmer Strom stieg rasch durch ihre Finger den Arm hinauf. Die Härchen auf ihrer Haut richteten sich auf. Mit einem tiefen Atemzug flutete das angenehme Gefühl durch ihre Schulter und weiter in ihr Herz. Gleichzeitig sprang ein Gedanke in ihren Kopf und brachte sie auf eine Spur. »Es war jener Tag, an dem die Muselmanen unsere Männer umgebracht haben, nicht wahr?«

Die Tante sah erstaunt auf. Über ihrer Nase bildete sich eine Falte, die sich aber gleich wieder glättete. Dafür wurde ihr Blick durchdringend. »Woher weißt du das?«, fragte sie und schaute zuerst auf ihre Nichte, dann auf die Ikone.

Vasiliki blieb ruhig. Es war ein seltsames Gefühl. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich ihrer Tante ebenbürtig. »Nun, wenn sie euch Frauen in der Höhle nicht gefunden haben… die Männer sind doch sicher im Lager und auf den Weiden geblieben. Hat sie niemand vor den Muselmanen gewarnt?«

Tante Sefiroula hielt ihren Blick auf die Ikone gerichtet. »Nein, niemand. Dazu ging alles zu schnell. Sie wurden überrascht.« Ihre Stimme klang belegt. »Aber das war auch nicht das Entscheidende. Selbst ohne Warnung hätten unsere Männer jeden Muselmanen besiegt.« Sie holte Luft. »Leider waren es keine Muselmanen.«

Vasiliki legte die Ikone neben sich auf die steinerne Bank. Die Tante schaute auf die Spindel, aber nur kurz, dann schien sie in der Küche etwas zu suchen, ohne es zu finden, und musterte schließlich ausgiebig ihre Nichte.

»Keine Muselmanen?«, drängte Vasiliki ungeduldig. »Waren es etwa Christen?«

»Ach was«, fand Sefiroula ihre Sprache wieder. »Es waren weder Christen noch Ungläubige. Es waren Satanádes. Das sind keine normalen Menschen, das sind Wesen, die sich in Menschenhaut verstecken.« Sie wickelte den Faden auf und senkte die Stimme: »Sie waren hinter deinem Großvater her.«

Sefiroula hielt inne und sah ihre Nichte lange an. »Er verfügte über eine Kraft, die für sie gefährlich war. Er konnte in die Herzen der Menschen sehen, auch in die Seelen der Verdorbenen und Bösen. Das Schattenlicht war ihm zugänglich, so wie dir. Das hat die Macht der Finsternis gegen ihn aufgebracht. Er war ihr Feind, und sie jagten ihn, denn er kannte ihre Geheimnisse und half den verlorenen Sündern.«

»Aber er konnte sich wehren, oder?«, stieß Vasiliki aus. »So wie du.«

»Oh ja, das konnte er, aber nur bis zu jenem Tag, über den wir sprechen. Als ich ihn das letzte Mal nach diesem Tag traf, erzählte er mir, er habe seine Gabe verloren. Gott hatte ihm die Fähigkeit genommen, ins Schattenlicht zu blicken, als Strafe für seine Tat.«

Vasiliki starrte ihre Tante an. »Du meinst den Tod meines Bruders?«

»Ja, ein Mord bleibt ein Mord, vor allem vor Gott.«

»Ich verstehe«, schloss Vasiliki. »Und dann fanden die Hirten seine blutige Kleidung und diese Ikone.«

Sefiroula hielt beim Aufwickeln des Fadens inne und legte ihr Arbeitszeug in den Schoss. »Es gibt Menschen, die meinen, er sei von Wölfen zerrissen worden.«

Vasiliki nahm die Ikone in die Hand. Papa Gregorios hatte recht: Die Vergangenheit war ihre Last und hielt sie gefangen. Die unerlösten Seelen der Ahnen bedrängten sie seit Langem. Nun griff auch ihr Großvater aus dem Reich der Toten nach ihr.

»Was ist mit meinem Vater?«, fragte sie. »Alles, was ich weiß, ist, dass ich einmal im Jahr von ihm Geschenke erhalte.«

Sefiroula schnalzte mit der Zunge. »Dein Vater ist ein Feigling. Nur zweimal nach deiner Geburt ist er gekommen, um dich zu sehen. Aber jedes Mal erschien es mir, als würde er bei deinem Anblick erschrecken.«

»Und meine Mutter?«

»Die war froh, wenn er verschwand.«

Im Feuer knackte ein Scheit. Es knisterte im Kamin.

Vasiliki senkte das Kinn auf die Brust. Die Wucht dieses Satzes sorgte für das vertraute Gefühl in ihr, das Leere und Schmerz zugleich auslöste. Sie hob den Kopf und betrachtete das Geschirr auf dem hölzernen Regal gegenüber. Tontöpfe und Krüge standen dort, als hätten sie nichts Besseres im Sinn. Immer wieder hatte sie sich Gedanken um ihre Eltern gemacht und nachgefragt, doch jedes Mal hinterließen die Antworten ihrer Tante in ihr nichts als einen Klumpen im Bauch. Sie hatte es satt, sich mit dem belehrenden Ton und den halbherzigen Erklärungen zufriedenzugeben. Jetzt war es endgültig an der Zeit, eine Entscheidung zu treffen.

»Ich will nichts mehr zu tun haben mit den Toten«, stieß sie aus.

Die alte Frau drehte wieder am Faden. »Du kannst deinem Schicksal nicht entrinnen, Kind.«

Vasiliki wurde heiß und kalt zugleich. Hilfesuchend sah sie ihre Tante an, doch die hatte sich abgewandt.

Noch während sie in Gedanken mit sich rang, lenkte der Heilige Salomon ihre Aufmerksamkeit auf sich. Aufrecht stand er da, und seine Augen betrachteten sie.

Übermorgen war der Tag des Heiligen Kyrill!

6

Der Audienzsaal war groß und von Licht erfüllt. Das Gitterwerk der Fenster warf Schatten in den Raum. Der Wesir Ali Paschá saß mit gekreuzten Beinen auf dem Sofa seiner Empore und verfolgte mit dem hungrigen Blinzeln seiner kleinen blauen Augen jede Bewegung seines Privatsekretärs. Athanassios Lagos blieb an der äußersten Säule stehen und wischte sich eine Schweißperle von der Schläfe. Der Wesir hatte seinen vierten Kaffee getrunken, doch das Getränk schien seine schlechte Laune nicht zu verbessern.

»Parga, Parga… verehrte Exzellenz, was bedeutet so eine kleine Hafenstadt?«, seufzte Athanassios, die Hand auf dem kühlenden Stein der Säule. Er löste sie und schob seine Brille etwas höher auf die Nase. »Nur ein Ort am Meer, nichts weiter!«

Der Sekretär versuchte schon seit Tagen herauszufinden, worin die Launenhaftigkeit des Paschas begründet lag, aber er fand keinen Grund dafür. Natürlich lag Parga der Insel Korfu gegenüber und war Napoleons letzter Stützpunkt auf dem Festland. Doch der Wunsch des Paschas, dieses Fleckchen Erde zu besitzen, nahm allmählich krankhafte Formen an. Dabei brauchte er den Hafen der Stadt nicht einmal. Das Jahr 1811 war ein Erfolg gewesen. Ali Paschá beherrschte als Wesir den griechischen Teil des Osmanischen Reiches, nicht der Sultan im fernen Konstantinopel. Geschickt hatte Ali seinen Söhnen Veli und Muchtar die Paschaliks von Thessalien und Moreá zukommen lassen und regierte selbst bis weit nach Albanien hinein. Außer Athen und Attika war dem Sultan nicht viel geblieben in griechischen Landen. Ali Paschá befand sich auf dem Höhepunkt seiner Macht. Engländer und Franzosen lagen ihm zu Füßen. Er hatte gut fünfzehntausend Mann unter Waffen und konnte sie innerhalb von Tagen verdoppeln. Wie ein zweiter Padischah saß er hier in seiner Ecke der Welt, doch statt den Ruhm zu genießen, schürte er den Schmerz, den ihm Parga verursachte, nur weil es das letzte Fleckchen Erde an der Küste war, das ihm nicht gehörte. War es wirklich wert, alles zu riskieren, was er bisher erreicht hatte?

Athanassios betrachtete nachdenklich den fein gearbeiteten Stuck an der Saaldecke mit seinen kirschroten Arabesken und blaugelben Verzierungen. Durch den Krieg gegen Napoleon waren die Küste von Epirus und Ali Paschá in den Blickpunkt der Engländer geraten. Obwohl er ein Untergebener des Sultans war, erlaubte der Wesir sich, den beiden europäischen Mächten gegenüber wie ein eigenständiger Despot aufzutreten und hatte erstaunlicherweise Erfolg damit.

Athanassios spürte, wie sich an seiner Schläfe eine Schweißperle bildete. »Die Briten sind dort, wo du sie haben willst: Der Lord Oberkommissar Sir Thomas hat um eine Audienz gebeten, um sich deiner Freundschaft zu vergewissern, Exzellenz. Bei dieser Gelegenheit lässt sich bestens über Parga verhandeln. Napoleon wird scheitern und die Briten werden den Hafen von Parga übernehmen, ohne dir zu schaden. Es sind Männer, die ihr Wort halten. Hast du das nicht selbst gesagt?«

»Nun, das stimmt, alter Freund«, lenkte der Pascha ein. »Gestern habe ich ihre neuen Waffen erhalten. Es sind hohle Speere mit Pulver gefüllt. Wo sie aufschlagen, zerfetzen sie jeden Körper. Tabak!«

Während zwei junge Diener in dunkelroten Kaftanen aus einer der Nischen zum Pascha huschten und sich um seine Pfeife bemühten, blickte Athanassios angestrengt auf den Steinfußboden und dann zu den Spitzbögen der hohen Fenster. Wie konnte es ihm nur gelingen, den Pascha zu einem offiziellen Bündnis mit den Engländern zu bewegen?

»Setz dich zu mir.« Ali Paschá winkte seinen alten Sekretär heran. »Du bist mir schon immer der Beste gewesen, wenn es um die Bedürfnisse des Leibes geht. Ich möchte dich ganz in meiner Nähe wissen.«

Athanassios zögerte, aber nur kurz. Er fühlte sich geschmeichelt, wenn der Pascha so zu ihm sprach. Diese Ehre gewährte er keinem Christen, nur den Muselmanen. Athanassios sank auf das blaue Sofa mit den mit goldenen Bordüren geschmückten Kissen. Seit Tagen arbeitete er an einem Plan, wie der Pascha seine Macht dem Sultan gegenüber ausbauen konnte, doch der Moment, ihn preiszugeben, war noch nicht reif.

»Ist dir noch daran gelegen, meine Wünsche zu erfüllen?«, holte ihn Ali Paschá aus seinen Gedanken zurück. Athanassios glaubte einen Augenblick lang, der Herrscher würde ihm die Hand auf den Oberschenkel legen wie früher, aber der runzelte nur die Stirn und berührte seine Wange. »Oder kann ich selbst meinen alten Gefährten nicht mehr trauen?« Alis Finger kniffen zu, als löschten sie das Licht einer Kerze. »Was macht die Suche nach den jungen Blüten, hast du schon eine im Auge?«

»Es… es ist nicht so einfach, Hoheit. Unsere Leute sind draußen, aber die Griechen geben acht. Mit jedem Jahr wird es schwieriger, Jungfrauen zu finden.«

Ali Paschá ließ seinen Arm sinken und nahm einen Zug aus seinem Tschibuk. Er richtete sein Augenmerk auf die beiden Knaben, die im Halbdunkel still auf ein Zeichen ihres Herrn warteten.

»He, ihr beiden… kümmert euch um meine Pfeife, oder seid ihr eingeschlafen?«

Die jungen Diener näherten sich mit vor der Brust verschränkten Armen. Sie begegneten dem Herrscher mit gesenktem Blick.

»Hier, auf diese Seite, Antonio… komm, mein Junge«, befahl der Pascha und klopfte neben sich auf das rote Samtkissen. »Ich habe ein süßes Stück Loukoúmi für dich.«

Während der etwas größere Knabe auf einem Bein niederkniete, um die Pfeife zu richten, glitt der andere zu Ali Paschá und rutschte neben den alten Mann auf das Sofa.

»Ich hoffe, du vernachlässigst diese Angelegenheit nicht«, sagte Ali Paschá und hielt dem Knaben das Stück gezuckerte Gelatine über den Mund. »Möchtest du vom Duft des Paradieses kosten, mein Sohn?«, fragte er in zärtlichem Ton. Der Junge legte seinen Kopf in den Nacken und öffnete langsam den Mund. In seinem Gesicht war keine Furcht vor dem alten Mann zu erkennen, er schielte nach dem zuckersüßen Stück.

»Du kannst gehen«, sagte der Pascha an Athanassios gewandt.

Der Sekretär stand auf und zog sich ein paar Schritte zurück, den Kopf geneigt. Er tat, als würde er sich für die Gunst bedanken, doch je älter er wurde, desto mehr hasste er dieses Spiel, das der Pascha mit ihm trieb: Komm her, setz dich zu mir, geh weg, lass mich mit den Knaben allein; komm her, bring mir Jungfrauen, verschwinde.

Doch er unterdrückte die aufkeimende Wut. Der einzige Weg, am Hof zu überleben, bestand in der Konzentration auf die Aufgabe, die vor einem lag. Erst gestern hatte der Pascha persönlich den Minister Kostas Kaláris von der Mauer gestoßen, weil dieser vergessen hatte, ein Schreiben aus Marseille zu beantworten. Und im Vergleich zur einfachen Korrespondenz war es ein hartes Stück Arbeit, junge Mädchen für den Herrscher aufzuspüren. Männer und Frauen, die bereit waren, für ein paar Piaster ihre Augen offen zu halten, gab es genügend, aber die Bevölkerung hatte begonnen, sich ihre Gesichter und Namen zu merken. Heiratsfähige Mädchen wurden in den Häusern versteckt oder in die Berge zu Verwandten geschickt. Manche gingen mit ihren Familien ins Ausland. Vor allem aber hatten wohlhabendere Pelz- und Tuchhändler der gut dreitausend griechischen Familien in Ioannina ihrer Heimatstadt bereits den Rücken gekehrt.

»Ich habe die Tochter des neuen Hauptmanns der Artillerie gefunden. Ihre Ankunft in der Stadt steht kurz bevor.«

»Gut«, brummte Ali Paschá und lehnte sich in die Kissen zurück. Sein Blick wanderte über eines der roten, mit goldenen Rauten verzierten Kissen. »Du weißt, wie wichtig der Vater dieses Mädchens für mich ist.«

»Selbstverständlich«, hauchte Athanassios und verbeugte sich. »Kein Grieche wird sich gegen dich erheben. Sie sind froh, unter deinem Schutz in Ruhe Handel treiben zu können. Weißt du noch, wie es früher war? Damals haben wir so manche Karawane in Stücke zerlegt und die Beute säckeweise weggeschleppt.«

Der Pascha zog dem Knaben neben sich genüsslich das Ohr lang. »Das ist lange her, mein Freund. Vergiss die jungen Blüten nicht. Ihr Leben ist mehr wert als deines. Und nun hinweg mit dir, lass mich alleine mit diesem Jungen.«

Athanassios verneigte sich, konnte jedoch nicht verhindern, dass ein Stich sein Herz durchfuhr. Plötzlich erfüllte ein bitteres Gefühl seine Brust. Was für ein widerlicher alter Mann war Ali von Tepeléni geworden, geil und voller Ansprüche an eine Welt, die unter ihm litt. In allen Teilen des Landes ließ er Jungfrauen und Knaben entführen. Diese Gier ekelte Athanassios an. Wo war ihre Freundschaft von einst geblieben, das Gefühl der Verbundenheit? Ich verzehre mich, und du überlässt mir einzig deine Opfer.

»Ruht wohl, mein Herrscher, gute Nacht«, sagte er mit einem Blick auf den massigen Mann auf dem Sofa, neben dem der Knabe kaum zu erkennen war. Er verneigte sich tief. Behandle mich ruhig wie einen Sklaven und bedrohe mein Leben; irgendwann wirst du dich meiner erinnern. Und dann zeige ich dir, was wahre Freundschaft ist!

7

Als die Sonne hoch über den Bergen stand, erreichten Vasiliki und Papa Gregorios mit ihrem Maultier den Pass. Das zerklüftete Bergland mit seinen Tälern und Gipfeln lag hinter ihnen. Der Weg schlängelte sich in die Ebene von Ioannina hinab. In der Ferne erschien die Stadt. Die Dächer der Paläste und Häuser leuchteten im Nachmittagslicht, und schlanke Türme ragten in den Himmel.

Vasiliki fühlte sie wie eine Diebin und war gleichzeitig froh. Die heimliche Flucht war der einzige Ausweg gewesen. Tante Sefiroula hätte der Hochzeit niemals zugestimmt!

In der Ebene tauchten wieder Menschen auf; Männer mähten Gras, das Frauen einsammelten und in große Körbe packten. Andere bündelten das Stroh. Auf den Pferden stapelten sich hohe Ladungen.

»Ab hier verhüllst du besser dein Gesicht«, befahl Papa Gregorios. »Uns kommen Muselmanen entgegen.«

Rasch zog Vasiliki die unteren Enden ihres Kopftuchs über Mund und Nase, gerade noch rechtzeitig, um sich vor den Blicken der Fremden zu schützen. Es waren Bauern in zerschlissenen Kaftanen und weißen Turbanen. Im Vorbeigehen grüßten sie mit einem knappen Salam aleikum und zogen weiter. Vasiliki atmete auf. Sie wollte so wenigen Muselmanen wie möglich begegnen. Der Gott dieser Ungläubigen verleugnete Jesus und den Heiligen Geist.

»Woran glauben die Muselmanen eigentlich?«, fragte sie. »Haben die keine zehn Gebote, keinen Gott?«

Papa Gregorios warf Vasiliki einen Blick zu, der aus seiner Abscheu keinen Hehl machte. »Muselmanen beten zu einem falschen Gott, den sie Allah nennen, und folgen dem Gerede eines Verirrten.«

»Ein falscher Gott?«

»Ein Götze.«

»Wie das Goldene Kalb?«

»Nicht ganz, aber fast. Er ist launisch und unnahbar. Deshalb brauchen sie ein Heer von Geistern, denn sie trauen ihrem falschen Gott nicht über den Weg. Sie pflegen jede Menge abergläubische Sitten.«

»Und die Juden?«, wollte Vasiliki wissen. Sie hatte von den Juden aus der Bibel gehört.

Papa Gregorios verzog den Mund, als wolle er ausspucken. »Die Juden haben den Erlöser ermordet. Merke dir, Mädchen: Nur uns Christen hat Gott Seinen Willen und die ganze Wahrheit in der Bibel offenbart.«

Das Gespräch verstummte wieder, und es blieb nur das Knarren des Sattels.

Durch Orangen- und Zitronenhaine gelangten sie in die Vororte der Stadt. Am Straßenrand hausten Menschen in Hütten aus Lehm. Dünner Rauch kräuselte sich durch das Astwerk der löchrigen Dächer. Kinder spielten im Matsch.

»Christliche Tagelöhner«, erklärte der Papas. »Wenn ihnen eine Ziege gehört, sind sie reich.«

Kurz darauf überquerten sie den Stadtwall, einen aufgeworfenen Hügel, und kamen an ein einfaches Tor. Dort herrschte reges Gedränge. Offenbar wollten Händler mit beladenen Kamelen noch vor Anbruch der Dämmerung in die Stadt. Mit ihren Tieren drängten sie in Richtung Tor, das wie ein Nadelöhr nur eine begrenzte Anzahl von Leuten passieren ließ. Eine Gruppe von Zöllnern regelte den Einlass; Soldaten in wehenden Mänteln aus schwarzer Wolle und mit Gesichtern, in denen höchste Aufmerksamkeit stand.

Papa Gregorios zeigte einem der Janitscharen den Kharatsch, ein kleines Papier mit Siegel, das bewies, dass sie die jährliche Kopfsteuer entrichtet hatten. Er sprach mit den Zöllnern, doch Vasiliki verstand kein Wort. Stattdessen lauschte sie dem Gemurmel der Menge und den Rufen, die über den Vorplatz schallten. Sie schmiegte sich dicht an das Muli, bis sie endlich durchgelassen wurden.

Gleich hinter dem Stadtwall begann die Gegend der Wohlhabenden: Vororte, von Feldern umgeben. Die Gärten der Gehöfte leuchteten im goldenen Licht der untergehenden Sonne. Stille hing über der Landschaft wie eine reife Frucht.

»Nicht einmal eine Stunde und wir sind da«, erklärte Papa Gregorios. »Dein Vater hat sicher einen Bediensteten zur Kirche des Heiligen Nikolaus geschickt.«

Vasiliki betrachtete die vielen Orangenbäume am Wegesrand. Wenn sie ehrlich war, sehnte sie sich danach, ihren Vater endlich kennenzulernen. All die Jahre hatte er sich um sie gekümmert: die feinen Tonkrüge, die Säcke mit Weizen und jedes Jahr ein neues Unterkleid. Warum hatte Tante Sefiroula nur gesagt: Dein Vater hat sich wie ein Feigling benommen, wo dein Großvater menschliche Größe zeigte?

Der Satz ging ihr nicht aus dem Kopf.

 

Mit Einbruch der Dunkelheit erreichten sie die engen Straßen und Gassen von Ioannina. Gedränge wie in einem Bienenschwarm: Fremde strebten an ihnen vorbei, Griechen, Albaner, Türken; Menschen von heller Hautfarbe und mit rötlichen Haaren, tiefschwarze Gestalten in bunten Gewändern und hochgewachsene Reiter auf seidig glänzenden Pferden. Hochmütig schauten sie von ihren Sätteln herab. Dicht an dicht standen die Häuser entlang der Straße, mit Balkonen und Erkern. Die Stadt war erfüllt von Geschäftigkeit. Zu den Hammerschlägen der Handwerker erklang ein singender Aufruf. An einem Brunnenplatz rasteten Kamele. Je näher sie dem Zentrum der Stadt kamen, desto aufgeregter wurde Vasiliki.

Sie hielt sich einen Schritt hinter dem Priester. In ihrem Nacken kribbelte es. Mit eingezogenem Kopf spähte sie in das Gewühl. Knisternde Fackeln erleuchteten einfache Stände. Der Priester schien seinen Schritt zu beschleunigen. Aus einem der Höfe stieg Duft von Brot auf und verbreitete sich unter den Erkern und Balkonen. Dann roch es nach Kampfer und Ambra, die sich mit dem Duft von gebratenen Mandeln und Schmalzgebäck vermischten. Sie nahm das leise Rascheln der langen Gewänder der vorbeischreitenden Frauen wahr, die Tücher um den Kopf geschlungen hatten. Vasiliki wandte sich innerlich von dem Trubel ab, doch der Klang von Flöten und Trommeln folgte ihr. Der geschäftige Lärm erfüllte die Luft, irgendwo sang ein Messer am schleifenden Stein.

Ihr wurde schwindelig. Der Trubel und der Anblick der vielen bunten Waren verwirrten sie und diese Betriebsamkeit.

»Vater, warte!«, rief sie, um ihn um eine Pause zu bitten, aber der Priester zog ungerührt weiter. Hörte er sie denn nicht? Weiter sang das Messer, und die Stadt hämmerte. Vasiliki schwankte an den Schustern vorbei. Spitze Schuhe baumelten herab, Pantoffeln lagen auf Kisten in Reih und Glied. Sie bogen in die Straße der Pfeifenbauer ein. In den Geschäften leuchtete Bernstein in jeder Form. Pfeifenköpfe und Mundstücke lagen auf rotem Samt. Goldverzierte Westen glitzerten, edle Kaftane hingen herab. Vasiliki atmete schwer. Sie spürte einen zunehmenden Druck auf der Brust.

Ein paar Ecken weiter tauchten sie in die Gasse der Silberschmiede ein. An weit geöffneten Läden hingen Säbel, Messer und Waffen aller Art. Die Handwerker hockten in schmalen Werkstätten und hämmerten und stichelten, was das Zeug hielt. Einige arbeiteten zurückgezogen im hinteren Winkel ihrer Räume, andere vorne, unmittelbar am Weg.

Die Stadt murmelte und summte. Vasilikis Augen weiteten sich, in ihrem Kopf drehte sich die Welt, und in ihren Ohren sauste der Wind. Sie schloss die Augen. Wie Fledermäuse flitzten Schatten an ihr vorbei. So war es auch damals auf der Lichtung gewesen, als die Tante sie der Nacht preisgab. Plötzlich roch es nach Urin, und sie spürte einen Wirbel um sich herum.

Als sie die Augen wieder öffnete, war der Priester an der Ecke einer Silberwerkstatt stehen geblieben. Ein Mann hatte sich ihnen in den Weg gestellt, oder besser gesagt: ein Männchen, nicht viel größer als ein Zwerg im gelben Gewand, mit einem Turban auf dem Kopf. Er schaute von unten zu ihnen herauf. Seine Augen schienen riesig zu sein, und das rechte blickte schräg an einen Ort, der nicht auszumachen war.

Auch Papa Gregorios machte einen Schritt zur Seite, doch das Männchen folgte seiner Bewegung und stellte sich ihm erneut in den Weg.

»He!«, rief der Priester und wollte einen weiteren Bogen machen.

Der kleinwüchsige Fremde aber hob die Hand und fragte: »Bist du der Freund von Kitsos Farangos, dem Offizier?«

»Bin ich«, brummte der Priester zurück.

»Ist dies seine Tochter, die heiraten will?«

»Und du? Wer bist du?«, fragte Papa Gregorios in unwirschem Ton.

Der Fremde verbeugte sich höflich. »Oh, ich bin der Diener deines alten Freundes. Mein Name ist Abu Kamil Bey.«

Vasiliki starrte das Männchen an. Stand er wirklich dort? Sein Gesicht erinnerte an einen Hund. Vielleicht lag das an den hängenden Wangen. Während er lächelte, zeigte sein offener Mund eine Reihe kleiner spitzer Zähne.

Sie blickte sich um. War ihr Vater hier irgendwo?

Papa Gregorios musterte den kleinwüchsigen Mann. »Ein Ungläubiger dient einem Christen?«

Abu Kamil Bey lächelte noch immer. »Auf dem Lande mag ein solches Dienstverhältnis unüblich sein, aber hier in der Stadt ist es keine Seltenheit. Mein Herr weiß meinen Dienst durchaus zu schätzen.«

»Wo finden wir ihn?«

»Folgt mir, ich führe euch hin.«

»Warum erscheint er nicht selbst?«

»Verpflichtungen, mein Herr, Verpflichtungen.«

Papa Gregorios verzog das Gesicht zu einem finsteren Ausdruck. »Ich bin dafür, du bringst ihn her.«

Abu Kamil Bey spitzte die Lippen und überging die Forderung. »Es ist dunkel, mein Herr. Wo soll die junge Dame nächtigen, in einem Kloster vielleicht, bei deinen Brüdern?« Er lachte wie über einen guten Witz. »Folgt mir, ich bringe euch zum Haus des Bräutigams.«

Widerwillig gab der Priester seinen Widerstand auf, und sie folgten dem Zwerg. Vasiliki dachte an die Gestalt in ihrer Erinnerung, die sie auch jetzt noch am Rande der Lichtung sah. Es war nicht das einzige Mal gewesen, dass Tante Sefiroula sie eine Nacht allein der Wildnis überlassen hatte. »Ich übergebe dich den Kräften der Dunkelheit«, hatte sie als Letztes geflüstert, bevor sie verschwand.

Als Nächstes fanden sie sich in einem ärmlichen Stadtviertel hinter dem Basar wieder. Die Häuser schienen älter zu sein und niedriger. Hunde wühlten im Kehricht am Straßenrand und kauten, mit Knurren vermischt, an Knochen und anderen Überresten.

Abu Kamil Bey führte sie mit seinen kleinen Schritten immer tiefer in das schmutzige Viertel hinein. Vor einem schäbigen Haus blieb er stehen. Das Tor stand offen.

»Hereinspaziert!«, rief er und warf seine Arme unter dem Umhang hoch wie ein Schmetterling die Flügel.

Sie betraten einen winzigen Hof. Vasiliki ließ ihren Blick über das Gebäude schweifen. Viel war nicht zu sehen: ein Unterstand, Lagerräume, eine Galerie im ersten Stock. Das Haus schien unbewohnt zu sein. In dunklen Fensteröffnungen steckten eiserne Sprossen.