Die grüne Fee und der kalte Tod - Nina Röttger - E-Book

Die grüne Fee und der kalte Tod E-Book

Nina Röttger

4,8

Beschreibung

Ein zünftiger Mord wie im Mittelalter Met und Mord – Mittelaltermärkte ziehen die Gauklerin Isa magisch an. Ebenso wie die Leichen, die dort plötzlich auftauchen. Alljährlich öffnet in Siegburg ein mittelalterlicher Weihnachtsmarkt seine Tore. Für die junge Gauklerin Isa Bocholt, die unter dem Namen "Die grüne Fee von Absinth" mit ihrer Band Manus Furis dort Touristengruppen und Einheimische unterhält, ist er ein zweites Zuhause. Hinter den bunten, historischen Kulissen schwelt Streit, der von den Besuchern des Marktes unbemerkt bleibt. Die Spielleute liegen sich in den Haaren mit Meyster Hubertus, dem Apfelkringel-Bäcker, und das Ehepaar Drömer mit seiner Schenke ficht einen harten Konkurrenzkampf mit Oliver Katz, dem alkoholkranken Tavernenbesitzer aus. Als dieser eines Morgens erfroren am Pranger des Marktes gefunden wird, geht die Kriminalpolizei von einem Unfall aus, da einige geleerte Metflaschen am Tatort gefunden wurden. Isa jedoch glaubt fest an einen Mord. Nicht zuletzt, weil sie am Vorabend einen erbitterten Streit mitbekommen hat, bei dem jemand Katz ein baldiges, unseliges Ende prophezeit hat. Isa wäre nicht Isa, wenn sie ihre Neugier im Zaum halten könnte, und so macht sie sich im Schein ihrer Pechfackel auf eigene Faust auf die Suche nach dem Mörder.

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Nina Röttger

Die grüne Fee und der kalte Tod

Nina Röttger wurde am Freitag, den 13. September 1991, in Troisdorf geboren und lebt auch heute noch dort. Sie studiert Germanistik an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn und hat sich dabei besonders auf mittelalterliche Literatur spezialisiert. ›Die grüne Fee und der kalte Tod‹ ist ihr erster Roman.

Nina Röttger

Die grüne Fee

und der

kalte Tod

Originalausgabe

© 2016 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

www.kbv-verlag.de

E-Mail: [email protected]

Telefon: 0 65 93 - 998 96-0

Fax: 0 65 93 - 998 96-20

Umschlaggestaltung: Ralf Kramp

unter Verwendung von: © Holger Arndt

und © hubb67 - www.fotolia.de

Lektorat: Nicola Härms, Rheinbach

Print-ISBN 978-3-95441-325-6

E-Book-ISBN 978-3-95441-342-3

Für Svenja, weil ich einst bei den

Socken unseres Spanischlehrers schwor,

ihr mein erstes Buch zu widmen.

Für Judith, meinen Buchmessen-Survival-Guide

und meine gute Fee.

Und für meine Mutter und meinen Vater, weil jeder

von ihnen auf seine eigene Weise an mich glaubt.

Werte Recken und holde Maiden, den mittelalterlichen Weihnachtsmarkt zu Siegburg gibt es natürlich wirklich. Die Figuren in diesem Roman sind jedoch allesamt frei erfunden – sie haben nichts mit den echten Darstellern des Marktes zu tun.

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Epilog

Prolog

Das Mittelalter – eine wahrhaft faszinierende Zeit. Ungefähr tausend Jahre voller Eigenheiten, die es alle zu erforschen galt. So viele verschiedene Facetten, so viele unterschiedliche Ansichten, Sitten und Gebräuche.

Allein schon die Arten, einen Verbrecher seiner gerechten Strafe zuzuführen, boten der Fantasie damals einen weitaus größeren Spielraum als heute.

In der Dunkelheit des Raumes bewegte eine Hand die Maus, während Bilder nach und nach über den Computermonitor flackerten. Eigentlich hätten die Finger zittern müssen vor Wut, doch sie umschlossen das kleine Ding ganz ruhig, fast liebevoll. Die Fotos auf dem Bildschirm und die Eindrücke, die sie in dem von Zorn und verletztem Stolz geschüttelten Bewusstsein hinterließen, lenkten rasende Gedanken wieder zurück in alte Bahnen. Kühles, wissenschaftliches Interesse breitete sich dort aus, wo bis vor ein paar Sekunden noch wilder Wahn gewütet hatte. Wer die Vergangenheit betrachtet, kann schließlich für die Zukunft lernen.

Ein Klick, und eine neue Datei öffnete sich. Ja, da waren zum Beispiel die Ehrenstrafen. Empfindliche kleine Lektionen, die den Delinquenten ein besseres Verhalten lehren sollten, ohne ihm körperlich wirklich zu schaden. Die Abbildungen zeigten alles in bunten, grauen oder bräunlichen Farben. Es gab Masken und Bußgewänder, Eisenketten und lange Märsche durch Gassen voller kreischender Menschen. Da waren starre Halsfesseln aus Holz, die wie Geigen geformt waren, oder auch gelbe, mit Teufelsfratzen bemalte Gewänder aus Sackleinen für die Dirnen …

Doch wieder kochte die Wut jetzt über, fegte alles andere beiseite. Es war einfach nicht genug, ihn mit einem Schild um den Hals durch die Straßen zu treiben, während die Leute lachten und mit den Fingern auf ihn zeigten. Das Schwein hatte keine Ehre im Leib – wozu sich also damit aufhalten? Es gab genügend andere Methoden, auf die man zurückgreifen konnte. Solche, die endgültig und für die Ewigkeit waren. Sicher, die meisten waren in der Moderne nicht mehr so einfach durchführbar. Und doch … eine heimlich geknüpfte Schlinge aus gutem, starkem Hanf, von hinten um den Halsgelegt …

Die Stimme der Vernunft zischte aus der Dunkelheit und löschte den Gedanken daran aus wie die Flamme einer Kerze. Auch wenn das Mittelalter Einzug in die Stadt hielt, gab es doch in Wahrheit keine Scharfrichter mehr, die für Recht und Ordnung sorgten, indem sie den Abschaum der Gesellschaft ausmerzten. Der Pöbel würde nach so einer Tat nicht jubeln, sondern in Panik ausbrechen und den bestrafen wollen, der sie verübt hatte. Die Polizei, die Menschen – sie alle würden Fragen stellen. Und genau das durfte nicht passieren. Niemand wusste etwas von dem Plan, weder er noch die anderen historischen Darsteller. Und so sollte es auch bleiben.

Du hast keine Ahnung, mit wem du es zu tun hast.

Du hast keine Ahnung, was dich erwartet.

Ganz, ganz langsam schob die Hand die Maus über den Tisch und ließ einige der Fotos verschwinden. Andere blieben.

Ja, es würde ihn von hinten erwischen. Dann, wenn er es am wenigsten erwartete. Alle würden auf seinen starren Leichnam blicken und Dinge sagen wie: »Es musste ja mal so kommen.« Dann würden sie sich umdrehen und die Sache ganz einfach vergessen – unwissend, dass eine Person unter ihnen, mit der sie jeden Tag arbeiteten, lachten, aßen und tranken, ein Mörder war.

Das Schwein würde noch im Tod eine Witzfigur sein. Er sollte ein armseliges Ende bekommen, das wie ein dummer, harmloser Unfall aussah und gleichzeitig anprangerte, was für ein widerliches Subjekt er im Leben gewesen war.

Ein Lächeln blitzte in der Dunkelheit. Wem es gehörte, war nicht zu erkennen, doch der Blick der Augen darüber wanderte zum Fenster hinaus in die bitterkalte Winternacht.

Anprangern. Gar keine schlechte Idee.

Kapitel 1

Der Wind roch nach Mittelalter. Sie konnte es förmlich schmecken. Dieser Duft von Rauch, Brot und einem Hauch Verderbtheit war einmalig.

Um sie herum war alles in bester Feiertagsstimmung. Die Siegburger Geschäfte hatten ihre Schaufenster mit Unmengen von künstlichem Tannengrün und schrillen Lämpchen dekoriert, die einem die Augen aus dem Kopf blinken konnten. Vor ihr aber, soweit sie in der schneidenden Winterluft zu blicken vermochte, erstreckte sich eine Welt, die aus einer anderen Zeit zu stammen schien.

Isa hatte die geschichtsträchtige Stadt in der Nähe von Bonn schon oft zur Weihnachtszeit und ein-, zweimal in den Sommermonaten besucht. Der gepflasterte Marktplatz war nichts weiter als eine Verbindung zwischen der Bahnhofsstraße und der Holzgasse, die die dichten Häuserreihen wie eine luftgefüllte Blase auseinandertrieb, sodass sie zusammen ein recht schönes Fleckchen umrahmten, auf dem man bummeln gehen, Tauben füttern oder kleine, freche Kinder in den Brunnen schubsen konnte. Doch wenn sich das Jahr seinem Ende zuneigte und die Menschen begannen, nach Glühwein und Unterhaltung zu lechzen wie der Nikolaus nach Engelchen-Goldhaar, verwandelte sich die Shoppingmeile Siegburgs in ein Stück erlebbare Geschichte mit eigenem Herzschlag. Dann erschienen plötzlich überall Buden aus Holz und verschiedenfarbigem Leinen wie bunte Maulwurfshügel, so herrlich rau, dass jeder unwillkürlich seine Finger über den Stoff gleiten lassen musste. Spanferkel wurden auf eiserne Spieße gewuchtet und zischend und krachend über offenem Feuer gebraten, während andernorts Kelche mit süßem, heißem Honigmet zusammenstießen und das Getränk an kalten Fingern kleben blieb. Gerüche, die man weder in der Stadt noch überhaupt in diesem Jahrhundert oft in die Nase bekam, umnebelten die Sinne: gegerbtes Leder, Holzrauch, heißes Metall – so manche handgenähte Kutte, die scheinbar seit den Tagen Karls des Großen nicht mehr gewaschen worden war …

Auch die Sprache der Leute veränderte sich, glich plötzlich einer Uhr, die rückwärts tickt. Aus einem üblichen, wenn auch gelangweilten »Tach …« wurde ein salbungsvolles »Seid gegrüßt!«. Statt in Euro bezahlte man plötzlich mit Silberlingen oder Talern. Männer in gestreiften Beinkleidern, die atemberaubend eng an den wichtigen Stellen saßen, lachten laut beim Trinken über einen Scherz oder schauten den Weibern hinterher, die bunte Röcke trugen und von einem Stand zum anderen gingen, um eine Freundin zu besuchen.

Isa atmete tief ein.

Qualmende Gauklerfackeln, die in der Luft umherwirbelten. Frische Rosinenwecken mit feiner Zitronennote. Das speckige, modrige Holz des Prangers, dessen Funktion der Büttel gerade einer Schulklasse erklärte.

Rauch, Brot und ein Hauch Verderbtheit. Der mittelalterliche Weihnachtsmarkt zu Siegburg verströmte diesen Duft von morgens bis abends.

Sie war endlich wieder daheim.

Plötzlich tippte ihr jemand unbeholfen von hinten auf die Schulter.

»Kannst du mir mal den Kram abnehmen? Ich verbrenne mir an dem Latte die Finger.«

Als sie sich umdrehte, balancierte ihr Freund Marek gerade einen ziemlich großen Kaffeebecher zwischen zwei Fingern und hielt ihr mit der anderen Hand eine Styroporschachtel entgegen.

»Hast du alles gekriegt?«, fragte sie hoffnungsvoll und lugte in die Box, als sei der Zustand des Inhalts mindestens so instabil wie der der Bundeslade.

»Ja doch, Frau Feldwebel. Extrascharfe Currywurst mit Fritten und viel Mayo.« Kritisch hob er die Augenbrauen und nippte an seinem Macchiato. »Obwohl ich die Bestellung bei dem Angebot, das du hier hast, wirklich nicht nachvollziehen kann.«

Zufrieden zerlegte sie ein dickes Stück Bratwurst mit der Plastikgabel und achtete darauf, ihren grünen Wollfilzumhang nicht mit der Sauce vollzukleckern.

»Mein lieber Marek, eins sage ich dir: Ich liebe mittelalterliche Küche, aber ich lebe praktisch das ganze Jahr über davon. Wenn ich noch eine einzige Falafel essen muss, gibt’s Tote.«

In ihren kulinarischen Errungenschaften schwelgend schoben sich die kleine Gauklerin und der hünenhafte Recke durch die Besucher des Mittelaltermarktes, die sich an diesem Freitagmorgen schon relativ zahlreich zwischen den Buden drängten. Über ihnen flatterte das breite Banner, das die Menschen mit einem »Seyd gegruessed!« auf dem Gelände willkommen hieß.

An den weiß getünchten Backöfen zu ihrer Rechten hatte sich bereits eine kleine Schlange gebildet, weil der alte Alf gerade frische Brotlaibe aus der Glut holte. Isa schnappte zu ihrer Belustigung das Gespräch zweier pubertierender Mädchen auf, die mit ratlosen Gesichtern abwechselnd in ihren Smartphones recherchierten und das Schild an der Bäckerei betrachteten, auf dem: »Frische Seelen« zu lesen war.

»Ist das Teufelsbrot oder was? … Frag doch mal!«

»Ey, ich frag nicht! Ich blamier mich voll!«

Marek schnaubte belustigt in seinen Pappbecher. Selbst er, der erst im zweiten Jahr als Aushilfe auf dem Markt beschäftigt war, wusste, dass Alf weder Hörner auf dem Kopf trug noch mit unsterblichen Seelen handelte. Lediglich die länglichen Brote, die der wortkarge Münsteraner entweder mit Kreuzkümmel oder Meersalz verfeinerte, wurden »Seelen« genannt. Das Missverständnis war mittlerweile fast so alt wie der Markt selbst und obendrein ein ziemlich beliebter Running Gag – oder laufender Ulk, wie der Büttel schmunzelnd zu sagen pflegte.

Als sie weiter vorne an einem kleinen Stand vorbeikamen, an dem man Papeterie und Schreibwaren kaufen konnte, stupste Marek seine Freundin sanft in die Seite und deutete auf den Besitzer des Stands. »Guck mal.«

Sie musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um den Mann zwischen seinen ratlosen Kunden zu entdecken. »Oh nein, nicht schon wieder …«

»Oh doch. Sir Schnarchsack, der Vercheckte.«

Hinter Bergen von Federkielen, Pergamentrollen und Lesezeichen hing Mathis Kühnle, der Schreiber des Marktes, wie eine nasse Pelzmütze auf seinem Stuhl und schnarchte so laut, dass die Balken des Budendaches über ihm hätten zusammenbrechen müssen. Jedes Mal, wenn er ausatmete, erbebte sein gewaltiger roter Schnurrbart. Ein älteres Ehepaar starrte den Mann bereits seit einigen Minuten erwartungsvoll an. Isa schob sich vorsichtig zwischen ihnen hindurch. »Gebt acht, edle Herrschaften … Ich werde unseren Magister aufwecken. Es scheint, als hätte er des Nächtens kräftig im Wirtshaus angeschrieben.«

Das war natürlich kompletter Blödsinn. Normalerweise schliefen die meisten der Marktleute, die unter der Leitung des Vereins »Handwerk Kram & Gaukelspil e. V.« zur Weihnachtszeit aus ganz Deutschland und Österreich nach Siegburg kamen, in selbst mitgebrachten Wohnwagen. Mathis hatte sich allerdings in diesem Jahr dazu entschlossen, Koje und das Chemieklo gegen ein warmes Gästezimmer in der Innenstadt einzutauschen – jedoch ohne zu wissen, dass das junge Paar, bei dem er übernachtete, vor sechs Monaten Zwillinge bekommen hatte. Die Kinder wachten laut Mathis mindestens dreimal pro Nacht auf und machten einen derartigen Lärm, dass sie selbst einen kompletten Kreuzzug übertönt hätten. Trotzdem weigerte sich der Schreiber konsequent, den Schlafplatz zu wechseln. Die kleine Familie könne das Geld gut gebrauchen, beharrte er stur.

Wenn er denn ansprechbar war.

Die alten Leutchen lächelten über Isas Scherz und schlenderten weiter. Entschlossen entwand sie Marek den Kaffeebecher (»Hey!«) und hielt ihn dem schnarchenden Mathis unter die Nase. »Aufwachen, Sonnenscheinchen!«

Kühnle grunzte, dann riss er die Augen auf und kam so plötzlich hoch, als hätte er sich auf einen Morgenstern gesetzt. »Wa-was? Zwei Taler das Stück!«

Er brauchte eine ganze Weile, bis er die beiden Gestalten erkannte, die ihn da angrinsten. »Ach, ihr seid das …« Er rieb sich die Augen. »Habe ich etwa wieder …?«

»Tief und fest«, bestätigte Marek und nahm seinen flüssigen Wachmacher mit Nachdruck wieder an sich.

Mathis starrte dem Latte sehnsüchtig hinterher. »Verdammt. Jetzt haben bestimmt wieder irgendwelche Teenies meinen Siegelwachs geklaut.«

Fragend runzelte Isa die Stirn. »Warum sollten sie? Man kann damit keine SMS zukleben.«

»Ich weiß. Wahrscheinlich rauchen sie das Zeug.«

Ein Kunde näherte sich neugierig dem Stand und betrachtete die Auslage. »Entschuldigung – darf ich fragen, was das ist?« Er hielt einen kleinen, hölzernen Siegelstempel in die Höhe.

»Das ist ein Petschaft, edler Recke«, erklärte Mathis. »Wenn Ihr Eurer Liebsten eine Nachricht senden wollt und Wachs auf den Umschlag träufelt, könnt Ihr mit dem metallenen Endstück Euer Initial oder ein Symbol Eurer Wahl hineinprägen.«

Begeistert suchte sich der Mann einen Stempel mit dem Motiv einer französischen Lilie aus. Mathis wickelte ihn in braunes Papier ein. Geld wurde gegen Ware getauscht, der Schreiber verabschiedete sich mit einem freundlichen: »Gehabt Euch wohl!«, dann sank er wieder auf seinen Schemel. »Boah, bin ich fertig.«

»Soll ich beim ›Orient-Express‹ nachfragen, ob Irene dir nachher was zu trinken bringt?« Marek hasste es selbst, unausgeschlafen arbeiten zu müssen.

»Danke, aber ich bin schon versorgt.« Allein der Geruch des Espressos, den sich Mathis in einen Tonbecher goss, hätte König Artus wieder zum Leben erweckt. »Sag mal, hast du nicht in ein paar Minuten einen Auftritt, Isa?«

Die Angesprochene zog ihr Handy aus einem grünen Lederbeutel an ihrem Gürtel. »Ach, ist doch erst zehn vor zwölf. Aber Marek, du solltest dich lieber mal beeilen. Sonst erschlägt dich der werte Meyster Hubertus mit seiner Sonderausgabe von ›Latein für Klugscheißer‹, wenn du zu spät zur Arbeit kommst.«

Marek verdrehte die Augen. »Das wäre mir lieber als das blöde Gequatsche.«

Sie verabschiedeten sich von Mathis und marschierten zwischen den Ständen und Besuchern hindurch Richtung Bühne. Von dem Holzkarussell, das mithilfe eines Kurbelsystems von zwei keuchenden Vätern angetrieben wurde, schallte fröhliches Kinderlachen herüber; etwas weiter vorne, kurz vor dem Siegburger Stadtmuseum, kam eine Bude mit bunten Spielsachen in Sicht. Doris Panthen, die ältliche Verkäuferin und passionierte Klatschbase, winkte den beiden Vorübergehenden freundlich zu, während sie gerade eine Holz-Hellebarde an die resignierende Mutter einer Siebenjährigen verkaufte (»Spätzchen, möchtest du nicht doch lieber den Feenstab …« »AXT! AXT! AXT!«).

Bereits dort lag der Duft von saftigen, in Teig gebackenen Apfelringen in der Luft.

»Ich sollte mir nächstes Jahr echt einen anderen Job suchen …« Marek, sonst immer ruhig und gelassen wie ein nordischer Kaltblüter, grummelte missmutig vor sich hin, während er sich das Leinenhemd in die Hose steckte. Isa verkniff sich jeglichen Kommentar dazu, denn sie kannte seinen Herrn und Meister nur zu gut. Bernd Wischnewski alias Meyster Hubertus Libarius war ein Besserwisser erster Güte und innerhalb der Szene etwa so beliebt wie ein Aussätziger beim Gruppenkuscheln. Seine Überzeugung, dank seines ach so unbegrenzten Fachwissens das Mittelalter viel authentischer darstellen zu können als jeder andere Mensch im Abendland, hatte ihm nicht nur den Spitznamen »A-Papst« eingebracht, sondern stellte auch Mareks Geduld jeden Tag auf eine harte Probe. Obwohl er aus reiner Paranoia an seinem Wohnmobil Bewegungsmelder und sogar eine Mini-Überwachungskamera auf höchstem technischen Niveau angebracht hatte, um auf der alljährlichen Tour von Markt zu Markt nicht im Schlaf ausgeraubt und gemeuchelt zu werden, spielte Wischnewski nach außen hin den mittelalterlichen Kramer mit erbarmungsloser Inbrunst und ahndete den Gebrauch von Kartoffeln, Reißverschlüssen oder Smartphones durch seine Angestellten mit der Strenge eines Inquisitors, dem ins Frühstück gespuckt wurde. Die gute Bezahlung machte den Umstand, sich permanent Vorträge über historische Genauigkeiten anhören zu müssen, auch nicht wieder wett.

»Immerhin wurdest du von deiner Kundschaft noch nie ausgebuht«, versuchte Isa Marek zu trösten und wollte noch etwas Aufmunterndes hinzufügen, als ihr eine wohlbekannte Fistelstimme das Wort abschnitt.

»Was soll denn das? Steckt sofort diesen Müll weg, verdammt!«

Sie hatten sich schon zu nah an die Höhle des Löwen gewagt. Meyster Hubertus, beleibt und rotgesichtig wie immer, stand kleine Apfelküchlein bratend in seinem Verkaufszelt und hatte die eindeutig nicht mittelalterlichen Überreste ihrer Mahlzeiten sofort erspäht. Aufgeplustert wie ein Auerhahn starrte er nun den Kaffeebecher in Mareks Hand an, als trüge seine Aushilfe eine scharfe Handgranate vor sich her.

»Wir sind hier auf einem Mittelaltermarkt, falls ihr das vergessen habt! Was isst du da bitte, hm? Pommes frites mit Currywurst in einem Styroporbehälter! Nur zu deiner Information, Pommes frites bestehen aus Kartoffeln, die erst Mitte des siebzehnten Jahrhunderts in Deutschland angebaut wurden. Dazu kommt noch, dass sich eine einfache Gauklerin wie du Würste aus fettem Fleisch nur schwerlich hätte leisten können. Ganz zu schweigen von dem exotischen Curry in dem, ich wage das Wort kaum auszusprechen, Tomatenketchup! Oder dem teuren Salz auf deinen völlig unangebrachten, vor Fett triefenden Erdäpfeln!«

Marek hob die Hände, um seinen Arbeitgeber zu beschwichtigen, doch das war ein gewaltiger Fehler. So stach der Pappbecher voll dampfenden Kaffees nur noch mehr ins Auge.

»Und was haben wir hier? Ist zufällig eine Zeitmaschine im Jahre unseres Herrn 1410 gelandet und hat kostenlose Getränke ausgespuckt?«

»Jetzt ist aber gut! Erstens haben wir beide gerade sozusagen dienstfrei, und zweitens gibt es auf diesem Markt auch einen Verkaufsstand mit orientalischem Gebäck und Kaffee.« Mit hochgezogenen Augenbrauen sah Isa dem Kramer angriffslustig ins Gesicht. »Ich erwähne das nur, falls es dir im Eifer deiner wahrlich beeindruckenden Argumentation entfallen sein könnte. Die Bude trägt bei uns den Spitznamen ›Orient-Express‹. Ihre Besitzerin heißt Irene. Ihr kennt euch seit zwanzig Jahren. Was also ist an Mareks Kaffee noch mal falsch?«

»Im Mittelalter gab es keine To-Go-Becher und keine Heißgetränke mit Karamellsirup!«, giftete Wischnewski zurück.

Isa konnte es sich nicht verkneifen, ihn noch mehr auf die Palme zu bringen. »Jetzt mach doch kein Drama daraus, Bernd.«

»Be…? Hubertus, hier auf dem Markt heiße ich Meyster Hubertus Libarius! Libarius ist das lateinische Wort für Kuchenbäcker!«

»Habt Dank für die Belehrung, Herr. Mir scheint, es ist Ewigkeiten her, seit Ihr mir dies zum letzten Mal erklärtet – war es nicht gestern Abend? Und am Tag davor und so weiter und so fort?«

Marek biss sich auf die Lippe, um das Lachen zu unterdrücken. »Klar, mach nur weiter so. Er kann mich ja nur einmal umbringen«, zischte er leise.

Sie grinste, während Hubertus ihr empört mit dem Zeigefinger drohte. »Dein freches Mundwerk wird dir noch einmal zum Verhängnis, Spielweib! Und du, Junge, eil dich endlich! Es wartet Arbeit auf dich!«

Marek winkte ihr seufzend zu und setzte sich in Bewegung. »Ich seh dich dann heute Abend.«

»Versuch, ihn nicht im Bratfett zu ersäufen.«

»Ich gebe mir die größte Mühe. Sag mal, wolltest du nicht noch die neuen Filzbälle bei diesem Tell abholen?«

Isa schlug sich vor die Stirn. »Verdammt!« Sie hatte sich bei dem Filzer des Marktes ihre Jonglierbälle farblich etwas aufpeppen lassen und versprochen, diese so bald wie möglich abzuholen. Die Lagerkisten von Till Steiner – oder kurz Tell, wie der gebürtige Schweizer genannt wurde – platzten auch so schon aus allen Nähten.

Schnell sah sie auf die Uhr. Sie musste sich beeilen, wenn sie noch rechtzeitig neben den anderen Spielleuten auf der Bühne stehen wollte. »Das habe ich total vergessen. Danke, Marek!«

Dann rannte sie los, so schnell sie ihre Schnabelschuhe trugen.

Den halben Weg wieder zurück, dann am Stand mit den Tierfellen nach links und am Holzkarussell vorbei … Isa schaffte es dank ihrer geringen Körpergröße mühelos, sich zwischen den Besuchergrüppchen hindurchzuschlängeln. Trotzdem wäre sie fast der Länge nach hingeschlagen, als sie unerwartet vor einer erstaunlich standfesten Menschentraube abbremsen musste. Ein Trupp schaulustiger Damen, die alle identische Nikolausmützen trugen und offenbar einem Verein oder Ähnlichem angehörten, hatte sich vor der Schmiede versammelt und genoss den Anblick, der sich dort bot. Der glühende Stahl, den der gut gebaute Lars Haberkorn alias Meister Isenhart dort mit Hammer und Amboss bearbeitete, war bei Weitem nicht der heißeste Blickfang.

»Jutta, diese Brustmuskeln …« Eine blondierte Mittvierzigerin tuschelte beinahe ehrfürchtig mit ihrer Nachbarin, als Isa sich vorbeizwängte. »Also, mein Mann hat höchstens ein Sixpack, wenn Fußball im Fernsehen kommt …«

Die junge Gauklerin lachte leise, während sie weiterlief. Tatsächlich trug Lars trotz des frostigen Wetters nur eine Stoffhose und eine Lederschürze, die seinen nackten Oberkörper vor der Hitze der Esse bewahrte. Trotzdem war noch genug Haut zu sehen, um – wie in jedem Jahr – die Frauen auf dem Marktplatz zu begeistern. Isenharts Wirkung auf das weibliche Geschlecht war mittlerweile in der Mittelalter-Szene legendär. Mit starkem Arm schwang er den Hammer und schenkte ab und zu einer Auserwählten aus dem Publikum ein Lächeln. Dass er leider nicht die hellste Kerze auf dem Adventskranz war, merkte man nur, wenn er den Mund auftat.

Als Isa bei Tells Bude ankam, die sich bunt behangen zwischen einen Stand mit Lederwaren und die Hütte der bayerischen Maronenrösterin Vroni quetschte, konnte sie den Filzer nicht entdecken, aber dafür umso besser hören.

»Verdammt noch mal!«

»Tell, ich bin’s, Isa!«, rief sie und befreite sich von einer Filzleine mit Haarspangen, die sich in ihren Dreadlocks verfangen hatte.

»Komm rein! Ich bin hier unten!«

Als sie unter die Überdachung trat und sich zwischen Regalen mit Filzhüten in den verschiedensten Farben wiederfand, sah sie Tell auf dem Boden hocken und leise auf Schweizerdeutsch vor sich hin fluchen. Offenbar versuchte er gerade, einen mobilen Heizkörper anzustellen, den er unter einem mit Fellen behangenen Schemel versteckt hatte.

»Letzte Nacht sind mir diese dämlichen Bücherwürmer eingefroren!« Tell drehte sich zu ihr um und fuchtelte mit einem steifen Lesezeichen in Würmchenform, das dabei fast in der Mitte durchgebrochen wäre. Seine plüschigen Artgenossen hatte er bereits ordentlich auf dem Heizkörper aufgereiht.

»Irgendein schwachsinniger Vandale fand es wohl witzig, meine verschnürte Zeltwand aufzuknoten und mir Wasser über die Auslage zu kippen. Dank der Minusgrade musste ich die Dinger fast schon vom Holz meißeln, um sie loszukriegen … wer kommt bloß auf solche Ideen?«

Isa überlegte. »Jugendliche, Betrunkene, betrunkene Jugendliche … oder ein Psychopath, der dir zu verstehen geben will, dass er dich demnächst kidnappen und deine Leiche in einem riesigen Eiswürfel in seiner Wohnung ausstellen wird …«

»Kleines, du liest zu viele Krimis.«

Tell ließ von den Lesezeichen ab, stand auf und schob sich den schwarzen Schlapphut in den Nacken. »Du wolltest deine Jonglierbälle abholen, oder? Ich habe sie mit grünem Filz umhüllt, wie du es wolltest. Sehen jetzt viel besser aus.«

»Tut mir leid, dass es so spät geworden ist. Marek hat mich gerade noch daran erinnert.«

»Aha, sehr nett und zuvorkommend von dem jungen Mann. Ich glaube, du wohnst dieses Jahr sogar bei ihm, oder?«

»Tell, bitte! Ich muss zur Bühne!«

»Und ich weiß im Gegensatz zu dir, wo genau sich in diesem Chaos hier dein Handwerkszeug befindet.«

Sie seufzte. »Ja, wir wohnen zusammen. Nein, da läuft nichts zwischen uns. Jetzt gib sie schon her!«

Der Schweizer grinste sie durch seinen dichten Bart hindurch an und zauberte sechs giftgrüne Filzbälle aus den Tiefen seines Umhangs. »Mehr wollte ich nicht. Na ja, und meine Bezahlung natürlich.«

»Kriegst du heute Abend, versprochen.« Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »Du bist ein Schatz, Tell.«

»Weiß ich doch, Kleines. Und nun hau schon ab, ich muss diese verfluchten Würmer auftauen.«

Die Turmuhr der Sankt-Servatius-Kirche schlug gerade zwölf.

»Da hast du aber echt Glück gehabt.« Lena Krumbe strich das Tuch mit den Glöckchen glatt, das sie sich über ihrem blauen Rock um die Hüften gebunden hatte. Sie und Isa standen an der linken Seite der großen Bühne, die am anderen Ende des Marktplatzes aufgebaut worden war.

Isa grinste, immer noch ein wenig außer Atem. »Das ist kein Glück, sondern Timing. Ihr denkt immer nur, ich würde dauernd zu spät kommen.«

Vor dem großen Podest hatte sich bereits eine stattliche Anzahl von Zuschauern versammelt. Die schaulustige Meute war gut gerüstet mit heißem Met, Knoblauchbrot und dem festen Vorsatz, klammheimlich das Weite zu suchen, sobald der Klingelbeutel in Sichtweite käme. Der Anblick von etwa dreißig bis vierzig Personen, die alle gleichzeitig versuchten, sich während des letzten Liedes unauffällig in den Hintergrund zu verdrücken, beeindruckte Isa seit ihrem ersten Auftritt als Gauklerin doch jedes Mal.

Gelächter und Gespräche wurden leiser, als eine schlaksige Gestalt mit einem braunen Wams und einem komischen Hut, der entfernt an eine tote Katze erinnerte, auf die Bühne polterte.

»Gegrüßet sei das Volk zu Siegburg!«, rief Büttel Richard und breitete die Arme aus, was mit höflichem Applaus beantwortet wurde.

»Lange schon habt Ihr ausgeharrt in der unwirtlichen Kälte, doch jetzo ist es so weit: Eine auserlesene Schar von Galgenvögeln … äh, Spielleuten wird Euch ein wenig Kurzweil bereiten. Es treten auf mit Musica und Gaukelei: Manus Furis!«

Euphorisches Handgeklapper brandete auf. Lena und Isa sahen sich an, nickten sich zu und sprangen behänden Schrittes auf die Bühne.

Von der anderen Seite her stiegen ihre drei männlichen Kollegen auf das Holzpodest: ein langhaariger Bär im Schottenrock, ein schlaksiger Jüngling mit Ziegenbart und Schellenbändern an den Fußknöcheln sowie ein Mittdreißiger in Pluderhosen, dessen Feder am Barett gut als Staubwedel hätte durchgehen können.

Genau dieser Mann trat nun bis vorne an den Rand der Bühne, verbeugte sich tief und ergriff das Wort. »Werte Recken, edle Damen, liebe Kinder! Wir sind Manus Furis und freuen uns, das hohe Fest der Weihnacht hier in Siegburg mit Euch verbringen zu dürfen. Verweilt nun eine Weile und erfreut Euch an dem, was wir dieses Jahr zu bieten haben – doch zuvor: Wer uns noch nicht kennt, dem seien hier die besten Spielleut des Abendlandes präsentiert!« Er drehte sich zu seinen Mitmusikern um und musterte sie kritisch. »Ach verdammt, das war ja die andere Band …«

Das Publikum lachte. Der Schlaks mit dem Bärtchen – ein liebenswerter Chaot, der mit dem wenig mittelalterlichen Namen Kevin geschlagen war – tat so, als wollte er seinem Vorredner aus Rache seine Schalmei über den Schädel ziehen, was besonders das kleine Mädchen mit der Holz-Hellebarde erfreute, das sich irgendwie in die erste Reihe gedrängelt hatte.

»Nun gut«, fuhr Valentin, der Barett-Träger, fort, »beginnen wir also mit den liebreizenden Weibsbildern unseres aufgestellten Kollegiums. Einst wurde eine junge Spielmaid aus dem fernen Avalon verbannt, weil ihre Zunge zu spitz und ihre Lieder zu zotig waren … Zum Glück fand sie bei uns ein neues Zuhause und trommelt und jokuliert seither so elfengleich, dass ihr spöttisches Mundwerk umso angenehmer stichelt. Acclamatio für die grüne Fee von Absinth!«

Isa trat einen Schritt nach vorne und machte einen tiefen Knicks, während die Siegburger klatschten und johlten. Schon jetzt hatte sie ein gutes Gefühl. Die Aufregung, die sie jedes Mal am Anfang eines Auftritts verspürte, ließ sie förmlich nach Dudelsackmusik lechzen.

Valentin machte weiter mit seiner Vorstellungsrunde. »Die zweite Rosenknospe in unserem Bartgesträuch ist die Herrin der Sackpfeifen. Sie besang schon den heiligen Wein für Päpste und die Schönheit der Haremsdamen für den Sultan …«

Lena tippte ihm von hinten auf die Schulter und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

»Ach ja, verzeih – es war ja genau umgekehrt. Für Euch: die wilde Helena!«

Mit fliegendem Rock und wehender blonder Mähne drehte sich Lena wie ein Kreisel auf den Absätzen und blies einmal kräftig in ihren Dudelsack.

Dann war der Hüne im Schottenrock an der Reihe.

»Dieser Recke mit den luftigen Beinkleidern stammt aus den Highlands und ist allenthalben für drei Dinge bekannt: Er wirft den Baumstamm am weitesten, prügelt die Engländer am tüchtigsten und küsst die Mägdlein am liebsten. Jubel vom Weibsvolk für Alec MacPipe vom Clan der MacPipes!«

Alex Grün grinste wie ein schottischer Freibeuter und stellte sich in Positur. Dass er ebenso wenig ein Highlander war wie Isa ein Hunnenkönig, hinderte ihn keineswegs daran, bei jeder Gelegenheit mit falschem Akzent und einem nachgemachten Claymore-Schwert Frauen abzuschleppen.

Bevor Valentin seinen zweiten Kollegen vorstellen konnte, zog dieser ein Holzschild in Form eines Pfeils aus der Tasche und deutete damit begeistert auf sich selbst. Isa musste unwillkürlich lachen. Kevin war zwar ein furchtbar netter Kerl, aber er hatte definitiv einen Sprung in der Schüssel.

»Hab Dank, ich hätte dich doch beinahe vergessen.« Valentin spielte stets den halbwegs vernünftigen Gegenpart zu seiner mehr oder minder verschrobenen Gauklerschar und schüttelte auch nun wieder nachsichtig den Kopf.

»Diesen ach so bescheidenen Milchbart fanden wir dereinst im kalten Norden. Dort war er auf der Flucht vor einer Wikingerin, der er mit Harfe und Gesang seine Minne gestanden und daraufhin festgestellt hatte, dass ihr Name nicht Helga, sondern Holger war … seitdem spielt er für uns und zaubert ein Lachen ins finstere Mittelalter. Herr Ludger der Verderbte, Ihr Recken und Damen!«

Wieder folgte Applaus und dann der Moment, den der Herr mit der Pluderhose am liebsten hatte. Verantwortungsvoller Chef oder nicht: Als alter Bühnenmensch badete Valentin im Rampenlicht wie Kleopatra in Stutenmilch. Vermutlich unsere Berufskrankheit, dachte Isa.

»Und mein werter Name«, verkündete er, nahm den Hut ab und verbeugte sich so tief, dass seine Stirn fast die morschen Bretter berührt hätte, »ist Graf Galgenstrick, Ritter unter den Räubern, Zar unter den Zechern und Baron unter den Beutelschneidern. Klappert mit den Händen, denn nun folgt ›Musicus Interruptus‹!«

Bei diesem ersten Lied der Show spielte Isa noch ihre Trommel, bevor sie später im Takt der Musik grüne Bälle und blanke Messer wie von Zauberhand über den Himmel tanzen lassen würde. Nun aber stieß Lena zuerst in ihre Sackpfeife und erzeugte einen lang gezogenen Ton, der zunächst wehmütig verharrte und sich dann mit der gleichen Note aus Alex’ Dudelsack verband. Der Klang ließ die Leute den Atem anhalten wie in der Sekunde, in der man alle Muskeln anspannt, bevor man endlich losrennt.

Isa holte aus und schlug auf ihre Trommel. Die gespannte Tierhaut vibrierte tief und donnernd, nur ein einziges Mal.

Und ein wildes, animalisches Feuerwerk brach los.

Wenn der Mittelaltermarkt ein lebendiger Organismus war, dann war die Musik, die sie spielten, sicherlich sein Puls. Kein noch so starker Met ging derart unter die Haut wie die stampfenden Rhythmen und die treibende Melodie, die sich immer und immer wieder um sich selbst drehte und das Publikum mitriss wie eine tobende Brandung. Selbst die sittsamsten Familienväter, die ihre körperliche und geistige Haltung offenbar Stöcken verdankten, die dort steckten, wo keine Sonne hinkam, konnten nicht verhindern, dass sie unwillkürlich mitwippten. Herzen begannen, im Takt der Musik zu hämmern.

Dass ein anderes Herz auf diesem Marktplatz schon bald für immer aufhören würde zu schlagen, ahnte zu diesem Zeitpunkt noch niemand.

Kapitel 2

Schwarze Nacht war hereingebrochen. Die Beschützerin der Diebe und Freundin der Halunken legte sich wie ein samtener Mantel über Siegburg und verbreitete Frost und weihnachtliche Dunkelheit.

Das dichte Gedränge zwischen den Marktbuden hatte sich weitgehend aufgelöst. Für die zahlreichen Besucher war das Leben im Mittelalter für heute zu Ende gegangen; der Ruf des Nachtwächters hatte sie alle nach Hause geschickt. Schritte, die an den den Platz umschließenden Häuserwänden verhallten, kündeten von den ersten Nachtschwärmern, die im Dunkeln streunten und Lokale wie den Irish Pub namens Shamrock in der Holzgasse ansteuerten, um ein Pint Guinness zu trinken und Darts zu spielen.

Die Uhr auf Isas Handy zeigte gerade einmal halb neun.

Seit kaum mehr als dreißig Minuten war für die Kramer, Handwerker und Spielleute des mittelalterlichen Weihnachtsmarktes Feierabend – was nicht heißen sollte, dass auf dem Marktplatz schon absolute Ruhe herrschte. Im Gegenteil: Überall wurden Waren zusammengeräumt, Tageseinnahmen gezählt und Buden mit Brettern und Planen verbarrikadiert. Von irgendwo her ertönte die Stimme eines Betrunkenen.

Im Schein der Reklametafel eines Drogeriemarkts saßen die Bandmitglieder von Manus Furis wie an fast jedem Abend noch ein wenig zusammen und tranken Bier, bevor ein jeder von ihnen seiner Wege ging. Sie hatten ein paar Decken und Jacken auf den blanken Bohlen der Bühne ausgebreitet, auf der sie vor Stunden noch gespielt hatten, und drängten sich dicht aneinander. Es war kalt, und der Wind griff eisig unter die nun wieder neuzeitlichen Kleider, aber Spaß machte es trotzdem.

Als Isa aus dem Keller des Museums zurückkehrte, in dem sie sich umgezogen und einige Requisiten für den nächsten Tag verstaut hatte, erzählte Alex Kevin gerade lang und breit von seinen Erlebnissen auf der letzten LARP-Convention.

»… also ging es bei dem Spiel wie gesagt um Piraten und Freibeuter der Karibik …«

»Aus der Karibik? Wie soll das denn funktionieren? Du hast eben noch gesagt, ihr wart in Hamburg!«

»Das ist LARP, Kevin. Live Action Role Play. Kein Event zur genauen Darstellung historischer Ereignisse«, mischte sich die junge Spielfrau mit den Dreadlocks ein und nahm sich von Alex ein Bier. »Wenn du laut Regelwerk mit einem Elbenschwert aus Polypropylen auf Orks einschlagen darfst, dann kannst du in Hamburg auch geschmuggelten Rum mit einem Haufen Piraten aus Tortuga trinken, kapiert?«

»Hmm«, brummte Herr Ludger der Verderbte skeptisch. Was historische Darstellungen und flache Wortwitze anging, war er Purist.

»Na hör mal, so was macht richtig Spaß!«, hielt Alex dagegen. »Hey Valentin, wie wär’s, wenn ich ab sofort in der Band nicht mehr als Highlander, sondern als Pirat auftrete?«

»Hm? Nein, das geht nicht.« Der Bandleader zupfte gedankenverloren an seiner Laute herum, während er sprach. »Auf jeden Fall nicht hier. Das ist ein Weihnachtsmarkt aus dem Spätmittelalter, kein Fantasy-Festival.«

»Ach komm, ein bisschen Fantasy hat noch niemandem geschadet.«

Lena schnaubte belustigt. »Klar, weil du auf Elbinnen stehst.«

Bevor der Dudelsackspieler etwas darauf erwidern konnte, fiel Isa schon vor Lena auf die Knie, ergriff ihre Hände und drückte sie mit schmachtendem Blick an sich. »Oh, holde Elbenmaid, erhöre mich! Mein Name ist Kapitän Alexander von Humbug!«

»Ich will mit Euch in den Zauberwäldern salbungsvoll und ohne sichtbares Ziel durch die Gegend schreiten und meine magische Aura verströmen, Geliebter!«

Alex brummte missmutig in sein Bier, während die Mädchen lachten. »Albernes Weibsvolk …«

Plötzlich löste sich ein Schatten aus dem umliegenden Dunkel und verwandelte sich nach und nach in die undeutliche Silhouette eines monströsen Bratapfels mit in die Seiten gestemmten Fäusten. »Würdet ihr euch wohl einen anderen Platz zum Saufen suchen oder wollt ihr, dass wir noch mehr Ärger mit den Anwohnern bekommen? Es herrscht Nachtruhe, falls ihr es noch nicht bemerkt habt!« Der Duft, den Bernd Wischnewski verströmte, verstärkte den Eindruck von einer nörglerischen halben Portion Obst nur noch.

»Reg dich ab, Bernd, der Markt ist seit gerade mal einer Dreiviertelstunde geschlossen.« Graf Galgenstrick ergriff nicht nur als Anführer das Wort, sondern auch, weil er verhindern wollte, dass es wieder einmal zu einem Streit mit dem Verkäufer kam. Für Wischnewski kamen Spielleute in der sozialen Rangordnung direkt nach Bettlern, Hunden und Steuerberatern.

»Wenn ihr nicht sofort Ruhe gebt, macht er morgen vielleicht auch nicht mehr auf!« Bernd wedelte drohend mit dem Zeigefinger. »Im Übrigen ist die bloße Idee, in dieser spätmittelalterlichen Kulisse Piraten oder sogar so etwas wie Elfen auftreten zu lassen, ganz einfach infam. Nicht einmal die dümmsten Touristen würden sich dann noch von eurem halb garen Geschichtswissen täuschen lassen.«

Isa zog die Augenbrauen hoch. »Freut mich zu hören, dass du deinen Feierabend sinnvoll verbringst, indem du die Gespräche anderer Leute belauschst, Meister Hubertus P. Libarius.«

»Man sagt Meyster, nicht Meister. Das ist Mittelhochdeutsch. Und wofür soll bitte das ›P‹ stehen?«

»Pestbeule.«

Kevin verschluckte sich vor Lachen an seinem Bier und bekam einen fürchterlichen Hustenanfall. Alex klopfte ihm feixend auf den Rücken, während Bernd sich wütend vor ihnen aufplusterte wie ein druckbetanktes Rotkehlchen. »Das muss ich mir nicht bieten lassen von einer … einer … unprofessionellen Statistin, die wahrscheinlich glaubt, der ›Gang nach Canossa‹ sei ein Flur, der zu einem Räucherofen für Salami führt!« Mit diesen Worten machte er auf dem Absatz kehrt und stürmte davon.

Lena sah ihm hinterher und schüttelte irritiert den Kopf. »Räucherofen für Salami … mit dem Spruch hat er dich jetzt wirklich mundtot gemacht, was?«

Isa zuckte ungerührt mit den Schultern. »Also ich weiß, dass Heinrich IV. im 11. Jahrhundert nach Canossa ging, um dem Papst in den heiligen Allerwertesten zu kriechen. Bernd sollte sich nicht um meine Geschichtskenntnisse, sondern um seine miserablen rhetorischen Fähigkeiten sorgen.« Neugierig rutschte die grüne Fee ein wenig zu Valentin hinüber, der immer noch an den Saiten der Laute herumzupfte und leise vor sich hin summte. »Was spielst du da?«, fragte sie und verzog das Gesicht, als sich ein Holzsplitter der Bühnenbretter durch ihre Jeans bohrte.

Überrascht blickte er auf. »Mir ist vor ein paar Tagen der Gedanke gekommen, dass wir anstatt der instrumentalen ›Hau drauf‹-Marktmusik mit Sackpfeifen mal zur Abwechslung wieder ein Trinklied spielen könnten. Die sind ziemlich beliebt, und wir könnten dem Publikum ein bisschen was anderes bieten.«

»Da werden uns die feinsinnigeren Mittelalterbands zwar wieder als Dudelsack-Idioten bezeichnen, die nur eine Tonart spielen können, aber es ist ja nicht so, dass wir das nicht bereits gewohnt wären. Hast du schon eine konkrete Idee für ein Lied?«

»Na ja, mit der Musik bin ich so gut wie fertig, aber beim Text hapert es noch. Bisher sind mir nur zwei Strophen eingefallen.«

»Spiel es mal vor.« Alex zog sich fingerlose Handschuhe über, bevor er sich eine Zigarette anzündete. »Vielleicht hat ja jemand von uns eine Erleuchtung.«

»Meinst du wirklich? Um die Zeit?«

»Ach Valentin, was soll denn schon passieren? Dass sich ein wütender Siegburger Mob mit Fackeln und Forken aufmacht, um heimlich unsere Stände anzuzünden?«, fragte Isa sarkastisch.