Die Hand am Pflug - Hans Ernst - E-Book

Die Hand am Pflug E-Book

Hans Ernst

0,0
16,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Hans Ernst ist einer der bekanntesten Volksschriftsteller. Seine Heimatromane werden zu Recht geliebt, denn Handlung und Charaktere profitieren von Erfahrungen, die der Autor Im Laufe seines Lebens selbst machte, von seinen eigenen Erlebnissen und Begegnungen. Davon erzählt er in diesem autobiografischen Werk: In seiner Zeit als Bauernknecht ist seine Liebe zur bäuerlichen Welt entstanden, seine künstlerischen Fähigkeiten konnte er beim Theater entdecken. Endlich verband sich beides glücklich in der Schriftstellerei. So manchem Hans-Ernst-Freund gilt dieses Buch als sein bestes.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



LESEPROBE zuVollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshauserschienenen Originalausgabe 2011

© 2015 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheimwww.rosenheimer.com

Titelfoto oben: img85h, © www.istockphoto.comTitelfoto unten: Studio von Sarosdy, DüsseldorfSatz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

eISBN 978-3-475-54385-2 (epub)

Worum geht es im Buch?

Hans ErnstDie Hand am Pflug

Mit seinen Romanen über Liebe und Leid in den Bergen bewegt der beliebte Heimatschriftsteller Hans Ernst noch immer Millionen von Lesern. Doch wie kam es, dass ein einfacher Bauernknecht zum Volksschriftsteller wurde?

Geboren in München, verschlug es Hans Ernst durch einen glücklichen Umstand bereits in frühester Jugend aufs Land. Hier verdiente er sich sein erstes Geld als Knecht und »Rossbua« und machte dann sein Glück als Schauspieler und schließlich als Autor. Dadurch wurde Hans Ernst zu jener Persönlichkeit, die auch in seinen Romanen immer wieder sichtbar wird: ein stets heiterer und ausgeglichener Mensch, dem die Natur, seine bayerische Heimat sowie seine Familie über alles gingen.

Es muss kein überwältigend schöner Tag gewesen sein, als ich das Licht der Welt erblickte, denn mein Vater hat mir erzählt, dass er recht gefroren hätte, als er sich auf den Weg machte, um die Hebamme zu holen. Vor mir war schon eine Schwester da, aber der muss es auf dieser schnöden Welt nicht gut gefallen haben, weil sie sie nach zwei Monaten bereits wieder verließ.

Eigentlich ist »das Licht der Welt erblicken« ein dummer Ausdruck, denn wenn man erst ein paar Minuten alt ist, sieht man gar nichts. Und überhaupt, so voller Licht ist die Welt grad nicht. Es gibt Schatten genug. Aber die lernte ich erst viel später kennen.

In der Schulstraße 21 im zweiten Stock, im Neuhauser Viertel der Münchner Stadt hat dieses Ereignis am neunten November 1904 stattgefunden, an einem späten Herbsttag also.

Meine Mutter stammte aus der Reichenhaller Gegend. Sie war klein und zierlich, hatte ein schmales Gesichtl und ein Herz voller Liebe für mich und für die Familie. In ihrer Jugend hat sie bei den Reichenhallern Theater gespielt. Später ist sie dann nach München in Stellung gegangen zu einer Familie, die ein Zigarrengeschäft betrieb. Wenn die Zigarrenleute mittags ihr Schläfchen hielten, stand meine Mutter im Laden. Der ledige Schustergeselle Johann Baptist Ernst muss rausgekriegt haben, dass das Fräulein Anna um diese Zeit allein anzutreffen war, denn er kam um die Mittagszeit immer von der Landsberger Straße über die Donnersbergerbrücke herüber und kaufte sich in dem kleinen Geschäft seine Zigarren oder den Rauchtabak »Schwarzer Reiter«.

Meine Mutter hat ihn dann überredet, das Schusterhandwerk an den Nagel zu hängen und zur Eisenbahn zu gehen, wegen der Pensionsberechtigung und vielleicht auch, um ihren Reichenhaller Verwandten mitteilen zu können, sie heirate einen Beamten. Darauf legte man schon damals großen Wert. Wenn mein Vater bei seinem Leisten geblieben wäre, dann hätte ich heute vielleicht ein Salamander-Schuhgeschäft, und mein Lebensweg wäre nicht so verworren und verschlungen gewesen. Mit dem Beamten ging das aber auch nicht so schnell, denn zuerst musste mein Vater bei einem Gleisbautrupp arbeiten, und die Bauarbeiter waren noch schlechter bezahlt als die Beamten.

Es ging uns aber nicht schlecht, denn meine Eltern waren sparsam und fleißig und konnten sich nach mir noch einen Buben leisten, den Pepi, der auch im November geboren wurde. Der Pepi war kein so schönes Kind wie ich, und das freute mich.

Aber wie gesagt, es ging uns nicht schlecht. Mein Vater doppelte und flickte Schuhe für seine Kollegen von der Eisenbahn, und er sagte, dass der Lohn dafür sein Biergeld sei. Die Mutter putzte und wusch bei reichen Leuten. Für das Geld kaufte sie uns Kleider. Manchmal nahm sie uns mit zu ihren Herrschaften. Einige waren ganz nette Leute, und ich durfte mit ihren Kindern spielen. Andere waren nicht so nett, und ich musste dann in der Küche auf einem Hocker sitzen und warten, bis meine Mutter fertig war mit der Arbeit. Wir hatten auch ein Zimmer mehr, als wir brauchten. Es wurde vermietet, und wenn es wieder leer war, dann nahm meine Mutter kleine weiße Zettel und schrieb mit zierlicher Schrift darauf: »Zimmer an soliden Herrn zu vermieten. Wöchentlich mit Kaffee 4 Mark. Zu erfragen bei Ernst in der Schulstraße 21/II.«

Ich durfte das Mehlpapphaferl halten, wenn meine Mutter die Zettel an Bretterzäune und Bäume klebte. Wir hatten immer nur Zimmerherren, nie ein Fräulein. Wenn meine Mutter auf Arbeit war, wäre mein Vater mit dem Zimmerfräulein allein gewesen, und anscheinend traute sie ihrem Johann Baptist nicht so ganz, denn er war mit seinen dreiunddreißig Jahren ein flotter Bursche. Sonntagmorgens band er sich eine Bartbinde um, damit hernach die Spitzen seines Bartes steil emporstanden wie beim Kaiser in Berlin, den er aufrichtig verehrte.

Auch den Märchenkönig Ludwig II. verehrte er, dessen Bild in der Küche unter dem Kruzifix hing, das wiederum von zwei grellen Öldrucken umrahmt war, die die Himmelmutter zeigten und den Herrn Jesus, durch deren blutrote Herzen spitze Pfeile gebohrt waren.

Meine Mutter war recht fromm und, so glaubte ich, froh und glücklich. Oft sang sie, wenn sie am Herd stand – sie kochte großartig –, das Lied:

»Ja, ich bin zufrieden,

geh es, wie es will.

Unter meinem Dache,

leb ich froh und still.«

Ich kann mich nicht erinnern, dass meine Eltern jemals gestritten hätten. Meine Mutter tratschte auch nie im Stiegenhaus mit anderen Frauen. »Dabei kommt nichts G’scheites raus«, pflegte sie zu sagen.

Sonntags, so um vier Uhr nachmittags, ging mein Vater in die Wirtschaft, die auf der anderen Straßenseite lag. Dort gab es Paulaner-Bier. Er war ein beliebter Gesellschafter am Stammtisch, voller putziger Einfälle. Es war ihm gut zuzuhören, wenn er von der Zeit erzählte, die er als Schustergeselle auf der Walz gewesen war. Er war bis nach Elsass-Lothringen gekommen und hatte dort ein paar französische Brocken aufgeschnappt, die er immer wieder anbrachte: »Le bœuf der Ochs, la vache die Kuh, fermez la porte, die Tür mach zu.« Manchmal schnitt er bei seinen Erzählungen so auf, dass sich die Balken bogen; er schwindelte so herrlich, dass er es selber glaubte. Dazu trank er seine sechs bis acht Halbe Bier. Er vertrug schon etwas, und ich habe meinen Vater niemals betrunken nach Hause kommen sehen. Meistens kam er um acht Uhr zurück und brachte jedes Mal der Mutter ein Stück Leberkäs mit und uns Buben ein paar Würstl. Wenn wir schon im Bett lagen, weckte er uns und ließ uns von den Würstln abbeißen.

Viele Walzgeschichten erzählte er auch uns Buben, wenn er abends auf seinem Schusterschemel hockte und eine Sohle aufnagelte oder Absätze richtete. Ich spielte gern mit den Holznägeln, legte sie von einer Schachtel in die andere und wieder zurück. Der Pepi spielte lieber mit dem Schusterpech und hatte oft ein ganz schwarzes Gesicht. Die Mutter bügelte am Tisch mit dem Kohlebügeleisen, das sie von ihrer Herrschaft als Hochzeitsgeschenk erhalten hatte. Manchmal sangen die Eltern auch gemeinsam. Meistens das Lied »Neuschwanstein, stolze Feste« oder das vom »Wildschützen Jennerwein«.

Ach, du schöne, versunkene Welt der traulichen Wohnstube mit dem milden Licht der Petroleumlampe und mit dem Rauch aus Vaters langer Pfeife! Die ganz lange, die bis zum Boden reichte, benutzte er nur selten. Dann durfte ich sie anzünden, weil er mit den Händen nicht so weit hinunterlangen konnte. Der Duft von Bratäpfeln mischte sich drein, und manchmal erzählte auch die Mutter aus ihrer Kinderzeit. Vom König Watzmann zum Beispiel, vom Kaiser im Untersberg oder vom Seerosenteich – Sagen und Märchen, von denen mein Gemüt wie von einem Rausch erfasst wurde.

In unserer Wohnung war alles blitzblank sauber, und so hielt ich es für sehr ungehörig, dass der Kaminkehrer einmal, als meine Mutter gerade das Treppenhaus gereinigt hatte, auf die unterste Stufe mit Kreide eine Leiter malte. Wie sollte ich wissen, dass er damit allen Hausbewohnern anzeigen wollte, dass er am nächsten Morgen schon in aller Frühe käme, um die Öfen zu kehren, die sie also nicht anheizen durften. Mich empörte jedenfalls die Schmiererei, ich suchte mir einen Lappen und wischte die Leiter weg.

Du liebe Zeit, das gab einen Aufruhr am anderen Morgen, als der Kaminkehrer an die Wohnungstüren klopfte und überall eingeheizt war! Die Leute beschimpften den Kaminkehrer, weil er sein Kommen nicht auf die übliche Weise angezeigt habe. Der wiederum beschwor, dass er die Leiter gezeichnet hätte. Also musste jemand sie ausgelöscht haben. Doch wer? Auf mich kamen sie nicht, aber ich steckte trotzdem meine Hände in den Hosensack, als mein Vater sagte: »So einem Kerl sollte man auf die Finger klopfen, bis sie blau werden!«

Ein anderes großes Ereignis war der Waschtag. Auf die Tafel an der Waschhaustür mussten die jeweiligen Parteien schreiben, an welchem Tag sie die Waschküche benutzen wollten. Es gab viel Streit deswegen. Meine Mutter stritt nie und mit niemandem. Wenn ihr Waschtag kam, ging sie schon sehr früh in die Waschküche hinunter, heizte den Kessel ein und kochte die Wäsche. Dazwischen lief sie immer wieder in den zweiten Stock hinauf, um nach uns Kindern zu sehen. Wenn wir unseren Malzkaffee mit dem Stück Schwarzbrot ausgelöffelt hatten, durften wir mit in die Waschküche.

»Setzt euch auf den Hocker da hinten und seid brav«, sagte die Mutter. Es roch nach Flammerseife und Lauge. Die Mutter fuhr mit einem dicken Prügel in den Kessel und hob einen Pack Wäsche heraus auf den großen Waschtisch. Von dem Augenblick an sah man nichts mehr. Alles war in weißen Dampf gehüllt. Der Waschtisch, der Hocker, wir Buben und die Mutter. Man hörte nur das Rauschen der Wurzelbürste. Das war die beste Gelegenheit, dem Pepi einen Rippenstoß zu geben, weil er den ganzen Hocker für sich allein beanspruchte und mich hinunterschieben wollte.

Der Pepi schrie sofort wie am Spieß. »Mama! Mama!«, schrie er, rannte in den weißen Dampf hinein, stieß sich an der Kante des Waschtisches und plärrte noch schrecklicher. Die Mutter schrie auch, aber nicht so laut wie der Pepi. Sie schrie nach mir. Wahrscheinlich wollte sie mir eine langen. Aber man läuft doch einem Schlag nicht entgegen. In dem weißen Dampf konnte sie mich nicht gleich finden, und hernach hatte sie es wieder vergessen. Meine Mutter war nicht nachtragend und schlug kaum einmal zu. Wenn sie es wirklich einmal tat, dann nur, wenn wir wirklich eine Maulschelle verdient hatten, die sie uns dann gleich darauf am liebsten wieder weggestreichelt hätte. Vom Vater, kann ich mich erinnern, bekam ich zur damaligen Zeit nur einmal mit dem Schusterriemen Schläge, weil ich ihm seine Bartbinde auf der Innenseite mit Schuhwichse bestrichen hatte.

Wir hatten kein Bad in der Wohnung. Aber samstags wurden wir in einen hölzernen Zuber gesteckt und richtig abgeschrubbt. Der Zuber war hoch und eng, sodass man sich nicht ausstrecken konnte wie in einer Badewanne, sondern mit verschränkten Beinen darin saß wie ein indischer Fakir. Der Pepi schrie auch da jedes Mal. Ich biss in den Waschlappen, dann spürte man die raue Wurzelbürste nicht mehr so.

Selbstverständlich durften wir zum Spielen auf den Hof und auf die Straße. Beim Haus war eine Spenglerwerkstatt, die Herr Korbinian Huber betrieb, dem auch das Haus gehörte. Hinter der Werkstatt war ein kleiner Garten mit ein paar Fliederbüschen. Mein Revier ging von der Donnersbergerbrücke bis zum Rotkreuzplatz. Wir waren eine Menge Buben. Mein Bruder Pepi war selten dabei, er spielte lieber mit den Puppen der Mädchen im Hinterhof bei den Fliederbüschen. Auf der Donnersbergerbrücke hatten wir einen besonderen Sport. Wir beugten uns weit über das Geländer, wenn ein Zug kam. Dann wurde man jedes Mal völlig eingehüllt in den weißen Dampf, ähnlich wie in der Waschküche.

Auf dem Rotkreuzplatz war damals noch eine Rasenanlage mit Bänken und Büschen. Dort traf ich an schönen Tagen meinen Großvater, den Vater meines Vaters. Er saß mit anderen alten Männern auf einer Bank, an seiner Joppe das Eiserne Kreuz und die bayrische Tapferkeitsmedaille. Die Alten unterhielten sich viel über den Siebziger-Krieg, von Sedan und Gravelotte. Manchmal saß mein Großvater auch allein dort und sinnierte vor sich hin. In solchen Stunden mag ihm zu Bewusstsein gekommen sein, was er aufgegeben hatte, als er das Bauernanwesen in Friedberg bei Augsburg verkauft und mit der Großmutter in die Stadt gezogen war. Er war der Scholle untreu geworden, und vielleicht reute ihn das jetzt. Die Großmutter war verstorben, und er lebte in einem Altersheim. Meine Mutter hätte ihn gern zu uns in die Wohnung genommen. Aber das wollte er nicht. Einmal im Monat, so um den Ersten herum, wenn er seine Rente bekam, schenkte er mir ein Zehnerl und sagte jedes Mal, ich sollte es in die Sparbüchse tun. Den Pepi nahm ich nie mit auf den Rotkreuzplatz.

Der Großvater starb 1908, im gleichen Jahr, in dem wir unsere alte Petroleumlampe pensionierten. Der Hausherr ließ elektrisches Licht einrichten. War das eine Herrlichkeit! Man brauchte bloß an einem Schalter zu drehen, dann war die Wohnstube ganz hell. Aber man drehte bei uns den Schalter erst, wenn es schon so dämmerig geworden war, dass man einander kaum mehr sah. Denn im Gang war ein Zähler angebracht, in dem eine kleine Scheibe lief und das Geld zusammenzählte, das man für den Strom bezahlen musste. Je mehr Lampen brannten, desto schneller lief das Rädchen und desto mehr Geld kam zusammen für den Mann, der jeden Monat mit einer blauen Mütze erschien und aufschrieb, wie viel die Scheibe zusammengebracht hatte. Meine Mutter brauchte jetzt nicht mehr das Bügeleisen hin- und herzuschwingen, um die Holzkohlen zum Glühen zu bringen. Sie steckte jetzt den Stecker in zwei kleine Löcher, und dann kam durch eine Schnur Strom in das Bügeleisen. Ich grübelte damals darüber nach, wie man die Scheibe zum Stehen bringen könnte, wenn das Licht brannte. Aber es fiel mir trotz aller Anstrengung nichts ein. Technisch war ich nie besonders begabt und bin es auch heute noch nicht.

Alles Neue hat seine Vorteile. Aber auch seine Nachteile, denn wir Kinder konnten jetzt in der Dämmerung nicht mehr dem Laternenanzünder nachlaufen. Der Mann hatte einen grauen Havelock an und trug eine lange Stange, um zur Laterne hinauflangen zu können. Ach ja, die Schulstraße war damals noch eine Oase stillsten Friedens. Keine Trambahn fuhr dort, kein Auto und kein Motorrad. Höchstens das Bierfuhrwerk von der Paulaner-Brauerei mit den fetten Rössern.

Wie schon gesagt, war meine Mutter sehr fromm. Mein Vater, darauf bestand sie hartnäckig, musste sonntags um sieben Uhr in die Frühmesse gehen. Mich nahm die Mutter dann mit ins Hochamt, wenn wir alle gefrühstückt hatten, was an den Sonntagen länger dauerte, weil es da Semmeln gab, Butter und Marmelade, und der Vater kriegte ein weich gekochtes Ei. Ich fand das Hochamt immer furchtbar langweilig, weil ich herzlich wenig verstand von dem, was der Pfarrer auf der Kanzel zu sagen hatte. Meine Mutter hing ehrfürchtig am Munde des Herrn Pfarrers, damit ihr kein Wort auskam. Dann las sie wieder mit Hingabe in ihrem schwarzen Gebetbuch.

Dieses Gebetbuch und ihr Bild sind die einzigen Erinnerungsstücke, die ich von meiner Mutter noch habe. »Inhaberin Anna Blank« hatte sie mit ihrer zierlichen Schrift auf die erste leere Seite geschrieben. Ich erinnere mich an ein anderes Buch, das sie mir oft zeigte. Es war ein Album, zur Hälfte gefüllt mit Bildern von Geistlichen und Klosterfrauen. Und ich sehe meine Mutter noch, wie sie mit dem Finger auf die einzelnen Bilder deutete und erklärte: »Das ist der Vetter Anton, der war Kooperator in Pfaffenhofen. Der Dicke da, das ist der Großonkel Stefan, der war Dekan in Simbach. Das ist die Tante Richarda und das die Base Irmingard.« Die Klosterschwestern schauten mich alle so herzlieb an. Die Pfarrer weniger. Eine von diesen Nonnen war sogar Äbtissin in einem Kloster und soll auch Geschichten geschrieben haben. Wir besuchten sie einmal, aber daran kann ich mich nicht mehr recht erinnern. Ich weiß nur noch, dass wir Kaffee und Kuchen gekriegt haben und dass der Pepi sich die Hose voll machte, worüber die Mutter recht verlegen wurde.

Während die Mutter und ich im Hochamt waren, musste der Vater auf den Pepi aufpassen und auf das Fleisch. Als Suppenfleisch kaufte die Mutter meist Brustspitz und für den Schweinebraten ein Pfund Schulterstück. Dazu gab es dann Semmelknödel und im Sommer auch einen Gurkensalat. Der Vater zog immer wieder die Pfanne aus dem Ofenrohr und probierte das Schulterstück, ob es schon durch sei. Manchmal probierte er so oft, dass das Schulterstück bloß mehr ein Schulterstücklein war. Die Mutter brach darüber nicht in eine endlose Schimpferei aus, sondern sagte nur mit leisem Vorwurf: »Aber Vater, denkst du denn an uns gar nicht?«

Dann ging sie über die Straße hinüber, wo eine Metzgerei war im Eckhaus. Sonntags hatte die Metzgerei zwar geschlossen, aber die Mutter ging hinten hinein und kaufte ein Wammerl, weil das schneller durchgebraten war. Manchmal holten wir in der Metzgerei ein gekochtes Lüngerl, einen ganzen Hafen voll für zwanzig Pfennige. Die Mutter kochte es aber noch mal und tat verschiedene Sachen hinein. Sie machte Knödel dazu. Das gab zwei herrliche Mahlzeiten.

Einmal fuhren meine Eltern nach Altötting und nahmen mich mit. Auf den Pepi gab eine Frau vom dritten Stock Obacht, weil er noch zu klein war, um eine Wallfahrt zu machen. Wir blieben in einem Christlichen Hospiz über Nacht, und als ich in der Früh aufwachte, sah ich meine Eltern nicht. Sie waren in die Frühmesse gegangen und zur Kommunion.

In diesem Hospiz wird noch niemand so durchdringend geschrien haben wie ich in dieser frühen Morgenstunde. Ein halbes Dutzend Klosterschwestern kam gerannt und versuchte, mich zu beschwichtigen. Es gelang ihnen aber nicht, ich schrie, was ich schreien konnte. Eine Nonne wollte mir den Mund zuhalten, da biss ich sie in die Hand. Sie schrie dann auch auf, ganz kurz und spitz, und sagte hinterher: »So ein verzogener Bengel! Was wohl aus dem einmal wird, wenn er jetzt schon so rabiat ist!«

Zum Glück kamen dann meine Eltern und trösteten mich, indem sie sagten, dass sie in der Kirche mit dem Christkind gesprochen hätten, es möge mir zu Weihnachten ein Schaukelpferd bringen.

Ich war froh, als wir wieder in der Schulstraße waren. Dort war meine Heimat, meine kleine Welt, die ich von Herzen liebte, die breite Straße, auf der wir alles machen konnten, schussern und Reifen treiben und Trailer (Kreisel) spielen. Im Winter konnte man dort auch Schlittschuh laufen. Aber ich hatte keine Schlittschuhe, dafür aber einen Schlitten, den der Vater aus Kistenbrettern zusammengenagelt hatte. Der Pepi wurde in eine Decke gewickelt, und ich zog ihn dann umher. Manchmal, wenn ich mit anderen Buben ein Rennen veranstaltete, fiel der Pepi herunter und plärrte natürlich wieder.

Heute noch höre ich meines Vaters Pfiff, wenn wir hinauf mussten. Es war ein lang gezogener, auf- und abschwellender Pfiff auf zwei Fingern. Man konnte ihn bis zum Rotkreuzplatz hören. Aber sonderbar, niemand regte sich auf über diese Lärmbelästigung. Die Leute waren damals noch nicht so nervös wie heute. Man wusste auch, wer da gepfiffen hatte. Da das gleich bleibend pünktlich geschah, richteten sich mit der Zeit auch andere Familien danach. Es wurde dann still in der Schulstraße, und die Nacht konnte sich ruhig über die Dächer legen.

Im Sommer gingen wir oft alle miteinander in den Hirschgarten hinaus. Dort bekamen wir eine Bretzl, ein paar Blattl vom Radi, durften vom Maßkrug einen Schluck nehmen und rannten dann in den Wald hinein. Die Hirsche dort waren ganz zahm, und man konnte ihnen Brot auf der flachen Hand geben. Brot mochten auch die Schwäne im Nymphenburger Kanal. Brot war überhaupt ein verbreitetes Nahrungsmittel. Im Vaterunser, das wir jeden Abend nach dem »Müde bin ich, geh zur Ruh« beten mussten, hieß es ja auch: »Unser täglich Brot gib uns heute.« Also muss schon was dran sein. Heute singen sie den Schlager: »Unser tägliches Brot ist die Liebe.« Da bin ich jedoch der Meinung, dass man in der Liebe mit Brot allein nichts ausrichten kann. Aber von der Liebe wusste ich damals noch nichts.

Die Schwäne im Nymphenburger Kanal wurden von vielen Leuten gefüttert. Eine Frau warf gleich eine ganze Semmel hinein. Der Schwan knabberte daran herum, aber er konnte sie nicht anbeißen, weil es eine große Semmel war. Ich holte mir die Semmel mit einer Gerte heraus und verschwand damit im Gebüsch, obwohl man in die Grünanlagen nicht hineindurfte, weil die zum Schloss gehörten, und das Schloss gehörte dem König.

Einmal verfolgte ich einen Zitronenfalter und lief in die Anlagen hinein. Und schon kam ein Polizist den Rieselweg dahergeschritten und drohte mit emporgehobenem Finger, dass er mich einsperren werde. Ich rannte schnell davon. Nachlaufen konnte er mir ja nicht, weil der lange Säbel ihn daran hinderte, und auch der Helm mit der funkelnden Spitze rutschte ihm vom Kopf. Außerdem war ich barfuß viel schneller als er. Seitdem mochte ich die Polizisten nicht mehr, obwohl sie schön waren mit ihren Uniformen und den weißen Handschuhen und den hochgezwirbelten Schnurrbärten, wie ihn auch mein Papa trug. Die Polizisten hatten damals noch viel Macht über die kleinen Menschen. Bei den Reichen trauten sie sich weniger und tippten vor ihnen mit drei Fingern an den Helmrand.

In diesem Jahr, als wir das elektrische Licht bekamen, zog unter uns eine neue Familie ein. Sie hießen Zimmerer und hatten zwei Kinder, ein Mädel und einen Buben. Der Herr Zimmerer war Trambahnführer, und seine Frau nähte auf einer Maschine, die man mit der Hand treiben musste. Der Bub hieß Ludwig, wurde aber Wiggerl genannt, das Mädl, die Emma, war bloß um einige Monate älter als ich.

Wir begegneten uns zum ersten Mal im Treppenhaus, als ich für meinen Vater das Bier holen musste. Das musste ich jeden Abend, drei Quartl in einem Maßkrug. Aber wehe, wenn die Kellnerin keine Maß eingeschenkt hätte! Ich glaube, mein Vater hätte am nächsten Sonntag sein Stammlokal gewechselt.

Der Maßkrug war von gelber Farbe, mit einem hohen, spitzen Zinndeckel darauf. Wenn man den Deckel aufhob und den Maßkrug ans Licht hielt, dann sah man unten am Boden das Schloss Hohenschwangau.

In der Wirtschaft musste ich an einem Strang ziehen, dann läutete ein Glöcklein, und das Schenkfenster hob sich. Ich brauchte gar nichts sagen, das Fräulein Wally wusste auch so, wem der Maßkrug gehörte und dass sie eine Maß einschenken musste, obwohl ich ihr bloß achtzehn Pfennige hinlegte. Wenn ich zwanzig Pfennige hinlegte, gab sie mir zwei Pfennige heraus, und wenn ich vergaß, sie daheim herzugeben, sagte mein Vater schon nach dem ersten Schluck:

»Wo bleibt der Zweiring?«

In unserm Haus gab es in jedem Stockwerk im Treppenhaus einen Abort und eine Wasserleitung. Wenn ich rechten Durst hatte, trank ich von dem Bier. Hatte ich zu viel erwischt, ließ ich ein bissl Wasser drauflaufen. Der Vater hob immer gleich den Deckel hoch, schaute hinein und nickte dann anerkennend:

»Brav, Wally, gut hast wieder eingeschenkt. Tu nur auf deine Stammgäst schaun!« Manchmal fluchte er auch: »Sakrament! Die Plempe wird auch immer dünner.«

Die Mutter zuckte dann jedes Mal zusammen, als hätte jemand sie geschlagen.

»Muss man denn gleich immer fluchen, Vater?«

»Ist ja wahr auch! Die Wirt werden allweil dicker und fetter und das Bier allweil dünner. So kann’s nicht weitergehen! Da muss was kommen!«

Es war damals ein geflügeltes Wort, dass es so nicht weitergehen könne und etwas kommen müsse. Es war ja auch eine Unverschämtheit, zwei Semmeln kosteten fünf und ein Pfund Fleisch sechzig Pfennige! Die Wohnung kostete – eine Küche und drei Zimmer – fünfundzwanzig Mark! Wenn das kein Geld war!

Ein paar Tage später begegnete ich wieder den Zimmerer Kindern. Der Wiggerl und ich schauten uns eine Weile misstrauisch an. Dann sagte er: »Ich bin der Wiggerl. Und wie heißt du?«

»Hansi«, sagte ich und betrachtete die Emma. Sie war schwarzhaarig, fast rabenschwarz, und hatte ein paar Sommersprossen auf der Nase. Der Wiggerl nannte sie Wurzl, und sie sagte, dass ich sie auch so nennen dürfe. Sie wollte Sängerin werden. Vorläufig aber durfte sie nur eine Squaw machen, wenn wir Indianer spielten. Der Wiggerl behauptete nämlich, einer seiner Vorfahren stamme von einem Indianer ab, der mit dem Zirkus Sarasani in München gastiert habe, und wenn ich sein Blutsbruder werden wolle, dann müsse ich sein Blut trinken. Dabei ritzte er sich mit einem Nagel die Haut am Arm auf. Kaum dass ein paar Tröpferl Blut zusammenkamen. Mich ekelte fürchterlich, aber ich wollte nicht feige sein und schleckte sie weg. Darauf wollte die Wurzl, dass ich auch ihr Blut trinke, und ritzte sich in den Oberschenkel. Aber mir langte der Blutsbruder schon, ich wollte nicht auch noch eine Blutsschwester! Darauf meinte sie, ich müsse sie dann wenigstens heiraten. Wir veranstalteten also eine richtige Indianer-Hochzeit, gleich hinter der Spenglerei im Garten.

Natürlich musste ich jetzt auch einen Federschmuck haben. Er durfte zwar nicht so wuchtig sein wie der vom Wiggerl, der Häuptling blieb, weil er älter war und schon lesen und schreiben konnte. Mein Vater hatte eine ganze Schuhschachtel voll Hühnerfedern, die er zum Pfeifenreinigen brauchte. Für fünf Pfennige bekam man auf dem Viktualienmarkt eine ganze Hand voll.

Schwieriger war es dann schon, die Friedenspfeife zu rauchen. Die lange Pfeife meines Vaters war dafür wie geschaffen. Aber dazu musste ich warten, bis ich einmal allein zu Hause war. Das ergab sich eines Nachmittags, als meine Mutter mit dem Pepi zum ersten Mal zum Haarschneiden ging.

Der Wiggerl und ich hockten mit unserm Federschmuck auf einem Schragen hinter der Spenglerei. Die Wurzl kniete vor uns und durfte uns die Pfeife anzünden. Wir qualmten einer nach dem anderen. Der Rauch wehte fröhlich über das Blechdach der Spenglerei hinweg. Die Wurzl wollte ebenfalls rauchen, und wir ließen sie auch anziehen. Nach einer Weile lief sie schnell ins Haus und verschwand gleich im Parterre hinter der Tür, wo 00 draufstand. Nach einer Zeit kam sie wieder und sagte:

»Hab ich ein Bauchweh gehabt!«

Recht wohl war mir auch nicht, aber das verschwieg ich. Der Pfeifenkopf war aus Porzellan, und ein Gamskopf war darauf abgebildet.

Im Wassersack fing es an zu brodeln, so schnell und hastig rauchten wir, denn jeden Augenblick konnte der Spenglermeister Huber um die Ecke kommen, und der durfte uns nicht erwischen. Der Huber war ein unscheinbares Männlein mit Glatze und einer dicken Warze am Kinn. Er kam an jedem Ersten zu uns in die Wohnung, um die Miete zu kassieren. Dann nahm die Mutter ein blaues Heft aus dem Küchenkasten, in dem der Herr Huber den Empfang der fünfundzwanzig Mark bestätigen musste. Die Mutter konnte den Mann nicht leiden, weil er immer dann zum Kassieren kam, wenn der Vater nicht daheim war. Die Mutter beklagte sich darüber beim Vater.

»Wenn er frech werden sollte, dann haust ihm gleich die Kohlenschaufel nauf!«, riet ihr der Vater.

Als die Mutter mit dem Pepi vom Haarschneiden heimkam, erzählte sie, dass der Pepi furchtbar geschrien hätte beim Bader. Dann stellte sie Teewasser auf, und ich fragte sie, ob ich meine Frau raufholen dürfe zum Tee.

»Wen?«, fragte die Mutter.

Ich sagte, dass es sich um die Zimmerer Wurzi handele. Die Mutter sah mich nachdenklich an, dann sagte sie kurz und bündig:

»Nicht, dass mich der Tee reuen würde, aber das wollen wir lieber gar nicht erst anfangen. Und – was ist denn überhaupt mit dir? Du bist so blass! Ist dir nicht gut, Hansi?«

Mir war sauschlecht, aber ich konnte doch nicht sagen, dass das vom Rauchen kam. Geduldig schluckte ich das Zuckerstückl, das sie mit Hoffmannstropfen beträufelt hatte. Dann aber fiel ihr Blick zufällig an die Wand, wo die Pfeifen hingen. Die große Pfeife hatte ich nicht mehr ganz genauso hingebracht, und das an peinlichste Ordnung gewöhnte Auge meiner Mutter merkte das sofort.

»Was ist denn mit der Pfeife los?«, fragte sie. »Du wirst doch nicht geraucht haben?« Dabei richtete sie die Pfeife gerade und sah mich durchdringend an. »Der Pfeifenkopf ist ja noch ganz warm. Also hast du geraucht.«

»Nein, ich habe nicht geraucht«, sagte ich, weil ich den Wiggerl nicht mit hineinziehen wollte.

Der Pepi rannte gleich zum Küchenkasten und nahm einen Kochlöffel heraus, dass die Mutter mich damit schlagen sollte. Und so was nannte sich Bruder! Da war mir mein Blutsbruder Wiggerl schon tausendmal lieber. Es wäre übrigens das erste Mal gewesen, dass meine Mutter mich mit dem Kochlöffel geschlagen hätte.

In diesem Augenblick läutete es, und der Pepi rannte gleich, obwohl es ihm niemand angeschafft hatte. Herein trat unser Hausherr, der Huber. Er lächelte zuckersüß, wie immer, wenn er kam, sagte aber gleich, dass er in einer peinlichen Sache käme.

»Der Lausbub hat nämlich geraucht, hinter meiner Werkstatt! Die zwei vom Zimmerer waren natürlich auch dabei. Aber die Pfeife – die dort war es, die ist von euch. Ich glaube nicht, Frau Ernst, dass dies in Ihrem Sinne ist. Wie leicht könnte da einmal ein Brand ausbrechen, und gerade Ihnen, Frau Ernst, möchte ich so einen Verdruss ersparen.«

Meine Mutter war abwechselnd rot und blass geworden.

»Warum ausgerechnet mir?«, fragte sie. Der Spenglermeister lächelte wieder und schaute meine Mutter ganz seltsam an, sagte aber, vielleicht weil wir Buben dabeistanden, ganz was anderes, als er sicher hätte sagen mögen. »Wie machen Sie das bloß, dass Sie so schlank bleiben? Meine Mathilde wiegt jetzt fast zwei Zentner! Und noch kein Fältchen haben Sie im Gesicht. Und diese Augen, nein, diese Augen! Sie sind nicht hellblau und nicht dunkelblau. Nach meiner unmaßgeblichen Meinung sind sie tintenblau. Und wenn ich Ihren Lausbub da noch mal erwische mit der Pfeife und mit Zündhölzern, dann müsste ich gegebenenfalls Anzeige erstatten.«

»Nein, das bitte nicht«, flehte meine Mutter. »Er wird es schon nicht mehr tun.«

»Ich habe ja gesagt, gegebenenfalls«, und dabei schaute der Hausherr meine Mutter wieder so zwingend an und zwinkerte dann mit dem linken Auge.

Als er gegangen war, saß meine Mutter am Tisch und stützte den Kopf in die Hände. So saß sie eine ganze Weile. Endlich hob sie das Gesicht, und ich sah, dass ihre Augen feucht waren. Sie wischte mit dem Handrücken darüber und sagte dann:

»Komm einmal her, Hansl. Warum hast du mich angelogen?«

Ich senkte den Kopf und zuckte die Schultern. Dann hielt sie mir eine lange Rede, was man mit einer Lüge alles heraufbeschwören könne. »Es gibt nichts Erbärmlicheres, als wenn ein Mensch lügt. Wer lügt, der wird auch einmal stehlen. Merke dir das für dein ganzes Leben, Bub. Die Wahrheit bekennen ist oft schwer, aber sie reinigt das Herz. Gib mir die Hand jetzt, und versprich mir, dass du mich nie wieder anlügst.«

Ich war wie von einer Zentnerlast befreit, gab meiner Mutter die Hand und schaute ihr markig in die Augen, so wie dem Wiggerl, als wir Blutsbrüderschaft schlossen. Dann sagte meine Mutter:

»Und jetzt gibst mir ein Bussl, dann sind wir wieder gut.«

Dankbar schlang ich die Arme um ihren Hals, herzte und küsste sie und war so von Herzen froh, dass sie mir den Umgang mit den Zimmerer-Kindern nicht verbot. Wiggerl und Wurzl wurden nämlich sonntags auch in die Kirche geschickt, und darum durften sie meine Spielgefährten bleiben. Ich hatte aber jetzt zwei Sorten von Menschen, die ich nicht mochte: Polizisten und Hausherren. Besonders unsern Hausherrn, weil er meine Mutter zum Weinen gebracht hatte.

Als wir dann Tee getrunken hatten, fragte ich, ob ich noch ein bissl hinunter dürfe. Ich musste doch unbedingt den Wiggerl informieren und erfahren, ob der Huber auch bei ihnen gewesen sei. Auf meinen Indianerschrei hin kamen der Wiggerl und die Wurzi sofort. Wir setzten uns beim Feuerwehrhaus auf den Betonsockel der Umzäunung und hielten Kriegsrat. Dass der Huber uns, besonders mich, verpetzt hatte, das schrie nach Rache, und wir beschlossen, ihm etwas anzutun. Die Wurzi meinte, man könnte ihm vielleicht, wenn er mittags hinter dem Haus sein Nickerchen hielt, mit einem Pfeil die Warze vom Kinn schießen. Der Wiggerl warf seiner Schwester einen vernichtenden Blick zu und sagte bloß: »Du blöde Henn!«

»Aber was machen wir dann?«, fragte ich.

»Lass mich nur nachdenken.« Was dem Wiggerl dann einfiel, war der Vorschlag, die Klinke der Werkstatttür einzuschmieren. Wenn der Huber dann in der Früh die Werkstatt aufsperrte, musste er unweigerlich hineinlangen. Wir einigten uns auf Wagenschmiere, von der der Herr Zimmerer eine Büchse voll im Keller hatte. Er brauchte sie für den Zweiradkarren, mit dem man Bündelholz und Briketts holen konnte.

Als wir an diesem Abend bei unserer aufgeschmalzenen Brotsuppe mit Kartoffeln saßen – der Vater hatte ein Stück Schwartenmagen dazu –, plapperte der Pepi:

»Hansi aucht.« Er konnte das »r« nicht sprechen und stotterte auch ein bisschen.

»Was ist mit’m Hansi?«, fragte der Vater.

»Ach nichts«, sagte die Mutter schnell und richtete die achtzehn Pfennige her, dass ich die Dreiquartl Bier für den Vater holen sollte. So eine Mutter gab es wohl auf der ganzen Welt kein zweites Mal, denn diesmal wäre ich beim Vater wahrscheinlich nicht ungeschoren davongekommen!

Der Spenglermeister Huber langte tatsächlich am nächsten Morgen in die Wagenschmiere. Ich sah vom Abortfenster aus zu, wie er mit Wasser und Bürste die Hand säubern wollte. Er fluchte dabei und schrie nach seiner Mathilde, sie solle ihm heißes Wasser und Schmierseife bringen.

Ach ja, es war schon eine herrliche Zeit damals mit dem Wiggerl und der Wurzi. Das »i« hatte übrigens ich ihrem Namen angehängt. Es klang nicht so hart wie das »Wurzl«. Wir waren der Kern einer Gemeinschaft von Buben und Mädln aus der Schulstraße. Einmal aber wollte die Wurzi aus der Reihe tanzen. Sie sagte so kaltschnäuzig, wie es eben nur eine Neuhauser Göre kann, der rothaarige Rudi von der Konditorei Lechner sei ihr lieber als ich, und sie wolle ihn auch heiraten. Ich sagte das sofort dem Wiggerl, und der wollte sofort nachdenken. Kriegsrat hielten wir zwei wieder einmal. Zunächst wurde untersucht, warum die Wurzi mir untreu werden wollte. Das war schnell erforscht, denn der Rudi konnte der Wurzi allerhand Süßigkeiten zustecken. Ich konnte ihr nichts schenken, höchstens einmal ein paar Schuhnägel oder ein verrostetes Absatzeisen.

Die Sache wurde dann so bereinigt, dass der Rudi mir und dem Wiggerl jedem zwei Stück Gesundheitskuchen geben musste, wenn er die Wurzi haben wollte. Danach vollzog der Wiggerl als Häuptling die Eheschließung der beiden, und ich machte den Beiständer. Die Flitterwochen dauerten nicht lange, dann fand die Wurzi wieder zu mir.

Wir nützten den schönen Herbst reichlich aus, strolchten einmal zu dritt barfuß bis zum Marienplatz, starrten lange die Fassade des Rathauses an und schauten ehrfurchtsvoll zur Mariensäule empor. Ich sagte, dass wir jetzt eigentlich ein »Gegrüßt seist du Maria« beten könnten, auf Vorschuss sozusagen, denn wenn wir was ausgefressen hatten, beteten wir auch immer ein »Gegrüßt seist du Maria«, damit es gut ausgehen möge. Aber die Wurzi meinte, hier hätten wir doch keine richtige Andacht, weil so viele Menschen umherliefen, und außerdem hätten wir zurzeit auch nichts ausgefressen.

Am Stachus sahen wir zum ersten Mal in einem Spielwarengeschäft einen elektrischen Zug. Menschenskind, war das was! Das war von allen Wundern das Wunderbarste! Der Zug war in Betrieb und hatte vorne sogar zwei Lampen. Man brauchte ihn gar nicht aufziehen, er lief von selber. Als Eisenbahnersohn fühlte ich mich zuständig und erklärte den anderen beiden Sachen, die ich selber nicht verstand. Also hätte ich bei der Mariensäule doch beten sollen, dass das Christkindl mir vielleicht so einen Zug bringe. Der Wiggerl sagte: »Was meinst, was so ein Zug kostet?« Ich antwortete ihm: »Das Christkindl hat schon Geld in der Sparkasse.«

Darauf schaute mich der Wiggerl recht mitleidig an, und ich wusste nicht warum.

Auf einmal klingelte ganz aufgeregt eine Trambahn hinter uns. Als wir uns umdrehten, fuhr gerade die Linie 9 vorbei. Auf der Plattform stand am Führerstand der Herr Zimmerer, drohte uns mit der Faust und deutete mit dem Kinn in westliche Richtung.

Da rannten wir schnell die Landsberger Straße hinaus, über die Donnersbergerbrücke, und von da aus hatten wir dann nicht mehr weit zur Schulstraße.

Von dieser Zeit an aber beschäftigte mich nur mehr der Wunsch nach so einem elektrischen Zug, den mir das Christkind bringen sollte. Ich redete mit dem Wiggerl nicht mehr darüber, weil der immer so komisch lächelte, sondern mit der Wurzi. Sie fragte mich, ob man mit diesem Zug auch nach Paris fahren könne. Die Wurzi war immerzu von Fernweh geplagt. Sie wollte ganz weit wegfahren und war mir neidig, weil ich schon in Altötting gewesen war. Zimmerers konnten nie so weit reisen, weil es bei der Trambahn keine Freikarten gab wie bei der Eisenbahn. Mein Vater hatte vier Freikarten im Jahr und meine Mutter zwei. Aber sie ließen sie meistens verfallen, weil sie wegen uns Kindern nicht verreisen konnten.

In diesem wunderschönen Herbst fuhr der Vater mit mir einmal nach Reichenhall, wo wir beim Vetter Pauli übernachten und wohnen konnten. Ich sagte dem Vater, dass er der Wurzi eine Karte schreiben müsse. Er tat auch so, als schriebe er eine Karte, aber die Wurzi hat nie eine bekommen.

Wir gingen im Kurpark spazieren. Der Vater hatte seinen Spazierstock über den Arm gehängt und rauchte eine »Wetschina« (Virginia). Er erzählte mir, dass der Vetter Pauli die Wetschinas von Österreich herübergeschmuggelt habe, weil die österreichischen viel besser wären als die bayrischen. Seitdem stieg der Vetter Pauli ganz gewaltig in meiner Achtung, und ich stellte ihn mir vor, wie er mit geschwärztem Gesicht und mit einem schweren Rucksack in stockdunkler Nacht die zerklüfteten Berge überquerte. Ein furchtloser, verwegener Schmuggler. Sonst war der Vetter Pauli Leitner bei der Stadt als Schreiner angestellt und hatte einen riesengroßen Kropf.

Im Kurpark gingen viele fein gekleidete Leute spazieren, und mein Vater sagte, dass dies Kurgäste seien. In einem Pavillon spielte eine Musikkapelle. Ein großer Mann mit einer Joppe, die hinten zwei Schwänze hatte, stand vor den Musikern und fuchtelte mit einem dünnen Steckerl wild umeinander. Ich meinte immer, wenn er sich weit vorbeugte, dass er jetzt gleich einem Musiker mit dem Steckerl eine naufhauen würde. Die Musiker saßen auf Stühlen und hatten keine so lange Joppen an, aber auch weiße Mascherl am Hals. Mein Vater sagte, dass der mit dem Steckerl der Kapellmeister sei und mehr Geld verdiene als die anderen, die sich mit den Geigen und Trompeten abplagen mussten.

Der Vetter Pauli lieh meinem Vater seine Reichenhaller Tracht, mit der er zu einem Fotografen ging. Dort wurde ihm ein langer Bergstecken in die Hand gedrückt, und den rechten Fuß musste er auf einen Felsblock stellen. Die Schnurrbartspitzen aufgezwirbelt, den grünen Plüschhut mit der Adlerfeder auf dem Kopf, musste mein Vater mit scharfem Blick zu einer Felswand schauen, als ob er dort einen Königsadler schweben sähe.

Als wir nach acht Tagen heimkamen, hatte ich viel zu erzählen. Dem Wiggerl und der Wurzi gingen die Augen über, und sie waren mir wieder neidig, weil mein Vater Freikarten hatte. Ich erzählte ihnen von dem Reichenhaller Vetter, der ein großer Schmugglerhauptmann wäre und furchtbare Kämpfe mit den Grenzern zu bestehen habe … Dem Kapellmeister schenkte ich einen goldenen Zauberstab, mit dem er seine Musiker dirigierte, und den König Laurin hatte ich mit seinen Söhnen durch das Burgtor reiten sehen, als sie von der Jagd heimkamen.

Die Mutter musste dieses Gespräch im Treppenhaus belauscht haben, denn sie sagte beim Nachtessen zum Vater:

»Der Bub hat eine Fantasie, das ist geradezu beängstigend. Was der heut den Nachbarskindern von Reichenhall erzählt hat, das war schon allerhand.«

»Lass ihn doch«, schmunzelte mein Vater und fügte hinzu, dass eine gesunde Fantasie besser sei als Duckmäuserei.

»Ja, aber es war doch alles gelogen!«

»Bloß ein bisschen geschwindelt«, meinte mein Vater. »Lügen ist ganz was anderes.«

Meine Mutter meinte, dass man darüber streiten könne, und es sei schwer, die Grenze zu finden. Aber es wurde darüber kein endlos langer Diskurs geführt. Acht Tage darauf durfte dann der Pepi mit der Mutter nach Reichenhall fahren, weil mein Vater noch Urlaub hatte und bei mir bleiben konnte. Die gingen aber nicht im Kurpark spazieren, sondern in die Berge hinauf. Und Schifferl sind sie auch gefahren auf dem Königssee.

Allmählich wurde es Winter, und auch der hatte in der Schulstraße seine Reize. Da drunten konnte man Schlittschuh laufen und mit dem Schlitten fahren. Und natürlich Schneeball werfen.

Dabei passierte mir ein Unglück. Wir hatten uns eine Menge Schneebälle hergerichtet, weil für zwei Uhr die Schlacht gegen die Buben und Mädel von der Hausnummer 24 anberaumt war. Der Wiggerl schickte mich mit einer weißen Fahne als Parlamentär auf die andere Straßenseite hinüber. Der Hauptmann der Gegenpartei lehnte höhnisch ab. Also begann die Schlacht. Wir hatten unsere Schneebälle nass gemacht, damit sie schwerer wurden, aber trotzdem kamen die anderen zu uns herüber. Die Mädel mussten uns Buben die Schneebälle in die Hand geben, wir zielten und warfen. Und leider ging die Frau Huber gerade zum Tor heraus und rannte mitten in meinen Schneeball hinein. Sie schlug die Hände vors Gesicht und begann fürchterlich zu schreien. Ich hatte sie mitten auf das linke Auge getroffen. Wenn sie nur nicht so geschrien hätte! Es liefen viele Leute zusammen. Der Herr Huber kam auch, ließ sich informieren, drehte sich um und kam dann mit einem Stecken auf mich zu, denn die Frau hatte ihm gesagt, dass ich es gewesen sei. Sie hielt immer noch ihr linkes Auge, aber jetzt bloß mehr mit einer Hand. Das Auge war dick geschwollen. Natürlich wartete ich nicht, bis der Herr Huber bei mir war, ich rannte davon, so schnell ich konnte.

Am Abend saß man Gericht über mich. Der Herr Huber hatte seine Frau zum Augenarzt gebracht, weil sie meinten, das Auge wäre hin, aber es war nur blau und geschwollen.

Der Herr Huber kam zu uns in die Wohnung und verlangte, mein Vater solle die Rechnung vom Augenarzt bezahlen. Mein Vater wurde ärgerlich und fragte ihn, ob er denn nicht in der Krankenkasse sei, ein jeder müsse in der Krankenkasse sein, auch ein Spenglermeister.

Das ginge meinen Vater einen Dreck an, schrie der Hausherr zurück. Ein freischaffender Handwerksmeister sei kein Proletarier und müsse nicht in der Krankenkasse sein.

Das »Proletarier« muss meinen Vater richtig gewurmt haben, denn er stand auf und deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die Tür.

»Hinaus!«, schrie er. Das sei immer noch seine Wohnung, und wenn der Herr Huber nicht sofort ginge, dann zeige er ihn an wegen Hausfriedensbruch.

Der Hausherr ging, aber die Rechnung schickte er trotzdem. Damit es keinen neuen Streit gäbe, zahlte meine Mutter sie stillschweigend. Ganz ungeschoren kam ich jedoch auch nicht davon. Der Vater beutelte mich ganz schön. Aber das war auszuhalten und nicht gar so schlimm. Viel schlimmer war die Drohung, dass das Christkindl mir heuer nichts bringen würde. Der Traum von einem elektrischen Zug war ausgeträumt. Der Wiggerl sagte mir zwar, dass es gar kein Christkind gäbe und dass die Eltern die Geschenke kauften und unter den Christbaum legten. Aber ganz überzeugt war ich nicht, denn alles wusste der Wiggerl auch nicht.

Die Drohung, dass das Christkind mir nichts bringe, hing wie ein Damoklesschwert über mir und machte mir viel Kummer. Je tiefer die Tage in den Advent gingen, desto zahmer wurde ich. Denn diese heimlichen Wochen vor Weihnachten, diese traumstillen Abende, wenn es in der Wohnung schon nach Weihnachtsgebäck duftet und draußen der Schnee unter jedem Schritt knirscht, die haben es in sich.

Meine Mutter ging in den Wochen vor Weihnachten zusätzlich noch zum Schulhausputzen und kam dann immer recht spät heim. Sowie sie eine freie Minute hatte, strickte sie. Auch der Vater saß oft die halbe Nacht auf seinem Schusterstuhl.

Da sagte der Vater eines Abends zum Pepi: »Jetzt müssen wir bald den Wunschzettel fürs Christkindl schreiben. Heut Nacht hab ich es schon vorbeifliegen sehen.«

Zu mir sagte er nichts, aber er setzte sich hin und schrieb dem Christkind Pepis Wünsche auf. Der Pepi sagte sie ihm vor, weil er ja selber noch nicht schreiben konnte. Ich auch nicht, aber der Wiggerl hätte mir’s schon aufgeschrieben.

»Liebes Christkind«, diktierte der Pepi, »bring mir einen Baukasten und einen Fotzhobel (Mundharmonika) und einen Trailer (Kreisel), wo singt. Es grüßt und küsst dich dein Pepi.«

Ob der Vater alles genauso geschrieben hat, weiß ich nicht. Der Zettel wurde in einen Umschlag gesteckt, den sie aber nicht zuklebten, und dann im Treppenhaus vors Fenster gelegt, wo ihn das Christkind abholen sollte. Mir war ganz weinerlich zumute, doch ich ließ mir nichts anmerken, denn ich wusste schon, was ich zu tun hatte. Als ich nämlich an diesem Abend das Bier holte, läutete ich drunten beim Wiggerl. Der kam auch gleich heraus, und ich sagte ihm, dass er unter den Zettel schreiben müsse: »Und einen elektrischen Zug.« Der Wiggerl verzog den Mund zwar wieder so spöttisch, aber er tat mir als Blutsbruder den Gefallen. Hernach legten wir den Brief wieder vor das Fenster.

Als ich mit dem Bier heimging, sah ich nach, ob der Wind den Brief fortgeweht hätte. Aber er lag noch da. An diesem Abend war ich so brav, dass ich keinen Schluck von dem Bier trank. Der Vater sagte anerkennend:

»Brav, Wally, so lass ich mir’s gefallen. Bleib nur so, wie du bist.«

Immer näher kam der Heilige Abend heran. Es war ein Samstag, wo der Vater schon mittags um zwei Uhr Feierabend hatte. Ich saß wie auf Kohlen, hatte bereits alle möglichen Verstecke abgesucht und auch eine Schachtel unter Mutters Bett gefunden. Darin war ein Baukausten, eine Mundharmonika und ein singender Kreisel. Aber kein elektrischer Zug für mich. Sollten sie es wirklich übers Herz bringen und mich leer ausgehen lassen? Vielleicht gab es doch ein Christkind?

Der Mutter hatte ich von meinem Spargeld eine Schachtel Pralinen gekauft, dem Vater wollte ich noch ein paar Zigarren besorgen, aber weil ich den elektrischen Zug nirgends entdecken konnte, ließ ich es sein. Vielleicht würde ich die Pralinen auch selber aufessen.

Am Nachmittag, als es schon dämmerig wurde, schloss der Vater sich im Schlafzimmer ein. Wahrscheinlich putzte er jetzt den Christbaum. Da ging plötzlich das Licht in der ganzen Wohnung aus. Der Vater kam heraus, schraubte im Flur eine neue Sicherung ein, und das Licht brannte wieder. Aber nicht lange. Kaum hatte der Vater sich eingeschlossen, erlosch das Licht abermals. Das wiederholte sich drei oder vier Mal. Mit engelhafter Geduld erneuerte der Vater die Sicherungen, und ich musste ihm dabei mit einer Kerze leuchten.

Nun hielt ich es einfach nicht mehr aus. Heimlich schlich ich mich aus der Wohnung, läutete dem Wiggerl, und der half mir dann, auf das Blechdach der Spenglerwerkstatt hinaufzusteigen. Von dort konnte man in das Schlafzimmer sehen.

Welch wunderbarer Anblick! Am Boden kniete der Vater und spielte mit einem elektrischen Zug! Er hatte endlich die schadhafte Stelle in der Zuleitung gefunden und mit Isolierband umwickelt. Jetzt brannten die Sicherungen nicht mehr durch. Der Zug raste über die Strecke, verschwand in einem Tunnel und surrte an einem Bahnhof vorbei. Drei Personenwagen waren erleuchtet, und auf zwei Güterloren war Holz geladen. Der Vater legte jetzt auch noch die Monteurzange darauf und einen schweren Schraubenschlüssel. Aber der Zug verminderte seine Fahrt nicht. Der Vater setzte sich jetzt auf den Boden, verschränkte die Beine übereinander und strahlte über das ganze Gesicht. Seine Schnurrbartspitzen zitterten förmlich vor Freude. Er ließ den Zug vor dem Bahnhof halten, pfiff dann mit gespitzten Lippen und ließ ihn wieder anfahren.

Da sprang ich schnell zum Wirt hinüber und kaufte fünf Zigarren.

Endlich war es dann so weit. Der Pepi und ich saßen in der Küche und warteten. Der Pepi war furchtbar aufgeregt und neugierig, ob das Christkind ihm auch alle Wünsche erfüllt habe, und meinte schadenfroh: »Hättest der Frau Huber den Schneeball nicht ins Gesicht geschmissen, dann kriegetst auch was.«

So eine Niedertracht am Heiligen Abend! Ich beschloss, ihm den singenden Kreisel so schnell wie möglich kaputtzumachen.

Dann läutete das Glöcklein, und wir durften hinein. Unter dem brennenden Lichterbaum lagen die Geschenke, darunter mein elektrischer Zug. Der Vater machte ein feierliches Gesicht, die Mutter lächelte so, wie nur Mütter lächeln können, wenn sie Freude und Glück in den Augen ihrer Kinder sehen.

Jetzt gab ich der Mutter die Pralinen und dem Vater die Zigarren. Geradezu herrlich stand ich vor dem Pepi da, der nichts hatte. Die Mutter hatte Tränen in den Augen, der Vater schnäuzte sich heftig und legte mir die Hand auf die Schulter.

»Da ist dein elektrischer Zug, Hansi«, sagte er.

Dann sangen wir »Stille Nacht, heilige Nacht«.

Die Mutter hatte eine sehr schöne Stimme, aber der Vater konnte die seine nicht halten, wenn er hoch hinauf musste. Als wir an die Stelle kamen: »Schlafe in himmlischer Ruuuuh«, da überschlug sich seine Stimme. Da kam mir das Lachen aus, der Vater drehte sich um und wischte mir eine, dass mir das Lachen verging. Später gingen wir in die Christmette. Zimmerers gingen auch, und der Wiggerl erzählte mir, dass er ein paar Handstutzl (Pulswärmer) und ein Buch bekommen hätte mit dem Titel »Der Weg ins Leben«. Und die Wurzi hatte eine Puppe und ein Puppenwagerl bekommen, obwohl sie sich einen Indianerbogen und zwölf Pfeile gewünscht hatte.

Am Nachmittag des ersten Weihnachtsfeiertages lud meine Mutter alle Zimmerer zu uns ein. Es gab Punsch, und sie sprachen viel über uns Kinder. Aber das störte uns nicht, weil wir vor meinem elektrischen Zug knieten.

Der Winter dauerte ziemlich lange in diesem Jahr. Doch dann spitzten beim Rotkreuzplatz die Palmkätzchen heraus, und der Wiggerl sagte: »Gott sei Dank, jetzt können wir bald wieder barfuß laufen!« Es dauerte jedoch immer noch drei Wochen, bis es so weit war.

In diesem Frühjahr lernte ich Frau Dora Breitwieser kennen. Sie hatte in der Nymphenburger Straße ein Hutgeschäft und beschäftigte ein paar Lehrmädchen. Sie war Modistin und meine Taufpatin. Die Frau Patin war groß und schlank, trug die Haare aufgetürmt und hatte einen hohen Kragen an der weißen Bluse. Ihre rosige Haut und die langen Wimpern machten großen Eindruck auf mich.

Ich weiß nicht, ob das damals Brauch war oder ob sie es aus freien Stücken tat: Sie wollte mir meinen ersten Schulranzen kaufen. Das hatte sie meiner Mutter mitteilen lassen, wir sollten zu ihr kommen am Mittwochnachmittag. Man schrieb ja bereits das Jahr 1910, und ich musste bald zum Schuleinschreiben gehen. Die Wurzi kam auch in die Schule.

Der Frühling lag verschwenderisch über der Stadt. In der Nymphenburger Straße blühten die Kastanienbäume. Meine Mutter sagte, die Kastanienblüten seien Kerzen, zu Ehren des lieben Gottes angezündet. In den Gärten blühten Tulpen und Flieder, weiß und rot, und auf den Wiesen zwischen den Häusern gelber Löwenzahn. Auf den Balkonen prangten die Geranien. Und die Schmetterlinge flogen auch schon.

O ja, so eine Großstadt, München zählte damals etwa vierhundertfünfzigtausend Einwohner, hatte auch ihre Reize. Die hohen Hausfassaden und das Grün der noch unerschlossenen Flächen spielten wunderbar ineinander. Auf den Straßen sah man einspännige Fiaker mit Kutschern, die auf einem hohen Bock saßen und Zylinder aufhatten. Wenn eine zweispännige Kutsche kam, saßen meist reiche Leute drin.

Als wir zur Taufpatin gingen, begegnete uns so eine glänzende Kutsche, mit zwei Schimmeln bespannt. Auf dem Bock saß ein Mann in blauer Uniform mit vielen Schnüren auf der Brust. In der Kutsche hockte ein Mann mit weißem Bart.

Auch zwei Damen saßen in der Kutsche. Sie hatten breitrandige Hüte auf, mit vielen Blumen garniert. Die Leute schrien »Hoch!«, manche verneigten sich, und Frauen machten ein Knickserl. Als die Kutsche vorüber war, sagte meine Mutter, es seien der Prinzregent Luitpold und zwei Prinzessinnen gewesen, aber auf der Straße brauche man vor dem Prinzregenten sich nicht zu verneigen oder ein Knickserl zu machen. Aber manche Leute täten halt übertrieben Untertan, und das sei nicht gut. Das Knie brauche man nur vor Gott zu beugen, aber der begegne einem halt nicht in einer Kutsche mit zwei Schimmeln.

Meine Mutter äußerte öfter solche Ansichten, aber die verstand ich damals noch nicht. Heute weiß ich, dass es ganz vernünftige Ansichten waren und dass sie mein Leben beeinflusst haben.

Bei der Frau Patin war es im Laden weniger schön. Da standen eine Menge runder Kugeln herum, an denen die Hüte fassoniert und aufgesteckt wurden. Es lagen eine Menge bunter Fleckerl und Bänder umeinander, und ich dachte, dass die Wurzi eine Freude hätte, wenn ich ihr ein paar mitbrächte. Wenn ich was Außergewöhnliches sah, musste ich immer an die Wurzi denken. Und dem Wiggerl würde ich erzählen, dass ich den Prinzregenten Luitpold gesehen und dass er mir die Hand gegeben hätte.

Die Frau Breitwieser sagte, sie freue sich, dass wir gekommen seien, und schaffte einem Mädchen an, Kaffee zu kochen. Sie gab ihr Geld, um sechs Schillerlocken aus der gegenüberliegenden Konditorei zu holen.

»Für den Buwi Milch oder Eis. Was magst du lieber, Buwi?«

Der Buwi war ich, und ich sagte: »Himbeereis.«

Dann schlug die Frau Patin eine schwere Samtportiere zur Seite, und wir schritten in einen prächtigen Salon mit herrlichen Möbeln. Von der Decke hing ein Kronleuchter herab mit vielen Glühbirnen. Durch eine weit offenstehende Flügeltür gingen wir auf eine Terrasse. Ein rot-weiß gestreiftes Segeltuch hielt die Sonnenstrahlen ab. Mich interessierte natürlich der Mechanismus, mit dem man dieses Segeltuchdach bediente, und ich wollte gleich an der Kurbel drehen, aber meine Mutter sagte: »Lass das, Hansi, mach ja nichts kaputt! Setz dich!«

Dazu kam ich aber zunächst nicht, denn die Frau Patin drückte mich an ihren gewaltigen Busen und wühlte in meinen blonden Locken.

»Kaum zu fassen«, sagte sie »was für ein hübsches Bürscherl er geworden ist. Komm, gib deiner Patin ein Bussilein.«

Ich schaute zuerst meine Mutter an, weil die stets gesagt hatte, man dürfe fremde Leute nicht küssen. Aber jetzt nickte sie, und so hielt ich halt der Frau Patin mein Goscherl hin. Die Küsse der Frau Patin schmatzten, und ich wurde ganz nass um den Mund herum und auf den Wangen.

»Nein, wie die Zeit vergeht«, sagte dann meine Taufpatin.»Da kommst du also heuer tatsächlich schon zur Schule. Ich schenke dir einen Schulranzen und was dazu gehört. Was für einen Ranzen möchtest du denn? Einen braunen oder einen schwarzen?«

Weil ich darüber schon lange nachgedacht hatte, konnte ich sofort antworten, dass ich einen braunen möchte, mit einem Pferdl hintendrauf.

»Gut, dann einen braunen. Ich werde – wann geht eigentlich die Schule an? Am ersten September, gell? Dann werde ich gleich morgen die Sachen besorgen«, sagte die Frau Patin und hatte während der ganzen Zeit den Arm um mich gelegt.

Das Mädchen kam mit dem Kaffee und hatte alles auf ein Wagerl gepackt, das sie auf die Terrasse herausschob. Ich musste gleich an den Wagenschmierkübel vom Herrn Zimmerer denken, weil eins von den Radeln am Teewagen quietschte und geschmiert hätte werden müssen. Die Frau Patin schenkte den Kaffee ein, und mir gab sie das Eis. Meine Mutter sagte, dass es das doch nicht gebraucht hätte und dass wir deswegen nicht gekommen wären. Ich war ganz verblüfft, denn jetzt hatte meine Mutter gelogen. Das durfte ich ihr zwar nicht vorhalten, ich sagte daher bloß:

»Aber als wir hergegangen sind, hast du gesagt, dass wir wahrscheinlich einen Kaffee kriegen und eine Torte.«

Meine Mutter wurde brennend rot, aber die Frau Patin lächelte nur und fragte mich, als ich mein Eis gegessen hatte, was ich jetzt noch möchte, und ich antwortete, dass ich eine Hand voll von den bunten Fetzerln möchte.

»Was meint er?«, fragte sie, aber meine Mutter wusste es auch nicht. Als ich es näher erklärt hatte, versprach mir die Frau Patin eine ganze Schachtel voll von den Abfällen. Dabei lachte sie, weil ich einen so bescheidenen Wunsch hatte.

Hernach wollten die beiden wohl etwas besprechen, was mich nichts anging, denn meine Mutter fragte, ob ich nicht etwas im Garten spielen dürfe.

Natürlich durfte ich mich auf dem großen Rasen herumtummeln. Bloß hatte ich nichts zu spielen. Nicht einmal Schusser hatte ich mir eingeschoben. So lief ich einem bunten Schmetterling nach, bis ich ihn erwischte. Ich setzte mich mit dem Falter auf eine Birkenbank unter einem Goldregenstrauch und betrachtete das wunderschöne Farbenspiel seiner Flügel.

»Bring ihn ja nicht um!«, rief meine Mutter. Aber das hatte ich sowieso nicht im Sinn, ich hielt ihn nur vorsichtig fest, damit ich ihn besser betrachten konnte.

Als wir dann heimgehen wollten, schenkte mir die Frau Patin ein goldenes Zehnmarkstück und sagte, ich solle es ins Sparbüchserl tun. Es war das einzige goldene Zehnmarkstück, das ich je geschenkt bekommen habe. Meiner Mutter schenkte sie auch ein Geldstück, aber es war kein goldenes. Die Mutter bekam wieder einen roten Kopf und sagte, das könne sie unmöglich annehmen.

»Doch, doch«, lächelte Frau Breitwieser. »Schaun Sie, Frau Ernst, ich habe keine Kinder und tue es gern.«

Darauf sagte meine Mutter, dass sie dann der Frau Breitwieser ein Deckchen sticken werde für den Teewagen.

Beim Abschied beugte sich die Frau Patin noch mal zu mir herunter und küsste mich. Diesmal auf die Stirn. Dabei sagte sie:

»Du bist ein liebes Kerlchen, besuch mich wieder. Ich mag dich gern.«

Das machte mich stolz, vor allem deswegen, weil ich mir sagte, dass der Wiggerl wohl nie so eine Liebeserklärung bekäme, denn er war ja kein so liebes Kerlchen wie ich. Wie beschwingt ging ich neben meiner Mutter her und traute mich kaum, mit meinen nagelbeschlagenen Stiefeln fest aufzutreten, weil das einen Lärm gemacht hätte, der meine weihevolle Stimmung gestört hätte. Ich war verliebt in meine Patentante.

Wir gingen in die Metzgerei, und die Mutter kaufte für das Geld, das die Frau Patin ihr geschenkt hatte, Fleisch und Wurst. Wir aßen überhaupt recht gut um diese Zeit, und meine Mutter wurde immer runder. Ich musste ihr das Schürzl hinten einknöpfen. Und das Schürzl wurde auch immer enger, und wenn der Mutter etwas auf den Boden fiel, dann sagte sie: »Heb es auf, Hansi, du bückst dich leichter als ich.«

Drei Tage darauf kam ein Lehrmädchen meiner Frau Patin und brachte eine Schachtel. Darin waren der Schulranzen, eine Tafel, eine gefüllte Griffelschachtel und ein in Leder gebundenes Buch, auf dem mit goldenen Buchstaben geschrieben stand: »Poesiealbum«. Auf die erste Seite hatte Frau Breitwieser hineingeschrieben:

»Wenn Dich einmal der raue Wind

des großen Lebens streift,

dann denk, dass man am besten

nur in den Nöten reift …

Zur steten Erinnerung an Deine Taufpatin

Dora Breitwieser

am 18. April 1910.«

Es war auch noch ein Brief dabei, den meine Mutter mir vorlas:

»Liebster Hansi! Bevor ich in Urlaub fahre, schicke ich Dir noch die versprochenen Sachen. Ich wünsche mir, dass Du recht brav bleibst und fleißig lernst. Das ist sehr wichtig, weil Deine liebe Mutter mir gesagt hat, dass Du einmal Lehrer werden sollst. Dann haben Deine lieben Eltern immer Freude mit Dir. Und mir machst Du auch eine Freude damit, denn ich habe Dich sehr lieb und werde immer meine schützende Hand über Dich halten. Wenn ich in vierzehn Tagen zurückkomme, dann besuchst Du mich wieder, gell? Bis dahin liebe Grüße und Bussi von Deiner Taufpatin Dora Breitwieser.«

»Da müsst ihr euch schon extra bedanken«, sagte mein Vater. Als ob die Mutter das nicht selber gewusst hätte! Aber mein Papa war überhaupt groß in solchen Bemerkungen, dass man meinte, es ginge alles von ihm aus. Aber sonst war er recht lustig, mein Vater, um diese Zeit, pfiff immer fröhliche Weisen vor sich hin, und meine Mutter brauchte jetzt nicht mehr zum Waschen und Putzen zu gehen. Trotzdem bekamen wir Buben neue Matrosenanzügerl und allerhand Wäsche.

Etwa fünf Tage später las meine Mutter in der Zeitung voller Schrecken, dass die Modistin Dora Breitwieser bei einem Zugunglück in der Nähe von Paris tödlich verunglückt sei.

Wir gingen zur Beerdigung, und mein Vater setzte seinen Zylinder auf. Ich durfte ein Veilchensträußlein auf den Sarg meiner Taufpatin werfen und weinte bitterlich, denn sie hatte mich doch geliebt. Nun konnte sie ihre schützende Hand nicht mehr über mich halten. Zwar war mir noch nicht ganz klar, was Tod und Sterben wirklich heißt, aber ich weinte, weil meine Mutter auch weinte. Der Vater allein blickte markig, die Schnurrbartspitzen aufgedreht, über die geschnittene Ligusterhecke zu dem großen weißen Engel aus Stein hinüber, der beim Eingang des Friedhofes stand. Der Pepi weinte auch nicht, er schnäuzte sich mit den Fingern in den Boden hinein, obwohl er ein Taschentuch hatte.

Nach der Beerdigung gingen wir in die Wirtschaft, die vorm Friedhofseingang war. Mir schmeckten die Würstl nicht recht und meiner Mutter auch nicht. Der Pepi aß zwei von meinen Würstln mit, und mein Vater trank zwei Maß Bier, rauchte einen Schweizer Stumpen und seufzte einmal: »Ja, ja, so schnell geht’s oft. War so eine gute Haut!«

Diese Bemerkung tat mir weh, denn meine Frau Patin war keine Haut, sondern eine schöne Frau und meine stille Liebe.

Schon ein paar Tage darauf traf mich eine zweite schmerzliche Enttäuschung. Man hatte mich bei der Schuleinschreibung nicht genommen. Die Mutter sagte, dass ich das Abc schon auswendig könne. Aber sie zuckten nur bedauernd die Schultern. Es ginge eben nicht, dieser Jahrgang sei sowieso schon überfüllt. Wenn ich wenigstens im August oder Anfang September geboren wäre. Aber November – nein.