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Die Romanidee entspringt einem Bullshitbingo mit verhassten Klappentextphrasen, aus denen ich einen basteln wollte, der nicht so übel klingt:
»Ein sexy Millionär in tödlicher Gefahr. Sie müssen sich entscheiden, Ladies! Wollen Sie mich retten?« Das ist die Beschreibung des gefährlichen Badboys Chris im Datingportal. Widerlich. May ist sehbehindert und weiß doch nur zu gut, was sein »sexy« Auftreten bewirkt. Die Beziehung mit Chris war toxisch und hatte dramatische Folgen, bis heute. Doch das weiß die Nachbarin Elena nicht, ein ganz normales Mädchen, die für den mysteriösen Fremden schwärmen wird, ihm all ihre alten Familiengeheimnisse anvertrauen wird, sich für ihn aufgeben wird, wie May vor ihr. Doch dann kommt alles ganz anders. Elena ist eine starke Frau, die weiß, was sie will – May. Und auf einmal ist das Leben des Badboys auf den Kopf gestellt. Als Aufarbeitungsstrategie planen sie ihm »Das Kapital« an den Kopf zu werfen – mehrfach. Werden sie es schaffen?
»Wenn dieser Text ein Musikinstrument wäre, dann eine Klarinette: In der Grundstimmung melancholisch, mit Spitzen von Humor.« – Kián
Digitale Versionen des Buchs gibt es auch kostenfrei auf: skalabyrinth.org.
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Die Haptik der Wände
karlabyrinth
Dieses Buch steht unter Creative Commons Lizenz:
http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/
Der Klappentext ist vom 20. Mai 2020, das letzte Kapitel geschrieben 7. Juni 2020. Bücher haben bei mir nie einen finalen Zustand. Wenn ich realisiere, dass ich versehentlich verletzende -ismen bedient habe, überarbeite ich die Bücher auch nach Jahren noch und beziehe dazu Stellung.
In diesem Buch kommen die Neopronomen “sey/ser(e)/sem/sem” vor. Neopronomen – und dass Leute sich mit Pronomen vorstellen – ist etwas, das im Umgang mit vielen nicht-binären Menschen durchaus üblich ist. Und nicht auf nicht-binäre Menschen begrenzt. Menschen dürfen sich ein Pronomen aussuchen, mit dem sie referenziert werden möchten. In meinem Umfeld gibt es Menschen, die aus verschiedenen Gründen irgendwann eines für sich gewählt haben. Neopronomen sind fester Bestandteil in vielen vor allem queeren Communities. Es besteht unter den Menschen, die es betrifft, weitgehend Konsens, dass das Konzept ein Gutes ist. Pronomen werden zunehmend in Signaturen oder in Profilen angegeben. Dieses Buch geht darauf im ersten Kapitel genauer ein, – es hat einen aufklärerischen Charakter was manche queere Themen betrifft.
Den Ursprung fand die Geschichte in einem Bullshit-Bingo in einer 4x4-Matrix mit diesen Klappentext-Phrasen (https://twitter.com/antje_bremer/status/1263062268436271105):
Ein sexy MillionärIhr Leben wird auf den Kopf gestelltEin gefährlicher Badboy.Doch dann kommt alles andersSie war ein ganz normales MädchenWerden sie es schaffen?Sie muss sich entscheidenIn tödlicher Gefahrmit dramatischen FolgenEine starke Frau, die weiß, was sie willEin mysteriöser FremderEin altes FamiliengeheimnisEin x ein y ein zIn der Schule gab es diese vorgegebenen Wörter, aus denen Geschichten geschrieben werden sollten. Ich schrieb gern welche, in die sie sich zwar fügten, aber nicht das Erwartete waren. Ich hatte mit so etwas wieder Spaß, als es um diese Floskeln ging! Den Klappentext stellte ich dann auf Twitter und Leute wünschten sich das Buch dazu. Später passte ich ihn noch einmal leicht an, um nicht über Dinge zu schreiben, deren Perspektive ich nicht kenne, https://twitter.com/karlabyrinth/status/1263124236765483009. Nun lautet er:
“Ein sexy Millionär in tödlicher Gefahr. Sie müssen sich entscheiden, Ladies! Wollen Sie mich retten?” Das ist die Beschreibung des gefährlichen Badboys Chris im Datingportal. Widerlich. May ist sehbehindert und weiß doch nur zu gut, was sein “sexy” Auftreten bewirkt. Die Beziehung mit Chris war toxisch und hatte dramatische Folgen, bis heute. Doch das weiß die Nachbarin Elena nicht, ein ganz normales Mädchen, die für den mysteriösen Fremden schwärmen wird, ihm all ihre alten Familiengeheimnisse anvertrauen wird, sich für ihn aufgeben wird, wie May vor ihr. Doch dann kommt alles ganz anders. Elena ist eine starke Frau, die weiß, was sie will – May. Und auf einmal ist das Leben des Badboys auf den Kopf gestellt. Als Aufarbeitungsstrategie planen sie ihm “Das Kapital” an den Kopf zu werfen – mehrfach. Werden sie es schaffen?
»Ein ganz großer Wurf!« – Irgendein Kritiker
@[email protected] auf Mastodon verfasste eine erste Kurzgeschichte auf Basis dieser Vorlage, die hier zu finden ist: https://rattarium.de/foul-lines/
Jeglichen von mir selbst eingebrachtem Inhalt in diesem Klappentext lizensiere ich, anders als die folgende Geschichte selbst, unter cc-0. Das bedeutet, jede Person darf daraus eine Geschichte oder beliebige Kunst basteln, ohne mich zu nennen, einfach so. Wenn dabei der Ursprung oder die bisherigen Geschichten genannt werden, ist das fein, aber nicht erfordert.
May lag im Vorgarten auf dem Rücken im Gras. Die Halme kitzelten in den Kniekehlen. Der Wind spielte mit den Haaren an seren Beinen. Er roch ganz leicht nur nach Meer. Sey trug eine kurze Hose mit Taschen aus stabilem Stoff, die oberhalb serer Knie endete und mit einem Gürtel oberhalb seres Beckens passgenau anlag. Sey spürte den Stoff auf der Haut, spürte, wo er aufhörte und die Beine frei lagen. Sey spürte seren ganzen Körper und fand sich schön. Einfach so. Ein Insekt machte Anstalten, auf seren Fuß krabbeln zu wollen. Sey zuckte mit dem Fuß, kurz darauf noch einmal und das Insekt entschied sich um.
Sey spürte den Wind nicht so sehr am Oberkörper, wo stattdessen eine warme Fleecejacke sere Arme wärmte. Der Reißverschluss lag offen, sodass der Luftzug doch manchmal darunter griff und an serem T-Shirt rüttelte. Sey hatte die Augen geschlossen, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Sey hatte die Augen gern geschlossen und nahm die Umgebung nur über andere Sinne wahr. So vorteilhaft es war, eine Sehfähigkeit zu haben, selbst wenn diese eingeschränkt war, so sehr störte sie auch oft, strengte an. War häufig mehr Mittel zum Zweck als wirklich ein Genuss. Das Körpergefühl dagegen war ein Genuss. Den ganzen Körper zu spüren, das Gras unter sem, den Wind, den Geruch von Rapsfeldern irgendwo weit entfernt, den der Wind mit sich brachte, das Versprechen von Sommer, den Atem im Körper, die Strahlung der Sonne auf und unter der Haut.
Sey hörte die leisen Schritte im Gras, die sich näherten, und regte sich doch nicht. Die fehlende Wärme an bestimmten Stellen serer Beine verriet sem, dass eine Person einen Schatten über sem warf. Sey gab kein Zeichen, dass sey es wahrnahm. Nicht unbedingt, weil sey es nicht gewollt hätte, sondern weil ser Körper sich weigerte, irgendeine Form von Anstrengung, irgendeinen Muskel zu bewegen. Frech von dem Körper. Sey kämpfte gegen das schlechte Gewissen an und fragte sich gleichzeitig, ob es eigentlich angebracht war.
“Ich möchte überhaupt nicht stören und wahrscheinlich tue ich genau das gerade”, sagte eine Stimme, relativ hoch, eine Spur nasal, die klang, als wäre die zugehörige Person sehr jung.
May war drauf und dran zu widersprechen. Ser Körper machte aber immer noch keine Anstalten, sich zu rühren, und vielleicht war es auch gar nicht so verkehrt, auf diese Weise zu reflektieren. Das Widersprechen wäre wieder der Reflex gewesen, für andere gut zu sein. Sey atmete tief durch, überlegte, dass sey sich vielleicht ein bisschen gestört fühlte, aber es schon in Ordnung war.
“Ist schon okay”, sagte sey, räusperte sich, weil sey sich nicht einmal selbst verstanden hatte, und wiederholte es noch einmal.
Räuspern ist nicht so gut für die Stimmlippe, besser ist husten, ging sem dabei durch den Kopf. Das hatte ein Herzmensch sem erklärt, der Logopädie studiert hatte.
“Ich bin Elena und bin kürzlich unter dir eingezogen. Ich sitze mit meiner Freundin hinten im Garten. Wenn du dich dazu setzen möchtest, bist du willkommen”, lud Elena ein. “Aber mach, wie du magst. Lass dich nicht drängen.”
Elena ging nicht sofort wieder. May nickte einmal. Die Körperbewegung kam sem furchtbar anstrengend vor. Und natürlich lag der Kopf hinterher nicht mehr exakt so auf seren Armen wie zuvor. Sey verzog kurz das Gesicht. Dann schoss eine neue Welle schlechten Gewissens durch sem hindurch: Die Mimik konnte ohne Weiteres auf die Einladung bezogen wirken. Sey hörte dieses Mal nicht, wie Elena sich entfernte. Die Sonne, die wieder auf die zuvor schattigen Stellen serer Beine schien, verrieten es sem. In seren Ohren rauschte es einige Momente.
Es war erheblich weniger angenehm hier zu liegen, während ein vielleicht unnötiges schlechtes Gewissen bekämpft werden musste. Sey hatte nichts Falsches getan, oder doch?
Sey lenkte außerdem eine viel interessantere Frage von der Kampfszene in serem Kopf ab: Wollte sey sich zu Elena und Freundin in den Garten hinter dem Haus gesellen? Sey musste über die Bezeichnung “Kampfszene” kurz schnauben und zugleich schossen ungefragt Tränen in sere Augen, die jene nie verließen.
Sich zu neuen Menschen zu setzen. Wenn das so einfach wäre. Es war immer eine Hürde. Aus so vielen Gründen. Da war die Sache mit dem Pronomen. Sagte sey es dazu, musste sey oft genug erklären. Sagte sey es nicht, würde sey automatisch vor anderen anders gegendert werden als gewünscht. Das war unangenehm.
Da war die Sache, dass sey keine Gesichter wiedererkannte, wenn sey die Person nicht schon länger kannte. Und dass sey andere nicht direkt ansah, weil sey schlicht nicht gut sehen konnte und weil es sem anstrengte. Sey war nicht blind und fühlte sich unfair bei dem Gedanken, dass es vielleicht manche Dinge einfacher machen würde, wenn sey es wäre. Es war kein sinnvoller, respektvoller Gedanke. Natürlich würde es sem viel, viel mehr einschränken, als sey nun eingeschränkt war. Aber es hätte vielleicht die hin- und herschwappenden Diskussionen erübrigt. Dass es nicht so richtig auffiel, sey einfach als seltsam empfunden wurde. Dass es dann doch auffiel, zum Beispiel, weil sem irgendetwas zu lesen in die Hand gedrückt worden wäre, was immer sofort den Druck auslöste, dass von sem erwartet würde, innerhalb eines erwarteten Zeitrahmens fertig zu sein, unter dem sey dann erst recht nicht lesen konnte. Und dann begannen die übertriebenen Rücksichtnahmen, durch die wiederum auffiel, dass sey gar nicht so sehbehindert war wie erwartet. Manchmal wurde sem die Beeinträchtigung völlig aberkannt. Bis es doch irgendwann wieder auffiel, wenn sey minutenlang an einer Straße stand, während fünf andere vor sem die Straße bereits überquert hatten. Und dann war wieder die Verwunderung groß, wenn sey aus Versehen ein sem zugeworfenes Taschentuchpäckchen aus der Luft fing.
Unwillkürlich musste May daran denken, wie sey Chris kennengelernt hatte. Es war am Anfang seres Studiums gewesen. Chris hatte sem ein Taschentuchpaket zugeworfen, sey hatte danach gegriffen, aber es falsch lokalisiert. Es hatte sem mitten im Gesicht getroffen, wo sey sich direkt darauf hingefasst und dabei sere schwere Brille vom Kopf gefegt hatte.
“Mist. Das ist jetzt unvorteilhaft”, hatte er damals gesagt. “Wollte zum Frust nicht noch mehr hinzufügen. Tut mir leid.”
Sey hatte grinsen müssen. Die Stimme war voll Emotionen gewesen. Ein gewisser, halb unterdrückter Schalk, aber auch Sorge und vor allem Wärme. Zeit. Sey hatte sich, ohne hinzusehen, nach dem Taschentuchpaket gebückt – sey hatte gehört, wo es aufgekommen war –, sich eines entnommen, auch die Brille aufgehoben, und es zurückgeworfen, ohne groß zu zielen. Dazu hatte sey die Brille auch noch nicht einmal wieder aufgesetzt. Eigentlich auch damals nicht sere Art, aber sey war tatsächlich sehr frustriert gewesen. Chris aber hatte einen Hechtsprung gemacht und es aus der Luft gegriffen.
Sey musste bei dem Gedanken an Hechte grinsen. Sey mochte Hechte. Es riss sem aus den Gedanken an die Vergangenheit, holte sem ins Jetzt zurück, wo sey sein wollte. Es war lange her. Chris war cool gewesen, am Anfang. Er hatte sem in einer Art und Weise gesehen, in der sey zuvor nie gesehen worden war. Er hatte all sere Schwierigkeiten im Alltag wahrgenommen und verstanden, sich nicht lustig gemacht, aber auch nicht übermäßig Rücksicht genommen. Genau, was sey gewollt hatte. Es war lange her. Zehn Jahre etwa.
Sey sog tief Luft ein, um endgültig wieder anzukommen – und stellte fest, dass sey in serem Vergangenheitsabstecher mies geschwitzt hatte. In einem kühnen Anflug von Mut raffte sey sich auf und begab sich nach einem wesentlich erfrischenderem Gegenwartsabstecher in serer Wohnung, in der sey sich den Oberkörper kurz kühl wusch und eine frische Jacke aussuchte, in den hinteren Garten, wo Elena mit Freundin am Gartentisch saß. Es war, wie etwas trotzdem tun. Ignorierend, dass die ersten Gespräche sem sehr stressen würden. Das taten sie immer, selbst wenn sie sich als weniger kompliziert herausstellten. Dazu konnte sey die Sache mit dem Sozialisieren einfach zu schlecht. Aber manchmal ignorierte sey, dass sey es nicht konnte, und tat es trotzdem.
Sie hatten keine Decke auf den Tisch gelegt, wie es die Gewohnheit der älteren Person im ersten Stock war. Eine der beiden Personen hatte ein Bein mit auf den Stuhl genommen, saß krumm darüber gebeugt, die Arme darum herumgeführt, die Finger auf einer Tastatur eines Laptops. Sie blickte auf, als May am Tisch stehen blieb. Sey senkte reflexartig den Blick. Sey versuchte ihn wieder zu heben, aber etwas blockierte sem, wie fast immer.
“Nimm dir einen Stuhl, wenn du magst”, sagte Elena.
Nun, als sey die Stimme hörte, war May sich sicher, dass Elena tatsächlich die Person am Laptop war. Beide Personen hatten kurze, dunkle Haare. Das war ungünstig. Sey unterdrückte den Impuls, eine der beiden Personen zu bitten, sich die Haare wachsen zu lassen oder zu färben. Sere Art wäre es, darum sachlich und trocken zu bitten, als wäre es ernst gemeint und absolut logisch. Aber diese Art Humor verwirrte am Anfang, und damit musste sey nicht sofort anfangen.
Auch etwas, was toll an Chris gewesen war. Sey hatte ohne Rücksicht gleich bei ihrem Kennenlernen seren Humor frei ausgelebt und er hatte einfach mitgemacht. Anfangs zumindest. Warum dachte sey so viel an Chris heute?
“Brauchst du Hilfe?”, fragte die andere Person.
May schüttelte den Kopf, blickte sich um, woher sey sich einen Stuhl nehmen sollte. Der Garten war umsortiert. Das passierte manchmal. Sey war nicht gut darin, rasch die Umgebung zu erfassen, aber der flüchtige Blick der zweiten Person auf den Stuhlstapel gab sem das entscheidende Zeichen. Sey nahm sich einen und setzte sich der Freundin gegenüber hin.
“Ich bin Annika”, stellte diese sich vor.