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Kapitalismus kennt die Welt nur noch aus Geschichtsmedien. Der Planet Arda regeneriert und erholt sich, Technik ermöglicht mehr Teilhabe und doch bleibt Eskapismus zentraler Teil des Alltags.
Marim erforscht die positiven Aspekte von Eskapismus abseits von Coping. Nurek verliebt sich in Marims Forschungsmethoden und -thema und meldet sich als Versuchsperson. Sie nerden herum, verstehen sich hervorragend und stellen schließlich auch noch fest, dass sie die gleiche Lieblingsband haben: Schabernakel.
Nurek will eigentlich schon lange auf eins ihrer Live-Konzerte, aber ist autistisch und auf Unterstützung durch eine Nahperson angewiesen. Sie traut sich, Marim darum zu bitten. Gemeinsam arbeiten sie einen Plan aus – und verlieben sich dabei ineinander.
Eine queere Romanze zwischen zwei Charakteren auf dem autistischen und asexuellen Spektrum. Eine wholesome, kleine Hack-Kommune. Authentische Autismus-Repräsentation mit vielen warmen Gefühlen und Safe Spaces zum Runterkommen und Wohlfühlen.
»(…) mit der Zeit war es, als wäre ich ein Pinguin, der sein Leben in der Wüste verbracht hat, und zum ersten Mal ans Meer kommt.«
Aus einer Buchrezension von Taaya.
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Wenn es nicht passiert
skalabyrinth
Vorwort
Dieses Buch steht unter Creative Commons Lizenz:
http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/
image of the by-nc-nd 4.0 licence
Das Buch entstand im Sommer 2021 in etwa einem Monat Schreibzeit, unter anderem während einer psychosomatischen ReHa. Es wird, wie all meine Werke, im Laufe der Zeit bearbeitet.
Das Cover basiert auf einer Grundlage, die ich mit Aquarell-Stiften in einer Ergo-Therapie während besagter ReHa gemalt habe. Ich habe es anschließend mit gimp überarbeitet.
Ich behandele in wörtlicher Rede Punkte gleichberechtigt mit anderen Satzzeichen. Ich setze mich damit über gängige Grammatik-Regeln hinweg, einfach, weil es mir so besser gefällt und konsistenter vorkommt.
map of Maerdha in grayscale
Teil I - Die Rolle der Minze
Marim
EnDe: Ich möchte mich gern in ein riesiges Minzblatt einwickeln.
Der Satz tauchte kurz vor Mitternacht in Marims Direktnachrichten auf. Er hatte eigentlich ins Bett gehen gewollt, aber nun snappte sein Fokus darauf und er verschob alle anderen Pläne. Er kannte den Zusammenhang, aber stellte sich vor, er täte es nicht. Er liebte die Vorstellung, gewisse Sätze außerhalb des ursprünglichen Zusammenhangs zu lesen. Eine wohlige Verwirrung machte sich in seinen Gedanken breit. Es war außerdem die erste Nachricht überhaupt von EnDe (oder vom EnDe?), weshalb sich zum Out-Of-Context-Verwirrungsgefühl ein lustiges Chaosgefühl gesellte. Dieser Kontakt fiel vielleicht gern mit Türen in Häuser, schloss Marim schmunzelnd. Da könnte er womöglich mithalten.
Marim Präsenz: Wann?
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten.
EnDe: .)
Kryptisch und kurz, eine feine Ergänzung zur ersten Nachricht. Aber nur Momente später schrieb der Kontakt konkret:
EnDe: Ich bin flexibel, aber wenn nicht jetzt, dann hätte ich gern 1 Tag Vorlauf.
Marim haderte kurz mit sich, dass er nicht über die andere Person entscheiden sollte, was für jene zu viel Stress sein könnte. Typischerweise meldeten sich vorwiegend Leute bei ihm, die genaue Planung bevorzugten und die Spontanität stresste, selbst wenn sie zunächst anderes behaupteten. Aber es war nicht an ihm, das für andere zu entscheiden. Und EnDe hatte ohne Begrüßung und ohne viel vorher zu fragen direkt einen konkreten Plan vorgelegt. Vielleicht war EnDe tatsächlich spontan.
Marim Präsenz: Wenn jetzt nicht zu stressig ist und du kein Problem mit Vorbereitungschaos hast, gern jetzt.
Er schickte EnDe gleich einen Zugangslink in eine Virtualität mit.
EnDe: *zieht EM-Anzug an.
EM-Anzüge – EM stand für elektro-magnetisch – waren diese perfekt auf den Körper angepassten Catsuit-artigen Anzüge, die heutzutage fast alle hatten, mit einem sehr feinen Drahtgeflecht darin. Sie konnten damit ein elektromagnetisches Feld um den Körper herumbauen, das als Gegenfeld zum elektromagnetischen Feld im Spielraum Virtualitäten physisch spürbar machte. Stabile Zustände konnten in den Materialien eingerastet werden, sodass für Leute mit Anzug eine Treppe da sein konnte, die keine Energie für ihre Existenz sog, die für Personen ohne Anzug nicht da war. Wie Magneten eben, nur sehr rasch umschaltbar.
EnDe: *ist in ca 0.1h da.
Marim nahm sich die Zeit, noch einmal zu schmunzeln und sich voll darin hineinzufühlen. EnDe verwendete diese beschreibende Form für im Augenblick ausgeführte Handlungen für sich, deren Namen er vergessen hatte. Das taten manche Leute erst, wenn sie sich länger kannten, aber manchen war es auch egal. Marim war es sympathisch. Er war gespannt, was für eine Person ihn erwartete.
Marim Präsenz: Ich warte dort auf dich.
Er klappte den Faltrechner zu und legte ihn zwischen die zwei kleinen Kopfkissen, auf die er anschließend das große Kopfkissen platzierte, das zuvor seinen gegen die Wand gelehnten Rücken abgepolstert hatte, und kroch vom Bett, das er zugleich auch als Sofa nutzte. Als er seine vergrößernde Brille mit der VR-Brille austauschte, kam der Chat wieder in sein Blickfeld.
EnDe: Ich bin etwas nervös.
Das war er auch. Jedes Mal. Es hatten nun schon irgendetwas in der Größenordnung von 500 Personen an seiner Studie teilgenommen. Mit jeder der Personen hatte er sich über die vergangenen drei Jahre persönlich unterhalten und Protokolle geschrieben. Aber er war immer noch jedes Mal nervös.
Marim beschloss, erst die 0.1h abzuwarten und nicht vorher noch einmal zu antworten. Er wusste nicht was. Vielleicht hätte er ‘Etwas?’ fragen können. Oder über seine Nervosität reden können. Aber dafür hätte er sich, wenn, mehr Zeit nehmen wollen.
Er begab sich in das Nachbarzimmer und startete die Virtualität. Minze. Das war ein interessanter Wunsch. Nun erst drang der eigentliche Wunsch zu ihm durch. Sich in ein Minzblatt einwickeln, war ein wirklich schöner Wunsch.
In der Studie ging es darum, in einer Situation sehr präsent zu sein, voll im Hier und Jetzt, und sich gleichzeitig fallen zu lassen. Aber statt das in Umgebungen zu tun, die realistisch waren, – was schon seit Jahrhunderten als Technik galt, die sich positiv auf die meisten Psychen auswirkte –, hatte Marim die Idee gehabt, zu untersuchen, wie es sich mit völlig unrealistischen Umgebungen oder Ereignissen um Personen herum verhielt. Es war komplex zu erforschen. Zunächst betrachtete er Umgebungen, die sich die Teilnehmenden selbst als welche ausdachten, die sie außerhalb von Virtualitäten nie erleben würden, von denen sie sich aber einen guten Effekt vorstellen könnten. Die Ideen waren sehr individuell. Mit diesen wenigen Vorgaben war es schwierig, ein Auswertungsskelett zu formen, sodass aus den Versuchen eine sinnvolle Studie würde. Marim wusste, dass er sich irgendwann ein konkreteres Forschungsziel von nur einem Teil der Idee setzen, oder die Idee konkretisieren sollte. Aber auch das wollte er mit System machen: Indem er erst einmal den Versuch so schwammig immer wieder mit verschiedenen freiwilligen Individuen ausführte, um herauszufinden, was es für Muster gab, was er beim Konkretisieren bedenken musste. Das tat er nun seit etwa drei Jahren. Er konnte sich keine spannendere Arbeit vorstellen. Die sich ergebenden Unterhaltungen und Kontakte begeisterten ihn. Eine Begeisterung, die oft Atem raubte, Pläne durcheinander schmiss, ihn wuselig und hibbelig machte und dieses wunderschöne Gefühl von starkem Fokus und Klarheit mit Glückseligkeit in seinem Kopf fabrizierte. Und als Nebenprodukt Nervosität.
Statt selbst zu entscheiden, welche Minze wohl am angenehmsten zum Einwickeln war, lud er einfach eine komplette Datenbank verschiedener Minze und pflanzte automatisiert je ein Büschel jeder Minze in seine Virtualität. Das Ergebnis war unpraktisch. Die Minze erstreckte sich einfach in alle Richtungen zum Horizont. Die Datenbank war zu groß und zu fein unterteilt. Ein Schnauben hinter ihm ließ ihn herumfahren.
“Es tut mir leid.”, sagte EnDe. “Ich bin in furchtbar alberner Stimmung und lache wahrscheinlich über alles. Ich hoffe, ich bin trotzdem irgendwie erträglich.”
Marim grinste. “Ich mag Albereien, also gehe ich davon aus.” Seine Antwort kam ihm unbeholfen vor. Er wollte EnDe an sich Sicherheit geben. Aber heute schien sein Talent dafür im Urlaub zu sein. “Marim Präsenz. Er, sein, ihm, ihn. Aber an sich wusstest du das schon.”
“Nurek. Sie, ihr, ihr, sie.”, stellte sich Nurek vor. Sie stand barfuß auf dem Erdboden, was nicht untypisch für Lobbuds war – und ein Lobbud war sie. “Ich bin zwar relativ klein, aber um mich in eins von diesen Minzblättern einzuwickeln, müsste ich trotzdem noch sehr schrumpfen, oder die Pflanzen müssten wachsen. Machst du dafür Regen? Oder sind die Pflanzen vielleicht weiter hinten größer?” Nurek blickte Richtung Horizont und drehte sich im Kreis.
“Ich habe mir noch keine Gedanken gemacht, ob ich uns skaliere oder eine Pflanze. Ich war mehr bei der Frage stecken geblieben, welche Minze, und wie ich dir eine gute Möglichkeit geben kann, zu wählen.”, erklärte Marim. Ein ziemlich starker Teil von ihm wollte mitalbern. Er reflektierte, dass es daran lag, dass Personen sich oft sicherer fühlten, wenn andere Personen bei ihrem Verhalten in gewissem Umfang mitmachten. Machten sie zu viel mit, war es gruselig. Machten sie gar nicht mit, dann passierte es leichter, dass die Personen glaubten, mit ihrem Verhalten zu nerven.
Nurek war in die Hocke gegangen und hatte angefangen, die Minzblätter zu befühlen, etwas zu reiben und an ihren Fingern zu riechen. Marim arbeitete, – in Gedanken immer noch halb abwesend –, daran, dass die Pflanzen, dünn wie sie waren, wuchsen, sodass sich Nurek nicht bücken oder hinhocken müsste. Aber eigentlich war seine Reflexion von eben noch nicht durch.
Vielleicht waren jene Überlegungen und Reflexe bezüglich Mitmachen von Albernheit Masking. Er war neuroatypisch. Bei ihm gehörte dazu, dass er Schwierigkeiten damit hatte, Subtext zu verstehen, oder Emotionen von neuen Gesichtern abzulesen. Viele Leute kommunizierten nach bestimmten Regeln, die für ihn nicht erfassbar waren, weshalb er es durch so etwas wie Vorsichtsverhalten ausglich, bestimmtes Kopieren, Nachahmen von Verhaltensmustern, die für ihn nicht viel Sinn ergaben, aber ohne die es regelmäßig zu Missverständniskatastrophen kam.
Allerdings hatte Nurek von Anfang an auf ihn nicht unbedingt einen neurotypischen Eindruck gemacht. Er sollte so etwas nicht schnell schließen und vor allem nicht fremddiagnostizieren. Aber er lag schon sehr oft richtig mit seinen Einschätzungen. Er überlegte zu fragen.
“Für eine systematische Abwägung über die gesamte Datenbank hinweg haben wir wohl nicht die Zeit, aber ich habe mir diese Minze hier ausgesucht.”, sagte Nurek. “Die Unterschiede der jeweiligen Optima innerhalb der letzten 20 Testungen waren sehr gering, während sie bei den ersten 20 noch sehr groß waren. Wenn es also keine Minze gibt, die sich doch noch sehr stark von lokaler Minze unterscheidet, dann ist auch nicht mehr viel rauszuholen.”
“Forschst du auch?”, fragte Marim.
“Hm. Ja? Nein?”, antwortete Nurek, vielleicht von sich selbst verwirrt. “Mich hat theoretische Physik mal fasziniert und ich habe mal an einem Paper mitgeschrieben. Wie typisch in theoretischer Physik ging es um Energieminima von irgendwelchen Zuständen. Ich habe mich für die Methode und die Mathematik dahinter mehr begeistert, als für die eigentlichen Zustände, und es ist Jahre her, also kann ich nicht einmal mehr genau sagen, worum es überhaupt ging. Was mit Spinstrom. Das war mein stärkster Berührungspunkt zu Forschung.”
Marim lächelte und nahm im Augenwinkel wahr, wie Nurek sein Gesicht studierte, während er mit Gesten die Virtualität veränderte. Er entschied sich dazu, außer der einen Minzpflanze, die Nurek ausgesucht hatte, die Umgebung durch einen Wildgarten zu ersetzen, ein paar Minzblätter auf den Boden zu verteilen und Nurek und sich neben diesen herunterzuskalieren, sodass Nurek sich ganz in eines der Minzblätter einwickeln könnte.
“Warum frugst du?”, fragte Nurek schließlich.
Marim lächelte noch etwas mehr, weil er die alternative Vergangenheitsform mochte. “Du warst systematisch. Und dein System erinnerte, nun ja, an Annäherungsmethoden von Minima oder Genauigkeit.” Er ärgerte sich einen Moment, weil das nicht die Fachbegriffe dafür waren, die er eigentlich gelernt hatte, und beschloss, es einfach dazuzusagen. “Ich drücke mich nicht mehr so eloquent aus, wie kurz nachdem ich das studiert hatte. Mein Gedächtnis ist schlecht.”
“Ich halte viel von mangelder Eloquenz. Dann haben fachfremde Leute mehr Chancen, hinterherzukommen und zu verstehen.”, entgegnete Nurek grinsend.
“Die beste Eloquenz wiederum ist die, die präzise und zugleich leicht verständlich ist.”, widersprach Marim.
“Gibt es die?”, fragte Nurek.
“Ich dachte schon.” Marim überlegte einen Moment. “Oder ich bin vom Elternhaus schon verschiedene Fachsprachen gewohnt, sodass es mir nicht auffällt. Aber ich kenne diesen Drang mancher Leute, mit Fachbegriffen um sich zu werfen, während es allgemein bekannte Begriffe gibt, die eins zu eins das Gleiche bedeuten. Und ich mag den Trend, auf letztere zurückzugreifen.”
Nurek blickte ihn an und nickte dann sehr sachte, als wäre sie sich nicht sicher, ob das gerade eine sinnvolle Geste war. “Ich glaube, ich auch. Ich stecke nicht tief genug drin.”, sagte sie schließlich. “Wollen wir die Blattsache machen?”
Marim nickte und grinste wieder.
“Muss ich etwas beachten?”, fragte Nurek. “Oder wickele ich mich jetzt einfach ein und fühle.”
“Wenn dir die Umgebung zusagt, dann letzteres.”, ermutigte Marim. Als Nurek sich unsicher umblickte, vielleicht nicht so glücklich wirkte, fügte er hinzu: “Ich kann sie beliebig umkrempeln. Wir haben Zeit.”
Nurek holte tief Luft und ließ sie wieder entweichen. “Ich glaube, frische Minzblätter fallen nicht einfach so auf den Boden. Wenn sie gepflückt werden, dann vergehen sie da. Was okay ist, aber nicht so eine positive Vorstellung. Ich hätte sie lieber neben einer Teekanne, wo sie vielleicht nach dem Einwickeln zu Tee verarbeitet würden.”
Marim musste unwillkürlich warm lächeln. “Ich mag dein Gehirn. Bis jetzt zumindest.”, sagte er leise und begann, die Umgebung umzubauen.
“Ich deins auch, glaube ich.”, sagte Nurek, auf einmal viel spürbarer unsicher als bisher. “Ich folge dir schon eine ganze Weile auf Shortspread, vor allem wegen dieses Projekts. Es ist großartig.”
“Danke!”, sagte Marim. Das Grinsen, das nun in sein Gesicht trat, fühlte sich fast wie ein leichter Krampf an, ein positiver allerdings. “Ich glaube, ich werde ein paar Tage grinsen müssen.”
“Bekommst du selten dafür Komplimente?”, fragte Nurek.
“Nicht selten. Und auch nicht oft. Aber Komplimente zu meinem Herzprojekt bringen mich jedes Mal tagelang mindestens innerlich zum Grinsen.”, erklärte Marim.
Inzwischen standen sie auf einer Tischplatte neben einer Teekanne. Marim eröffnete Nurek einfach das Menü, sodass sie mit auswählen konnte, welche Maserung der Tisch haben sollte. Nurek schien zunächst überfordert, aber als Marim ihr etwas Zeit ließ, begriff sie überraschend schnell. Sie wählte eine Glaskanne, in der noch ein Rest Tee vom letzten Aufguss war und die noch etwas Wärme abstrahlte. Marim musste ihr nicht einmal zeigen, dass es Einstellungen für Temperatur und Geruch gab. Sie fand es von selbst. Dabei war es kein Standardmenü. Unpraktischer Weise teilten sie die Eigenschaft, Erforschen zu müssen. Das Zimmer, in dem der Tisch stand, war am Ende sehr individuell eingerichtet für eine Virtualität, die eigentlich nicht lange halten würde, und zwar nicht, weil Nurek genaue Vorstellungen hatte, sondern weil sie den Umfang der Einstellmöglichkeiten ausprobieren wollte.
Marim ließ sie machen. Er war müde, aber ihr zuzusehen war auch zu schön. Und im Zweifel würden sie die eigentliche Minzblattsache eben verschieben. Er fragte sie vorsichtshalber, ob das in ihrem Sinne war. Sie nickte abwesend. Sein Verdacht, dass Nurek auch irgendwo auf dem neuroatypischen Spektrum sein könnte, verhärtete sich.
“Siehst du eigentlich zu, während ich mich ins Minzblatt wickele?”, fragte Nurek.
“Das darfst du dir aussuchen.”, antwortete Marim. “Für die Studie ist es vorteilhaft, wenn ich Daten bekomme, aber du darfst auch jederzeit entscheiden, dass du doch nicht willst. Nichts ist verschwendet, mach dir da keine Sorgen um mich. Die meisten entscheiden sich dazu, dass ich dabei bleibe und währenddessen Fragen beantworte, Hinweise gebe, daran erinnere, dass sie sich in die Situation fühlen möchten, und Fragen stelle. Aber es steht dir frei, das anders zu entscheiden.”
Nurek wirkte nachdenklich und kniff dabei die Augen etwas zusammen. “Hmm.”, machte sie. “Es reizt mich ja, Dinge anders zu machen als andere. Aber ich glaube, ich fände einfach interessanter, wenn du dabei bleibst. Kannst du denn noch?”
Marim nickte nach kurzem Zögern. Es würde ihm ohnehin leichter fallen zu schlafen, wenn dieser Versuch abgeschlossen wäre. Selbst, wenn er also jetzt eigentlich etwas zu müde war, würde er am Ende nicht mehr Schlaf bekommen, ob er es durchzog oder nicht.
Nurek ging ein weiteres Mal ins Menü und ließ einen altrosa Ohrensessel entstehen. Einen, der in Marims Standardauswahl aufgelistet war, und in dem er auf seinem Profilbild saß. Nurek grinste ihn an, als sie die Schablone in für ihn passender Größe neben Teekanne und Minzblatt materialisierte, wie so ein Haus in einem Zivilisationsaufbauspiel, und er grinste zurück. Er streckte den Rücken durch und nahm auf elegante Weise darauf Platz, etwas in das linke Sesselohr gelehnt, das eine Bein über die rechte Lehne baumelnd, das andere über das eine geschlagen, Füße gestreckt. Er zog die langen, bunten Ringelstrümpfe noch einmal glatt, um das Manöver zu vollenden. Er mochte durchaus seine eigenen Beine ansehen. Gerade wollte er allerdings eigentlich ausschließlich auf Nurek und den Versuch aufmerksam sein. Aber bei der Erinnerung an sein Profilbild hatte er die gleiche Haltung wie eben darauf einnehmen wollen, und hoffte, dass Nurek das nicht störte. Sie grinste immer noch, auf eine Weise, die sehr aufmerksam und warm wirkte.
Während Nurek sich nun mit dem Minzblatt auseinandersetzte, – zunächst, indem sie es anblickte und sich Gedanken machte –, funktionierte der Versuchsaufbau bei ihm bereits. Er wurde sich sehr bewusst über das Hier und Jetzt. Es war ein guter Versuchsaufbau. Er saß in einem gemütlichen Sessel auf elegante Weise neben einer Glasteekanne mit einem Rest Tee darin. Einer Glasteekanne, die ihn um einiges überragte und in der sich sein Sessel sachte spiegelte. Er hatte die unbehandelte Tischmaserung in den Füßen gespürt. An sich kannte er es, in Räumen zu sein, in denen er ungewohnt klein war, manchmal auch ungewohnt groß. Das war keine seltene Idee von Versuchspersonen. Aber ein Minzblatt neben einer Teekanne gab dem Raum eine wunderschöne Behaglichkeit. Auch das Zimmer an sich: Nurek hatte keine Einrichtung gewählt, die Stereotyp auf Gemütlichkeit ausgelegt gewesen wäre, wie es in vielen rustikalen Virtualitäten oder Märchenvirtualitäten der Fall war, sondern eine, die eher an ein echtes Szenario erinnerte, in dem eine Person ein Heim mit Restemöbeln quer aus der Verwandtschaft, was bei jenen jeweils so übrig war, eingerichtet hätte.
Nurek legte sich auf ein Ende des Minzblattes und wickelte sich endlich darin ein. Sie wickelte sich auch direkt wieder aus und probierte es noch zwei oder drei Mal, bis sie zufrieden war, der Kopf bis zum Mund herausschaute, es ihr nicht zu fest und nicht zu lose war. Abschließend nahm sie die obere Kante des Minzblattes in den Mund. Nur ein paar Momente. “Ich bin nervös.”, sagte sie, was sie vorhin schon gesagt hatte.
“Das verstehe ich, das geht vielen so.”, sagte Marim. Er änderte die Anspannung in der Körperhaltung auf eine Weise, auf die er schon oft erlebt hatte, dass sie entspannenden Einfluss auf andere hatte. Wieder musste er an Masking denken. “Hast du eigentlich eine EM-Zahnspange?”
Nurek nickte. “Ich teste Aroma-Devices. Es gibt dafür noch nicht einmal einen coolen etablierten Namen. Viele halten das für Unfug und sagen so Dinge wie: Dann könnten wir gleich einen winzigen Lebensmitteldrucker in den Mund bauen. Dass es keinen Sinn ergäbe, Nahrung mit Gefühl und Geschmack zu simulieren, weil wir ja auch einfach echtes Essen mit in die Virtualität mitnehmen könnten, das von der Virtualität nachgebildet wird, während wir es essen. Das käme immer näher an ein realistisches Gefühl heran, wenn wir in Virtualitäten mit anderen essen wollten, als ein simulierter Essvorgang es je könnte.” Nurek machte eine kurze Sprechpause, während jener sie Marim über den Rand des Minzblatts anblickte. Keine allzu gemütliche Haltung vermutlich. “Aber Kauen, und Dinge im Mundraum untersuchen, oder auch schmecken, ist mein bester Stimm. Ich möchte Holz zum Beispiel im Normalfall nicht essen.”
“Ich verstehe das total.”, sagte Marim, gar nicht mal so wenig emotional. Ein kleiner Teil seines Gehirns meldete ihm leise ‘Sie hat Stim gesagt.’ “Ich sollte das auch ausprobieren und mich an Studien beteiligen. Mindestens schon, um es mit in diese Studie hier aufzunehmen, aber auch, weil Kauen, wie du sagst, einfach ein guter Stim ist.” Und dann fragte er es doch noch einmal laut, einfach vorsichtshalber: “Du bist auch neuroatypisch, oder?”
“Ja!”, rief Nurek nun wieder breit grinsend. “Was hat mich verraten? Dass ich EnDe heiße? Wie ND für neurodivers?”
Tatsächlich hatte sich Marim bereits gefragt, wie der Username zustande kam. Aber auf ND war er nicht gekommen. “Zuletzt war es das Wort Stim.” Und einen kurzen Moment, nachdem er geantwortet hatte, fragte er sich, ob die Frage rhetorisch gewesen war.
Nurek sagte nichts dazu und grinste einfach weiter. Sie strich mit den Fingern, die nahe ihres Kopfs aus dem Minzblatt lugten, über die weiche, zackige Kante des Blatts. “Ich frage mich, ob ich Dinge richtig mache. Und denke nun über die Zahnspange nach. Und darüber, ob ich dir auch sagen sollte, dass ich das Gefühl von ‘Ende’ mag und auch deshalb so heiße. Oder auch, weil sogar altmodische Screenreader es richtig vorlesen, nur etwas betonter, wie so ein brutal hervorgehoben artikuliertes ‘Ende’.”, gab sie zu. “Außerdem frage ich mich, ob meine Idee wohl originell ist, oder ob viele Leute solche Ideen haben wie, sich in ein Minzblatt einzuwickeln. Und ob ich überhaupt vergleichen sollte. Und all dies lenkt mich davon ab, mich in der Situation präsent zu fühlen. Das soll bestimmt nicht so, oder?”
“Die ersten Millistunden bis hin zu einer Zentistunde ist das häufig der Fall.”, widersprach Marim. “Vielleicht sollte ich darüber im Vorfeld informieren, aber ich habe es bisher auch nicht so gemacht. Ich finde gerade diesen Aspekt auch spannend, wie lange es braucht, dass Versuchspersonen sich darauf einlassen.” Marim machte eine kurze Redepause, nicht nur, weil er zur nächsten Frage wechseln wollte, sondern auch, um sein langes Haar hinter den Rücken zu sortieren, das seinen Oberarm kitzelte. “Es ist schwierig, einzuordnen, wie originell Ideen jeweils sind. Neben der Tatsache, dass es einfach Geschmackssache ist. Es ist spannend, wie verschieden konkret die Wünsche sind. Häufig kommt es vor, dass Personen sehr klein sein wollen, so etwas wie, sich in einem Mauseloch verkriechen, oder sich an eine Katze kuscheln, während sie selbst so groß wie eine Maus sind.”
“Wünschen sich die meisten, dass die Katze ungefährlich für sie ist?”, fragte Nurek.
“Tatsächlich nicht nur die meisten, sondern bisher alle”, konkretisierte Marim. “Jedenfalls, hat diese Virtualität etwas sehr Eigenes, Individuelles an sich. Das macht sie vielleicht originell?” Er dachte einen Augenblick nach. “Aber so originell, wie eine Vielzahl Individuen nun mal alle für sich genommen sind? Hilft dir die Antwort?”
“Sehr!”, sagte Nurek und wirkte tatsächlich erleichtert. “Es reduziert auch das bohrende Gefühl, dass ich eigentlich was Besonderes sein will, aber mich schlecht fühlen würde, über andere zu denken, dass sie weniger besonders wären. Oder die Angst, dass ich dich unter Druck setzen könnte, eine Bewertung vorzunehmen, die mich irgendwie anderen vorzieht oder umgekehrt. Es bestätigt, ohne das zu tun.”
Sie lag einige Momente still in dem Minzblatt eine Körperlänge von seinem Sessel entfernt und schloss das Auge. Erst dadurch wurde Marim bewusst, was er die ganze Zeit schon halb unterbewusst bemerkt hatte, – dass ihre zweite Augenhöhle leer war, bis gerade nur fast geschlossen. Es waren anfangs mit neuen Personen einfach immer so viele Eindrücke, dass er nicht wusste, wie er sortieren sollte und solche Auffälligkeiten untergingen. Nun war sein Kopf nur noch mit zwei Dingen maßgeblich beschäftigt: Mit der Frage, die gerade auf dem Stack lag, die er aber verschieben sollte, falls Nurek es gerade schaffte, im Hier und Jetzt anzukommen, und mit dem Wort ‘Burrito’. Personen in seinem Umfeld, die sich in etwas einwickelten, bezeichneten diese Pose inflationär so. Deshalb dröhnte dieses eine Wort nun alle paar Momente ungefragt durch seine Gedanken. Burritos waren im Wesentlichen Nahrung eingerollt in Fladen, sodass sie leichter transportiert werden konnten, oder auch für Resteessen. Sie waren eine Zeitlang durch gedruckte, essbare Brotdosen halb verdrängt worden, aber dann, als Lebensmitteldrucker begannen, Teigfladen ordentlich hinzubekommen, und als eine Vintage-Community angefangen hatte, nostalgisch Serien von früher wieder hervorzukramen, in denen Burritos ein Thema gewesen waren, waren sie zurückgekehrt. Sie waren vorübergehend ein Meme geworden, auch als Personenburritos. Marim fragte sich, wie kulturübergreifend das Prinzip von Burritos wohl war.
“Wie viel veröffentlichst du hiervon eigentlich? Und in welcher Form?”, fragte Nurek.
“Nichts, ohne dein Einverständnis.”, versicherte Marim. “Ich schreibe ein Protokoll, das ich dir gebe, in dem du Dinge ergänzen oder korrigieren kannst, sollte ich etwas missverstanden oder vergessen haben. Das Protokoll speichere ich privat, solange du es erlaubst, um später Daten daraus erheben zu können. Dabei geht es erstmal nicht um statistisch relevante Daten, sondern darum, Möglichkeiten für Abfragen abzustecken. Wenn ich dann soweit bin, daraus einen Fragebogen abzuleiten, fange ich mit den Versuchen von vorne an. Parallel verteile ich Fragebögen an alle, die bisher teilgenommen haben. Als zwei getrennte Versuche, einen sauberen und einen, in dem die bisherige Arbeit eingeordnet wird. Für all diese nachträglichen Auswertungen und Fragen erfrage ich getrennt dein Einverständnis bezüglich Veröffentlichung.”
“Ich kenne, dass ich mit einer KI allgemein eingerichtet habe, was für Daten ich gerne unter welchen Bedingungen weitergebe und welche nicht. Ist das mit deinen Methoden abgleichbar?”, fragte Nurek.
“Das macht es zumindest einfacher. Wahrscheinlich reicht das aus. Ich würde dich dann nur für irgendwelche abstrusen Sonderfälle extra fragen.” Marim kannte diese Systeme. Fast alle verwendeten so etwas in vereinfachter Form, wenn es um generelles Datensammeln für Experience-Verbesserung bei Software oder Virtualitäten ging. Speziell für Studien war es seltener, dass Leute sich so etwas eingerichtet hatten, weil die Einstellungen viel feiner waren. “Nimmst du häufig an Studien teil?”
“Ja!”, sagte Nurek. “Ich liebe Studien! Ich liebe auch dein unvollständiges Studiengestrüpp und hatte mich schon gefragt, ob es bei diesem eben dazu kommen könnte, dass die Voreinstellungen bezüglich Datenfreiwilligkeit nicht ausreichen.”
Sie waren schon wieder bei anderen Themen als bei der Minzblatt-Sache, stellte Marim fest. Dann konnte er auch die Frage stellen: “Wie kamst du eigentlich auf die Idee mit dem Minzblatt?” Nach kurzem Zögern fügte er hinzu: “Das ist sogar eine Frage, die ich allen stelle, also eine, die wahrscheinlich studienrelevant ist.”
Nurek blickte ihn einen Moment lang über den Rand des Minzblattes hinweg an, wieder in dieser Haltung, die auf Dauer ungesund für den Nacken sein würde. Solange sie das EM-Feld nicht unterstützend hinzunähme, woran die meisten in so einer Haltung nicht dachten, aber zu Nurek könnte es passen, dass sie es täte. “Ich denke über deine Studie schon seit einem halben Jahr nach und finde sie gut. Ich wollte eine Idee haben.”, gab sie zu. “Und dann saßen wir heute Mittag draußen im Garten, neben den drei verschiedenen Minzsorten. Nur drei!” Nurek hielt die drei mittleren Finger der einen Hand unter der Kante des Minzblattes hervor. Die Ellenbogen blieben zugedeckt. Es sah gemütlich aus. “Und ein Mitbewohn meinte, die eine Minze wäre so weich mit dem zarten Haarflaum darauf. Da kam mir der Gedanke ‘Ich möchte mich am liebsten in einem Minzblatt einwickeln!’ Also habe ich dir geschrieben, als ich das nächste Mal Ruhe hatte.”
Marim spürte dieses Gefühl von Glückseligkeit, das ihm für ein paar Momente die Luft abschnürte. Es kam, weil Nurek sich so für seine Arbeit begeisterte, seine Faszination so sehr teilte. Es war selten so intensiv. Die Bewunderung durch eine fremde Person kam ihm aber auch ein wenig seltsam vor, vielleicht auch eine Spur unbehaglich, nur eine Spur. Sie kannten sich erst so kurz, und es war so intensiv. Er mochte Chaos, aber hier war auch viel Potenzial für Missverständnisse bei starken Gefühlen. Immerhin lediglich fachliche gemeinsame Begeisterung.
“Was ist jetzt an der Reihe?”, fragte Nurek in die Stille hinein, die entstanden war.
“Eine Zentistunde Schweigen.”, erklärte Marim. “Wobei du sie abbrechen darfst, wenn es dir irgendwie unbehaglich wird. Auch abbrechen und wann anders wiederholen.” Er lehnte sich in den Sessel zurück und schlug beide Beine seitlich unter den Körper, weil mit mehr oder minder fast ausgestreckten Beinen das Denken schwer fiel. “Dabei ist die Idee, dass du dich in die Situation hineinfühlst, die Umgebung genau wahrnimmst, und beobachtest, was es mit dir macht. Ob es entspannt, begeistert, verwirrt, was für Emotionen es hervorruft. Und ob du loslassen kannst, dich fallen lassen kannst, und zugleich präsent bleiben kannst. Hast du noch Fragen?”
“Was, wenn ich einschlafe? Und auch sonst, woher weiß ich, dass die Zentistunde um ist?”, fragte Nurek.
“Ich stelle mir einen Wecker und sage dir dann Bescheid.” Marim überlegte, dass vielleicht wahrscheinlicher wäre, dass er einschliefe.
“Dann kann das losgehen.”, sagte Nurek.
“Ich leite es mit einem leisen ‘Pling’ ein. Ist das recht?”, fragte er noch.
Nurek nickte, wobei sich der Rand des Minzblattes faltete.
Er ließ das Pling-Geräusch sachte durch die Virtualität erklingen. Er mochte es. Er hatte es sich von Entspannungs-Sessions abgeschaut, die sich zuerst im Südosten Maerdhas entwickelt hatten. Er hatte auch über die Art des Forschens versucht zu lernen, die aus denselben Kulturzusammenhängen hervorgegangen waren. Er war in einigen virtuellen Seminaren gewesen, in denen er die verschiedenen kulturellen Einflüsse in die Art und Weise zu forschen schätzen gelernt hatte.
Das helle Pingen war wie eine Trennung zweier mentaler Zustände voneinander und löste für ihn dadurch schon beim Hören eine entspannte Wachheit aus. Diese Konditionierung war beabsichtigt und sehr alt.
Nurek hielt die Augen geschlossen und lag ganz still da, die Kante des Minzblatts im Mund. Sie hatte eine weiche, mittelbraune Kurzhaarfrisur und hellbraune Haut. Marim rief sich ihre Kleidung in Erinnerung, was ihm gar nicht mal so leicht fiel. Sie war dunkel, vielleicht schwarz, oder ein beliebiger Farbton in einer dunklen Schattierung, wahrscheinlich nicht braun. Ein Stoff mit einem Dino-Muster oder war es ein Drachen-Muster? Er konnte sich nicht einmal daran erinnern, ob es unten ein Rock oder eine weite Hose, und ob es an der Taille geteilt in zwei Kleidungsstücke gewesen war. Er wollte unbedingt genau nachschauen, wenn sie sich wieder auswickelte.
Das Minzblatt um sie herum folgte ihren Atembewegungen. Es wirkte sehr entspannt. Der Eindruck konnte völlig täuschen. Ihm zumindest sahen nur Leute an, dass er unentspannt war, wenn er es war, die ihn sehr gut kannten. Er bemerkte es an sich selbst oft genug zu spät.
Er hörte auf, sie zu beobachten, stellte für sie seinen Ton ab und befasste sich damit, sein Gedankengestrüpp zur Virtualität in für ihn gut sortierte Worte zu übersetzen, bis der Wecker klingelte. Es war gut, dass er für sie den Ton abgestellt hatte, denn er erschreckte sich sehr. “Wenn du magst, kehre langsam in die Wirklichkeit der Virtualität zurück.”, sagte er leise und möglichst sanft.
Nurek prustete. “Die Wirklichkeit der Virtualität. Du hättest auch sagen können: ‘Wenn du magst, kehre langsam in die Unwirklichkeit zurück.’ Und irgendwie wäre das richtig gut gewesen!”
Marim lächelte. “Ich habe es anfangs von Entspannungskursen übernommen, die ungefähr so enden. Es hat nie so richtig gepasst. Und nun fühlt es sich falsch an, etwas anderes auszuprobieren, aber vielleicht sollte ich.”
“Wenn, dann nimm vielleicht doch nicht meinen Vorschlag. Der führt auch zu lachen.”, riet Nurek.
“Magst du einmal, solange es noch frisch ist, von deinen Gedanken im Minzblatt berichten?”, bat Marim. “Wir können mehr auch später protokollieren, oder du schreibst mir einen Text dazu, wenn du später noch einmal darüber nachdenkst. Aber das werden meistens andere Gedanken sein als die frischen.”
Nurek nickte. “Abgesehen davon, dass der Satz ‘Es geht hier eigentlich um Eskapismus’ sich versucht hat, in meinem Kopf breitzumachen, habe ich es tatsächlich genießen können.”, berichtete sie. “Es ging viel besser, im Hier und Jetzt zu bleiben, als bei Bodyscans, die ich häufiger versucht habe, weil das Minzblatt meine Präsenz eingefordert hat. Ich habe dann so etwas gedacht wie: Du bist hier in einem Minzblatt eingewickelt. Ich mag den Geruch, ich wünschte mir Geschmack, ich mag die Haptik im Mund. Um den Körper hat es sich nicht viel interessanter als eine Decke angefühlt, das hätte ich mir beeindruckender vorgestellt. Vielleicht muss ich demnächst Minzblattkleidung direkt auf der Haut ausprobieren.”
Nurek machte eine nachdenkliche Pause im Redefluss, in der Marim schmunzelte, weil er sich gerade kurz zuvor Gedanken über ihre Kleidung gemacht hatte.
“Ich konnte ruhig atmen.”, fügte Nurek hinzu, langsamer redend als vorhin. “Eigentlich möchte ich mich wieder auswickeln und kann deshalb gerade nicht nachdenken.”
“Wickel dich aus!”, forderte er sie auf.
Sie folgte der Anweisung, betrachtete die Spuren, die sie im Minzblatt hinterlassen hatte, stand auf, streckte und dehnte sich. Sie hatte einen weichen, runden, gelenkigen Körper. Bei der Kleidung handelte es sich um ein nachtblaues, figurbetontes Kleid mit Dinos und Drachen. Die Drachen waren nur ein paar Ausnahmen zwischen den Dinos. Nun erinnerte er sich an die leichte Irritation, die er vorhin bei der Betrachtung der Kreaturen gehabt hatte, für die er sich nicht die Gehirnkapazität genommen hatte, zu analysieren, um was für eine es sich gehandelt hatte, weil andere Gedankendinge vorher dran gewesen waren.
“Besser.”, sagte sie. Sie drehte den Kopf zur Seite und roch an dem eng anliegenden Träger des Kleides, den sie dazu mit drei Fingern der Nase entgegen dehnte. Sie lächelte. “Das kriegen olfaktorische Emitter natürlich auch nicht so gut hin. Punktuelle Gerüche. Es gibt noch viel zu tun. Aber nach Minze riecht das wohl noch.”
“Ich frage mich, wenn lokale Gerüche umgesetzt werden, wie das wohl gemacht wird.”, sagte Marim nachdenklich. “Aromenmischer brauchen eben schon Platz, das ist nicht so einfach, sie überall hinzuplatzieren.”
“Aktuelle Entwürfe arbeiten mit nur wenigen Aromenmischern, an die jeweils ein dünnes, nicht störendes EM-Tuch befestigt ist, in das wiederum ein Netz an sehr feinen Leitungen verarbeitet ist.”, erklärte Nurek. “Sowas wie Vorstufen der Gerüche werden dann mit im Netz gespeicherten Aromen schonmal vorkreiert, und zwar sehr in der Nähe der Nase, sehr lokal, und dann wird mit etwas Zeitversatz ein präziserer Duftstoff aus dem Emitter nachproduziert und hinterhergeschoben. Die Fließgeschwindigkeiten durch die Leitungen sind das Bottleneck. Fast im wahrsten Wortsinn.”
“Das ist spannend. Steckst du irgendwie in der Forschung?”, fragte Marim neugierig.
“Ich nehme an Studien teil. Sonst nicht.”, informierte Nurek.
“Bekommst du dann Geräte zugeschickt und testest es zu Hause aus? Oder fährst du an Orte dafür?”, fragte Marim.
“Ersteres.”, antwortete Nurek. “Wir sind bei uns ziemlich gut ausgestattet. Das meiste dockt gut an.”
“Cool!” Marim hielt sich davon ab, sich spontan in das Thema hineinvertiefen zu wollen. Er neigte dazu, sich mit zu vielen Dingen gleichzeitig auseinandersetzen zu wollen und zu viele Projekte anzufangen. Es war an sich nicht schlimm, aber eine Nacht drüber zu schlafen, bevor er so eine Entscheidung fällte, räumte mit seinen Ideen in einer Weise auf, dass es ihn dann weniger überforderte.
Als nächstes stellte er sich vor, wie Nurek auch jenen Personen, die Studien zu olfaktorischen Devices machten, ihre Begeisterung so mitteilte wie ihm. Wenn jene sich etwa so freuen würden wie er, wünschte er es ihnen.
“Du bist sehr motivierend, weißt du das?”, fragte er.
Nurek fing zu grinsen an und blickte ihm ins Gesicht. “Das habe ich noch nicht sehr oft gehört. Und es freut mich sehr!”
Marim beschloss, die Fragen wieder aufzunehmen. “War für dich das Präsenzgefühl positiv, eher unangenehm zum Beispiel anstrengend, oder etwas anderes?”
“Ich fand es gut. Es war ein Mindset, das ich mag. Sich real fühlen, in einer nicht realen Situation. Eine leichte, geistige Herausforderung, die ich sehr mag.”, beschrieb sie. “Der eigentliche Grund, warum ich diese Studie so gut finde, glaube ich.”
Sie hatte es schon wieder gesagt. “Du gibst fast gruselig viel positives Feedback zur Studie.”, sagte Marim schließlich, und hoffte, sie damit nicht zu erschrecken oder zu beleidigen. “Bist du mehr hier für das Präsenz-Erlebnis oder mehr, weil du die Studie magst?” Ihm wurde plötzlich sehr heiß. Hatte er nicht gerade noch vor wenigen Sätzen quasi das Gegenteil gesagt? Dass sie motivierte?
“Ist das eine Frage, die du anderen stellst?”, fragte Nurek zurück.
Marim schüttelte den Kopf.
“Ich finde die Frage schwierig. Ich denke, das eine bedingt jeweils das andere.”, antwortete sie. “Ich mag das Präsenz-Erlebnis und deshalb die Studie.”
Marim nickte langsam. “Das ergibt Sinn. Ich glaube, ich bin müde und unkonzentriert und dadurch lenkt mich diese Vermischung etwas ab. Aber auf der anderen Seite ist es auch sehr schön, dass du die Begeisterung teilst.”
“Hm.”, machte Nurek nachdenklich. “Mir wird manchmal gesagt, dass ich zu schnell persönliche Sachen erzähle oder persönliche Gefühle teile. Dass das Leuten manchmal unangenehm ist. Ich habe da kein so starkes Gefühl für wie andere. Könnte dir etwas davon irgendwie unangenehm sein?”
Marim antwortete eine Weile nicht. In seinem Kopf verknoteten sich die Gedankenanfänge zu einem Gedankensalat, die für ihn nicht mehr lesbar und auch nicht mehr enthedderbar waren. Er mochte das nicht, besonders jetzt nicht. Er hatte das Gefühl, eine bisher freundliche Stimmung zerstört zu haben. “Ich glaube, das ist nicht das Problem.”, sagte er schließlich. “Ich habe heute auf meine Grenzen nicht so gut geachtet und gerate in einen Overload.” Er spürte es nun, da er es aussprach, deutlicher. Er wurde fahrig, nichts wollte mehr richtig sein, er wollte allein sein, und auch wenn Nurek lieb war, sie war fremd und sie und die Umgebung zu viel.
“Nicht gut.”, stellte Nurek sachlich fest. “Möchtest du Pause machen und schlafen und wir reden einfach weiter, wenn du dich wieder bei mir meldest?”
Marim nickte zögernd. Er fand das alles sehr unbefriedigend. Er wollte Nurek eigentlich nicht so stehen lassen.
“Mach dir keine Gedanken um mich.”, sagte sie, als wüsste sie genau, was los war. “Ich bin geduldig. Für mich spielt Verzögerung in Gesprächen keine Rolle. Wenn du dich morgen meldest oder in einer Woche, ist das alles in Ordnung. Und wenn du dich gar nicht meldest, auch.”
“Ich melde mich morgen.”, versprach er.
“Okay.”, sagte sie. “Brauchst du sonst noch etwas? Wird hier aufgeräumt, oder startest du jedes Mal frisch?”
“Ich starte frisch.”, antwortete er.