Die heilige Familie - Karl Marx - E-Book

Die heilige Familie E-Book

Karl Marx

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Beschreibung

Karl Marx' Werk 'Die heilige Familie' ist ein bedeutendes Werk, das sich kritisch mit der politischen und gesellschaftlichen Situation seiner Zeit auseinandersetzt. Der Inhalt des Buches konzentriert sich auf die Kritik an den Ideen von Bruno Bauer und dessen Ansicht über die christliche Religion. Marx' literarischer Stil ist geprägt von einer klaren Argumentation und tiefer Analyse, die sein umfassendes Wissen über Philosophie und politische Ökonomie widerspiegeln. 'Die heilige Familie' ist ein wichtiger Beitrag zur marxistischen Theorie, der den Weg für spätere Werke wie das 'Kommunistische Manifest' ebnete. Durch seinen scharfen Verstand und seine kritische Haltung gegenüber der bestehenden Gesellschaftsordnung setzt Marx mit diesem Werk einen Meilenstein in der Geschichte der politischen Theorie.

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Karl Marx

Die heilige Familie

Kritik der kritischen Kritik
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Inhaltsverzeichnis
Vorrede
I. Kapitel
II. Kapitel
III. Kapitel
IV. Kapitel
V. Kapitel
VI. Kapitel
VII. Kapitel
VIII. Kapitel
IX. Kapitel

Vorrede

Inhaltsverzeichnis

Der reale Humanismus hat in Deutschland keinen gefährlicheren Feind als den Spiritualismus oder den spekulativen Idealismus, der an die Stelle des wirklichen individuellen Menschen das "Selbstbewußtsein" oder den "Geist" setzt und mit dem Evangelisten lehrt: "Der Geist ist es, der da lebendig macht, das Fleisch ist kein Nütze." Es versteht sich, daß dieser fleischlose Geist nur in seiner Einbildung Geist hat. Was wir in der Bauerschen Kritik bekämpfen, ist eben die als Karikatur sich reproduzierende Spekulation. Sie gilt uns als der vollendetste Ausdruck des christlich-germanischen Prinzips, das seinen letzten Versuch macht, indem es "die Kritik" selbst in eine transzendente Macht verwandelt.

Unsre Darstellung schließt sich vorzugsweise an die "Allgemeine Literatur-Zeitung" von Bruno Bauer an – ihre ersten acht Hefte lagen uns vor –, weil hier die Bauersche Kritik und damit der Unsinn der deutschen Spekulation überhaupt den Gipfelpunkt erreicht hat. Die kritische Kritik (die Kritik der "Literatur-Zeitung") ist um so lehrreicher, je mehr sie die Verkehrung der Wirklichkeit durch die Philosophie bis zur anschaulichsten Komödie vollendet. – Man sehe z.B. Faucher und Szeliga. – Die "Literatur-Zeitung" bietet ein Material, an welchem auch das größere Publikum über die Illusionen der spekulativen Philosophie verständigt werden kann. Dies ist der Zweck unsrer Arbeit.

Unsere Darstellung ist natürlich durch ihren Gegenstand bedingt. Die kritische Kritik steht durchgehends unter der schon erreichten Höhe der deutschen theoretischen Entwicklung. Es ist also durch die Natur unsres Gegenstandes gerechtfertigt, wenn wir jene Entwicklung selbst hier nicht weiter beurteilen.

Die kritische Kritik zwingt vielmehr, die schon vorhandenen Resultate als solche ihr gegenüber geltend zu machen.

Wir schicken daher diese Polemik den selbständigen Schriften voraus, worin wir – versteht sich, jeder von uns für sich – unsre positive Ansicht und damit unser positives Verhältnis zu den neueren philosophischen und sozialen Doktrinen darstellen werden.

Paris, im September 1844

I. Kapitel

Inhaltsverzeichnis

"Die kritische Kritik in Buchbindermeister-Gestalt" oder die kritische Kritik als Herr Reichardt

Die kritische Kritik, so erhaben sie sich über die Masse weiß, fühlt doch ein unendliches Erbarmen für dieselbe. Also hat die Kritik die Masse geliebt, daß sie ihren eingeborenen Sohn gesandt hat, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das kritische Leben haben. Die Kritik wird Masse und wohnet unter uns, und wir sehen ihre Herrlichkeit als die Herrlichkeit des eingeborenen Sohnes vom Vater. D.h. die Kritik wird sozialistisch und spricht von "Schriften über den Pauperismus". Sie sieht es nicht für einen Raub an, Gott gleich zu sein, sondern entäußert sich selbst und nimmt Buchbindermeister-Gestalt an und erniedrigt sich bis zum Unsinn – ja bis zum kritischen Unsinn in fremden Sprachen. Sie, deren himmlische jungfräuliche Reinheit von der Berührung mit der sündigen aussätzigen Masse zurückschaudert, sie überwindet sich soweit, daß sie von " Bodz" 1 und " allen Quellenschriftstellern des Pauperismus" Notiz nimmt und "mit dem Zeitübel seit Jahren Schritt um Schritt tut"; sie verschmäht es, für die Fachgelehrten zu schreiben, sie schreibt für das große Publikum, entfernt alle fremdartigen Ausdrücke, allen "lateinischen Kalkul, allen zunftmäßigen Jargon" – alles das entfernt sie aus den Schriften anderer, denn das wäre doch gar zuviel verlangt, wenn die Kritik sich selbst "diesem Reglement der Administration" unterwerfen sollte. Aber selbst das tut sie teilweise, sie entäußert sich, wenn nicht der Worte selbst, doch ihres Inhalts mit bewundernswürdiger Leichtigkeit – und wer wird ihr vorwerfen, daß sie "den großen Haufen unverständlicher Fremdwörter" gebraucht, wenn sie selbst mit systematischer Manifestation die Entwicklung begründet, daß auch ihr diese Wörter unverständlich geblieben sind? Von dieser systematischen Manifestation einige Proben:

"Deshalb sind ihnen die Institutionen des Bettlertums ein Greuel."

"Eine Verantwortlichkeits-Lehre, an welcher jede Regung des Menschengedankens zum Abbild von Lots Weib wird."

"Auf den Schlußstein dieses in der Tat gesinnungsreichen Kunstgebäudes."

"Dies der Hauptinhalt von Steins politischem Testamente, welches der große Staatsmann noch vor seinem Austritt aus dem aktiven Dienst der Regierung und allen ihren Abhandlungen einhändigte."

"Dieses Volk besaß damals für eine solch ausgedehnte Freiheit noch keine Dimensionen."

"Indem er am Schluß seiner publizistischen Abhandlung mit ziemlicher Sicherheit parlamentiert, es fehle bloß noch am Vertrauen."

"Dem staatserhebenden männischen, sich über die Routine und die kleingeistige Furcht erhebenden, an der Geschichte gebildeten und mit lebendiger Anschauung frenden öffentlichen Staatswesens genährter Verstand."

"Die Erziehung einer allgemeinen Nationalwohlfahrt."

"Die Freiheit blieb in der Brust des preußischen Völkerberufs unter der Kontrolle der Behörden tot liegen."

" Volksorganische Publizistik."

"Dem Volke, dem auch Herr Brüggemann das Taufzeugnis seiner Mündigkeit erteilt."

"Ein ziemlich greller Widerspruch gegen die übrigen Bestimmtheiten, die in der Schrift für die Berufsfähigkeiten des Volkes ausgesprochen sind."

"Der leidige Eigennutz löst alle Chimären des Nationalwillens schnell auf."

"Die Leidenschaft, viel zu erwerben etc., das war der Geist, der die ganze Restaurationszeit durchdrang und der sich mit einer ziemlichen Quantität Indifferenz der neuen Zeit anschloß."

"Der dunkle Begriff politischer Bedeutung, welcher in der landmannschaftlichen preußischen Nationalität anzutreffen ist, ruht auf dem Gedächtnis einer großen Geschichte."

"Die Antipathie verschwand und ging in einen völlig exaltierten Zustand über."

"Jeder in seiner Art stellte bei diesem wunderbaren Übergang noch seinen besondern Wunsch in Aussicht."

"Ein Katechismus mit gesalbter salomonischer Sprache, dessen Worte sanft wie eine Taube Zirb! Zirb! hinaufsteigen in die Region des Pathos und donnerähnlicher Aspekten."

"Der ganze Dilletantismus einer fünfunddreißigjährigen Vernachlässigung."

"Das zu grelle Verdonnern der Städtebürger durch einen ihrer ehemaligen Vorstände würde sich noch mit der Gemütsruhe unserer Vertreter hinnehmen lassen, wenn die Bendasche Auffassung der Städteordnung von 1808 nicht an einer moslemitischen Begriffs-Affektion über das Wesen und den Gebrauch der Städteordnung laborierte."

Der stilistischen Kühnheit entspricht bei Herrn Reichardt durchgängig die Kühnheit der Entwicklung selbst. Er macht Übergänge wie folgende:

"Herr Brüggemann ... Jahr 1843 ... Staatstheorie ... jeder Redliche ... die große Bescheidenheit unsrer Sozialisten ... natürliche Wunder ... an Deutschland zu stellende Forderungen ... übernatürliche Wunder ... Abraham ... Philadelphia ... Manna ... Bäckermeister ... weil wir aber von Wundern sprechen, so brachte Napoleon" etc.

Nach diesen Proben ist es denn auch gar nicht zu verwundern, daß die kritische Kritik noch eine "Erläuterung" eines Satzes gibt, dem sie selbst "populäre Redeweise" beilegt. Denn sie "waffnet ihre Augen mit organischer Kraft, das Chaos zu durchdringen". Und hier ist zu sagen, daß dann selbst "populäre Redeweise" der kritischen Kritik nicht unverständlich bleiben kann. Sie sieht ein, daß der Literaten-Weg notwendig ein krummer bleibt, wenn das Subjekt, das ihn betritt, nicht stark genug ist, ihn gerade zu machen, und schreibt deshalb natürlich dem Schriftsteller "mathematische Operationen" zu.

Es versteht sich, und die Geschichte, die alles beweist, was sich von selbst versteht, beweist auch dies, daß die Kritik nicht Masse wird, um Masse zu bleiben, sondern um die Masse von ihrer massenhaften Massenhaftigkeit zu erlösen, also die populäre Redeweise der Masse in die kritische Sprache der kritischen Kritik aufzuheben. Es ist die stufenhaftigste Stufe der Erniedrigung, wenn die Kritik die populäre Sprache der Masse erlernt und diesen rohen Jargon in den überschwenglichen Kalkul der kritisch kritischen Dialektik transzendiert.

1 Von Reichardt entstelltes Pseudonym von Charles Dickens: Boz

II. Kapitel

Inhaltsverzeichnis

"Die kritische Kritik" als "Mühleigner" oder die kritische Kritik als Herr Jules Faucher

Nachdem die Kritik durch ihre Erniedrigung bis zum Unsinn in fremden Sprachen dem Selbstbewußtsein die wesentlichsten Dienste geleistet und zu gleicher Zeit die Welt dadurch vom Pauperismus befreit hat, erniedrigt sie sich auch noch bis zum Unsinn in der Praxis und Geschichte. Sie bemächtigt sich der "englischen Tagesfragen" und gibt einen Abriß der Geschichte der englischen Industrie, welcher echt kritisch ist.

Die Kritik, die sich selbst genügt, die in sich vollendet und abgeschlossen ist, darf natürlich die Geschichte, wie sie wirklich passiert ist, nicht anerkennen, denn das hieße ja die schlechte Masse in ihrer ganz massenhaften Massenhaftigkeit anerkennen, während es sich doch gerade um die Erlösung der Masse von der Massenhaftigkeit handelt. Die Geschichte wird daher von ihrer Massenhaftigkeit befreit, und die Kritik, die sich frei gegen ihren Gegenstand verhält, ruft der Geschichte zu: du sollst dich so und so zugetragen haben! Die Gesetze der Kritik haben alle rückwirkende Kraft; vor ihren Dekreten trug sich die Geschichte ganz anders zu, als sie sich nach denselben zugetragen hat. Daher weicht denn auch die massenhafte, sogenannte wirkliche Geschichte bedeutend ab von der kritischen, die sich Heft VII der "Literatur-Zeitung" von p. 4 an ereignet.

In der massenhaften Geschichte gab es keine Fabrikstädte, ehe es Fabriken gab; aber in der kritischen Geschichte, wo der Sohn seinen Vater erzeugt, wie bei Hegel schon, sind Manchester, Bolton und Preston aufblühende Fabrikstädte, ehe noch an Fabriken gedacht wurde. In der wirklichen Geschichte wurde die Baumwollen-Industrie besonders durch Hargreaves' "Jenny" und durch Arkwrights "Throstle" Waterspinnmaschine) begründet, während Cromptons "Mule" nur eine Verbesserung der Jenny durch Arkwrights neu entdecktes Prinzip ist; aber die kritische Geschichte weiß zu unterscheiden, verschmäht die Einseitigkeiten der Jenny und Throstle und gibt die Krone der Mule, als der spekulativen Identität der Extreme. In der Wirklich- keit war mit der Erfindung der Throstle und der Mule die Anwendung der Wasserkraft auf diese Maschinen sogleich gegeben, aber die kritische Kritik sondert die von der rohen Geschichte zusammengeworfenen Prinzipien und läßt diese Anwendung erst später als etwas ganz Besonderes eintreten. In der Wirklichkeit ging die Erfindung der Dampfmaschine allen anderen obengenannten Erfindungen voraus, in der Kritik aber ist sie, als die Krone des Ganzen, auch das letzte.

In der Wirklichkeit war die Geschäftsverbindung zwischen Liverpool und Manchester in ihrer jetzigen Bedeutung die Folge des Exports englischer Waren, in der Kritik ist diese Geschäftsverbindung die Ursache desselben und beides die Folge der benachbarten Lage jener Städte. In der Wirklichkeit gehen fast alle Waren von Manchester über Hull nach dem Kontinent, in der Kritik über Liverpool.

In der Wirklichkeit gibt es in den englischen Fabriken alle Abstufungen des Arbeitslohns von anderthalb bis zu 40 und mehr Shillingen, in der Kritik wird nur ein Satz, 11 Shilling, ausgezahlt. In der Wirklichkeit ersetzt die Maschine die Handarbeit, in der Kritik das Denken. In der Wirklichkeit ist eine Verbindung der Arbeiter zur Erhöhung des Lohns in England erlaubt, in der Kritik aber ist sie verboten, denn die Masse hat erst bei der Kritik anzufragen, wenn sie sich etwas erlauben will. In der Wirklichkeit ermüdet die Fabrikarbeit sehr bedeutend und erzeugt eigentümliche Krankheiten – es gibt sogar ganze medizinische Werke über diese Krankheiten –, in der Kritik kann "übermäßige Anstrengung nicht an der Arbeit hindern, denn die Kraft fällt auf die Seite der Maschine". In der Wirklichkeit ist die Maschine eine Maschine, in der Kritik hat sie einen Willen, denn da sie nicht ruht, so kann der Arbeiter auch nicht ausruhen und ist einem fremden Willen untertan.

Das ist aber noch gar nichts. Die Kritik kann sich bei den massenhaften Parteien Englands nicht befriedigen, sie schafft neue, sie schafft eine "Fabrikpartei", wofür die Geschichte sich bei ihr bedanken mag. Sie wirft dagegen Fabrikanten und Fabrikarbeiter in einen massenhaften Haufen – was soll man sich denn um solche Kleinigkeiten kümmern – und dekretiert, daß die Fabrikarbeiter nicht aus bösem Willen und Chartismus, wie die dummen Fabrikanten meinen, sondern bloß aus Armut nicht zum Fonds der Anti-Corn-Law League beigetragen haben. Sie dekretiert ferner, daß bei der Abschaffung der englischen Korngesetze die Ackerbautaglöhner sich eine Herabsetzung des Lohns werden gefallen lassen müssen, wobei wir aber untertänigst bemerken möchten, daß diese elende Klasse keinen Heller mehr entbehren kann, ohne absolut zu verhungern. Sie dekretiert, daß in Englands Fabriken sechzehn Stunden gearbeitet wird, obwohl das einfältige, unkritische englische Gesetz dafür gesorgt hat, daß nicht über 12 Stunden gearbeitet werden kann. Sie dekretiert, daß England ein großes Werkhaus für die Welt werden soll, obwohl die unkritischen massenhaften Amerikaner, Deutschen und Belgier den Engländern allmählich einen Markt nach dem andern mit ihrer Konkurrenz verderben. Sie dekretiert endlich, daß die Zentralisation des Besitzes und ihre Folgen für die arbeitenden Klassen weder der besitzlosen noch der besitzenden Klasse in England bekannt seien, wenn auch die dummen Chartisten sie sehr gut zu kennen glauben und die Sozialisten diese Folgen längst im Detail dargestellt zu haben meinen, ja wenn selbst Tories und Whigs, wie Carlyle, Alison und Gaskell, diese Kenntnis in eignen Werken bewiesen haben.

Die Kritik dekretiert, daß die Zehnstundenbill des Lord Ashley eine schlappe juste-milieu-Maßregel und Lord Ashley selbst ein "treues Abbild des konstitutionellen Wirkens" sei, während die Fabrikanten, die Chartisten, die Grundbesitzer, kurz die ganze Massenhaftigkeit Englands bisher diese Maßregel für den allerdings möglichst gelinden Ausdruck eines durchaus radikalen Prinzips angesehen haben, da sie die Axt an die Wurzel des auswärtigen Handels und damit an die Wurzel des Fabriksystems legen – nein, nicht nur daran legen, sondern tief hineinhauen würde. Die kritische Kritik weiß das besser. Sie weiß, daß die Zehnstundenfrage vor einem "Ausschuß" des Unterhauses verhandelt wurde, da doch die unkritischen Zeitungen uns weismachen wollen, daß dieser "Ausschuß" das Haus selbst, nämlich ein "Komitee des ganzen Hauses" gewesen sei, aber die Kritik muß diese Bizarrerie der englischen Konstitution notwendig aufheben.

Die kritische Kritik, welche die Dummheit der Masse, ihren Gegensatz, selbst erzeugt, erzeugt auch die Dummheit des Sir James Graham und legt ihm vermittelst eines kritischen Verständnisses der englischen Sprache Dinge in den Mund, die der unkritische Minister des Innern nie gesagt hat, bloß damit vor der Dummheit Grahams die Weisheit der Kritik desto heller leuchte. Sie behauptet, Graham sage, die Maschinen in den Fabriken würden in etwa 12 Jahren abgenutzt, einerlei ob sie 10 oder 12 Stunden täglich liefen, und so würde eine Zehnstundenbill dem Kapitalisten unmöglich machen, in 12 Jahren durch die Arbeit der Maschinen das in denselben angelegte Kapital zu reproduzieren. Die Kritik weist nach, daß sie damit dem Sir James Graham einen Trugschluß in den Mund gelegt hat, denn eine Maschine, die täglich ein Sechstel der Zeit weniger arbeitet, wird natürlich auch eine längere Zeit brauchbar bleiben.

So richtig diese Bemerkung der kritischen Kritik gegen ihren eignen Trugschluß ist, so muß doch auch andrerseits dem Sir James Graham zugegeben werden, daß er selbst sagte, die Maschine müsse unter einer Zehnstundenbill um so viel schneller laufen, als sie in der Arbeitszeit beschränkt wird, was auch die Kritik [Heft] VIII, p. 32 selbst zitiert, und daß unter dieser Voraussetzung die Abnutzungszeit dieselbe, nämlich 12 Jahre bleibt. Dies muß anerkannt werden, um so mehr, als diese Anerkennung zum Ruhm und zur Verherrlichung "der Kritik" gereicht, da nur die Kritik den Trugschluß sowohl selbst gemacht als auch selbst wieder aufgelöst hat. Sie ist ebenso großmütig gegen den Lord John Russell, dem sie unterschiebt, er suche eine Veränderung der politischen Staatsform und der Wahlbestimmungen, woraus wir schließen müssen, daß entweder der Trieb der Kritik, Dummheiten zu produzieren, ungemein stark oder der Lord John Russell in den letzten acht Tagen ein kritischer Kritiker geworden sein muß.

Wahrhaft großartig aber wird die Kritik erst in ihrer Verfertigung von Dummheiten, wenn sie entdeckt, daß die Arbeiter Englands – die Arbeiter, die im April und Mai Meetings über Meetings hielten, Petitionen über Petitionen abfaßten, und alles dies für die Zehnstundenbill, die so aufgeregt waren wie seit zwei Jahren nicht, und das von einem Ende der Fabrikdistrikte bis zum andern –, daß diese Arbeiter nur ein "teilweises Interesse" an dieser Frage nehmen, obwohl es sich doch zeigt, daß "auch die gesetzliche Beschränkung der Arbeitszeit ihre Aufmerksamkeit beschäftigt hat"; wenn sie vollends die große, die herrliche, die unerhörte Entdeckung macht, daß "die anscheinend näherliegende Hülfe durch Abschaffung der Korngesetze den größten Teil der Wünsche der Arbeiter absorbiert und es tun wird, bis die wohl nicht mehr zu bezweifelnde Erfüllung dieser Wünsche ihnen praktisch die Nutzlosigkeit derselben beweist", – den Arbeitern, die gewohnt sind, in allen öffentlichen Meetings die Korngesetzabschaffer von der Rednerbühne zu werfen, die es durchgesetzt haben, daß in keiner englischen Fabrikstadt die Anti-Korngesetz-League noch ein öffentliches Meeting zu halten wagt, die die League für ihren einzigen Feind ansehen und die während der Zehnstundendiskussion, wie fast immer vorher in ähnlichen Fragen, von den Tories unterstützt wurden. Schön ist es auch, wenn die Kritik auffindet, daß "die Arbeiter sich noch immer von den umfassenden Versprechungen des Chartismus locken lassen", der weiter nichts ist als der politische Ausdruck der öffentlichen Meinung unter den Arbeitern; wenn sie gewahr wird in der Tiefe ihres absoluten Geistes, daß "die doppelten Parteiungen, die politische und die des Land- und Mühleigentums, schon nicht ineinander aufgehn und sich decken wollen", wahrend es bis jetzt noch nicht bekannt war, daß die Parteiung des Land- und Mühleigentums bei der geringen Anzahl beider Klassen von Eigentümern und bei der gleichen politischen Berechtigung beider (mit Ausnahme der wenigen Pairs) eine sogar umfassende war, daß sie statt der konsequenteste Ausdruck, die Spitze der politischen Parteien, ganz und gar eins und dasselbe mit den politischen Parteiungen sei. Schön ist es, wenn die Kritik den Korngesetzabschaffern die Zumutung unterschiebt, als wüßten sie nicht, daß ceteris paribus 1 ein Fallen der Brotpreise auch ein Fallen des Arbeitslohns zur Folge haben müsse und alles beim alten bleibe; während diese Leute von diesem zugestandenen Falle des Arbeitslohns und damit der Produktionskosten eine Ausdehnung des Marktes und von ihr eine Verminderung der Konkurrenz unter den Arbeitern erwarten, wodurch der Lohn doch etwas höher, im Verhältnis zu den Brotpreisen, gehalten werde, als er jetzt steht.

Die Kritik, in der freien Schöpfung ihres Gegensatzes, des Unsinns, mit künstlerischer Seligkeit sich bewegend, dieselbe Kritik, die vor zwei Jahren ausrief: "Die Kritik spricht deutsch, die Theologie lateinisch", dieselbe Kritik hat jetzt Englisch gelernt und nennt die Grundbesitzer "Landeigner" (land-owners), die Fabrikbesitzer "Mühleigner" (mill-owners) – mill heißt im Englischen jede Fabrik, deren Maschinen von Dampf oder Wasserkraft getrieben werden –, die Arbeiter "Hände" (hands), sie sagt statt "Einmischung" Interferenz (interference), und in ihrer unendlichen Erbarmung über die von sündhafter Massenhaftigkeit strotzende englische Sprache läßt sie sich sogar herab, sie zu verbessern, und schafft die Pedanterie ab, womit die Engländer den Titel "Sir" der Ritter und Baronets stets vor den Vornamen setzen. Die Masse sagt: "Sir James Graham", die Kritik: "Sir Graham".

Daß die Kritik aus Prinzip und nicht aus Leichtsinn die englische Geschichte und Sprache umschafft, wird sogleich die Gründlichkeit beweisen, womit sie die Geschichte des Herrn Nauwerck behandelt.

1 wenn die übrigen Bedingungen die gleichen bleiben

III. Kapitel

Inhaltsverzeichnis

"Die Gründlichkeit der kritischen Kritik" oder die kritische Kritik als Herr J. (Jungnitz ?)

Der unendlich wichtige Streit des Herrn Nauwerck mit der Berliner philosophischen Fakultät darf von der Kritik nicht unberührt bleiben; sie hat ja Ähnliches erlebt und muß Herrn Nauwercks Fata zum Hintergrunde nehmen um davon ihre Bonner Entsetzung desto greller sich abheben zu lassen. Da die Kritik die Bonner Historie als das Ereignis des Jahrhunderts anzusehn gewohnt ist und bereits die "Philosophie der Absetzung der Kritik" geschrieben hat, so war zu erwarten, daß sie in ähnlicher Weise die Berliner "Kollision" philosophisch bis ins Detail konstruieren würde. Sie beweist a priori 2 daß das alles so und nicht anders sich habe zutragen müssen, und zwar:

warum die philosophische Fakultät nicht mit einem Logiker und Metaphysiker, sondern mit einem Staatsphilosophen habe "kollidieren" müssen;

warum diese Kollision nicht von der Härte und Entscheidung sein konnte als der Konflikt der Kritik mit der Theologie in Bonn;

warum die Kollision eigentlich dummes Zeug war, da die Kritik bereits in ihrer Bonner Kollision alle Prinzipien, allen Gehalt konzentriert hatte und nun die Weltgeschichte nur an der Kritik zum Plagiarius werden könnte;

warum die philosophische Fakultät sich in Herrn Nauwercks Schriften selbst angegriffen sah;

warum Herrn N[auwerck] nichts übrigblieb, als freiwillig zurückzutreten;

warum die Fakultät Herrn N[auwerck] verteidigen mußte, wenn sie sich nicht selbst aufgeben wollte;

warum die "innere Spaltung im Wesen der Fakultät sich notwendig so darstellen mußte", daß die Fakultät sowohl N[auwerck] wie der Regierung recht und unrecht zu gleicher Zeit gab;

warum die Fakultät in N[auwerck]s Schriften kein Motiv zu seiner Entfernung findet;

worin die Unklarheit des ganzen Votums bedingt ist;

warum die Fakultät sich "als wissenschaftliche Behörde! berechtigt! glaubt! den Kern der Sache ins Auge fassen zu dürfen", und endlich

warum dennoch die Fakultät nicht in gleicher Weise wie Herr N[auwerck] schreiben will.

 Diese wichtigen Fragen erledigt die Kritik auf vier Seiten mit seltner Gründlichkeit, indem sie aus Hegels Logik beweist, warum das alles so geschehen sei und kein Gott hätte dagegen angehen können. Die Kritik sagt an einem andern Ort, es sei noch keine einzige Geschichtsepoche erkannt; die Bescheidenheit verbietet ihr zu sagen, daß sie wenigstens ihre eigne und die Nauwercksche Kollision, die zwar keine Epochen sind, aber in ihrer Ansicht doch Epoche machen, vollständig erkannt hat.

Die kritische Kritik, die das "Moment" der Gründlichkeit in sich "aufgehoben" hat, wird zur "Ruhe des Erkennens".

2 von vorn herein; unabhängig von Erfahrung

IV. Kapitel

Inhaltsverzeichnis

"Die kritische Kritik" als die Ruhe des Erkennens oder die "kritische Kritik" als Herr Edgar

Die französischen Sozialisten behaupten: Der Arbeiter macht alles, produziert alles, und dabei hat er kein Recht, keinen Besitz, kurz und gut nichts. Die Kritik antwortet durch den Mund des Herrn Edgar, der personifizierten Ruhe des Erkennens:

"Um alles schaffen zu können, dazu gehört ein stärkeres als ein Arbeiterbewußtsein. Nur umgekehrt wäre der Satz wahr: Der Arbeiter macht nichts, darum hat er nichts, er macht eher nichts, weil seine Arbeit stets eine einzeln bleibende, auf sein eigenstes Bedürfnis berechnete, tägliche ist."

Die Kritik vollendet sich hier zu jener Höhe der Abstraktion, in der sie bloß ihre eigenen Gedankenschöpfungen und aller Wirklichkeit widersprechenden Allgemeinheiten für "Etwas", ja für "Alles" ansieht. Der Arbeiter schafft nichts, weil er bloß "Einzelnes", d.h. sinnliche, handgreifliche, geist- und kritiklose Gegenstände schafft, die ein Greuel sind vor den Augen der reinen Kritik. Alles Wirkliche, Lebendige ist unkritisch, massenhaft, darum "Nichts", und nur die idealen, phantastischen Kreaturen der kritischen Kritik sind "Alles".

Der Arbeiter schafft nichts, weil seine Arbeit eine einzeln bleibende, auf sein bloß individuelles Bedürfnis berechnete ist, also weil die einzelnen, zusammengehörigen Zweige der Arbeit in dieser jetzigen Weltordnung getrennt, ja gegeneinander gestellt sind, kurz, weil die Arbeit nicht organisiert ist. Der eigne Satz der Kritik, wenn man ihn in dem einzig möglichen vernünftigen Sinn faßt, den er haben kann, verlangt die Organisation der Arbeit. Flora Tristan, bei deren Beurteilung dieser große Satz an den Tag kommt, verlangt dasselbe und wird für diese Insolenz, der kritischen Kritik vorzugreifen, en canaille 3 behandelt. Der Arbeiter schafft Nichts; dieser Satz ist übrigens – wenn man davon absieht, daß der einzelne Arbeiter nichts Ganzes produziert, was eine Tautologie ist – total verrückt. Die kritische Kritik schafft Nichts, der Arbeiter schafft Alles, ja so sehr Alles, daß er die ganze Kritik auch in seinen geistigen Schöpfungen beschämt; die englischen und französischen Arbeiter können davon Zeugnis ablegen. Der Arbeiter schafft sogar den Menschen; der Kritiker wird stets ein Unmensch bleiben, wofür er freilich die Genugtuung hat, kritischer Kritiker zu sein.

"Flora Tristan gibt uns ein Beispiel jenes weiblichen Dogmatismus, der eine Formel haben will und sich dieselbe aus den Kategorien des Bestehenden bildet."

Die Kritik tut nichts als sich "Formeln aus den Kategorien des Bestehenden bilden", nämlich aus der bestehenden Hegelschen Philosophie und den bestehenden sozialen Bestrebungen; Formeln, weiter nichts als Formeln, und trotz allen ihren Invektiven gegen den Dogmatismus verurteilt sie sich selbst zum Dogmatismus, ja zum weiblichen Dogmatismus. Sie ist und bleibt ein altes Weib, die verwelkte und verwitwete Hegelsche Philosophie, die ihren zur widerlichsten Abstraktion ausgedörrten Leib schminkt und aufputzt und in ganz Deutschland nach einem Freier umherschielt.

2. Béraud über die Freudenmädchen

Herr Edgar, der nun einmal der sozialen Fragen sich erbarmt, mischt sich auch in die "Hurenverhältnisse". ([Heft] V, p. 26.)

Er kritisiert des Pariser Polizeikommissärs Béraud Buch über die Prostitution, weil es ihm "auf den Standpunkt" ankommt, von dem "Béraud die Stellung der Freudenmädchen zur Gesellschaft auffaßt". Die "Ruhe des Erkennens" wundert sich, wenn sie findet, daß ein Polizeimensch eben einen Polizeistandpunkt hat, und gibt der Masse zu verstehen, das sei ein ganz verkehrter. Ihren eignen Standpunkt gibt sie aber nicht zu verstehen. Natürlich! Wenn die Kritik sich mit Freudenmädchen abgibt, so kann man nicht verlangen, daß dies vor dem Publikum geschehe.

Bei Gelegenheit der Romane der Frau v. Paalzow, die er "gründlich studiert zu haben" versichert, überwältigt Herr Edgar daher "eine Kinderei wie die genannte Liebe". Solches ist ein Scheuel und Greuel und reget in der kritischen Kritik auf Ingrimmigkeit, machet sie fast gallenerbittert, ja abersinnig.

"Die Liebe ... ist eine grausame Göttin, welche, wie jede Gottheit, den ganzen Menschen besitzen will und nicht eher zufrieden ist, als bis er ihr nicht bloß seine Seele, sondern auch sein physisches Selbst dargebracht hat. Ihr Kultus ist das Leiden, der Gipfel dieses Kultus ist die Selbstaufopferung, der Selbstmord."

Um die Liebe in den "Moloch", in den leibhaftigen Teufel zu verwandeln, verwandelt Herr Edgar sie vorher in eine Göttin. Zur Göttin, d.h. zu einem theologischen Gegenstand geworden, unterliegt sie natürlich der Kritik der Theologie, und überdem liegen bekanntlich Gott und Teufel nicht weit auseinander. Herr Edgar verwandelt die Liebe in eine "Göttin", und zwar in eine "grausame Göttin", indem er aus dem liebenden Menschen, aus der Liebe des Menschen den Menschen der Liebe macht, indem er die "Liebe" als ein apartes Wesen vom Menschen lostrennt und als solches verselbständigt. Durch diesen einfachen Prozeß, durch diese Verwandlung des Prädikats in das Subjekt, kann man alle Wesensbestimmungen und Wesensäußerungen des Menschen in Unwesen und Wesens entäußerungen kritisch umformen. So z.B. macht die kritische Kritik aus der Kritik, als einem Prädikat und einer Tätigkeit des Menschen, ein apartes Subjekt, die sich auf sich selbst beziehende und darum kritische Kritik: ein "Moloch", dessen Kultus die Selbstaufopferung, der Selbstmord des Menschen, namentlich des menschlichen Denkvermögens ist.

"Gegenstand", ruft die Ruhe des Erkennens aus, "Gegenstand, das ist der richtige Ausdruck, denn der Geliebte ist dem Liebenden – (das Femininum fehlt) - nur wichtig als dieses äußere Objekt seiner Gemütsaffektion, als Objekt, in welchem es sein selbstsüchtiges Gefühl befriedigt sehn will."

Gegenstand! Entsetzlich! Es gibt nichts Verwerflicheres, Profaneres, Massenhafteres als ein Gegenstand – à bas 4 der Gegenstand! Wie sollte die absolute Subjektivität, der actus purus 5, die "reine" Kritik, nicht in der Liebe ihre bête noire, den leibhaftigen Satan erblicken, in der Liebe, die den Menschen erst wahrhaft an die gegenständliche Welt außer ihm glauben lehrt, die nicht nur den Menschen zum Gegenstand, sondern sogar den Gegenstand zum Menschen macht!

Die Liebe, fährt die Ruhe des Erkennens, außer sich, fort, beruhigt sich nicht mal dabei, den Menschen in die Kategorie "Objekt" für den andern Menschen zu verwandeln, sie macht ihn sogar zu einem bestimmten, wirklichen Objekt, zu diesem, schlecht-individuellen (siehe Hegel, "Phänomenologie", über das Diese und das Jene, wo auch gegen das schlechte "Dieses" polemisiert wird), äußerlichen, nicht nur innerlichen, in dem Gehirn steckenbleibenden, sondern sinnlich offenbaren Objekt.

Lieb' Lebt nicht allein vermauert im Gehirn.

Nein, die Geliebte ist sinnlicher Gegenstand, und die kritische Kritik verlangt zum allermindesten, wenn sie sich zur Anerkennung eines Gegenstandes herablassen soll, einen sinnlosen Gegenstand. Die Liebe aber ist ein unkritischer, unchristlicher Materialist.

Endlich macht die Liebe gar den einen Menschen zu "diesem äußern Objekt der Gemütsaffektion" des andern Menschen, zum Objekt, worin sich das selbstsüchtige Gefühl des andern Menschen befriedigt, ein selbstsüchtiges Gefühl, weil es sein eignes Wesen im andern Menschen sucht, und das soll doch nicht sein. Die kritische Kritik ist so frei von aller Selbstsucht, daß sie den ganzen Umfang des menschlichen Wesens in ihrem eignen Selbst erschöpft findet.

Herr Edgar sagt uns natürlich nicht, wodurch sich die Geliebte unterscheidet von den übrigen "äußerlichen Objekten der Gemütsaffektion, worin sich die selbstsüchtigen Gefühle der Menschen befriedigen". Der geistreiche, vielsinnige, vielsagende Gegenstand der Liebe sagt der Ruhe des Erkennens nur das kategorische Schema: "dieses äußere Objekt der Gemütsaffektion", wie etwa der Komet dem spekulativen Naturphilosophen nichts sagt als die "Negativität". Indem der Mensch den Menschen zum äußeren Objekt seiner Gemütsaffektion macht, legt er ihm zwar nach dem eignen Geständnis der kritischen Kritik "Wichtigkeit" bei, aber eine sozusagen gegenständliche Wichtigkeit, während die Wichtigkeit, welche die Kritik den Gegenständen beilegt, nichts anders ist als die Wichtigkeit, die sie sich selbst beilegt, die sich daher auch nicht in dem "schlechten äußeren Sein", sondern in dem "Nichts" des kritisch wichtigen Gegenstandes bewährt.

Wenn die Ruhe des Erkennens in dem wirklichen Menschen keinen Gegenstand besitzt, besitzt sie dagegen in der Menschheit eine Sache. Die kritische Liebe "hütet sich vor allem, über der Person die Sache zu vergessen, welche nichts anders ist als die Sache der Menschheit". Die unkritische Liebe trennt die Menschheit nicht von dem persönlichen individuellen Menschen.

"Die Liebe selber, als eine abstrakte Leidenschaft, die kommt, man weiß nicht wo her, und geht, man weiß nicht wohin, ist des Interesses einer innern Entwicklung unfähig."

Die Liebe ist in den Augen der Ruhe des Erkennens eine abstrakte Leidenschaft nach dem spekulativen Sprachgebrauch, wonach das Konkrete abstrakt und das Abstrakte konkret heißt.

Sie war nicht in dem Tal geboren, Man wußte nicht, woher sie kam; Doch schnell war ihre Spur verloren, Sobald das Mädchen Abschied nahm.

Die Liebe ist für die Abstraktion "das Mädchen aus der Fremde", ohne dialektischen Paß, und wird dafür von der kritischen Polizei des Landes verwiesen,

Die Leidenschaft der Liebe ist des Interesses einer innern Entwickelung unfähig, weil sie nicht a priori konstruiert werden kann, weil ihre Entwicklung eine wirkliche ist, die in der Sinnenwelt und zwischen wirklichen Individuen vorgeht. Das Hauptinteresse der spekulativen Konstruktion ist aber das "Woher" und das "Wohin". Das Woher ist eben die "Notwendigkeit eines Begriffs, sein Beweis und Deduktion" (Hegel). Das Wohin ist die Bestimmung, "wodurch jedes einzelne Glied des spekulativen Kreislaufes, als Beseeltes der Methode, zugleich der Anfang eines neuen Gliedes ist" (Hegel). Also nur, wenn ihr Woher und ihr Wohin a priori zu konstruieren wäre, verdiente die Liebe das "Interesse" der spekulativen Kritik.

Was die kritische Kritik hier bekämpft, ist nicht nur die Liebe, sondern alles Lebendige, alles Unmittelbare, alle sinnliche Erfahrung, alle wirkliche Erfahrung überhaupt, von der man nie vorher weiß, "woher" und "wohin".

Herr Edgar hat durch die Überwältigung der Liebe sich vollständig als "Ruhe des Erkennens" gesetzt und kann nun an Proudhon sogleich eine große Virtuosität des Erkennens, für welches der "Gegenstand" aufgehört hat, "dieses äußere Objekt" zu sein, und eine noch größere Lieblosigkeit gegen die französische Sprache bewähren.

Da nur die Schriften des kritischen Standpunktes von selbst Charakter besitzen, so beginnt die kritische Charakteristik notwendig damit, der Proudhonschen Schrift einen Charakter zu geben. Herr Edgar gibt dieser Schrift einen Charakter, indem er sie übersetzt. Er gibt ihr natürlich einen schlechten Charakter, denn er verwandelt sie in einen Gegenstand "der Kritik".

Proudhons Schrift unterliegt also einem doppelten Angriff des Herrn Edgar, einem stillschweigenden in seiner charakterisierenden Übersetzung, einem ausgesprochenen in seinen kritischen Randglossen. Wir werden finden, daß Herr Edgar vernichtender ist, wenn er übersetzt, als wenn er glossiert.

Charakterisierende Übersetzung Nr. 1

"Ich will" (nämlich der kritisch übersetzte Proudhon) "kein System des Neuen geben, ich will nichts als die Abschaffung des Privilegiums, die Vernichtung der Sklaverei ... Gerechtigkeit, nichts als Gerechtigkeit, das ist's, was ich meine."

Der charakterisierte Proudhon beschränkt sich auf Wollen und Meinen, weil der "gute Wille" und die unwissenschaftliche "Meinung" charakteristische Attribute der unkritischen Masse sind. Der charakterisierte Proudhon tritt so demutsvoll auf, wie es der Masse geziemt, und ordnet das, was er will, dem unter, was er nicht will. Er versteigt sich nicht dazu, ein System des Neuen geben zu wollen, er will weniger, er will sogar nichts als die Abschaffung des Privilegiums etc. Außer dieser kritischen Subordination des Willens, den er hat, unter den Willen, den er nicht hat, zeichnet sich sein erstes Wort sogleich durch einen charakteristischen Mangel an Logik aus. Der Schriftsteller, der sein Buch damit eröffnet, daß er kein System des Neuen geben will, wird nun sagen, was er geben will, sei es ein systematisches Altes oder ein unsystematisches Neues. Aber der charakterisierte Proudhon, der kein System des Neuen geben will, will er die Abschaffung der Privilegien geben? Nein. Er will sie.

Der wirkliche Proudhon sagt: "Je ne fais pas de système: je demande la fin du privilège" 6 etc. Ich mache kein System, ich verlange etc. D.h., der wirkliche Proudhon erklärt, daß er keine abstrakt wissenschaftliche Zwecke verfolgt, sondern unmittelbar praktische Forderungen an die Gesellschaft stellt. Und die Forderung, die er stellt, ist nicht willkürlich. Sie ist motiviert und berechtigt durch die ganze Entwicklung, die er gibt, sie ist das Resumé dieser Entwicklung, denn: "Justice, rien que justice; tel est le resume de mon discours." 7 Der charakterisierte Proudhon gerät mit seinem "Gerechtigkeit, nichts als Gerechtigkeit, das ist's was ich meine" um so bedeutender in Verlegenheit, als er noch vieles andre meint und nach Herrn Edgars Bericht z.B. "meint", die Philosophie sei nicht praktisch genug gewesen, "meint", den Charles Comte zu widerlegen etc.

Der kritische Proudhon fragt sich: "Soll der Mensch denn immer unglücklich sein?", d.h. er fragt, ob das Unglück die moralische Bestimmung des Menschen ist. Der wirkliche Proudhon ist ein leichtsinniger Franzose und fragt, ob das Unglück eine materielle Notwendigkeit, ein Müssen ist. (L'homme doit-il être éternellement malheureux? 8)

Der massenhafte Proudhon sagt:

"Et sans m'arrêter aux explications à toute fin des entrepreneurs de réformes, accusant de la détresse générale ceux-ci la lâcheté et l'impéritie du pouvoir, ceux-là les conspirateurs et les émeutes, d'autres l'ignorance et la corruption générale", etc.9

Weil der Ausdruck à toute fin ein schlechter massenhafter Ausdruck ist, der sich in den massenhaften deutschen Wörterbüchern nicht findet, so läßt der kritische Proudhon natürlich diese nähere Bestimmung der "Auseinandersetzungen" weg. Dieser Terminus ist der massenhaften französischen Jurisprudenz entlehnt, und explications à toute fin bedeuten Auseinandersetzungen, die alle Einreden abschneiden. Der kritische Proudhon beleidigt die "Reformisten", eine sozialistische französische Partei, der massenhafte Proudhon die Reform-Fabrikanten. Bei dem massenhaften Proudhon gibt es verschiedene Klassen der entrepreneurs de réformes. Diese, ceux-ci, sagen das, jene, ceux-là, das, andre, d'autres, das. Der kritische Proudhon läßt dagegen dieselben Reformisten "bald – bald – bald anklagen", was jedenfalls von ihrer Unbeständigkeit zeugt. Der wirkliche Proudhon, der sich nach der massenhaften französischen Praxis richtet, spricht von "les conspirateurs et les émeutes", d.h. erst von den Verschwörern und dann von ihrer Handlung, den Emeuten. Der kritische Proudhon, der die verschiedenen Klassen der Reformisten zusammengeworfen hat, klassifiziert dagegen die Rebellen und sagt daher: die Verschwörer und Aufrührer. Der massenhafte Proudhon spricht von der Unwissenheit und "allgemeinen Verdorbenheit". Der kritische Proudhon verwandelt die Unwissenheit in Dummheit, die "Verdorbenheit" in die "Verworfenheit" und macht endlich als kritischer Kritiker die Dummheit allgemein. Er selbst gibt unmittelbar von ihr ein Beispiel, indem er générale statt in den Plural in den Singular setzt. Er schreibt: l'ignorance et la corruption général e für: die allgemeine Dummheit und Verworfenheit. Der unkritischen französischen Grammatik gemäß müßte dies heißen: l'ignorance et la corruption général es.

Der charakterisierte Proudhon, der anders spricht und denkt wie der masssenhafte, hat notwendig auch einen ganz anderen Bildungsgang durchgemacht. Er "befragte die Meister der Wissenschaft, las hundert Bände der Philosophie und Rechtswissenschaft etc., und zuletzt sah" er "ein, daß wir noch nie den Sinn der Worte Gerechtigkeit, Billigkeit, Freiheit erfaßt haben". Der wirkliche Proudhon glaubte das von Anfang an zu erkennen (je crus d'abord reconnaître 10), was der kritische "zuletzt" einsah. Die kritische Verwandlung des d'abord in enfin 11 ist notwendig, weil die Masse nichts [von] "vornherein" zu erkennen glauben darf. Der massenhafte Proudhon erzählt ausdrücklich, wie dieses befremdende Resultat seiner Studien ihn erschüttert, wie er ihm nicht getraut habe. Er beschloß daher, eine "Gegenprobe" zu machen, er fragte sich: "Ist es möglich, daß die Menschheit über die Prinzipien der Anwendung der Moral sich so lange und so allgemein betrogen hat? Wie und warum hat sie sich betrogen?" etc. Von der Lösung dieser Fragen machte er die Richtigkeit seiner Beobachtungen abhängig. Er fand, daß in der Moral, wie in allen übrigen Zweigen des Wissens, die Irrtümer "Stufen der Wissenschaft sind". Der kritische Proudhon dagegen vertraut sogleich dem ersten Eindruck, den seine nationalökonomischen, juristischen und ähnlichen Studien auf ihn gemacht haben. Versteht sich, die Masse darf auf keine gründliche Art verfahren, sie muß die ersten Ergebnisse ihrer Studien zu unbestreitbaren Wahrheiten erheben. Sie ist "von vornherein fertig, ehe sie sich mit ihrem Gegensatz gemessen hat", daher "zeigt es sich" hinterher, "daß sie noch nicht bei dem Anfang angekommen ist, wenn sie am Ende zu stehen glaubt".

Der kritische Proudhon fährt daher fort, in der haltlosesten und unzusammenhängendsten Weise zu räsonieren:

"Unsere Erkenntnis 12 der moralischen Gesetze ist nicht von vornherein vollständig; so kann sie einige Zeit dem gesellschaftlichen Fortschritte genügen; auf die Länge aber wird sie uns einen falschen Weg führen."

Der kritische Proudhon motiviert nicht, warum eine unvollständige Erkenntnis der moralischen Gesetze dem gesellschaftlichen Fortschritt auch nur für einen Tag genügen kann. Der wirkliche Proudhon, nachdem er sich die Frage aufgeworfen, ob und warum die Menschheit sich so allgemein und so lange habe irren können, nachdem er die Lösung gefunden, daß alle Irrtümer Stufen der Wissenschaft sind, daß unsre unvollständigsten Urteile eine Summe von Wahrheiten einschließen, die für eine gewisse Zahl von Induktionen wie für einen bestimmten Kreis des praktischen Lebens ausreichen, über welche Zahl und über welchen Kreis hinaus sie theoretisch ins Absurde und praktisch zum Verfall führen, kann sagen, daß selbst eine unvollkommne Erkenntnis der moralischen Gesetze für einige Zeit dem gesellschaftlichen Fortschritt genügen könne.

Der kritische Proudhon:

"Ist nun aber eine neue Erkenntnis nötig geworden, so erhebt sich ein erbitterter Kampf zwischen den alten Vorurteilen und der neuen Idee."

Wie kann sich ein Kampf erheben gegen einen Gegner, der noch nicht existiert? Und der kritische Proudhon hat uns zwar gesagt, daß eine neue Idee nötig geworden, nicht aber, daß sie schon geworden ist.

Der massenhafte Proudhon:

"Sobald die höhere Erkenntnis unentbehrlich geworden, fehlt sie nie", so ist sie vorhanden. " Alsdann beginnt der Kampf."

Der kritische Proudhon behauptet, "es sei die Bestimmung des Menschen, sich schrittweise zu unterrichten", als wenn der Mensch nicht eine ganz andre Bestimmung hätte, nämlich die, Mensch zu sein, und als wenn der "schrittweise" Selbstunterricht notwendig einen Schritt weiter führte. Ich kann Schritt vor Schritt gehen und grade auf dem Punkt ankommen, von dem ich ausging. Der unkritische Proudhon spricht nicht von der "Bestimmung", sondern von der Bedingung (condition) für den Menschen, nicht sich schrittweise (pas à pas), sondern stufenweise (par degrés) zu unterrichten. Der kritische Proudhon sagt zu sich selbst:

"Unter den Prinzipien, auf denen die Gesellschaft beruht, gibt es eins, welches sie nicht versteht, welches durch ihre Unwissenheit verderbt ist und alle Übel verursacht. Und doch ehrt man dies Prinzip", und doch will man es, denn sonst wäre es ohne Einfluß. Dieses Prinzip nun, welches wahr ist seinem Wesen nach, falsch aber in unserer Art, es aufzufassen ... welches ist es?"

In dem ersten Satz sagt der kritische Proudhon, daß das Prinzip von der Gesellschaft verdorben, mißverstanden, also an sich selbst richtig ist. Zum Überfluß gesteht er in dem zweiten Satz, daß es seinem Wesen nach wahr sei, und nichtsdestoweniger wirft er der Gesellschaft vor, daß sie "dieses Prinzip" wolle und verehre. Der massenhafte Proudhon dagegen tadelt nicht, daß dieses Prinzip, sondern daß dieses Prinzip, so wie unsre Unwissenheit es verfälscht hat, gewollt und geehrt werde. ("Ce principe ... tel que notre ignorance l'a fait, est honoré." 13) Der kritische Proudhon findet das Wesen des Prinzips in seiner unwahren Gestalt wahr. Der massenhafte Proudhon findet, daß das Wesen des verfälschten Prinzips unsre falsche Auffassung, daß es aber in seinem Gegenstand (objet) wahr ist, ganz in derselben Weise, wie das Wesen der Alchimie und Astrologie unsre Phantasie, ihr Gegenstand aber – die Himmelsbewegung und die chemischen Eigenschaften der Körper – wahr ist.

Der kritische Proudhon fährt fort in seinem Monologe:

"Der Gegenstand unsrer Untersuchung ist das Gesetz, die Bestimmung des sozialen Prinzips. Nun sind die Politiker, d.h. die Männer der sozialen Wissenschaft, in vollständiger Unklarheit [...] befangen: Wie aber jedem Irrtum eine Wirklichkeit zugrund liegt, so wird man in ihren Büchern die Wahrheit finden, die sie ohne ihr Wissen in die Welt gesetzt haben."

Der kritische Proudhon räsoniert in der abenteuerlichsten Weise. Davon, daß die Politiker unwissend und unklar sind, geht er in ganz willkürlicher Weise dazu fort, daß jedem Irrtum eine Wirklichkeit zugrunde liegt, was um so weniger bezweifelt werden kann, da jedem Irrtum in der Person des Irrenden eine Wirklichkeit zugrunde liegt. Davon, daß jedem Irrtum eine Wirklichkeit zugrunde liegt, schließt er weiter, daß in den Büchern der Politiker die Wahrheit zu finden ist. Und endlich läßt er diese Wahrheit von den Politikern sogar in die Welt gesetzt sein. Hätten sie dieselbe in die Welt gesetzt, so brauchte man sie nicht in ihren Büchern zu suchen.

Der massenhafte Proudhon:

"Die Politiker verstehn sich nicht untereinander (ne s'entendent pas); also ist ihr Irrtum ein subjektiver, in ihnen selbst begründeter" (donc c'est en eux qu'est l'erreur). Ihr wechselseitiges Mißverständnis beweist ihre Einseitigkeit. Sie verwechseln "ihre Privatmeinung mit der gesunden Vernunft", und "da" – nach der früheren Deduktion – "jeder Irrtum eine wahre Wirklichkeit zum Gegenstand hat, so muß sich in ihren Büchern die Wahrheit finden, welche sie hier", nämlich in ihre Bücher, "bewußtlos niedergelegt, nicht aber in die Welt gesetzt haben. (Dans leurs livres doit se trouver la vérité, qu'à leur insu ils y auront mire.)"

Der kritische Proudhon fragt sich: "Was ist die Gerechtigkeit, welches ist ihr Wesen, ihr Charakter, ihre Bedeutung?" als wenn sie noch eine vom Wesen und vom Charakter unterschiedene aparte Bedeutung haben sollte. Der unkritische Proudhon fragt: Welches ist ihr Prinzip, ihr Charakter und ihre Formel (formule)? Die Formel ist das Prinzip als Prinzip der wissenschaftlichen Entwicklung. In der massenhaften französischen Sprache sind formule und signification 14 wesentlich unterschieden. In der kritischen französischen Sprache fallen sie zusammen.

Nach seinen allerdings höchst unsachlichen Erörterungen rafft sich der kritische Proudhon zusammen und ruft aus:

"Versuchen wir unserm Gegenstande etwas näherzukommen."

Der unkritische Proudhon, der längst bei seinem Gegenstande angekommen ist, versucht dagegen zu schärferen und posiv[er]en Bestimmungen seines Gegenstandes zu kommen (d'arriver à quelque chose de plus précis et de plus positif).

"Das Gesetz" ist für den kritischen Proudhon eine "Bestimmung des Gerechten", für den unkritischen eine "Erklärung" (déclaration) desselben. Der unkritische Proudhon bekämpft die Ansicht, daß das Recht vom Gesetz gemacht werde. Eine "Bestimmung des Gesetzes" kann aber ebensosehr bedeuten, daß das Gesetz bestimmt wird, als daß es bestimmt, wie weiter oben der kritische Proudhon selbst von der Bestimmung des sozialen Prinzips in letzterem Sinne sprach. Es ist allerdings eine Ungebührlichkeit des massenhaften Proudhon, so feine Unterscheidungen zu machen.

Nach diesen Differenzen zwischen dem kritisch charakterisierten und dem wirklichen Proudhon ist es gar nicht zu verwundern, daß Proudhon Nr. I ganz andere Dinge zu beweisen sucht als Proudhon Nr. II.

Der kritische Proudhon

"sucht durch die Erfahrungen der Geschichte zu beweisen", daß, "wenn die Idee, welche wir uns vom Gerechten und vom Rechten 15 machen, falsch ist, offenbar" (trotz dieser Offenbarkeit sucht er zu beweisen) "alle seine Anwendungen im Gesetz schlecht, alle unsre Einrichtungen fehlerhaft sein müssen".

Der massenhafte Proudhon ist weit davon entfernt, beweisen zu wollen, was offenbar ist. Er sagt vielmehr:

"Wenn die Idee, die wir uns vom Gerechten und vom Rechte machen, schlecht bestimmt, wenn sie unvollständig oder selbst falsch wäre, so ist es evident, daß alle unsre legislativen Anwendungen schlecht sind" etc.

Was will der unkritische Proudhon nun beweisen?

"Diese Hypothese", fährt er fort, "von der Verkehrung der Gerechtigkeit in unsrer Auffassung und konsequenten Weise in unsren Handlungen wäre eine bewiesene Tatsache, wenn die Meinungen der Menschen in bezug auf den Begriff der Gerechtigkeit und in bezug auf seine Anwendung nicht beständig dieselben gewesen wären, wenn sie zu verschiedenen Zeiten Modifikationen erfahren hätten, mit einem Wort, wenn Fortschritt in den Ideen stattgefunden hätte."

Und eben diese Unbeständigkeit, diese Veränderung, dieser Fortschritt "ist es, den die Geschichte durch die eklatantesten Zeugnisse beweist". Der unkritische Proudhon zitiert nun diese eklatanten Zeugnisse der Geschichte. Sein kritischer Doppelgänger, wie er einen ganz andern Satz aus den Erfahrungen der Geschichte beweist, stellt auch diese Erfahrungen selbst anders dar.

Bei dem wirklichen Proudhon sahen "die Weisen" (les sages), bei dem kritischen Proudhon "die Philosophen" den Untergang des römischen Reichs voraus. Der kritische Proudhon darf natürlich nur die Philosophen für weise Männer halten. Nach dem wirklichen Proudhon waren die römischen "Rechte durch eine tausendjährige Rechtspraxis" oder "Justiz geheiligt" (ces droits consacrés par une justice dix fois séculaire), nach dem kritischen Proudhon gab es zu Rom "durch eine tausendjährige Gerechtigkeit geheiligte Rechte".

Nach demselben Proudhon Nr. I ward in Rom räsoniert wie folgt:

"Rom ... hat durch seine Politik und seine Götter gesiegt, jede Reform im Kultus und öffentlichen Geiste wäre Narrheit und Schändung" (bei dem kritischen Proudhon heißt sacrilège nicht, wie in der massenhaften französischen Sprache, Schändung des Heiligtums oder Heiligtumsentweihung, sondern schlechthin Schändung); "wollte es die Völker befreien, so würde es sein Recht aufgeben." "So hatte Rom das Faktum und das Recht für sich", fügt Proudhon Nr. I hinzu.

Bei dem unkritischen Proudhon räsoniert man gründlicher in Rom. Man detailliert das Faktum:

"Die Sklaven sind die fruchtbarste Quelle seines Reichtums; die Befreiung der Völker wäre also der Ruin seiner Finanzen."

Und in bezug auf das Recht setzt der massenhafte Proudhon hinzu: "Roms Prätensionen waren gerechtfertigt durch das Völkerrecht (droit des gens)." Diese Art, das Recht der Unterjochung zu beweisen, entspricht durchaus der römischen Rechtsansicht. Siehe die massenhaften Pandekten: "jure gentium servitus invasit".1 (Fr. 4. D. 1.1.) 16

Nach dem kritischen Proudhon bildeten "der Götzendienst, die Sklaverei, die Weichlichkeit die Grundlage der römischen Institutionen", der Institutionen in Bausch und Bogen. Der wirkliche Proudhon sagt: "In der Religion bildete der Götzendienst, im Staat die Sklaverei, im Privatleben der Epikureismus" (épicurisme ist in der profanen französischen Sprache nicht gleichbedeutend mit mollesse, Weichlichkeit) "die Grundlage der Institutionen." Innerhalb dieses römischen Zustandes "erschien" bei dem mystischen Proudhon "Wort Gottes", bei dem wirklichen rationalistischen Proudhon ein "Mann, der sich Wort Gottes nannte". Dieser Mann nennt bei dem wirklichen Proudhon die Priester "Nattern" (vipères), bei dem kritischen spricht er galanter mit ihnen und nennt sie "Schlangen". Dort spricht er nach römischer Weise von "Advokaten", hier in deutscher Weise von "Rechtsgelehrten".

Der kritische Proudhon, nachdem er den Geist der französischen Revolution als einen Geist des Widerspruchs bezeichnet hat, fügt hinzu:

"Das reicht hin, um einzusehen, daß das Neue, welches an die Stelle des Alten trat, an sich selber nichts Methodisches und Überlegtes hatte."

Er muß die Lieblingskategorien der kritischen Kritik, das "Alte" und das "Neue", nachbeten. Er muß den Unsinn verlangen, daß das "Neue" an sich etwas Methodisches und Überlegtes haben soll, wie man etwa eine Verunreinigung an sich hat. Der wirkliche Proudhon sagt:

"Das reicht hin, um zu beweisen, daß die Ordnung der Dinge, welche an die Stelle der alten gesetzt wurde, in sich ohne Methode und Reflexion war."

Der kritische Proudhon, von der Erinnerung an die französische Revolution fortgerissen, revolutioniert die französische Sprache so sehr, daß er un fait physique 17 "eine Tatsache der Physik", un fait intellectuel 18 "eine Tatsache der Einsicht" übersetzt. Durch diese Revolution der französischen Sprache gelingt es dem kritischen Proudhon, die Physik in den Besitz aller Tatsachen zu setzen, die sich in der Natur vorfinden. Wenn er so die Naturwissenschaft von der einen Seite über Gebühr erhebt, so erniedrigt er sie ebensosehr von der andern Seite, indem er ihr die Einsicht abspricht und eine Tatsache der Einsicht von einer Tatsache der Physik unterscheidet. Ebensosehr macht er alle ferneren psychologischen und logischen Studien entbehrlich, indem er die intellektuelle Tatsache unmittelbar zur Tatsache der Einsicht erhebt.