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Mitte des 16. Jahrhunderts entfesseln die ersten Hexenverbrennungen in Deutschland eine Welle von Argwohn und Grausamkeit. In dieser gefährlichen Zeit muss Antonia Deeken es wagen, eine Rolle zu übernehmen, die eigentlich nur Männern zugedacht ist: Nicht mehr ihr Ehemann, der alte Zunftmeister, sondern sie allein leitet die Geschäfte der Oldenburger Wehrschmiede. Durch Fähigkeit und Stärke steigt sie schon bald zur mächtigsten Frau zwischen Bremen und Münster auf. Die Neider sind allerdings zahlreich und Antonia muss sich immer mehr Intrigen erwehren. Als sie die gefährliche Reise durch ein Land wagt, das zwischen Katholiken und Lutheranhängern zerrissen ist, begegnet sie dem Landsknecht Vinzent. Seine Nähe weckt verbotene Gefühle in ihr und gegen alle Vernunft, wagt sie zu hoffen. Doch dann wird Antonia als Hexe gebrandmarkt. Wird es ihr Todesurteil sein? Dieser Roman ist bereits unter dem Titel »Die Zunftmeisterin« sowie dem Namen Viola Alvarez erschienen und wird Fans von Silvia von Stolzenburg und Oliver Pötzsch begeistern.
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Seitenzahl: 603
Über dieses Buch:
Mitte des 16. Jahrhunderts entfesseln die ersten Hexenverbrennungen in Deutschland eine Welle von Argwohn und Grausamkeit. In dieser gefährlichen Zeit muss Antonia Deeken es wagen, eine Rolle zu übernehmen, die eigentlich nur Männern zugedacht ist: Nicht mehr ihr Ehemann, der alte Zunftmeister, sondern sie allein leitet die Geschäfte der Oldenburger Wehrschmiede. Durch Fähigkeit und Stärke steigt sie schon bald zur mächtigsten Frau zwischen Bremen und Münster auf. Die Neider sind allerdings zahlreich und Antonia muss sich immer mehr Intrigen erwehren. Als sie die gefährliche Reise durch ein Land wagt, das zwischen Katholiken und Lutheranhängern zerrissen ist, begegnet sie dem Landsknecht Vinzent. Seine Nähe weckt verbotene Gefühle in ihr und gegen alle Vernunft, wagt sie zu hoffen. Doch dann wird Antonia als Hexe gebrandmarkt. Wird es ihr Todesurteil sein?
Über die Autorin:
Viola Gehring, geboren 1971 in Lemgo, ist eine deutsche Schriftstellerin, Dozentin und Keynote-Speakerin. Sie ist Inhaberin eines Instituts für Managemententwicklung und Kommunikationspsychologie. Sie lebt im Rheinland.
Die Autorin im Internet: www.viola-gehring.de
Die Autorin bei Instagram: www.instagram.com/viola_gehring_alvarez_romane
Von Viola Gehring sind bei dotbooks auch die folgenden Romane erschienen:
»Henni – Geheimnisse einer Familie«
»Louisa – Das Erbe einer Familie«
»Der Mut einer Frau«
»Was uns am Ende bleibt«
»Ein Tag, ein Jahr, ein Leben«
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Originalausgabe Juni 2017, November 2024
Dieses Buch erschien bereits 2017 unter dem Titel »Die Zunftmeisterin« bei dotbooks.
Copyright © der Originalausgabe 2017, 2024 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Redaktion: Stefan Wendel
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ml)
ISBN 978-3-96148-053-1
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Viola Gehring
Die Hexe von Oldenburg
Historischer Roman
dotbooks.
Übersetzungen der mittelhochdeutschen Texte finden Sie am Ende des eBooks.
Dieser Roman ist all jenen Menschen zugeeignet, die einmal jede Hoffnung verloren.
Und denen, die es vermochten, die Hoffnung wiederzufinden, um ihren Lebensweg fortzusetzen.
Welch zartes, stilles und gewaltiges Heldenstück unseres Herzens!
Erstmalig im Sommer 2016 gefunden in einer Oldenburger Handschrift des Jahres 1548, mutmaßlich Gerichtsakten, Nebenaufzeichnungen zum Verhör des Wehrschmiede-Altgesellen Gerd Gerdsen, Prozess um Beihilfe zur Zauberei des 1546 gerichteten »Bruder Norbert«.
»Dies izst das geheyme Buoch der unglaublichen Historie der Zunfftmeysterin Antonia Maria Magda Deeken// zu Oldenburg, als es ward aufgezeychnet dorttselbst von ihrem treuwen Fründe Gerd Gerdsen,// der ihr ein ehrend Andencken bewahret und ihr sein Lebtagk still gedencket// als eyner Krone unter den Frauwen, eyn leuchtend Seel in der mentschlichen Finsternus.
Es erzählet vom schmerzligen verlust und der unbesiegbahren hoffnunk der hochhertzigen und stoltzen Oldenburger zunfftmeystersgattin// wie sie mitten vielerley grauwen versuochte// in den gar schröcklichen wirren ihrer Zeyt zwischen dem ewigen und gerechten willen Godtes und ihrem eigenen zuo leben// und die mentschen entlanck ihres ungeheuerlich erscheynenden weges in Wohl und Wehe kennenlernen sullte.
Alls, dasz ich hier berichte, iszt die Wahheyt.«{1}
Oldenburg, A. D. 1548
Dies, so helfe mir Gott, ist eine wahre Geschichte.
Es ist die Geschichte der Zunftmeisterin Antonia Maria Deeken.
Ich bin Gerd Gerdsen. Ich war ihr Besteller, ihr Hausmeister, der ewige Altgeselle ihres verstorbenen Mannes Wiemken – ich war vor allen Dingen ein Leben lang ihr Freund, auch wenn ich es ihr erst spät, gewiss zu spät, gesagt habe.
Ich schreibe ihre Geschichte, wie ich hier einsitze, ihr Andenken zu beschützen, als eine Chronik derer, die in diesen Zeiten aus Feuer und Schwefel bald vergessen sein werden.
Man wird sich dieser Zeiten wohl dereinst erinnern, so fürchte ich, als dunkler Tage voller Feigheit und Angst.
Und mehr noch: voller Arg und Falsch, Gier und Dummheit.
Antonia Deeken ist nicht falsch und dumm gewesen, das soll nicht vergessen sein, bete ich.
In dieser Geschichte habe ich zwei Stimmen; eine, die alles erzählen wird – und meine wirkliche, die zu viel geschwiegen hat.
Aber erzählen muss ich. Es ist meine Erzählung der Hoffnung zu Zeiten, in denen die Sonne der Vergebung und Milde nicht mehr scheint.
Wer sich an die Meisterin Deeken erinnert, hier in Oldenburg, der spuckt vor ihrem Namen aus. Zumindest, wenn andere dabei sind.
»Toewersche, Hexe«, zischen sie.
Die Nachbarn verleugnen sie. Ihre Kinder sind in andere Familien verschwunden, und es ist ein spätes Zeichen der stillen Freundschaft, das von ihnen keine Spur in den Büchern geblieben ist.
Es ist für sie besser, dass man angeblich nichts mehr von ihnen weiß.
Man kann an ihrem Haus vorbeigehen, aus deren Balken sie ihren Namen ausgekratzt haben. Goldene Worte standen einst dort, die von ihrem Stolz und Reichtum kündeten, und man soll nun denken, dass es sie nie gegeben habe.
Aber ich will Zeugnis ablegen.
Antonia Deeken war keine Hexe.
Sie war auch keine Verrückte, keine Mörderin, keine Verräterin und keine Ketzerin.
Zu ihrer Zeit war sie die mächtigste Frau zwischen Bremen und Münster; wär’s nach ihr gegangen, sie hätte noch mächtiger werden wollen. Und dieser Wille zur Macht war’s, der ihr Untergang ward – und auch wieder ihre Rettung.
An das Jahr des Herrn 1546 werden sich die Chroniken unserer Zeit zu erinnern haben als das Jahr, in dem der gewesene Mönch Martinus Luther dieses Jammertal verlassen hat. Es geschah, so hörte ich, drei Tage vor Septuagesima zu Eisleben, was weit von hier im Osten liegt. Viele weinten um ihn.
Es würde dennoch das Anno Domini 1546 ein Jahr sein, das später als ein gutes Jahr galt, weil noch von Frieden die Rede war und die Hölle ihre Pforten noch geschlossen hielt.
In Antonias Buch war das Jahr 1546 freilich zunächst ein anderes.
Es hatte ihr größtes Jahr werden sollen. Und auf eine Weise, die sie sich nie hätte errechnen können, wurde es das auch.
Es ist wirklich ein seltsam Ding mit den Plänen der Menschen, wobei sie selten zu dem führen, was ihnen ausgedacht war, so führen sie dennoch hin zu etwas, das mag auch ein Ziel sein, wenngleich eines, das nicht sie sich wählten – sondern umgekehrt.
Ich war, wie Ihr lesen werdet, nur bisweilen ein Zeuge dieser wundersamen Ereignisse. Und zu dem ich nicht Zeuge war, hat sie mich später, während einer trüben, langen Nacht, mit ihrem Vertrauen beehrt – oder bestraft.
Sie hat mir zu wissen nichts erspart, darum kann ich es alles berichten. Ich will Demut üben in all meinen Worten. Ich werde von mir erzählen wie von den anderen und hoffe, dass meine Worte ihren Augen gerecht werden können.
Ich beginne ihre Geschichte also am 15. Sonntag nach Trinitatis Anno Domini 1546, vier Wochen vor Allerseelen.
Also bezeuge ich es vor Gott und den Menschen.
Gerd Gerdsen, Altgeselle im Meisterhause Deeken zu Oldenburg
»Von der geheymnisvollen reyse der Oldenburger zunfftmeystersgattin Antonia Maria Deeken gen Osnabrück// die – obgleich begonnt bey sunnenschein und guotem wetter – sich beizeyten zu regen und unheyl wenden sullt// was das Unheyl betreffend mitnichten Godtes Thun war// sondern mentschenwerck// was immer so uebel und voll der eytelkeyts sein kann, wenn der düvel seyne händt im Spile hätt.«{2}
Meisterin Antonia Deeken sollte an diesem Tag aufbrechen, mit einem Fuhrwerk von Oldenburg nach Osnabrück zu reisen – alleine und zu geheimem Ziel.
Am unteren Ende der Gasse des prachtvollen Meisterhauses Siefken, zu dem man immer noch Meisterhaus Wiemken sagen wollte – oder Deeken –, wo sich die Häuser schon duckten und schäbig wurden, wohnte in einem Verschlag eine sehr alte Frau, von der konnte man sich Zukunft vorhersagen lassen, wenn man sie dafür bezahlte.
Diese Frau – deren Mann einst »der Krueger« geheißen hatte, die nun alle nur noch »die Krome« nannten – weissagte die großen Dinge – eine Ehe, den Tod, eine Geburt – gleichwert mit den kleinen: eben eine Reise, ein Handelsausgang, ein Steuerurteil.
Zu ihr liefen die Oldenburger in der Bedrängnis des Zweifels ebenso wie in der Hoffnung der Narren, und jeder kehrte mit einer Antwort zurück. Und die meisten behaupteten, dass sie sich in Wahrheit erfüllte.
Gerd Gerdsen, Antonias lang gedienter Altgeselle, hatte darauf bestanden, sie sollte sich den Ausgang ihrer geplanten Reise lieber von der Krome weissagen lassen, bevor sie an diesem Sonntag auf das Fuhrwerk nach Osnabrück stieg. Es war zu viel Wagnis, auch für ein mutiges Gemüt, welches die Meisterin ohne Zweifel stets besaß.
»Glück oder Unstern, das solltet Ihr wenigstens wissen, Meisterin«, hatte Gerdsen gemahnt, die Stirn in tiefe Falten gelegt, voll ernsthafter Sorge.
Und wiewohl allen bekannt war, dass Gerd Gerdsen sonst der einzig lebende Mensch war, von dem Antonia sich überhaupt etwas sagen ließ, blieb er diesmal erfolglos in seinen Bitten.
Antonia, den Mantel schon um die Schultern, nahm Gerdsens raue Hände freundschaftlich in ihre. »Ich dank Ihm schön«, sagte sie und lächelte dabei jenes Lächeln, von dem es noch immer hieß, es würde selbst einen Fugger dazu bringen, sein Geld zu verschenken, »aber, Gerdsen, das Schlimmste, was mir in den nächsten drei Tagen auf der Reise widerfahren kann, ist der Regen. Und den kann zu dieser Jahreszeit jedes Huhn voraussagen. Dafür brauch ich die Krome nicht. Außerdem stinkt ihre Ziege schlimmer als ander’ Leuts Schweine.«
So gewiss war sie. So keck. So wenig der Hilfe bedürftig.
Und der Regen, das stimmte, war stets verlässlich in diesen Wochen. Nur hatte es frühmorgens am Abreisetag noch nicht mal nach Regen ausgesehen.
Die Sonne schien blendend hell mit einem Rest von Wärme, als sie vor dem Südtor unter die Plane des Fuhrkarrens gestiegen war. Es war ein schlichtes und robustes Gefährt, ganz aus festem Buchenholz gezimmert. Ein Dach sollte wohl den schlimmsten Regen, den nicht nur Antonia erwartete, fernhalten. Dabei kam der Wind schon jetzt ungehindert zu den Seiten herein und mit ihm später dann doch wieder der Regen, ein zu allen Zeiten störrischer, beharrlicher Gast, den man zur Hintertür hinauswerfen konnte, nur dass er vorne wieder anklopfte.
Gezogen wurde der Karren von vier gut genährten Zossen und gelenkt von einem Fuhrmann aus Bremen, der sich der Sicherheit und Schnelligkeit seiner Fahrten zugleich rühmte. So man überhaupt Gewissheit haben könnte auf solch gefährlich weiter Reise, es sah nicht zu schlecht aus.
Es wären bloß zweieinhalb Tage bis Osnabrück, höchstens drei, vier, wenn sich alles gegen ihn stemmte, hatte der Fuhrmann versprochen: »Nur reiten geht schneller!«
Aber wer konnte schon reiten?
Obendrein war jener Fuhrmann auch der einzige, der um diese Jahreszeit die lange Strecke von Bremen nach Osnabrück noch fuhr. Die Straßen wurden jetzt zu nass für schwere Ladung.
Selbst wenn die Sonne noch mal wärmend schien wie an diesem Tag, vermochte sie den schwarzen Schlamm des Ammerlands nicht mehr aufzutrocknen. Straßen wurden ein Moor, das durch noch tiefere Moore führte.
Um das Gespann leicht zu halten, nahm der Fuhrknecht in Oldenburg auch nur wenige Fahrgäste mit, insgesamt neun, die sich alle gleich nach Sonnenaufgang am Stadttor eingefunden hatten. Und so kostete die Fahrt auch das Doppelte, denn sonst hätte er wohl 20 Mann aufgeladen.
Gerd Gerdsen hatte Antonia zur Abfahrt begleitet, weil Georg-Mathias Siefken, ihr Mann, mit den üblichen Kopfschmerzen in seiner verdunkelten Kammer geblieben war, ohne dass ihn jemand drum vermisste.
Gerdsens Bart und Haar leuchteten weiß in der Morgensonne. Sie lagen ihm beide wild um seinen schweren Kopf. Auch wenn seine Kleidung wie immer wohlanständig und bescheiden war, sah er selbst sonntags aus wie ein halbwegs heidnischer Walfänger, der gerade von einem Abenteuer auf der See zurückkehrte.
»Ich wünschte wirklich, Ihr würdet mich mitfahren lassen«, brummte er nun zum wiederholten Mal.
Seine Meisterin zischte ungeduldig. Sie hatte es eilig, ihn zu verabschieden: »Ich habe wirklich nur den Regen zu fürchten, Gerdsen, und nachher vielleicht einen Schnupfen.«
Gerdsen hatte den Kopf geschüttelt, aber Antonia hatte im Ganzen gesehen schon recht: Wenn es regnet in Oldenburg, regnet es schlimmer als anderswo. Dazu musste es nicht, wie jetzt, Herbst sein.
Antonias längst verstorbene Großmutter pflegte zu sagen: »Es können alle anderen Städte, die es gibt, das Regnen just erst von Oldenburg lernen. Und die Bremer allen voran.«
Antonia lächelte fast, als sie sich beim Aufsteigen daran erinnerte.
Gerdsen hatte ihr nicht gewinkt, als das Fuhrwerk durch das Südtor rumpelte. Sie sah zu ihm zurück, wie er da stand, die Hände mit den Daumen in den Gürtel gehakt, unzufrieden, dass sie gegen ihn gehandelt hatte.
Es gab keinen Gedanken, der ihr geflüstert hätte, dass sie ihn vielleicht nicht wiedersehen würde, keine Warnung. So war sie nicht. Sie war ernsthaft, vorbereitet, gewiss, dass es glücken würde.
Sie lächelte nicht mehr und drehte den Kopf zur Straße. Die Pforten der Stadt schlossen sich hinter dem Karren mit einem dumpfen Lärm. Die Reise hatte begonnen.
Antonia Deeken war bei Sonnenschein aufgebrochen. Oldenburg war nun schon nicht mehr zu sehen, da schien die Sonne immer noch. Die Felder vor der Stadt blieben zurück, und die Wiesen, durchzogen von herbstlich gelichteten Auenwäldern in leuchtenden Farben, lagen wie verschwenderisch gestaltetes Tuch zu beiden Seiten des Weges.
Das Fuhrwerk, auf dem sie hockte inmitten von acht weiteren, holperte schwerfällig im feuchten Wegeschlamm vor sich hin. Es war bald unmöglich, den unvorbereitet schwingenden Körpern der anderen Reisenden auszuweichen.
Mittag war schon vorbei, man reiste fast seit dem Sonnenaufgang, also bald fünf italienische Stunden, und es ging auf die Knochen, auf jeden einzelnen, so kam’s Antonia vor.
Links neben ihr klammerte sich einer der beiden Hamburger Kaufleute fest, die goldenen Ringe an seiner fetten Hand ganz mit seinem Fleisch verwachsen.
Der muss sich vor Dieben nicht sorgen, dachte Antonia spöttisch, oder muss sich eben sehr sorgen. Denn wollten die Diebe seine Ringe, würden sie ihm die ganze Hand nehmen müssen.
Der Fette hatte ein Gesicht wie ausgewalkter Mehlteig, bleich und flach. Er schwitzte und wischte sich die kleinen Augen mit einem bestickten Tuch, immer wieder. Obwohl er – wie sie alle – nichts zu tun hatte, als halbwegs gerade zu sitzen, keuchte er bei jedem Atemzug.
Sie sah sich die anderen Gäste des Fuhrmanns an.
Dem Fetten gegenüber hockte dessen Teilhaber oder Gesellschafter mit verkniffenem Gesicht; lauter Falten der Missbilligung hatten sich in seinen Zügen kreuz und quer gelegt. Dünn und strähnig sahen die Haare unter seiner Kappe hervor. Die Nase ragte wie ein einziger Vorwurf in die Welt hinein, die so viel Ungemach in ihm hervorrief.
Argwöhnisch blickte er übers flache Feld, als könnten jäh feindliche Dänen aus den Gräsern aufschießen. Vor den Dänen musste man sich in diesem Jahr allerdings nicht fürchten. Vor Räubern immer. Ein Karren voller Leute ohne Wachmänner, das war ein gerupftes, blindes Huhn.
Es krachte. Der Wagen war über einen Ast oder einen Stein gefahren und machte einen kleinen Sprung; darum taten das alle, die drauf hockten, unfreiwillig auch.
Die Cloppenburgerin, hager und elend, hielt sich den mageren Rücken und wimmerte.
Diese Cloppenburger, sie hockten wie ein Knäuel aufeinander. Nein, geradezu ineinandergerollt saß die Familie, alle fünfe, aber nicht in Innigkeit. Zumindest schien es Antonia nicht so. Die saßen eher, wie um etwas gemeinschaftlich zu verbergen in dem Kreis, den sie mit ihren mageren Leibern um was Unsichtbares zogen.
Die Eltern, die Gesichter von der Armut zur Fratze zerstört, halb zahnlos, und die Körper vor der Zeit verdorrt, trugen Kleider, die waren kaum besser als Lumpen. Sie stanken auch gegen den Wind. Und die Kinder, kleingehalten von Schlägen, die sie zu jeder Zeit auf sich niedersausen fühlen mochten, waren auch verbiestert, nichts Sanftes war an ihnen geblieben.
Antonia bemerkte ihren alten Widerwillen gegen die Armut, wenn sie ihr so nahe kam. Ein Teil der Welt, den sie sonst von sich fernhielt.
Die Cloppenburger waren zu fünft, mit den beiden Hamburgern waren es sieben. Und dann, ihr gerade gegenüber, saß da noch dieser Landsknecht, der die Zähne nicht einmal auseinanderkriegte, um zu grüßen, schon beim Einsteigen nicht. Der war groß und stark wie ein Friese, die Haare auch so hell, die Haut so dunkel, als hätt’ ihn die Sonne den ganzen Sommer verfolgt. Er war wohl nicht mehr jung, und dennoch weit davor, dass man denken würde, er wäre alt. Um die Augen war seine Haut heller, aber die Falten kamen davon, dass er die Lider eingekniffen hatte gegen die Sonne. Seine Stärke war die eines Mannes, der schon ausgereift war, stark wie ein Feld voller Ähren. Aber in seinem Gesicht sah man, dass er weit herumgekommen war. Eine Landschaft, die nichts mehr überraschen konnte, lag zwischen Stirn und Mund.
Antonia hielt sich viel zu lange in seinem Gesicht auf, ohne zu einem Schluss zu kommen, wie alt er denn nun wäre. Etwas jünger als sie wohl, aber nicht viel. Sie sah weiter hin und sah dann bis ins Mark überrascht gleich wieder weg, weil sie seinem Blick begegnet war. Seine Augen hatten etwas gänzlich Unverfrorenes und schienen auch noch drüber lachen zu können.
Es erwies sich allgemein als sehr schwer, der Beobachtung anderer auszuweichen, wenn man war und aussah wie Antonia Deeken. Sie wusste, dass man sie anstarrte, sie suchte, wo immer sie war. In Oldenburg war sie’s nicht nur gewöhnt, sie erwartete es geradezu. Sie war wie dieses neuartige Gerät, ein Kompass, der die Richtung vorgab. Und nur zum kleineren Teil hatte sie das Leben dazu gemacht. Zum größeren sie selber.
Aber hier, allein auf dem Wagen, war es etwas anderes, wenn sie starrten. Die Hamburger, die Cloppenburger, der Landsknecht, die konnten sie nicht kennen und nicht wissen, wer sie war.
Zuerst, im Sommer zu Johannis, als von der Reise das erste Mal zwischen ihr und Gerdsen die Rede war, hatte sie noch überlegt, ob sie nicht eigens zahlen sollte für einen Platz neben dem Fuhrknecht. Gerdsen hatte sogar vorgeschlagen, sie täte besser dran, einen ganzen Wagen für sich allein zu mieten, aber das war ihr nun gar nicht klug erschienen.
Das würde zu viel Aufmerksamkeit erregen, mehr noch als schon so um sie herum war. Jehann Bregelsens Aufmerksamkeit vor allem. Es waren Bregelsen und seine hundert weitentfernten Oldenburger Augen, derentwegen sie nicht auffallen durfte. Der beste Ort, einen Regentropfen zu verstecken, ist, ihn unter einen Wasserfall zu halten. Und der war sie nun, dieser Tropfen. Und die acht Mitreisenden, die waren ihr Wasserfall, so Gott wollte.
Antonia gab sich Mühe. Beim Einsteigen hatte sie sogar versucht, mit der Cloppenburgerin, wenn die auch weit unter ihrem Stand war, einen Schwatz unter Frauen zu halten. Der Fuhrmann hatte noch etwas an der Plane gerichtet, so hatte sich die Zeit dafür ergeben. Antonia hatte der anderen also scheinbar aus freien Stücken erzählt, dass sie zu ihrer Schwester fahre.
»Die hat sich schon lang nach Osnabrück verheiratet und ist nun krank, auf der Lunge«, hatte sie gelogen. Denn sie hatte erdacht, dass es eine Sorge sein müsste, mit der Frauen sich über jedwede Standesgrenze hinweg gemein und verschwistert machen würden.
Doch die Cloppenburgerin, den Blick auf das Samtzeug und den Pelz um Antonias Kragen wie angenagelt, hatte kaum ein Verstehen gegrunzt. Aber ihr Mann hatte durch seine Zahnlücke gepfiffen, als hätte Antonia eine Anzüglichkeit ausgesprochen.
»Da fahrt Ihr also in Familiensorgen nach Osnabrück? Ins Feindesland, da habt Ihr dann die Verwandtschaft, ja?« Der fette Hamburger hatte gelauscht und gleich nachgefragt, als ginge es ihn etwas an. Seine Stimme klang so kleistrig, wie sein Gesicht teigig wirkte.
»So ist das leider«, hatte sie ihm geantwortet, aber sie wusste, ihr Ton hatte nicht zu ihren Worten gepasst. Sie klang nicht besorgt, sie klang befehlsgewohnt und missbilligend. Sie war es nicht gewohnt, dass Männer, Kaufleute zu ihr sprachen, ohne aufgefordert worden zu sein. Ohne Ehrerbietung vor ihr zu zeigen. Ohne Bitten zu stellen, Geschäfte zu präsentieren.
Und die Hamburger hatten dann einen bedeutungsvollen Blick gewechselt, nachdem sie auch beide noch vielsagend auf den Beutel an ihrem Gürtel geschaut hatten.
»Alle denn man nach Osnabrück?«, hatte der Fuhrknecht sich da, nachdem er mit seinem Werk zufrieden war, noch einmal vergewissert, und Antonia hatte zu schnell »Ja« gerufen, beständig die, die das erste und auch das letzte Wort hatte.
»Wir dann ja noch weiter nach Münster«, hatte der misstrauische Hamburger genölt und einen versiegelten Brief gereckt wie seine Schwurhand. »Das war ja bestellt!«
Und die Cloppenburger fiepten endlich auch, dass Osnabrück ihr Ziel sei. Nur den Landsknecht, den musste der Fuhrmann dann noch mal genau ansprechen.
»Und du, Gevatter? Auf Osnabrück?«
»Soll wohl«, hätte das heißen können, was der gebrummt hatte, aber sicher konnte man sich nur sein, weil’s mit einem Nicken kam.
Mit seinen Zähnen, hatte Antonia gedacht, wie sie kurz aufblitzen bei der Antwort – unwillig, stolz –, mit seinen Zähnen, da könnte der Nüsse knacken. Und hatte ein Lächeln unterdrückt, das sie überrascht hatte.
Antonia Maria Deeken, verwitwete Wiemken, wiederverehelichte Siefken, da war sie nun. Ein Regentropfen, den man wohl auch unter dem Wasserfall noch ausmachen würde. Ihre Haube und ihre Kleidung, alles war strikt nach Standesordnung gearbeitet, aber sie trug sie doch wie eine Königin. Es war die Haltung der Frau, die das Gewand hervorhob, nicht, wie sonst allzu oft, umgekehrt. Die Samtbesätze waren in der Breite ganz genau abgemessen nach guter Ordnung. Sie trug zuunterst ein Spitzenhemd, dessen Kragen weiß war wie frisch von der Bleiche. Das gefütterte Wams darüber leuchtete grün, wie ihre Augen. »Scharfe Augen«, hatte schon die Großmutter am Kind bemerkt.
»Wenn die Lütte wo hinsieht, schneidet’s gleich durch drei Lagen Heuchelei«, hatte die Großmutter gesagt.
Es waren auch jetzt noch Augen, die keinem Ruhe ließen. Früher Augen, nach denen die Männer sich reckten.
Wie lang so ein »Früher« her ist, dachte Antonia, fast 25 Jahre. Eine »schöne Frau« zu sein, das war wohl wie ein Gewand, das man sich nach den wenigen Jahren der Jugend ausziehen musste, ohne darum nackter zu sein.
Frau zu sein, schön, nicht schön, das waren jedoch Ketten, die trug man ein Leben lang. Erst war es die Schönheit, die einen fesselte, und dann der Verlust derselben.
»Meister Wiemkens schöne junge Frau«, hatte man über sie gesagt, und sie hatte dran gehangen, an schön und jung. Das war ihr erster Titel gewesen, ein vergänglicher Titel, einer, der Feuer hätte fangen können wie Papier. Noch nicht unantastbar wie heute: Frau Meisterin.
Nicht mehr jung, dafür mächtig.
»Da müssen wir mit der Frau Meisterin drüber sprechen«, sagte man, und manche, die wussten, was Siefken war und was nicht, nannten sie ganz offen »die Zunftmeisterin«.
Aber früher eben: »Meister Wiemkens schöne junge Frau« – die Gesellen und die Lehrbuben und die Ratsherren und die Meister, alle hatten Augen nach ihr gemacht. Man musste vorsichtig sein, wenn man damit spielen wollte.
Doch die Gefahr hatte sie nicht abgehalten, es war ihr eine Zerstreuung und ein Reiz zugleich gewesen. Die schöne junge Frau Wiemken – wie vergänglich. Jetzt konnte sie das kaum noch verstehen. Die Spiele von damals waren noch ferner als die, die sie als Kind gespielt hatte.
Antonia war unlängst 40 geworden. 40 Jahre Menschenleben, in diesen Zeiten, da durfte niemand wollen und niemand klagen. Ihre Großmutter war, gerade im 45., gestorben.
»Ein gelebtes Leben«, hatten die Leute beim Leichenschmaus gesagt und waren zufrieden gewesen mit diesem Tod, der doch alle Ordnung der Christenwelt bestätigt hatte: Leben, Arbeiten, Sterben – und die Nachkommenschaft, der sie mit Gottes Segen auf die Welt geholfen hatte, um abermals dasselbe zu tun.
Antonia war jetzt nur fünf Jahre davon entfernt. War das wirklich ein gelebtes Leben? Ihr ganzes gelebtes Leben? Ihre Großmutter, das war eine alte Frau gewesen. War sie das auch?
Sie hatte einen Spiegel, in den sah sie jeden Tag. Und sah die Linien in ihrem Gesicht, zwei um den Mund, ein paar in den Augenwinkeln – aber sie sah keine Greisin.
Sie spürte, der Landsknecht blickte immer mal wieder her, und so drehte sie den Kopf, wie um am Fuhrmann vorbei unbedingt nach vorn auf den Weg sehen zu wollen.
Ihre Haube bauschte sich vom Wind. Sie war hoch und fein bestickt: die alte Grethe Gerdsen, Gerd Gerdsens Mutter, hatte die Muster in ihrem letzten Jahr vergangenen Winter gesetzt.
»Ein zu stolzes Werk für ein zu stolzes Haupt«, hatte sie frech gesagt, die alte Grethe, und Antonia hatte kurz Missbilligung gezischt dazu, aber gefallen hatte es ihr auch.
»Wir beide«, hatte die Grethe Gerdsen bei der letzten Anprobe gesagt, »wir sollten ehrlich sein miteinander, denn viel Zeit haben wir nicht mehr. Ich bin stolz auf meine alten Hände, und Ihr, Frau Meisterin, Ihr seid stolz auf alles. Grad auch darauf, dass Ihr meine alten Hände bezahlen könnt, Euch die teuerste Haube von Oldenburg auf den Kopf zu setzen. Und noch stolzer seid Ihr, dass nur Ihr wisst, wie teuer sie war, dass man’s ihr nicht von fern ansieht, sondern nur der Kenner. Das ist leise Eitelkeit, die wächst am tiefsten. Wir wollen ein Geheimnis miteinander haben: Die Haube, das ist die Krone, die Ihr für und um Eure Gedanken wolltet. Und ich bin die Einzige, der Ihr Bescheidenheit und Zucht nicht vorspielen müsst. Denn ich bin bald verschwunden.«
Jetzt starrten die zwei Hamburger auf diese Haube, versuchten, sich mit Augenbrauenrunzeln und Nasenzucken besonders unauffällig Meldezeichen zu geben, dass ihnen etwas aufgefallen war.
Antonia drehte den Kopf zurück und geriet wieder in den Blick des Landsknechts. Da stieg die Hitze in ihr auf, so arg, dass sie kurz die Schürze zum Fächeln nehmen wollte.
Die Augen senken hätte sie sollen, das wusste sie. Aber sie hatte es sich schon so lange abgewöhnt. Erst aus Trotz, den Blick nur nicht niedernehmen, sich nicht bezwingen lassen. Dann hatte sie ihn gerade gehalten aus unbedachter Siegeslust und schließlich – in den Jahren als Meisterin – aus umso klügerem Misstrauen.
So war es wie ihr Credo: nie mehr die Augen einkehren, um nichts zu übersehen, was gefährlich werden könnte, wenn man müde wurde. Oder satt. Oder duselig.
Er hatte Augen wie ein Raubvogel, dieser Kerl, nicht nur die Augen, da war was überall an ihm, das sagte: Komm mir zu nah, und es ist dein Leichtsinn und Wagnis.
Oh, wäre sie noch eine schöne, junge Frau!
Das wäre ein Wagnis, um das wollte sie nicht verlegen sein. Aber sie war wohl nicht mehr schön und gewiss nicht mehr jung. Und wenn ein Mann sie ansah, dann hieß es nicht mehr, was es immer geheißen hatte. Und eine alte Frau, die das nicht wusste, die war eine lächerliche Närrin. Über die lachte man in Possen, wenn sie mit Klauenfingern nach jungen Hosen griff. So weit würde es mit ihr nie kommen.
Antonia schluckte und sah dann eben lieber auf das Cloppenburger Pack. Unfassbar, womit die das Wegegeld hatten zahlen können, so verhungert, wie die waren. An denen war doch kaum was besser als an Leibeigenen. Aber kein Fuhrmann, auch kein Bremer, würde so dumm sein, einem Leibeigenen auch nur eine Elle Flucht auf seinem Wagen abzunehmen.
Das Weib konnte gut 15 Jahre jünger sein als Antonia, wollte sie raten, dem Alter ihrer mageren Kinder nach, sah aber aus, als wäre sie knapp am 60. Jahrestag vorbei.
Und die Bälger erst: nur Knochen und Augen, diese Brut, und bestimmt lange Finger! Still und mucksch, entweder vor Hunger oder verschlagen oder beides.
Ohne es zu wollen, rümpfte Antonia die Nase, was die beiden Hamburger wieder die Brauen runzeln ließ.
»Ja, so«, entschlüpfte es dem Fetten entrüstet. Und der andere zog bös die Mundwinkel runter.
Da kehrte sich Antonia doch lieber wieder zum Landsknecht.
Sie wollte ihn ansehen, wie sie ihre Diener ansah, die Meister, denen sie vorstand. Dass er verstehen sollte, sie wäre jemand, bei dem man einen Buckel machen sollte, bevor der Knüppel dabei half. Aber es gelang nur übel.
Der hätte lieber Federn haben sollen, oder Fell und Krallen. Sie meinte verblüfft, dass er wahrlich gerade mit dem Kopf genickt habe, wie um stumm etwas zu bestätigen, was er und sie gemeinsam gedacht hatten. Und dann ließ er sie ein Lächeln sehen in seinem Bart – was für ein Lächeln das war!
Gott war grausam, das wusste sie wohl. Er mochte einen Menschen darben lassen, ihm jedoch nicht die Lust aufs Essen nehmen. Und er ließ uns altern, doch ließ er uns nicht alt fühlen, wenn uns solch ein Lächeln traf.
Es machte sie die Farbe wechseln, das konnte sie fühlen, aber die Augen senken, das ging nach all den Jahren wirklich nicht mehr.
Stolze Jahre, Jahre der Macht; die Jahre der Frau Meisterin, was könnte noch kommen?
Oh, was könnte noch kommen?, dachte sie.
Wenn ihr’s wüsstet, was Antonia Deeken ins Kommen zwingen will, ihr Volk, ihr Pack! So sehr zwingen will, dass sie sich zu euch auf diesen Wagen setzt, verkleidet in den Gedanken einer Frau, die sich um nichts als die Familie zu sorgen hätte, ein Jammern um die Lunge ihrer Schwester.
Sie kniff die Lippen zusammen. Solche Sorgen, Sorgen um Familie und Vorratskammer – die wären ihr Pfefferkuchen, wenn sie sie denn haben müsste. Ihre wirklichen Sorgen, die alltäglichen nur, da sollte sie von Rechts wegen einen Kopf haben, größer noch als Platz war unter ihrer königliche Haube von Grethe Gerdsens Hand.
Die Hamburger waren gewiss auch Evangelsche, überlegte sie, nach allem, was sie bis kürzlich aus der Stadt gehört hatte. Wenn die nach Münster weiter wollten, dann brauchten die ihren Schutzbrief auch, auf den sie so besessen aufpassten, sonst könnten die Münsteraner schon mal den Teer wärmen.
Und die Cloppenburger, da brauchte man nicht raten: die konnte man nicht mit Feuer und Schwert reformieren, die blieben gänzlich schwarz und blieben heimliche Katholen, gleich wo sich ihre Stadt noch hin verständigte, um nicht unterzugehen. Dabei waren auch sie und ihre Großmutter noch katholisch getauft gewesen, hatten dann jedoch »die Religion erkannt«, wie man in ihren Tagen sagte.
Aber wer nun noch Kathole war, vor dem musste man sich hüten, oder?
Unwillkürlich legte Antonia die Hand auf ihren Beutel. Wenn man sich aus dem Haus bewegte in diesen Zeiten, dann musste man eine Versicherung kaufen, die beim Himmel nicht einzulösen war. Mehr als das Glaubensbekenntnis ließ Silberklang Fremde plötzlich zu Brüdern im Geiste und Gelde werden, zu bezahlten Brüdern auf Zeit und Dienst.
»Ich glaube natürlich an Gott«, hatte Antonia erst am Tag vor dem Abschied ihren ewig zagenden Mann beruhigt, der sie zitternd beschuldigt hatte, sich vor lauter Gier und Hochmut von Gott abgekehrt zu haben.
Siefken hatte diese trüben, bedrängten Zustände, bei denen wähnte er den Leibhaftigen sogar im Gesangbuch. Er zitterte, und die Kopfschmerzen wurden heftiger. Antonia hatte nie Geduld mit ihm gehabt, diesem nützlichen Schwächling, darum könnte man auch nicht sagen, dass sie sie verloren habe.
»Gott mag mir helfen, so er will. An Entschlossenheit und schnelles Handeln glaube ich genauso. Da weiß ich, wer mir hilft.«
»Und ich bin’s nicht«, hatte Georg-Mathias mit bitterer Wehleidigkeit geseufzt, wo es ja ohnehin endete mit ihm – im Wimmern und Seufzen.
Die Wahrheit war: Für Gott war keine Zeit mehr, die Entschlossenheit nahm sie sämtlich für sich ein, ihre Zeit.
Was Gott allein ihr beschert hatte in den letzten 20 Jahren, das wusste sie nicht.
Was die Entschlossenheit ihr gebracht hatte, war weiß wie ihre Spitzen, war zart wie der Pelz, war klingend wie der Beutel – und war doch auch unbequem und voll Gefahr und Heimlichkeit wie die Reise jetzt auf diesem Wagen.
Das war auch einsam, wie ihre Nächte – und wie ihre Seele, fürchtete sie.
Von Georg-Mathias weg zu sein, gerade jetzt in den letzten Tagen vor der neuen Wahl, das war keine gute Idee, das wusste sie, auch wenn sie erleichtert war, ihn nicht sehen zu müssen, antreiben zu müssen, ihn auf jede seiner Antworten belehren zu müssen. Seine Schwäche war wie ein ewig dunkler Fleck auf ihrer Stärke – und so notwendig dafür, ihr Kuhhandel und ihr Preis für ihre Pläne. Nichts kam umsonst, wer das nicht wusste, der verdiente den Schuldturm, der ihm daraus wachsen würde.
Antonia kannte alle Preise. Sie verstand insbesondere, wann das Handeln aufzuhören und das Bezahlen zu beginnen hatte. So dachte sie.
Was Georg-Mathias anging: Sie hatte alles, was sich nur irgend vorhersehen ließ, besorgt. Alles für jeden seiner Tage ab dem Hahnenkrähen bis zum Abendläuten hatte sie von Gerd Gerdsen, dem treuen Altgesellen, auf Vorrat bestellen lassen.
Das neue Meisterstück war lange fertig und ruhte bis zum Tag der Wahl in der Truhe, zu der allein Gerdsen den Schlüssel hatte. Gerdsen war unbestechlich. Wenn sie vielleicht nicht fromm genug war – an Gerd Gerdsen glaubte sie wie andere an die Auferstehung und das Jüngste Gericht: voller Gewissheit und Vertrauen.
Und dann natürlich, nur zur weiteren Sicherheit, war sie noch anderweitig tätig gewesen.
Sie hatte dem Bregelsen eine Bremer Prüfung seiner Steuern beschert, die ihn wohl bis die Woche nach Allerseelen von ihrer Schwelle fernhalten sollte.
Der gute Bregelsen, der wäre ganz damit beschäftigt, die Bremer Herren Prüfer zu beköstigen und zu begütigen: Dadurch wäre er hoffentlich beschäftigt genug, seine Reden den anderen Meistern gegenüber auf ein Mindestmaß zu schrumpfen, bis die Reden endlich ganz runzlig und klein wären wie Äpfel, die zu lange liegen.
Der Gedanke an Jehann Bregelsen war unangenehmer als die Reise auf diesem dauernd buckelnden Wagen. Sein spitzes Gesicht mit Missgunst in den Augen und Verdruss um den Mund leuchtete in ihren Gedanken wie ein blasser Mond. Bregelsen war so hässlich wie gefährlich.
Die Haare waren ihm schon ausgegangen, da lebte der Wiemken, ihre Erster, noch. Was von ihnen übrig war, setzte sich ihm wie ein störrischer Kranz um seinen Schädel, in dem er nicht genug Ideen hatte züchten können, um gegen Antonia anzukommen – bisher jedenfalls.
Es wurmte Bregelsen, dass er zwar erkennen konnte, wie klug Antonia war, aber nichts dagegenzuhalten hatte, sie zu überholen. Seit 19 Jahren wollte ihr Bregelsen die Meisterschaft über die Zunft nehmen. Und jedes Jahr war was er einzusetzen bereit war, um zu bekommen, was er wollte, gefährlicher.
Da musste sie nun diese einsame Reise tun, ausgerechnet zu dieser Zeit – zur Unzeit.
Wenn’s doch irgend anders gegangen wäre, dachte sie, wie schon hundert Mal vorher, nur der Gedanke hatte nie ein Ende.
Der Wind frischte auf. Antonia verrenkte sich den Hals, um den Himmel über der Plane zu sehen, und bemerkte jetzt erst, dass Wolken längst dabei waren, näher zu kommen. Regen zog heran. Oldenburger Regen.
»Das gibt ein Wetter«, sagte der Landsknecht da zu ihrer großen Verblüffung mitten aus seinem Schweigen, in dem er die ganze Zeit so beharrlich gesessen hatte.
Und noch verblüffter war sie, dass sie laut lachen musste, als er es sagte. Es war genau, wie sie als Kind gelacht hatte, wann immer sie Musik zu hören bekam – ohne Grund, nur weil es so schön klang. Die übrigen Fahrgäste zuckten zusammen.
»Soll das spaßig sein?«, kläffte der fette Hamburger auch gleich, wobei er fröstelnd an seinem Halstuch nestelte.
»Vielleicht macht sie sich lustig«, stieg der andere auf. »So ein feines Dämchen«, knurrte er, »das wird sich gegen den Regen einfach in noch mehr Samt und Seide hüllen. Nicht wie wir ehrbaren Leute, die nur einen Rock haben zum Reisen wie zum Schlafen.«
Antonia gefror das Lachen sogar schneller, als es gekommen war. Es nahm alles Schöne mit, erdrückte den Klang von eben unter lautloser Verwünschung, sich nicht beherrscht zu haben.
»Unsinn«, zischte sie.
Aber die Hamburger machten weiter, als hätten sie drauf gewartet, den ganzen Tag schon, seit dem Stadttor.
»Ja, wer seid Ihr denn überhaupt!«, höhnte der Fette und fing trotz des Windes zu schwitzen an, wie er sich ihr zukehrte. »Sitzt hier in Euren Sonntagskleidern und macht Euch lustig drüber, dass wir nass werden.«
»Tjaha«, muckte der Cloppenburger Mann, aber das war dann auch schon alles, was ihm einfiel.
»Die«, der andere Hamburger hatte jetzt Zuhörer, »die ist bestimmt keine honette Person. Eine Kebse, das ist die. Stolziert umher in Gold und Silber, während ehrliche Leute hungern und darben.«
Der Fette, der ja keineswegs darbte, so müsste jeder im Besitz seines Augenlichts eingestehen, nickte bekräftigend. »Hochmut und Hoffart«, prustete er und wollte bestimmt nachlegen, als der erste Blitz kam; unerwartet, selbst aus diesem Himmel. Die Pferde wieherten.
»Hoh«, rief der Fuhrknecht, »besser festhalten, ihr dahinten!«
Antonia war der Mund ganz trocken geworden. Sie schluckte. Sie drehte sich weg von den anderen und krallte sich fest, dass ihr die Finger weiß wurden.
In ihrem Leib krampfte es sich zusammen, und aus dem Nacken sickerte es feucht vor plötzlicher Angst. Sie hatte einen Fehler gemacht. Jetzt war sie mitten in einer Gefahr, deren Ursprung sie nicht verstand, die aber ganz und gar fühlbar war.
Nun begann die Cloppenburgerin auch noch zu wimmern.
»Sei doch still«, zischte ihr Mann und hob drohend seine Hand, unter deren Schatten sich schon alle anderen vier duckten. Aber die Cloppenburgerin jaulte leise weiter.
»Na, na, na«, begütigte da der fette Hamburger. »Was hat denn dein Weib?«, fragte er den Mann.
»Angst vor Gewitter hat die, mein Herr«, buckelte der Mann. »Nur Weiberangst, mein Herr. Da ist es nicht weit her mit dem Gottvertrauen bei den Weibern. Wenn man sie nicht zum Züchten bräuchte und für die Notdurft, was sollte man sie haben, oder?«
»Angst vor Gewitter«, mischte sich der zweite Hamburger ein, »ja, ei, das ist doch aber wohl fromm«, als wäre er ein Gelehrter dazu. »Wir sollten uns alle sämtlich hüten. Und das zu jeder Zeit! Merkt meine Worte: Es wird nun alle Tage so weit sein, dass schließlich die Welt untergeht. Und dann kommt ein jeder vor das Gericht, seine Strafe zu erhalten.«
Da heulte die Cloppenburgerin laut auf.
»Es kommt«, belehrte sie der Hamburger weiterhin mit einigem Genuss, »durch die Gottlosigkeit in diesen Tagen. Es ist zu viel Sünde, die begangen wird; das wird die Welt zum Kippen bringen. Mitten ins Nichts, das ist dann das Ende. Und Gott wird ein Narr sein, wenn er uns auffangen würde. Da rutschen wir dann herunter vom Weltenrand in die ewigen Höllenfeuer, alle miteinander. Merkt meine Worte! Da wird so mancher Mann ewiglich brennen. Und die Weiber natürlich sowieso. Ihr habt schon recht. Man braucht sie, der Becken wegen, aber es wäre besser, man hätte sie nicht.«
Nun heulte eins der Kinder mit, konnte die Mutter jedoch nicht übertönen.
»Sie regt sich aber sehr auf«, stellte der Fette freudig aufmerksam fest.
»Wir werden’s noch erleben.« Der Zweite hob einen Finger und wackelte damit bedeutsam vor seiner spitzen Nase herum. »Das Ende wird kommen. Und das höchste Gericht.«
Als ein Donnerschlag seinen letzten Satz noch unterstrich, war er fast ebenso geschmeichelt wie erschrocken. Um sicher zu sein, dennoch die ganze Wirkung für sich zu haben, wiederholte er dann kurz darauf noch einmal: »Wir werden’s noch erleben, das Weltenende, es wird uns holen, und nichts wird bleiben von unseren sündigen Leibern als Asche und Rauch. Da wird die Nacht kommen, nach der gibt es keinen Morgen mehr. Und recht ist es auch. Wohl ist es. Die gerechte Strafe. Das muss jeder einsehen. Wer da hoffen würde, an seinen Sünden ausgespart zu werden, der zeigt ja nur, dass er zu Recht ein Ketzer ist. Ich sage immer, wenn man das Weltenende abwenden wollte, so müsste man aus jeder Stadt die Ketzer zusammentreiben und in einem großen See alle miteinander ersäufen. Das wäre der einzige Weg. Aber gründlich müsste man sein. Und die Weiber, die kämen zuerst. Nur Jungfrauen dürfte man übrig lassen. Und die dann umverteilen, dass jeder fromme Mann mit ihnen züchten könnte, um des Fortbestands der wahren Gläubigen willen.«
Die Cloppenburgerin raffte ihre Kinder an sich. Wer da wem Schutz gewähren sollte, ließ sich nicht erkennen. Der Mund stand ihr offen in ihrer Not. Nun setzte der Regen ein, mit einem Mal, er kam von oben und von den Seiten zugleich, schien es. Die Plane, die der Fuhrknecht ja noch festgezurrt hatte, half bald gar nichts dagegen. Antonia musste sich wohl oder übel zurückdrehen, wenn sie den Regen nicht genau ins Gesicht haben wollte, versetzt mit den Spritzern vom schwarzen Straßendreck.
»Sapperlot«, fluchte der Fette und zog seine Mütze tiefer.
Dem anderen war über seinem Vortrag trotz der Unwirtlichkeit um ihn herum wohl angenehm warm geworden.
»Solche wie die«, er zeigte mit dem Finger auf Antonia, »die sind’s, die bringen die Gottlosigkeit und das teuflische Laster unter die Frommen. Man kann’s überall hören und sehen. Die geputzten Weiber, die sind noch schlimmer als die gewöhnlichen. Es soll auch welche geben, die lesen und schreiben können. Die zählen dann doppelt an der Sünde.«
Antonia überlegte hundert Sachen zu erwidern, aber es kam ihr keine aus der Kehle. Ein zweiter Blitz zuckte, und der Donner folgte diesmal schneller.
Der Fuhrknecht drehte sich zur Ladefläche. »Umkehren nützt nichts, aber der Wald ist auch nicht mehr weit, das schaffen wir.«
»Dann red’ Er nicht lang, sondern fahr«, schimpfte Antonia ihn aus, weil irgendwer es abhaben sollte.
»Hüa!«, rief der Fuhrknecht und knallte mit der Peitsche, aber die Zossen zogen kaum schneller, als man gut hätte zu Fuß gehen können.
»Das wird nichts werden«, murmelte Antonia zu sich in der geübten Missbilligung derjenigen, die anderen zu sagen hatte und immer Recht bekam.
»Was redet die?«, fragte der Hamburger seinen Kompagnon gegen den Wind – und da krachte es.
»Wie eyn zufall das Winnen und Fallen machen kann und auch umgekehredt// iszt immer ausdruck von Godtes guete// die// wiewohl versuocht durch mentschlichz Irren// uns alle Tage staunen mac machen// dasz selbst wo der hasz in tüffels Kessel ueberköchet// die milttätigkeit und fründschafft nie mehr entfernt iszt// als man nur den arm ausstrecken mueszt// sie baldens zu erreychen.«{3}
Ein Rad war gebrochen. Der Hamburger mit der Neigung zu genüsslich-düsteren Predigten landete bei dem Sturz, der unversehens folgte, unsanft auf des Fetten Schoß, sein Knie an einem nicht willkommenen Ort. Der Fette schrie. Eins der Cloppenburger Bälger flog über die Haltestange in den Graben, den Eltern stießen die Köpfe zusammen. Antonia fand sich in der Ecke hinter der Fuhrbank wieder, die Haut am Kinn schmerzhaft aufgerissen vom rauen Holz.
Der Landsknecht einzig, obwohl auf der Seite, die in die Höhe geschleudert worden war, hatte sich festhalten können und sah unbewegt drein, als passierte ihm so was andauernd, ohne dass es ihn beunruhigt hätte.
Der Fuhrmann musste in die Eisen steigen und die Pferde mit aller Macht halten, die, den Wagen schlingernd hinter sich, nun doch noch durchgehen wollten. Es gelang erst, als der Landsknecht zu ihm kletterte und ihm einen Zügel abnahm. Endlich kam der Wagen zum Stehen.
Der Sturm bequemte sich allerdings nicht, einzuhalten. Im Gegenteil, das Blitzen und Donnern ging ineinander über, und der Regen fiel heftiger.
»Alle vom Wagen!«, brüllte der Landsknecht und kam über den Bock zurückgeklettert.
Das Cloppenburger Junge, draußen im Matsch, heulte. Das brachte die Mutter in Bewegung. Sie rappelte sich auf, hielt sich den Kopf und stieg herunter. So folgten ihr langsam auch die andern ihrer Sippe, jeder hielt sich entweder den Arm, den Rücken oder die Stirn. Ein Turm aus Jammern und Jaulen erhob sich über ihnen, wankend im Wind.
Die Hamburger entflochten sich, der Fette womöglich noch weißer im Gesicht und mit flachem Atem.
»Macht schon!«, herrschte sie der Landsknecht an, dass sie sich schneller bewegten.
Er zog Antonia hoch aus ihrer Ecke. Sie biss sich auf die Lippen, weil die rechte Schulter schmerzte, aber sie ließ ihm die Hand und war froh, dass er sie stützte, als sie aus dem schiefen Wagen mitten ins Wetter ausstiegen.
Der Fuhrmann beruhigte sein Leittier, erst dann sah er sich den Schaden an, das Haar und der Bart triefend vom Regen. In seinem riesenhaften Ledermantel kroch er unter den Wagen, gleichsam erinnernd an einen durchnässten Nachtfalter.
»Achachach«, ächzte er.
Der Regen fiel noch dichter. Von Antonias durchweichter Haube rann er mittlerweile ungebremst in den Spitzenkragen, auch der Umhang und das Wams waren schon völlig begossen. Ihre Schuhe staken bis zu den Knöcheln im Schlamm, sie raffte den Saum etwas hoch, aber es nützte wenig.
Die Cloppenburgerin, die den Weg wieder zurück getaumelt war, hob ihr Kind auf, das auf dem rechten Fuß nicht stehen konnte und weinte.
»Ist das noch heil?«, fragte ihr Mann laut, aber es klang nicht nach echter Sorge – und genau wusste man auch nicht, ob er den Wagen meinte oder das Kind.
Der misstrauische Hamburger sah ein paar Mal hilfesuchend hin und her, aber in beiden Richtungen lag nur nasser, leerer Weg.
»He, Fuhrmann«, brüllte er über das Rauschen, »wie weit zurück?«
Der Fuhrknecht kam unter dem Wagen hervor, sein Gesicht die unbarmherzige Vorhut schlechter Nachrichten.
»Wie schnell könnt Ihr denn laufen?«, fragte er und spuckte aus.
Der Hamburger sah aus, als würde er eine Antwort erwägen, aber der Fette kam ihm zuvor: »Das kann doch nicht Sein Ernst sein! Er hat versprochen, Sein Gespann wär das Schnellste, nur zweieinhalb Tage bis Osnabrück, hat Er uns versprochen. Und ist darob im Voraus bezahlt worden!«
Der Fuhrknecht hob die Arme und lachte bitter. »Meint Ihr, ich hab mir den Stein da selber hingelegt, damit mir das Rad bricht? So dass ich ein Geschäft verliere und meinen Wagen!? Bei der letzten Fuhre vor dem Winter? Zu Hause hätt’ ich bleiben sollen. Ich hatte mein Geschäft schon drin. Das hier, das war eine reine Gefälligkeit, dass ich die Fuhre noch gemacht hab.«
Wieder prasselte der Regen in die gespannte Stille zwischen den Reisenden.
Da streckte die Cloppenburgerin einen mageren Arm aus und zeigte auf Antonia. »Die da«, kreischte sie urplötzlich, alle Angst aus ihrem Körper gewichen, nur noch Hass übrig.
Antonia zuckte zusammen.
»Die da!« Die Cloppenburgerin kam näher, das humpelnde Kind zog sie mit. »Die ist es gewesen.«
Erst verstand keiner, was sie meinte, auch weil sie so wahnsinnig aussah und so viel herb Lautes daherkam, wo vorher nur Zittern und hohes Wimmern gewesen war.
»Was meint deine Frau?«, fragte der Fette ihren Mann, als könnte nur der’s zu besserem Sinn einem anderen Mann übersetzen.
Aber die Cloppenburgerin erklärte sich schon selber: »Die hat’s verhext, die Toewersche, die da!«
Niemand regte sich.
»Habt Ihr doch alle gesehen«, fuhr die Cloppenburgerin fort. »Den Regen hat sie hergehext und dann den Blitz. Gelacht hat sie. Und dann den Bruch. Mein Kind hat sie umbringen wollen! Uns alle hat sie umbringen wollen. Was macht eine so reich Gewandete auf einem Reisewagen? Eine Hexe ist das!«
Dass in einer so mageren, stillen Person so viele gewichtige Worte steckten, so viele üble zudem, überraschte alle, bis auf den Gatten, der gleich in die Anklage einfiel, auch wenn es nicht so leidenschaftlich klang wie bei seiner Frau. »Richtig, das haben wir alle gesehen. Mit eigenen Augen. Toewersche«, nimmt auch er das Fluchwort auf und nickte seiner Frau zu, die darauf kurz innehielt.
»Sie hat den Wagen verhext«, wiederholte der Mann das Urteil, um ihm den anderen Männern gegenüber mehr Gewicht zu geben.
»Ach«, der misstrauische Hamburger machte einen Schritt auf Antonia zu, »so eine also. Da war ja Kebse noch zum Schmeicheln. Selbst Hure wär noch ein Sonntagswort für so eine. Teufelswerk!«
»Mann«, schaltete sich der Fuhrknecht ungeduldig ein, »das war der Ast schon vorhin und dann der Stein hier, das ist gefährlicher Weggrund, keine Hexerei. Da kann Er selbst mal unters Fuhrwerk sehen.«
Aber auch der Fette trat jetzt bei: »Das lass mal, guter Mann, du bist eine einfältige Seele und kannst dir das nicht vorstellen. Aber unsereiner, der sieht durch so eine gleich hindurch. Die gehört vors Halsgericht. Diese Frauen, die sind noch schlimmer als alle anderen Frauen. Ich kenne mich aus. Viele meiner besten Freunde sind Gelehrte.«
Antonia, nur das Wort »Toewersche« in den Ohren, wusste gar nicht, was sie tun sollte. Hexengerede hatte Oldenburg bislang weitestgehend verschont. Aber die Cloppenburgerin, die machte Ernst. Viel zu ernst und überlegt für eine Halbverrückte, die nicht mal ihre Kinder füttern konnte.
Bregelsen!, dachte Antonia plötzlich mit absoluter Klarheit. Daher kamen die Cloppenburger.
Das Wegegeld für diese Hungerleider hatte einer gezahlt, der seinen Dienst vergolten haben wollte: Bregelsen. So musste es sein.
Sie schluckte. Das hier war sehr gefährlich, sie musste genau überlegen, was sie als Nächstes tat. Denn wenn die Cloppenburger eine List Bregelsens waren, dann war vielleicht auch der Achsenbruch kein zufälliges Unglück. Sie wollte abschätzen, ob die Hamburger mit drin waren. Das glaubte sie nicht; sie musste sie für sich gewinnen, schnellstens.
Aber der Cloppenburger bückte sich da schon nach einem Stein und warf auch gleich. Der Stein traf sie schmerzhaft an der linken Schulter, und sie schrie auf.
»Schluss«, sagte der Fuhrmann verstört, der sich für seine Fuhre verantwortlich fühlte. »Was soll denn –«
Der fette Hamburger stieß ihn beiseite. »Halt dich raus, Mann!«
Und der andere machte einen Sprung und grabschte nach Antonias Beutel. »Da sind dann bestimmt lauter Kindshände drin«, schrie er.
»Hexenwerk! Hexenwerk!«
»Los! Jetzt!«, hörte Antonia da noch den Landsknecht sagen. Der packte ihr Handgelenk und riss sie mit sich herum. Sie wollte stehen bleiben, sich sträuben, aber der Cloppenburger warf flink weitere Steine, und so rannte sie, von dem Hünen gezogen, mit ihm mit, das Zetern der anderen in den Ohren.
»Festhalten!« – »Wirf.« – »Die kriegst du!« – »Schneller.« – »Die darf nicht …«
Sie wollte sich umdrehen, sehen, wie nah die Verfolger waren, aber der Landsknecht lief weiter, ihr Handgelenk unbeirrt wie in einem Schraubstock zwischen seinen Fingern, auch wenn sie im saugenden Morast taumelte.
»Weiter«, schnaubte er irgendwann. Sie keuchte, ihre Schuhe völlig durchnässt, der zähe Schlamm klebte den Rock an ihre Beine, die Nässe stach und brannte.
Antonia bekam keine Luft mehr, der Regen donnerte herunter, dann waren sie im Nebel, und irgendwann, es war halb dämmrig um sie herum, lief der Landsknecht langsamer. Die Haube hatte sie schon verloren, als sie sich unter den ersten Ästen durchduckten, das war ihr gar nicht aufgefallen, überhaupt der Wald erst nicht.
Ihre Knie waren weich. Vor ihren Augen schwirrten Punkte und rote Streifen.
»Ich kann nicht«, japste sie, war aber nicht sicher, dass er das verstehen konnte. Zweige knackten unter ihren Füßen, kratzten sie im Gesicht, die Haare hingen ihr herab. »Ich kann nicht mehr«
Aber er zog unbarmherzig weiter. Ihr wurde schwindelig und sie hustete.
Irgendwann wusste sie dann nichts mehr, die roten Blitze und Punkte stoben auf sie zu.
Als sie wach wurde, roch sie Qualm und schrak hoch. Es war aber nur ein kleines Feuerchen.
Sie lag auf dem Boden in einer düsteren, feuchten Hütte, durch das Dach tropfte es hier und da. Sie mussten noch immer im Wald sein. Durch die Fensterritzen sah sie Baumstämme und Geäst. Benommen versuchte sie, sich aufzusetzen. Beide Arme schmerzten, der eine vom Sturz, der andere vom Gezerre. Die aufgeschürfte Stelle am Kinn pochte.
»Seid Ihr wach?«, hörte sie die Stimme des Landsknechts. Sie versuchte, ihn zu sehen. Langsam gewöhnte sie sich an das Dämmerlicht. Er hockte drüben, hinter der Feuerstelle im Boden. Er hatte sich an die Wand gelehnt und hielt ein Messer in der Hand.
Antonia blinzelte, ihre Kehle war so trocken wie mit Sand ausgestreut. Sie nickte und hustete.
»Trinken«, sagte der Landsknecht mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete. Noch in diesem Dämmer schimmerten sein Haar und sein Bart hell. Und die Messerklinge.
Vor sich auf dem Boden fand Antonia eine Schale mit Wasser. Sie trank, es kam ihr aber gleich wieder die Kehle hoch, kaum dass sie den Kopf noch von sich wegdrehen konnte.
»Zu schnell«, sagte er ruhig, als sie sich den Mund wischte, bäurisch mit dem Handrücken, voller Scham über ihren Zustand. Er steckte das Messer ein.
»Noch mal, aber langsam«, ordnete er an.
Sie hob die Schale auf, doch jetzt zitterten ihre Hände so stark, dass sie fast alles verschüttete.
Der Landsknecht stand auf, holte einen Eimer mit einer Kelle und kam herüber. Eine Kelle kippte er über den Fleck, wo sie hatte hinspeien müssen. Dann schöpfte er abermals Wasser für die Schale.
»Hier.« Er hockte sich neben sie und hielt ihr die neu gefüllte Schale an die Lippen wie einem Kind oder einem Kranken. Sie zitterte immer noch, aber jetzt blieb es wenigstens in ihrem Magen. Sie schluckte zweimal, dreimal, dann nahm er die Schale weg.
Übergangslos brach sie in Tränen aus. Das kam ohne Vorwarnung und hörte gar nicht auf. Es war ein wirkliches Heulen, sie konnte nichts tun dagegen, die Zähne schlugen ihr aufeinander, auch als sie die Fäuste vor den Mund drückte, damit es leiser wurde, wenigstens das.
Auf den Fersen blieb er neben ihr sitzen und nickte wortlos zu ihrem Elend, als verstünde es sich von selbst, man aber nichts dagegen tun könnte. Als sie sich irgendwann doch fangen konnte, gab er ihr die Schale zurück in die Hand, stand auf und ließ sich wieder an der Wand gegenüber nieder.
Das Raubtierhafte war wieder so an ihm, man wusste nicht, ob er den Abstand wählte, weil er ihm wohltat oder weil er etwas plante.
»Wo sind wir denn hier?« Antonias Stimme war rau und ganz leise, das Geheul hatte all ihre Kraft genommen. Sogar fürs Zittern fühlte sie sich zu schwach. Sie trank abermals.
»Im Wald«, war seine Antwort. »Ihr solltet näher ans Feuer kommen.«
Und sie tat augenblicklich, was er sagte, ohne darüber nachzudenken. Der nasse Rock klebte kalt an ihr, die Strümpfe waren zerrissen, das Unterkleid auch nass, alles verdreckt, sah sie im Feuerschein. Sie tastete nach ihrem Haarkranz, der sich aufgelöst hatte.
Das immerhin konnte sie richten, es gab ihr etwas zu tun. Sie wand den Kranz auf und flocht einen Zopf wie zum Schlafengehen. Dabei sah ihr Gegenüber sie die ganze Zeit an, und es war etwas zwischen ihnen, das an Gemeinsamkeit wie nach langen Jahren erinnerte.
Wenn man einander ansieht und Trost findet in dem, was einer tut, nur so. Wenn es einen Sinn hat, dass ein anderer da ist.
Sie schluckte wieder und fragte: »Er hat mich gerettet?«
Dazu sagte er nichts, aber sie nahm trotzdem fest an, bei ihm in Sicherheit zu sein. Und sei es auch nur, weil sie keine andere Wahl hatte und nach all der Not des Tages sich zu matt fühlte, weitere Ängste auszustehen.
Sie tastete nach ihrem Beutel, der hing trotz aller Rennerei noch genau da, wo er sein sollte.
»Ich will’s Ihm auch vergelten«, sagte sie mit dieser neuen schwachen Stimme. Da lachte er fast und schüttelte den Kopf.
»Lasst es gut sein, Frau«, sagte er. »Geld nehm ich nur von einem Dienstherrn.«
Das nahe Feuer tat ihr gut, sie starrte hinein und war eine Weile stumm, die Fragen und die schrecklichen Erinnerungen zu beklemmend für die Enge in ihrer Kehle.
»Wie ist Sein Name?«, kam es dann heraus, ohne dass sie drüber nachgedacht hatte, aber sie wollte es wissen. Ungewohnt, eine solche Frage zu stellen, denn in ihrem Reich kannte sie jeden, und wen sie nicht kannte, der wurde ihr vorgestellt – und sie kannte erst recht jeder.
»Vinzent«, sagte der Landsknecht und lächelte dabei.
»Ich bin die …«, es kam ganz holprig heraus, »ich bin Antonia Deeken, Meister Georg-Mathias Siefkens Weib, aus Oldenburg.«
Dieser Zusatz von Mann und Stadt war ein alberner, sie sagte ihn halb als Schutz, halb aus Verwirrung. Sie war’s gewohnt, dass ihr Name allein reichte.
»Da bin ich nur durchgereist«, antwortete der Fremde, Vinzent, leichthin.
Sie nickte. Oldenburg, das Nest, von dem alles ausging, auf das alles zuführen sollte. Für sie war es ihr Jerusalem und ihr Rom. Und für Leute wie jenen Vinzent, für die war’s eine Station auf der Durchreise. Für diese Leute machte es wohl keinen Unterschied, wer ein Bregelsen, ein Siefken, ein Wiemken oder eine Deeken war. Diese Leute wollten noch nicht einmal das Geld, das eine Deeken mit sich herumtragen konnte. Nicht mal dafür, dass er sie weggezerrt hatte aus dieser Falle. Jehann Bregelsens Falle.
Vinzent. Nichts weiter. Genug.
Es sollte ja eine ganze andere Welt geben, jenseits des Meeres, hatte sie gehört, voller Heiden und weiterer Gottlosigkeit. Wenn man in dieser Welt wäre und Oldenburg sagte, dann bedeutete es nichts. Welche Unvorstellbarkeit.
Sie schüttelte sich, ohne es zu wollen.
»Noch kalt?«, fragte Vinzent. Und sie wollte Ja sagen und wollte, dass er sich neben sie setze und sie wärmte in seinen Armen. Und dann wollte sie ihm das Gesicht zukehren und ihn küssen.
Es erschrak sie unsäglich, dieser Gedanke, sie war eine alte Frau. Eine zerzauste alte Frau, die von gedungenen Lumpen und Hungerleidern als Toewersche, als Hexe, geziehen worden war und die man mit Steinen beworfen hatte. Und dann ein Unbekannter, ein Hergelaufener, ein Fremder. Nur, das Wunderlichste war es vielleicht, dass er sich nicht anfühlte wie ein Fremder. Eher wie der einzige Mensch, den sie schon immer hatte kennen müssen. Das war wohl wirklich ein Zauber. Ein völlig unverständlicher Dämonenzauber, dachte sie. Aber auch wenn sie ihren Verstand mit all seinen Waffen gegen dieses Gefühl setzte, es wollte nicht weichen. Sie schüttelte den Kopf, um das Gefühl zu vertreiben.
»Es wird schon besser«, sagte sie und die Stimme klang mehr, wie sie es von sich kannte. Jemand, der sich zusammennahm, egal was geschah.
»Der Schrecken wird gehen«, sagte er. »Er geht immer. Und immer nach innen. Da nimmt er dann Platz und rollt sich zusammen. Und wenn man den Schrecken oft genug gehabt hat, ist gar kein Platz mehr für einen neuen Schrecken. Dann macht es einem nichts mehr aus.«
»Er war im Kriege?«
»O ja«, antwortete er. »In Italien, in den geldrischen Kriegen und sonst auch noch welchen. Ich bin ein Gefrorener.«
Damit kannte sie sich aus, die waren für sie ein schlechtes Geschäft, für alle Wehrschmiede, die »Gefrorenen«. Die überlebten Jahre und Kampagnen ohne einen Kratzer, und wenn’s bis auf Hauen und Stechen ging. Wenn man einen von ihnen finden konnte als Berater für neue Waffen, dann mochten sie ein Gewinn sein, die Gefrorenen. Die wussten, dass eine Handbreit an einer Rüstung den Unterschied machte zwischen einem Schwert, das abbrach, und einem Schwert, das sein Ziel fand. Und die wussten auch, wo diese Handbreit zu sitzen hatte. Und je wichtiger nun das Schwarzpulver wurde, je mehr brauchte man sie für die Musketen und Kanonen.
Aber meist blieben sie unter sich. Man wurde ihrer nicht leicht habhaft. Viele wurden auch trübsinnig oder verrückt oder sie endeten am Galgen.
Nicht, dass es so viele von ihnen gegeben hätte. Wenige waren gefroren gegen die Waffen der endlosen Kriege. Und selbst wenn. Man wird den Krieg nicht mehr los, wenn man mal drin gewesen ist. Der Tod geht auch mit den Gefrorenen. Und irgendwann holt er sie.
Antonia Deeken kannte den Krieg nur vom Geldverdienen. Es war ihr Geschäft, dass es nicht viele Gefrorene gab. Die meisten starben leicht. Der hier nicht, das sah man. Der würde dem Tod zehnfach die Zähne zeigen.
Und nun war’s ihr Glück gewesen, dass er sich darauf verstand, dem Tod zu entkommen.
»Mein Mann ist ein Wehrschmiedemeister«, sagte sie aber nur, was auch ein Teil der Wahrheit war. Es war vielleicht besser, sie hielt sich weiter an die Geschichte von der lungenkranken Schwester. Sie musste auf der Hut sein. Was wusste sie, wie weit Bregelsen sein Netz gesponnen hatte.
Vinzent nickte gleichgültig dazu. Er wolle auch nach Osnabrück, dann vielleicht weiter nach Münster, sagte er und beobachtete sie genau, wie er die Städtenamen sagte.
Aber sie hatte nun ihr gewohntes Gesicht wieder, das, in dem man nichts lesen konnte. Das Herringesicht, das eine Krone brauchte für seine Gedanken.
»Meine Schwester –«, fing sie die Geschichte an, hinter deren Schutz sie diese Reise angetreten hatte.
»Ich weiß«, unterbrach er sie. »Ihr habt’s erzählt.«
Also hatte er zugehört. Sie sah wieder ins Feuer. Es war ihr ganz ungewohnt, auf dem Boden zu sitzen wie ein Kind. Oder wie eine junge Mutter.