Ein Tag, ein Jahr, ein Leben - Viola Gehring - E-Book
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Ein Tag, ein Jahr, ein Leben E-Book

Viola Gehring

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Beschreibung

Die berührende Frauensaga eines Jahrhundertlebens Berlin in den späten 20ern: Tagsüber arbeitet die junge Melusine von Grenwald in einer Kunsthandlung als aufstrebende Galeristin – oder als »Ladenfräulein«, wie ihre Tante verächtlich sagt. Melusine gibt alles für die Kunst, doch sie ist auch hungrig nach Leben und Liebe. Nacht für Nacht tanzt und flirtet sie sich durch die Bars der Stadt – auf der Suche nach einer verzehrenden Leidenschaft und danach, die Vorahnung der heraufziehenden Dunkelheit wenigstens für kurze Zeit zu vergessen. Als sie bei einer Razzia dem jungen, seltsam geheimnisvollen Kommissar Arek begegnet, spürt sie sofort, dass ihre Lebenswege ab jetzt untrennbar miteinander verbunden sind. Doch da ist auch noch Wilhelm Bellwitz, der undurchschaubare Boss der Berliner Unterwelt, dessen Charisma Melusine in ein sehr gefährliches Netz lockt. Inmitten der Lügen und Verleumdungen des aufkommenden Dritten Reichs muss Melusine schließlich eine Entscheidung treffen, die ihr ganzes Leben auf einen bestimmten Weg weisen wird … Ein bewegender Roman über den Glanz der 20er Jahre, die verhängnisvollen Wahrheiten des beginnenden Dritten Reichs und eine starke Frau zwischen Kunst und Liebe.

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Seitenzahl: 757

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Über dieses Buch:

Berlin in den späten 20ern: Tagsüber arbeitet die junge Melusine von Grenwald in einer Kunsthandlung als aufstrebende Galeristin – oder als »Ladenfräulein«, wie ihre Tante verächtlich sagt. Melusine gibt alles für die Kunst, doch sie ist auch hungrig nach Leben und Liebe. Nacht für Nacht tanzt und flirtet sie sich durch die Bars der Stadt – auf der Suche nach einer verzehrenden Leidenschaft und danach, die Vorahnung der heraufziehenden Dunkelheit wenigstens für kurze Zeit zu vergessen. Als sie bei einer Razzia dem jungen, seltsam geheimnisvollen Kommissar Arek begegnet, spürt sie sofort, dass ihre Lebenswege ab jetzt untrennbar miteinander verbunden sind. Doch da ist auch noch Wilhelm Bellwitz, der undurchschaubare Boss der Berliner Unterwelt, dessen Charisma Melusine in ein sehr gefährliches Netz lockt. Inmitten der Lügen und Verleumdungen des aufkommenden Dritten Reichs muss Melusine schließlich eine Entscheidung treffen, die ihr ganzes Leben auf einen bestimmten Weg weisen wird …

Über die Autorin:

Viola Gehring, geboren 1971 in Lemgo, ist eine deutsche Schriftstellerin, Referentin und Keynote-Speakerin. Nach dem Studium der Germanistik, Geschichte und Skandinavistik in Freiburg arbeitete sie als Referentin in der Erwachsenenbildung und war Leiterin eines Theaters in Köln. Heute ist sie Inhaberin eines Instituts für Managemententwicklung und lebt im Rheinland.

Die Autorin im Internet: www.viola-gehring.de und www.instagram.com/viola_gehring_alvarez_romane

Von Viola Gehring erscheinen bei dotbooks die folgenden Romane:

»Henni - Geheimnisse einer Familie«

»Louisa - Das Erbe einer Familie«

»Der Mut einer Frau«

»Was uns am Ende bleibt«

»Ein Tag, ein Jahr, ein Leben«

»Die Hexe von Oldenburg«

***

Originalausgabe Februar 2014, März 2021, August 2024

Dieser Roman erschien 2014 bereits unter dem Namen Viola Alvarez bei dotbooks.

Copyright © der Originalausgabe 2014 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: © Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Kathy SG, Oniks Askarit

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-95520-474-7

***

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Viola Gehring

Ein Tag, ein Jahr, ein Leben

Roman

dotbooks.

Für Lena,

die »Krempe« zurückgewünscht hat.

In Liebe und Freundschaft

Prolog

Berlin, 26. Oktober 1930

Das Schicksal ist keine Demokratie. Es hat keinen Einfluss auf das Ergebnis, ob man sich dafür oder dagegen entscheidet, zu wählen.

Und ob man nun proklamiert, lieber an den Zufall oder doch an die eigene Gestaltungskraft zu glauben, am Ende kommt nie das dabei heraus, was man sich vorgestellt oder erhofft hat.

An einem einzigen Abend habe ich das für den Rest meines Lebens verstanden; das war vor über siebzig Jahren.

Monatelang kann einen das Schicksal in Frieden lassen, man lebt so vor sich hin und denkt, dass einen die Entscheidungen, die man bewusst getroffen zu haben meint, schon in die richtige Richtung führen werden. Das Schicksal hat Ferien, denkt man, und schon machen die eigenen Pläne jede Menge unbezahlte Überstunden.

Und dann kommt es zurück, das Schicksal.

Es kehrt heim wie Odysseus nach Ithaka – nach einer Ewigkeit, verkleidet, halb vergessen, erst von niemandem richtig ernst genommen.

Wer bist du schon?, denken wir, wir haben unser Haus ohne dich bestellt. Sieh mal, was wir uns so gedacht haben.

Dann gibt es sich zu erkennen.

Es schießt durch unsere Herzen wie durch die aufgereihten Axtöhren, um sich mit grausamer Treffsicherheit als zurückgekehrter Hausherr zu installieren.

Jenseits allen Zweifels sagt es: »Es ist egal, was ihr wolltet und dachtet – jetzt ist es so, wie ich es von Anfang vorgesehen habe.«

Ich hätte den Pfeil sirren hören müssen, lange vorher schon, diesen Pfeil, der, unserem bleihaltigen Jahrhundert angemessen, eine Kugel war. Ich hörte nichts.

Denn dazu war es viel zu laut. Musik und Lachen, der heitere Himmel, aus dem der Blitz kam.

***

Die Pavillon platzte aus allen Nähten. Schon als Milan, der Portier, uns die Tür aufgerissen hatte, konnte man spüren, dass dies ein Abend war, der neue Maßstäbe der Ausgelassenheit und Verruchtheit im Berliner Nachtleben setzen würde.

»Ich bin froh, dass du deine Meinung geändert hast«, rief ich Wilhelm über die Schulter zu. Die Bar kochte. Ich trug das Fliederfarbene, ich trug es so viel besser als noch ein Jahr zuvor. In manche Kleider muss man erst seelisch hineinwachsen. Die Kapelle spielte wie am Vorabend der Apokalypse. Puderstaub und Gläserklirren um uns herum.

Ich fühlte mich so erlöst und heiter: Trotz der festen Masse fremder Körper, durch die wir uns erst eine Gasse bahnen mussten, hatte ich das Gefühl eines leichtsinnigen Schwebens. Heute, dachte ich. Heute, endlich. Ich hatte die unbestimmte Ahnung, dass sich etwas erfüllen würde. So war es dann auch, nur hatte ich an etwas Schönes gedacht.

Wilhelm, golden und makellos wie immer, zeigte sein öffentliches Lächeln, wohlwollend amüsiert, überlegen, nur eine Spur gezwungen. Der Schweiß und der Tabakrauch um ihn herum schienen es nicht zu wagen, sich auf seinem Frack niederzulassen. Sein Haar glänzte wie feuchter Sand.

Ich konnte ihn nie ansehen, ohne ihn küssen zu wollen.

»Kommen Sie«, sagte er zu Arek und schob ihn sanft weiter. »Verlieren Sie nicht den Anschluss, heute Abend wird Sie schließlich niemand für einen Kommissar halten.«

Das stimmte nicht wirklich; Arek, obwohl im Straßenanzug, die schwarzen Locken gezähmt und blau schimmernd wegen der Brillantine, wirkte immer ernst. Ein besorgter König in Verkleidung, dem das Amüsieren auch inkognito nicht so wirklich gelingen wollte.

»Niemand? Ich selber auch nicht?«, lachte Arek, und ich sah, wie sich Wilhelm sofort gänzlich entspannte.

Meine zwei. Ich strahlte sie an, Herrin dieses Augenblicks, Bindeglied zwischen zwei aufregenden Seiten des Widersprüchlichen. Um uns herum tobte das Dunkelste aus Berlins Unterwelt, verquirlte sich gierig mit den oberen Spitzen der Wohlanständigkeit, ein entgrenzter Veitstanz. Eine Gruppe gewiss öffentlich wichtiger Herren, die Visagen verziert mit Schmissen, einer wulstiger als der andere, sang gegen den Jazz anbrüllend mit seltsamer Entrücktheit vaterländische Lieder. Die Herren waren behängt mit einigen Papiergirlanden und drei gewerbetreibenden Französinnen. Die Luft war zum Schneiden. Vor Wilhelm öffnete sich die übliche Schneise aus Achtung und erregter Faszination, ohne dass er etwas dazutun musste.

»Bertel, hol dir auch was zu trinken.« Wilhelm gab seinem ewig wachsamen Henkersknecht ein Zeichen, und eine zufällige Flutwelle von Provinzlern aus der Pfalz, die ihr Glück gar nicht fassen konnten, hier zu sein, spülte den gedrungenen Mann von uns weg zur Bar.

»Herrschaften …«, rief Bertel, gegen den Strom ankämpfend, das Boxergesicht verzerrt, Donnergrollen in der Stimme, dann hatte ihn die nach Unterhaltung gierende Menge schon verschlungen.

Wilhelm fand einen Tisch, den die geteilte Masse Mensch freigegeben hatte, wie das Rote Meer den Weg ins Gelobte Land. Arek rückte mir den Stuhl zurecht.

»Bitte sehr«, sagte er, höflich wie ein Tanzstundenherr, der hofft, auf dem Nachhauseweg nicht abzublitzen.

»Was trinkt ihr denn?« Ich war so glücklich, dass ich nicht aufhören konnte zu lächeln.

»Ja, was trinken wir, hm?«, fragte Wilhelm, und er hatte erstmals in der Öffentlichkeit jenen schalkhaften Ausdruck, der mich seine Vergangenheit sehen ließ. Die Zeit, als sein berühmter Leichtsinn ihm die Türen öffnete, die er jetzt endgültig hinter sich schließen wollte.

Arek musste diesen Ausdruck noch von damals kennen, er nahm ihn auf wie die Lunte, auf die ein Funke überspringt.

»Was empfehlen Sie denn?«, fragte er, ging scheinbar auf den gelösten Ton ein.

Doch im nächsten Moment streckte er Wilhelm plötzlich die Hand hin, einfach so, ohne erkennbaren Grund.

»Danke«, sagte er, sehr schlicht, sehr geradeheraus. Und er stand dabei nicht einmal auf, als hätte diese Förmlichkeit die Macht, die Echtheit seiner Geste zu entkräften.

Wilhelm nahm die Hand, ohne zu zögern: »Wofür?«, fragte er dennoch, langsam, fast scheu.

Areks ernstes Gesicht leuchtete vor Bewegung, seine Augen redeten und redeten, und alles war Gefühl.

»Ich hab mich an dir festgehalten in all den Jahren. Oft. Dafür«, brachte er schließlich heraus. Arek hatte Wilhelm noch nie in meiner Gegenwart geduzt.

Wilhelm ließ ihn nicht los. Und für einen Augenblick fühlte ich mich ausgeschlossen, frierend inmitten des Wahnsinns, denn meine Feier fand nur mit uns allen statt, zwischen uns, in uns. Zu dritt, was an diesem Abend eine gerade Zahl war, ein numerus perfectus.

»Melsuine«, rief Wilhelm da, er umfasste mit seiner anderen Hand meine Finger, als hätte er meine Furcht gespürt. »Bist du froh, schöne Melusine?«

Ich nickte, ich lächelte, ich liebte ihn so.

»Wirklich?«, fragte Arek und griff ohne Scham nach meiner anderen Hand. Und ihn liebte ich auch. Meine zwei.

Ich werde diesen Augenblick nie vergessen, wie wir drei uns hielten, miteinander verbunden in Liebe und Vergebung und Freiheit.

Da fiel der Schuss.

Areks noch immer lächelndes Gesicht war plötzlich voller Blut.

Unsere Hände, in Freundschaft und Glück gerade eben für immer miteinander verwachsen, auch.

Überall Blut.

Mein Gott, so viel Blut!

Aktenzeichen FG/MvG – Fall E.K./10-2013/A,2

Zeitungsausschnitt I.1.A, Erstveröffentlichung 25.10.2006

Neues Westfalenblatt, Rubrik »Westfalen, Deutschland und die Welt«

Auflage ges. 50.645

Auflage verk. 50.002

Berühmte Kunstmäzenin feiert 102. Geburtstag

Die große Melusine Baronin von Grenwald begeht übermorgen im Seniorenheim Haus Hoheneichen ihren Ehrentag

Was für ein Leben liegt hinter der Jubilarin! Melusine Baronin von Grenwald, geboren am 27. Oktober 1904 auf Gut Grenwald (heute Brandenburg), hätte wahrlich die ein oder andere Geschichte zu erzählen, würde es sich bei der rüstigen alten Dame nicht um eine bis zur Verschwiegenheit diskrete Person handeln.

Als junge Kunststudentin begann sie 1927 in der renommierten Berliner Galerie Filip Collin, wo sie bald zur »rechten Hand« ihres feinsinnigen Arbeitgebers wurde.

Frau von Grenwald war maßgeblich an der europaweiten Verbreitung der Werke Kokoschkas, Grozs’, Kandinskys, Liebermanns und Klees beteiligt, Letzteres gegen den ausdrücklichen Willen ihres damaligen Chefs, der Klee für einen »Krakler« hielt.

Die Zusammenarbeit verlief nicht spannungsfrei. Weitreichende Spekulationen über Unterweltkontakte hielten sich auch nach dem ungeklärten plötzlichen Bankrott der Galerie Collin Anfang 1931, zu dem Frau von Grenwald sich nie geäußert hat.

1933 zog sich Frau von Grenwald als Expertin für moderne Kunst ins Privatleben zurück, betreute aber diverse bedeutende Sammlungen in der Schweiz, der Türkei und Griechenland.

Von 1942 bis 1944 lebte sie in Schweden und kehrte wider das Anraten ihrer dortigen Freunde im Untergrund mitten im Kriege nach Berlin zurück, um, wie sie selbst einmal angab, wenigstens als »Zeugin zu etwas gut zu sein«.

In der Tat zog sich Frau von Grenwald als sehr deutlich belastende Zeugin in vielen Entnazifizierungsprozessen der Jahre 1945 bis 1951 öffentlichen Unmut zu und musste sich sogar den Titel »Schandbaronesse« gefallen lassen.

Für ihre Aussagen, die dazu beitrugen, insgesamt vierzig Nationalsozialisten in ehemals höheren Positionen als unbestritten schuldhaft zu identifizieren, erhielt Frau von Grenwald 1971 das Bundesverdienstkreuz erster Klasse.

Sie verweigerte die Annahme mit den Worten, dass »es keine Auszeichnung wert sein sollte, die Wahrheit zu sagen«.

Erst nach einem persönlichen Gespräch mit Bundeskanzler Willy Brandt, das über fünf Stunden gedauert haben soll, nahm Frau von Grenwald die Auszeichnung an. Der ehemalige Bundeskanzler kommentierte gegenüber einem Vertrauten, Frau von Grenwald sei wie das Beste der modernen Malerei, sie brächte »einen Mann zum Nachdenken und dabei würde er sie trotzdem noch gern ansehen«.

Über eine Ehe der Frau von Grenwald mit einem trotz vielfältiger Nachforschungen stets anonym gebliebenen Ehemann, die im Standesregister Dahlem von 1936 bis 1956 verzeichnet ist, gab es stets Spekulationen, jedoch fand sich nie ein Hinweis auf eine mögliche Identität des Ehemannes.

Die Ehe wurde 1956 geschieden.

Im selben Jahr erlebte Frau von Grenwald den zweiten Bankrott ihres Berufslebens. Nach einigen mehr als harten Jahren am Existenzminimum gelang es ihr dennoch im Alter von 56 Jahren, durch eine schier unglaublich geartete Zusammenarbeit mit jungen und bis dahin unbekannten Künstlern, einen erfolgreichen Neustart zu wagen.

Bis 1979 leitete Frau von Grenwald die Galerie Pavillon in Berlin, die Permaausstellung Bilderhaus in Hamburg und das Kunstzentrum Memento in Frankfurt. Die Ausstellung wurde von ihrem damaligen Sekretär Harald Breger bis zu dessen Pensionierung weitergeführt.

Sie ging dann für einige Jahre ins Ausland, was häufig mit der öffentlichen Häme, der sie nach ihrem Engagement in Bezug auf den § 218 und den §175 ausgesetzt war, in Verbindung gebracht wurde.

Frau von Grenwald selbst allerdings erklärte in einem ihrer seltenen Interviews nach ihrer Rückkehr nach Deutschland 1988 trocken, sie habe gedacht, dass sie lieber an einem warmen Orte verweilte, um »beheizt zu sterben«, aber das hätte nun zu lange »nicht geklappt«.

Nach der Wiedervereinigung gab es noch einmal Schlagzeilen um die ungebrochen streitbare Seniorin, als sie in der BZ einen ganzseitigen Leserbrief »Wider die Raffgier« veröffentlichte, in dem sie nicht zuletzt den Sohn ihres verstorbenen Bruders, Baron Ferdinand von Grenwald, anging, sich nicht an der »abstoßenden entmenschlichten Stampede auf ehemaliges Land der Ehemaligen« in den neuen Bundesländern zu beteiligen.

Gut Grenwald, nun wieder im Besitz der Familie, erklärte die Jubilarin daraufhin zur Persona non grata.

Im März 1991 eröffnete Frau von Grenwald eine Freie Kunstschule in einer wundervoll restaurierten Villa in Thüringen, das Bertel-Haus, in dem sie auch selbst bis zum Jahre 2004 residierte. Nach einem längeren Krankenhausaufenthalt infolge eines Oberschenkelhalsbruchs im März dieses Jahres bezog Frau von Grenwald schließlich ihr jetziges Domizil in einer der feinsten Seniorenresidenzen der Republik: das schöne Haus Hoheneichen.

Schon zu ihrem Hundertsten verwehrte sie sich bescheiden alle Feierlichkeiten, weswegen sie sich auch in diesem Jahr leider nicht zu einem Interview bereit erklärte.

Hoheneichen-Direktor Karl-Heinz Vendtorp, unseren Lesern als schmunzelnder »Gerontophilus« aus seinen heiteren Beiträgen bestens bekannt, schwärmte allerdings gegenüber dem NWB: »Einen Menschen wie Frau von Grenwald trifft man in der Tat nur einmal in hundert Jahren. Wir sind alle sehr dankbar, dass sie bei uns ist. Haus Hoheneichen ist stolz auf die aufrechte und ehrenvolle Geschichte, deren Geist in Frau von Grenwald lebt.«

Wir wünschen Baronin Melusine von Grenwald einen gesegneten Geburtstag und gute Gesundheit.

Kapitel 1Eine Säule der Gesellschaft

Glück verjährt so wenig wie Frevel.

Viele andere haben hier alles, was mal wichtig war, längst zugunsten ihrer geheimen Vergessenswelten drangegeben.

Ich nicht.

Melusine von Grenwald, Zimmer 148, Haus Hoheneichen. Haus Hoheneichen ist ein Haus, von dem man immer meint, dass es nur erfunden sein könnte. Es gibt natürlich mehr von solchen Häusern, als man denkt, aber die wenigsten wissen, wo sie sich befinden.

Das liegt daran, dass reich und reich sich gern gesellt, und wer nicht reich ist, soll draußen bleiben. Meinetwegen können gern alle draußen bleiben. Ich war zu oft speiarm, um mich für reich zu halten. Ich gehöre nicht dazu. Ich bin nicht wirklich reich und wohlanständig. Und wahrscheinlich bin ich auch nicht wirklich alt und siech. Sich nach seinem Alter zu verhalten, wie es die Welt erwartet, macht für mich genauso viel Sinn, wie sich nach seiner Hausnummer zu verhalten. Konformität widert mich an.

Aber hier ist sie so was wie ein Glaubensbekenntnis.

Das trägt nicht eben zu meiner Gesprächslust bei. Rutscht mir den Buckel runter, ich hab niemandem was zu sagen. Im Gegensatz zu vielen meiner Gevattern hier; die lechzen geradezu nach Ansprache, nach jemandem, den sie ansprechen können.

Ach, und wie gerufen, da kommt dies junge Mädchen, mit dem ich so gern rede. Aber ich bin noch nicht so weit.

Also, zurück: Haus Hoheneichen. Ein Aufbewahrungsort; eine Station vor dem Erbbegräbnis. Zuerst fährt man in einen Park. Am Eingangstor sitzt tagsüber ein Pförtner, der meldet jeden Gast telefonisch an, den er nicht kennt.

Die meisten Herrschaften, die kommen, kennt der Pförtner natürlich nach dem ersten Mal und muss nicht mehr anrufen.

Nachts gibt es eine Sprechanlage. »Haus Hoheneichen, hier spricht Beggel«, sagt eine Stimme, die sehr distinguiert und zugleich sehr wachsam klingt. Dann muss der säumige Besucher zugeben, wie lange er nicht mehr da war, und bekommt eine Sicherheitsfrage gestellt. Die Sicherheitsfragen werden in den Anmeldeformularen abgestimmt. Es sind simple Besonderheiten, meist das erste Wagenmodell oder die Lieblingsspeise, solche Dinge. Manche wählen als Zahlenfolge persönlich bedeutsame Geburtstage aus, nicht selten, da bin ich mir sicher, den 20. April.

Man hält auf Tradition in Hoheneichen.

Mich kommt niemand besuchen.

Und das letzte Mal ausgegangen bin ich vor vier Monaten. Mir fehlt nichts.

Wer alles gehabt und alles verloren hat, was kann dem fehlen? Und ob man ihn jetzt besser aushält, den Schmerz? Nach all den Jahren Übung? Das Vermissen? Die Einsamkeit? Diese verfluchte Einsamkeit …

Ich weiß wenigstens, dass das nicht am Alter liegt.

Oder nur bedingt. Die Leute, die ich noch kennen wollte, sind alle längst tot. Die paar, die mich kennen wollen, habe ich nun weitgehend entmutigt, den weiten Weg hierher ins noble Nichts zu machen.

Was man hier so sorgsam hütet, sind übrigens weder Staatsgeheimnisse noch Waffen. Hoheneichen ist ein Altenheim für steinreiche Halbtote wie mich. Erbschleicher habe ich schon lange in die Flucht geschlagen. Ich habe so viel Geld gehabt und so viel Geld verloren, hätte mich das schlimme Alter zu einer früheren Zeit erwischt, hätte ich auch gut im Mehrbettzimmer, angewiesen auf Sozialhilfe, vor mich hin siechen können. Ein Fürsorgefall, wie wir früher sagten.

Aber es ist anders gekommen: Mahagoni und Damast.

Ich hab den Leuten trotzdem abgewöhnt, mich zu belatschen. Nur heute kann ich es nicht verhindern, dass man mich populär behandelt, heute, an meinem Geburtstag. 102.

Sie sind gekommen wie eine Plage. Presse ist da und Anzugträger, schätze, so was wie mindere Staatssekretäre. Ein armer junger Pastor, ganz verschüchtert in seiner Cordjacke; also wirklich: Cord – Manchester sagten wir immer!

Und lauter weitläufige Verwandtschaft. Wo die nur wieder herkommt?

»Prosit, Tante Melusine!« Natürlich mit Champagner, Krug, es klingelt in echtem Kristall. Mir gibt man ja kein Glas, weil ich mich daran verletzen könnte. Vielleicht reichen sie mir am Ende eine Schnabeltasse, Santée mit Nudelsuppe.

Alle paar Minuten fasst mich jemand an, als wäre ich aus Glas. Wenn man so alt geworden ist wie ich, ist man ein Monument aus Seidenpapier. Ich halte den Mund. Was sollte ich auch sagen? Die anderen quatschen für mich. Pardon, sie halten Reden.

Rede klingt doch eher, als hätte man was zu sagen. Sie quatschen unbesorgt dahin, verbale Inkontinenz, öffentlich am ehesten unbemerkt.

Irgendein Ex-General hält eine Rede auf meinen Bruder Fritz, in der ich nur am Rande vorkomme, wenn überhaupt.

Ich habe aber auch nicht so gut aufgepasst.

Am Ende bremst der erregbare Militär sich mühsam vorm »Hipphipphurra«.

Mein Bruder ist seit dreiunddreißig Jahren tot. Würde er noch leben, wären wir tödlich zerstritten.

Der General wischt, von sich selbst überwältigt, seine Augen und tritt ab.

»Bewegend«, säuselt Vendtorp, der Direktor. Der wittert bloß einen weiteren Mieter.

Anschließend kommt der Bürgermeister, bebend erst, dann triefend vor Ehrfurcht. Die Spenden und Sponsoren, die hier zusammenkommen – wo findet er so etwas je wieder? Ich zähle jetzt bis zehn, bis dahin wird er es gesagt haben. … neun – zehn …

Und endlich: »eine Säule der Gesellschaft«. Das bin ich. Ich hätte lieber noch eine bewegliche Wirbelsäule als eine metaphorische Gesellschaftssäule zu sein.

Außerdem stimmt das nicht mehr; ich nehme diese neue Gesellschaft so wenig zur Kenntnis wie sie mich. Wir sind vor Jahren schon in unterschiedliche Richtungen abgebogen, und mein Weg zumindest endet unausweichlich in einer Sackgasse.

Kinder, geht mir das auf die Nerven hier. Wo ist die Kleine, kann die mich nicht retten? Nein. Weiter geht’s, neue Redner: ein Kunsthändler, der meine letzte Galerie dem abgekauft hat, dem ich sie verkauft habe. Der ist doch bloß hier, um Geschäfte zu machen. Viel Glück, Jüngelchen, ich weiß, wie schief das gehen kann. Der Kunsthändler schwatzt von meinem revolutionären, vorausschauenden Kunstverstand, den er sich bemühte –»höhöhö, mit bescheidenem Erfolg« – demütig fortzuführen, das »Vermächtnis der hohen Frau von Grenwald«, blabla …

Ich nicke. Wenn man so tattrig ist, erwarten ohnehin alle, dass man nickt, mangelnde Statik. Applaus, und nun dieser arme Cord-Pastor. Mein Taufspruch, mein Konfirmationsspruch, »denn ich bin gewiss, dass nichts Hohes noch Tiefes, nichts Gegenwärtiges noch Zukünftiges, mich scheiden kann von der Liebe Gottes«, er wird doch deswegen nicht weinen, der arme Junge. Der Einfachheit halber kann er mir gleich noch ein Epitaph hinterhersagen. Ich wüsste ein hübsches Verslein ... es endet mit »Fleiß« und reimt sich sehr vulgär.

Oje, nun muss ich gelächelt haben, irgendeine vor Schmuck triefende Dame, schlank, schick, angestrengt sportlich, vielleicht verwandt, nähert sich mir in einer Duftwasserwolke, die sogar einer Nutte zu billig wäre. »Liebe, liebe Tante Melusine«, leiert sie mir ins Ohr, dann was vom Trost des Glaubens, dem Brot des gesegneten Alters. Ich kann dir was erzählen, Brot des Alters. Mir müssen sie schon vom Weißbrot die Rinde abschneiden.

O nein! Der Pastor kommt auch näher und erzählt was von Glauben und Gott; genau genommen sagt er »Klauben« und »Kott«. Schließlich »Kerechtikkeit Kottes«, jetzt ist es wirklich gut.

Schafft mir den Kerl vom Hals oder der spontane Exitus ist mein einziger Protestausweg. Dann die Torte, hereingerollt von meiner Kleinen. Wie kann man nur so jung sein?

»Aaahh!« Jubel, Hosianna der Torte. Zwölf Kerzen und in der Mitte eine glasierte 101. Wie beklemmend, dass sich da jemand so an der Mathematik vergriffen hat. Direktor Vendtorp ergreift zwei Gläser, ich kriege wohl doch eins, und nähert sich.

»Liebe, sehr liebe Frau von Grenwald.« Alle machen gerührte Gesichter. Sie rollen mir die Torte hin. Hier ist mein Glas, und jetzt soll ich wohl was sagen. Aufmunterndes Nicken rundherum … Bitte, meine sehr verehrten Herrschaften, mein Trinkspruch anlässlich des 102ten, et voilà:

»Verpisst euch alle!«

Damit hat wohl keiner gerechnet. Diese Gesichter, jetzt darf ich nicht lachen.

»Frau von Grenwald«, haucht Vendtorp.

»Ich habe gesagt, ihr sollt euch verpissen!«

Gemurmel, man vermutet allgemein, ich könnte dehydriert sein, einer traut sich immerhin, »dement« zu flüstern. Vendtorp versucht die potentiellen Gelder vor der Verstimmung zu retten, bittet alle »zu einem kleinen Umtrunk in den beigen Salon«, man müsse die Jubilarin nun ruhen lassen.

Unbedingt muss man mich ruhen lassen. In Ruhe lassen.

Sie defilieren hinaus, mit mitleidigen Blicken auf meinen morschen Restkörper.

Die hübsche junge Schwester, meine Kleine, von der ich leider immer wieder den Namen vergesse, bleibt, werkelt geschäftig an der Torte herum, pustet die albernen zwölf Kerzen aus.

»Das war aber nicht nett von Ihnen, Frau Baronin.«

»Nein?«, frage ich.

Da lächelt sie. »Sie führen doch was im Schilde. Sie wollten die los sein.«

»Rollen Sie mich an den Schreibtisch, Kind.«

»Wollen Sie wem schreiben?«

Ja, will ich. Das ist ein Brief, den schreibt man nur einmal im Leben. Und es bringt einen fast um, den zu schreiben, das garantiere ich.

»Soll ich den Brief nachher für Sie zur Post bringen, Frau Baronin? Oder Herrn Breger mitgeben?«

Ach, Schätzchen, wenn ich eine Adresse hätte, wäre das sehr nett.

»Lassen Sie nur.« Wie heißt sie noch mal, ich kann das gottverdammte Namensschild nicht lesen. Mein Gott, ich konnte mal den Faust auswendig. Und den Tasso.

»Schwester?«

»Ja, Frau Baronin.«

»Ich möchte nicht gestört werden, von eventuell besorgten Gratulanten. Können Sie mir da beistehen?«

»Natürlich, Frau B…«

»Hör’n Sie schon auf damit. Wir leben doch nicht mehr vor der Zeit. Ich heiße Melusine.«

Sie blickt mich aus großen Augen an. »Hat man vergessen, Sie zu taufen?«

»Ich bin doch Schwester Monika«, flüstert sie.

Ach ja, das hat sie mir bestimmt schon ganz oft gesagt.

»Wir reden doch immer so nett zusammen.« Sie ist ganz durcheinander, weil ich mich nicht erinnere. Mir schwant dunkel, dass ich mich an was Großes erinnern müsste.

»Sie haben mich doch so toll getröstet, als es aus war mit meinem Freund!«

Toll? Aha. Na ja, ich bin wirklich gut in solchen Gesprächen. Ich habe den Liebeskranken von vier Generationen zugehört und Trost gespendet, da werd ich wohl mittlerweile wissen, wie es geht. Toll, an das Wort habe ich mich nie gewöhnt. Ein Kinderwort, oder?

Aber gerade fällt mir so gar nicht ein, was mit dem Mädchen los war. Na, besonders sind diese Geschichten eigentlich nie. Liebe ist in den meisten Fällen entweder ein Deckname für Lust oder für Angst, da kann dazwischen so einiges schiefgehen. Muss.

»Monika, Liebes, ich werde den weiteren Nachmittag beschäftigt sein. Halten Sie mir nur diese Gratulanten fern. Halten Sie mir alle fern.«

Sie nickt, sehr apart eigentlich, große Augen, schöner Mund. Warum sie wohl hier arbeitet? So jung unter lauter undankbaren Greisen, die sich dann nicht an ihren Namen oder ihren Herzenskummer erinnern.

»Ja …«, sie traut sich aber doch nicht, Melusine zu mir zu sagen. Unentschlossen steht sie da.

»Dann gehen Sie jetzt nur. Und nehmen Sie diese alberne Torte mit.«

»Wollen Sie nicht wenigstens mal probieren? Die ist von der Konditorei Helmer.«

Appetit ist für mich Dekaden her, aber das kann ich ihr nicht sagen. »Geben Sie sie den übrigen Schwestern mit.«

Die Tür schließt sich leise hinter ihr. Endlich ist sie weg. Armes Ding. Ich hoffe, ihr Liebeskummer ist vorbei. Vielleicht kann sie es schaffen, in Episoden zu leben. In Novellen, die man heiter erinnert; das wünsche ich ihr.

Und ich sitze da, an meinem Sekretär. Den hatte ich damals schon. Er gehörte meiner Mutter. Ich lege die Hände auf die Unterlage und warte.

Wenn ich mir meine eigenen Hände angucke, frage ich mich, wann sie sich in solche Klauen verwandelt haben. Ich bin verdammt.

Ich bin froh, dass ihr mich so nicht sehen müsst, Jungs.

Ich vermisse euch. Meine zwei.

Die einzigen beiden Menschen auf der Welt, die ich heute gern bei mir gehabt hätte. Ich habe irgendwo hier noch Fotos von euch, sepia und voller Fingerabdrücke. Arek in Uniform und du, Wilhelm, im Stresemann. Über siebzig Jahre her, mein Gott. Wer hätte das geahnt? Vor siebzig Jahren hätte ich siebzig für alt gehalten. Und angefangen hat es sogar noch davor. Hat es je aufgehört? Ich brauche keine Fotos. Wenn ich die Augen schließe, dann sehe ich euch. Euch beide.

Ich empfinde es als durchaus befriedigend frivol, dass ich hier sitze und mich immer noch nicht entscheiden kann, wen von euch beiden ich mehr geliebt habe. Es würde den einen von euch sanft entrüsten und den anderen sanft amüsieren, dass es mir noch so wichtig ist, zu schockieren. Wenn ihr wüsstet, wie wenig Spaß das ist, verglichen mit der Sehnsucht vor über siebzig Jahren. Es hört nie auf, weh zu tun.

So viel hat sich geändert – und dann wieder so wenig.

Mein lieber Arek, geliebter Wilhelm, ich habe heute Geburtstag ...

Kapitel 2In der Kellerbar

Er hieß Wilhelm Gotthilf Bellwitz. »Gotthilf«, ausgerechnet. Die wenigsten wussten, dass er einen zweiten Vornamen hatte. Ich meine, alle kannten ihn sowieso nur als »Krempe«, wobei kennen auch zu viel gesagt ist. Wie man eben berüchtigte Berühmtheiten kennt. Von ferne, tuschelnd, begeistert, entsetzt. Man weiß den Namen, wenn man die Person sieht, ein Auge schaut hin, das andere schnell weg.

Wilhelm Gotthilf Bellwitz, genannt »Krempe«.

Es war seine Kellerbar, die Pavillon – und es war elf Uhr vormittags, an meinem fünfundzwanzigsten Geburtstag, dem 27. Oktober 1929, als es anfing.

Ich hatte drei Freundinnen von der Universität überredet, mit mir verwegen zu sein und am helllichten Tag einen trinken zu gehen. Ich selber war gar nicht mehr an der Universität, aber die drei anderen waren es: Hilde, Sigrun, Kirsten – allesamt im letzten Jahr, allesamt in humorloser Ernsthaftigkeit.

Hilde wollte Lehrerin werden, brav, stämmig und kurzbeinig. Die schöne Sigrid studierte auf Ärztin und war trotz eines sehr reichen Vaters eine überzeugte Kommunistin – in ihrer eigenen Stadtwohnung mit ihrem eigenen Konto. Dann die langweilige Kirsten, blass, mit Brille, bildete sich viel auf eine dänische Mutter ein. Sie studierte Philosophie, Kierkegaard natürlich, immer in korrekter Aussprache erwähnt.

Ich hatte die drei zufällig getroffen, denn ich war seit über einem Jahr nicht mehr in akademischen Hallen zu finden.

Nicht, dass wir uns vermisst hätten. Aber vergessen hatten wir uns auch nicht. Wir waren mal zu derselben Veranstaltung gegangen: Aufklärung über Geschlechtskrankheiten.

Eigentlich hatten wir gehofft, dass es was mit Geschlecht zu tun hätte und weniger mit Krankheit, ich jedenfalls hatte es gehofft. Ein detailreicher Lichtbildervortrag belehrte mich eines Besseren. Nachher hatten wir vor Ekel gemeinschaftlich gekotzt, das verbindet mehr, als man denkt.

Ich hatte damals noch Kunstgeschichte studiert, gegen den Wunsch meines Vaters, der bezüglich meiner Fachwahl rotgesichtig von malenden Sozialdemokraten und Defätisten redete und dann den Kragen lockern musste. Ich setzte mich durch und tat so, als würde ich mich nicht um ihn scheren. Dass ich ihn liebte, habe ich ihm nie gesagt. Als ich die Wahrheit endlich fühlen konnte, war es zu spät.

Ich habe viele Fehler gemacht. Ich hatte schließlich 102 Jahre Zeit für Fehler.

Kunstgeschichte war nur eines dieser Gefechte zwischen uns, in denen wir versuchten zu verstehen, warum wir, Vater und Tochter, so enttäuscht voneinander waren.

Es war ohnehin ein Pyrrhussieg. Jungfer Academia hielt keinen Kranz für mich bereit. Nach drei Jahren hatte ich genug von Bildbetrachtungen der frühen Neuzeit und von Überlegungen, ob eine zerstampfte Walnuss das Leiden Christi exklusiv oder das Leid der gesamten Menschheit inklusiv ausdrücken sollte. Also ging ich nicht mehr hin.

Ich war kein lux populi, eher ein spezieller Fall.

Ohne die Uni war ich aber auch nicht zufriedener.

Ich war jung. Ich war allein. Ich war einsam, wirr, wütend. Und gierig danach, etwas zu erleben, was ich für Leben hielt und was diese schreckliche Angst vor der vor mir liegenden blinden Wegstrecke meines ungelebten Lebens irgendwie in Schach halten könnte. Arbeit half.

Lebensweisheit: Arbeit hilft immer!

Ich arbeitete inzwischen als Assistentin eines Kunsthändlers – des Kunsthändlers Filip Collin –, als »Ladenfräulein«, wie meine Tante Dorothee Friederike Gräfin Sandham sich erregte, in seiner Galerie an der Ecke Kurfürstendamm, Joachimstaler Allee.

Gute Adresse, bisweilen allerdings ziemlich illustre Kundschaft, was in diesen Jahren nicht zu vermeiden war, wenn man sich liquide halten wollte. Und wie alle, die aus ziemlich verarmtem, ziemlich niedrigem, aber unbestreitbar altem Adel stammen, hatte ich keine Scheu davor, Geld anzuhäufen, wann immer sich die Möglichkeit bot. Ich hab’s auch wieder verloren, andere hatten ebenso wenig Scheu, es mir wegzunehmen. Wenn die Jugend wüsste, wie das Leben mal wird, hätte sie wahrscheinlich gar nicht den Schneid, damit weiterzumachen.

Ich hatte damals einigen Schneid. Oder das, was ich dafür hielt. Spaß haben wollte ich, weil wir alle glaubten, dass die Nachkriegszeit bald wieder eine Vorkriegszeit würde; mitnehmen, was man schnappen kann.

Wer Krieg kennt, weiß, was das heißt.

Ich hatte einen Namen und ich hatte Beine, beides versteckte ich nicht, deswegen war ich beliebt. Bei denen, die ein von als Trittbrett wollten, und bei denen, die sich vorstellten, mit jeder Frau das Bett zu teilen, die sie aus einer dunklen Ecke heraus angafften. Snobistische Vampire der Impotenz.

Ich war oft zu verruchten Künstlerfesten geladen und ging immer hin, wenn sie nur verrucht genug waren. Es war ein albernes, verlorenes Spiel, eines, das ich mit mir selbst spielte, aber das ahnte ich nicht. Man nimmt sich so furchtbar ernst, wenn man jung ist.

In diesen Tagen wohnte ich übrigens bei der lieben Tante Dorothee Friederike (im Weiteren vielleicht besser »Friekchen«, sofern bitte der niedliche Name niemanden täuschen möge), einer verwitweten Schwester meines Vaters, die ihren Gatten Ferdinand Graf Sandham ohne tiefere Gemütsbewegungen überlebt hatte. Onkel Ferdinand hatte ich gemocht. Ich hatte ihn »Onkel Nand« nennen dürfen, eine Auszeichnung, die Tante Friekchen zu hintertreiben versucht war. Er starb, also siegte sie. Aus sittlichen Gründen wohnte ich dort – angeblich, in Wirklichkeit jedoch nur, weil ihr trotz günstiger Heirat und Titel nach der Inflation nicht mehr geblieben war als eine ruinös beheizbare Achtzimmerwohnung.

Ich durfte zwei der Zimmer bewohnen und Miete zahlen, als wären es vier. Herr Collin allerdings, mein Arbeitgeber, entlohnte mich »mosaisch«, wie mein Vater verächtlich sagte. Heute darf man das eigentlich gar nicht mehr wiederholen.

Viel Geld hatte ich jedenfalls nicht.

Tante Dorothee beherbergte auch noch zwei weitere (nicht mehr ganz so junge) Damen von »Stand« – ein kleines bisschen über vierzig – und gierte allabendlich nach endlosen Bridgepartien und Gesprächen über den Verfall der Zeit. Munter wie in einer Leichenhalle. Mir waren auch deswegen die Künstlerfeste lieber.

Ich amüsierte mich nicht wirklich, aber ich war überzeugt, dass der Lärm, die Tändelei und das sinnlose Gewäsch eitler Neurotiker Riten einer geheimnisvollen, aufregenden Welt wären. Und wenn es mir nur gelänge, diese Welt zu meinem Vergnügen zu erschließen, würde es mich zu einem freien und interessanten Menschen machen. So stellte ich mir das vor.

Wenn mir die häusliche Sittlichkeit also zu langweilig wurde, und der innere Ruf nach Leben zu laut, blieb ich über Nacht aus, und Tante Friekchen musste, der Miete wegen, gegen meinen Vater dichthalten, wenn er fragte, ob sie sich zu beklagen hatte.

Auf einem dieser lauten Künstlerfeste also sah ich »Krempe« zum ersten Mal. Mein Galan, Hartmann Ooster, ein immer leberkrank wirkender, kleiner Maler, der stets knapp vor »seinem Durchbruch« stand, zeigte ihn mir.

»Das da ist Krempe«, flüsterte er mir zu.

Das war also Krempe.

Tja, was mehr sollte man da auch sagen? Ich musste schlucken, als wäre mir das Wasser im Mund zusammengelaufen. Ein Bild von einem Mann, immer eine Spur zu aufregend für diese Welt – wenn man diese Art Kerl mag. Die Art Kerl, die von echter Gefahr umgeben ist. Er war groß, um die vierzig, unnahbar, faszinierend.

Und er trat makellos auf. Smoking, Nelke im Knopfloch, Manieren wie ein Herr und ein Körper wie ein Preisbulle, in Kombination faszinierend halbseiden. Blondes Haar, mit Brillantine zurückgekämmt, frisch rasiert, und im Gesicht einen gefährlichen Leichtsinn. Er strahlte golden und lässig eine sorglose Gefahr aus. Ein Löwe, der sich sonnt.

Der Mund immer leicht amüsiert, ein bisschen spöttisch, ein bisschen mitleidig, sinnliche Kontinente weit entfernt von solchen Figuren wie Ooster. Um die Augen eine unendlich müde Wachsamkeit, wie einer, der keinen Augenblick vergisst, dass er gefährlich lebt. Veteran, das war klar.

Er sah aus wie ein Liebhaber, ein Hochstapler, ein Abenteurer, ein Verführer – ein Ganove, er sah aus wie einem Roman entsprungen.

Kintopp mit Hinterhof in der Wirklichkeit.

Krempes unsichtbare Assiette war die des edlen Wilden. Man konnte ihn begeistert ansehen in seinem maßgeschneiderten Smoking, stundenlang, und sich noch mehr damit unterhalten, sich vorzustellen, wie er von all diesen zivilisatorischen Accessoires befreit ausgesehen hätte.

Nachdem ich ihn tatsächlich das erste Mal nackt gesehen hatte, wurde das nicht besser. Ich muss ganze Wochenläufe damit verbracht haben, verklärt vor mich hin zu starren, in Gedanken bei Wilhelms goldener Schönheit au naturel.

Wilhelm war meine sexuelle Revolution, noch bevor ich je daran gedacht hätte, eines von beiden Worten laut auszusprechen – schon gar nicht in Kombination.

Ihm selbst war das unangenehm.

»Melusine«, sagte er rügend, wenn ich ihn bestaunte, »ich bin kein Bild.«

»Aber du solltest eins sein«, sagte ich dann, und beim ersten Mal ist er rot geworden.

Damals hatte ich natürlich nicht den Hauch einer Ahnung, dass ich ihn je nackt sehen würde. Es handelte sich immerhin um eine Berühmtheit zwielichtigen Ranges.

»Das ist Krempe«, Oosters Worte.

»Und wer ist das?«, wollte ich wissen.

»Der dunkle Gott der Stadt«, raunte Ooster und versuchte, tragisch auszusehen. Es misslang; kleingeistige Naturen sehen nicht tragisch aus, höchstens verstimmt.

»Hartmann, du musst mich nicht beeindrucken«, informierte ich ihn. »Ich habe schon mit dir geschlafen. Und wenn du noch so sehr tust, als wärest du Stefan George, regt es mich trotzdem nicht zu einer Wiederholung an.«

Daraufhin wurde Ooster noch etwas gelber und wirkte noch leidender, soweit das möglich war. Ich war ein Biest.

Wenn ich wusste, dass ein Mann mir unterlegen war, vernichtete ich ihn. Ich konnte und wollte nichts dagegen machen. Es schien die einzig mögliche Linderung für jenes sehnende Ziehen, das ich in der Seele spürte und dessen Erfüllung ich zu verpassen fürchtete.

»Ein Verbrecher ist der«, sagte Ooster dann betupft, »Glücksspiel, Rauschgift und Mädchenhandel.«

Das interessierte mich natürlich sehr. Ich strebte in die Richtung des dunklen Gottes, der kein bisschen dunkel aussah, um ihn möglicherweise mit meinen jugendlichen Vorzügen zu beeindrucken. Es war wie ein Zwang. Ich musste einen Mann dazu bringen, mich anzusehen, als hinge sein Leben davon ab. Danach wurde er mir schnell egal. Aber es waren in diesem speziellen Fall bereits zahllose Damen und auch einige Herren jeder Couleur mit ähnlichem Ziel unterwegs. Dies Varieté der Konkurrenz schwächte mich.

Ich blieb zurück. Irgendwann ging er, aber ich habe sein Gesicht nicht vergessen. Das Gesicht eines Mannes, der zum Liebhaber geboren war. Es war das Gesicht eines Helden, nicht das eines Verbrechers.

An jenem Geburtstag also rannte ich die Treppe zur Pavillon herunter.

Hildchen, Sigrid und die blasierte Kirsten blieben verunsichert ein paar Schritte hinter mir – Vorsicht, Vorsicht beim Abstieg ins Milieu. Es fehlte nur noch, dass sie sich an der Hand hielten. Ich wollte mich zu ihnen umdrehen, um etwas Provozierendes zu sagen, da knickte ich um und fiel hin.

Und so geschah es. Ich landete fast direkt vor den Füßen dieses dunklen Gottes. Wenn mich nicht jemand abgefangen hätte. Dumpf plumpste ich in die Bar wie ein Mehlsack. Ein Absatz hing daneben.

Krempe sah nur kurz auf und widmete sich dann wieder dem leisen Gespräch an seinem Tisch. Es war elf Uhr morgens und er trug Frack. Seine Gesprächspartner sahen auch aus wie vom Vorabend übriggeblieben. Ein Mädchen schlief zwischen ihnen, hatte sich zu oft nachgeschminkt und einen Ausschnitt bis sonst wohin. Ich konnte gar nicht wegsehen. Verrucht, oh Gott, wie verrucht.

»Die Würfel mögen fallen, Gnädigste, wie sie fallen, aber doch nicht Sie«, erklang eine weiche Stimme, zu der freundlichen Hand gehörend, die sich mir rettend entgegengestreckt hatte.

»Ich habe heute Geburtstag«, sagte ich, während ich aufstand, ein bisschen zu laut zu einem jungen Mann mit Schlangenaugen, meinem Retter.

Krempe hatte nicht mal den Kopf gedreht.

»Natürlich«, antwortete der junge Mann. »Darf ich in diesem Fall in aller Form um die Ehre des ersten Tanzes im neuen Lebensjahr bitten?«

»Meine Tante Friekchen würde nicht dulden, dass ich am Vormittag einfach so mit einem Fremden tanze«, strahlte ich ihn an und hoffte weiter, dass dieser Krempe mich hören und sich für mich interessieren würde.

Der unbekannte junge Mann zuckte mit den Mundwinkeln. »Mit vorweggenommener Erlaubnis der unbekannten Tante bitte ich, mich vorstellen zu dürfen«, sagte er mit den Manieren eines exilierten österreichischen Geheimrats und einem Plätschern vom Niederrhein in der Stimme. »Ich bin Josef-Maria Wendlinger. Aber hier nennt man mich etwas informell Joe.«

Joe war sehr hübsch, sehr graziös, vor allem sehr andersrum, wie wir damals sagten.

»Melusine von Grenwald«, knickste ich, wobei ich versuchte, meinen Absatz wieder gerade zu rücken.

Joe rief der einpackenden Jazzband zu, dass es mein Geburtstag sei. Der Trompeter fluchte in Liverpool-Englisch, das er als Amerikanisch ausgab, seine gottverdammte Ruhe haben zu wollen, und setzte sofort an, uns etwas Schmachtendes zu spielen. Die süchtige Routine des Entertainments trieb ihn durch einige Triller mühsam geputschter guter Laune.

»Mademoiselle Melusine«, Joe verbeugte sich, und ich tanzte mit ihm, etwas schlingernd wegen meines Schuhs.

Sigrid, Kirsten und Hildchen hatte ich ganz vergessen. Sie standen immer noch entsetzt am Treppenabsatz, bis ein Kellner sie zu einem Katzentisch führte, wo sie sich nicht zu schade waren, Hagebuttentee zu bestellen. Das war eine Gesellschaft! Aber es war mir egal. Ich erlebte jetzt etwas Verruchtes. Es war elf Uhr vormittags, ich war in einer Bar, Krempe saß da, und ich tanzte Jazz! Dieser Joe war ein göttlicher Tänzer.

Ich hatte das Glück gehabt, seit meinem leichtfüßigen Cousin Fortunatus von Breisit in der Tanzstunde fast nur mit Männern zu tanzen, die etwas davon verstanden. Aber Joe stellte sie alle in einen Schatten wie kurz vor Sonnenuntergang! Auch wenn beim Tanzen mit einem »sittenfremden« Mann, wie Tante Friekchen sagen würde, natürlich immer ein gewisser Reiz fehlte, strahlte ich. Wir walzten, wir tanzten Slowfox und dann einen Charleston.

Der Liverpooldische Trompeter endete in einer schrägen Fanfare seiner Müdigkeit. Vermutlich hatte ihn das Kokain im Stich gelassen. Danach musste ich sowieso, weil bedenklich hechelnd, eine Pause einlegen. Die Kapelle packte nun endgültig zusammen.

»Sind Sie Berufstänzer?«, fragte ich Joe.

Joe atmete nicht mal schneller. »Ich bin so frei«, antwortete er, eine Zigarette zwischen den strahlend weißen Zähnen, »Staatsoper, bis 27.«

Ich schwieg beeindruckt und keuchend. Meinte er sein eigenes Alter oder den Jahrgang? Joe benutzte einen besseren Puder als ich, man konnte sein Alter schlecht raten.

»Und jetzt?«, japste ich schließlich. »Wo tanzen sie jetzt?«

Er schnitt eine Grimasse: »Hier. Eintänzer für Damen, die schon ein paar mehr Geburtstage hinter sich haben als Sie, gnädiges Fräulein.«

Das wurde ja immer verruchter. Ein Gigolo!

Joe winkte dem Barmann.

»Aber, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, vermutlich werden Sie nicht einmal Dienste von meinesgleichen bemühen müssen, wenn Sie dreifach so alt sind wie heute. Wozu darf ich Sie einladen?«

»Schließen Sie nicht bald?«

»Die Pavillon schließt nie«, erklärte Joe mit einem gewissen Stolz. »Wir sind die einzige Bastion der Unmoral, die durchgehend geöffnet hat. Mit Schichtwechseln, gewerkschaftlich.«

»Na, denn«, sagte ich. »Ich hätte gerne einen Whiskey.«

Das erschien mir das geeignete Getränk zu sein, hier Eindruck zu machen. Ein regelrechter Drink. Dabei vertrug ich nichts.

»Aber bitte«, nickte Joe, gab den Wunsch weiter und bestellte sich selbst eine heiße Zitrone.

Er sei wetterfühlig, erklärte er, der Herbst drohe ihm mit Erkältungsschüben, und in seinem business müsse man agil und gesund bleiben. Jede Form von Phlegma, betonte er, und es klang fast altgriechisch, hielte seine Kundschaft dauerhaft fern. Dazu hustete er ein bisschen, wie um den Beweis anzutreten.

»Ach«, sagte ich und schämte mich für den teuren Whiskey. Vielleicht kostete ich ihn einen Tagelohn. Ich hatte echte Dollarnoten in meinem Portemonnaie und versuchte, die Taschen an Joes Jacke auszumachen, ob ich ihm nicht unbemerkt eine zuschieben könnte. Joe zeigte aber keine Anzeichen finanzieller Sorgen.

»Werden ihre Freundinnen nicht denken, dass Sie ihnen ein schlechter Kamerad sind, wenn ich Sie so lange hier festhalte? Oder dass ich ein unhöflicher Mensch bin?«

Ein schuldbewusster Blick zum Trio der Langeweile. Liebe Güte: Sie lasen sich gegenseitig aus der Karte die Namen und Preise der Cocktails vor. Hilde voll entsetzter Missbilligung solch liederlicher Völlerei, Sigrid mit der Überlegenheit der Genossin, die nur Wodka oder Wasser trank, und Kirsten erklärte halblaut, dass echter Aquavit sowieso nur in Dänemark zu bekommen wäre.

»Ich gehe das Risiko ein«, sagte ich zu Joe, »was die Kameradschaft angeht, meine ich. Sie ist auch keine sehr enge.«

Er lächelte: »Hören Sie, Mademoiselle Melusine –«

Da flog die Tür auf, und die Polizei in Mannschaftsformation stürmte donnernd die Treppe herunter.

»Mist«, zischte Joe durch die Zähne, »Razzia.«

Und so sah ich auch Arek an jenem Tag zum ersten Mal.

Wenn sich ein Bildhauer überlegt hätte, den vollkommenen Mann zu schaffen, eine Allegorie des Ethos, er hätte Arek gut zum Modell nehmen können.

In allem ein Gegenbild zu Krempe, aber mehr wie ein Komplimentärkontrast, nicht wie ein Widerspruch.

Ein Wolf gegen einen Löwen. Dunkel, zarter und gleichzeitig härter. Ernst. Ernst und edel, dass einem angst werden konnte. Gestutzte blauschwarze Locken, scharf rasiert, blütenrein und anständig, aber darunter schlummerte ein Vulkan – ich hatte einen Blick für Männer, immer gehabt, ein sehr nützliches Talent, auch sehr unanständig – damals. Arkadiusz – Arek – Kriszowsky, Kommissar der Sittenpolizei Groß-Berlin.

Hoch, sehnig, Augen wie ein Dichter oder wie ein Raubvogel, poetisch, traurig und erbarmungslos, vor allem gegen sich selbst. Er gab seine Befehle leise und höflich, wie gutgemeinte Hinweise, aber alle parierten ohne Verzögerung. Einem Impuls folgend, wollte ich zu Hilde und den anderen laufen, die verängstigt an ihrem Tisch zusammengezuckt waren.

Joe hielt mich leicht am Arm. »Lieber nicht«, sagte er durch die Zähne. »Um Sie geht es ja nicht. Machen Sie sich unsichtbar. Wird schon schiefgehen.«

Es ging um Krempe. Mein Herz schlug mir bis zum Halse.

»Herr Wilhelm Bellwitz«, sagte der Kommissar gerade zu dem Ganoven an dem stillen Tisch.

»Kriszowsky!« Krempe drückte seine Zigarette aus und lächelte verbindlich. Er markierte ein Aufstehen.

Beide verhielten sich so, als wären sie einander zufällig auf der Straße begegnet, ein Zusammentreffen, das vielleicht nicht vorherzusehen, aber das auch nicht zu vermeiden gewünscht gewesen wäre.

Weder der Polizist noch der dunkle Gott zeigten in diesen Minuten einen Hauch von Unruhe.

»Was darf ich denn für Sie tun, Kriszowsky?«, erkundigte sich Krempe zuvorkommend.

»Das heißt, Herr Kommissar, du Schieber«, kläffte ein ganz junger Beamter hinter dem schönen Arek.

Ein Wadenbeißer, blass, ein bisschen zu klein, ein bisschen zu nichtssagend, runde Brille, bebend vor Ehrgeiz.

»Schon gut, Klawuttke«, sagte Arek über die Schulter, in seiner Stimme ein fast bis zur Unkenntlichkeit verwischter Nachklang von Fremdheit.

»Herr Bellwitz beabsichtigt durchaus keine Unhöflichkeit, nicht wahr, Herr Bellwitz?«

»Aber woher denn!«, beteuerte Krempe und erhob sich jetzt.

Dieser Klawuttke zog gleich seine Dienstwaffe und entsicherte.

»Klawuttke, jetzt machen Sie mal halblang«, ordnete Arek nun schärfer an. »Wir sind nicht in Chicago.«

»Bleib ruhig stehen, Bertel«, sagte Krempe, ohne hinzusehen gleichzeitig zu einer gedrungenen Gestalt, die unbemerkt aus dem Hinterzimmer neben der Bar getreten war.

Alle hielten still. Es war erstickend gefährlich geworden; weswegen, verstand ich nicht.

»Ich fürchte, ich werde Sie bitten müssen, mich zu begleiten«, teilte Arek Krempe sehr bestimmt mit.

»Und Ihre Gäste ebenfalls.«

Die Herren an Krempes Tisch machten dumm entsetzte Gesichter, aber ihre Überraschung zum jäh geänderten Verlauf des Vormittags stand in keinem Vergleich zu der meiner Freundinnen. Kirsten fing fiepend an zu schluchzen.

Nicht, dass mir nicht danach gewesen wäre – eine Razzia! Drohender Polizeigewahrsam! Aktenvermerke!

Mein Vater! – aber ich nahm mich zusammen.

Außerdem hatte ich Joe neben mir und fühlte mich, ohne Gründe für diese Annahme zu haben, von ihm sehr beschützt. Die Herren Bellwitz und Kriszowsky, die eigentlich mit ihrem unbeeindruckten Duell beschäftigt waren, sahen nun irritiert zu meinen Begleiterinnen hinüber. Drei junge Mädchen, vor sich einen kleinen Tee, die eben noch so entrüstet verlesenen Speisekarten aufgeklappt.

Hilde mit praktischer Bubifrisur, im Janker des Wandervogels, die stämmigen Beinchen in Kniestrümpfen unterm Faltenrock. Daneben die schöne Sigrid im Russenkittel, aber mit perfekter Pola-Negri-Dauerwelle für ein Vermögen, und schließlich die schluchzende Kirsten, die nassen Wangen aufquellend, von der skandinavischen Philosophie schmählich verlassen.

Mein Charakter stieß mich an, ganz gegen meinen Willen. Ich machte unbedacht zwei Schritte nach vorne und wollte sprechen. Aber das Geräusch sehr vieler auf einmal entsicherter Revolver, die erstaunlich schnell auf mich gerichtet wurden, hielt mich zurück.

Kirstens Fiepen verstieg sich, Fledermäuse konnten es sicher noch hören.

Alle sahen mich an. Ich bebte.

»Ich bin Melsuine von Grenwald und ich habe heute Geburtstag«, versuchte ich dann, trotz deutlicher Sprechhemmung, laut zu sagen.

»Die Damen sind meine Gäste. Wir sind alle schon über einundzwanzig und haben einen festen Wohnsitz.«

Ungläubiges Staunen. Dann schnaubte jemand.

Es war ein unterdrücktes Lachen von der Heiterkeit eines Feuerwerks. Krempes Lachen. Ach, Wilhelm, mein Wilhelm.

Er sah mich an, sein Gesicht begann, unter der Müdigkeit von innen heraus zu leuchten, und dann lachte er wirklich, aus vollem Hals.

»Bitte, Herr Kommissar«, wandte er sich an Arek, als er wieder zu Atem kam, »da sehen Sie selber, was für ein durch und durch honoriges Etablissement ich betreibe.«

Arek lächelte beinahe.

Beide schauten mich an und ich sie.

Meine zwei und ich, zum ersten Mal.

Ein zufälliges, schicksalhaftes Dreieck neugieriger, aufgeregter, forschender, amüsierter Blicke.

So lernten wir uns kennen, mein goldener Wilhelm, mein dunkler Arek und ich.

Aktenzeichen FG/MvG – Fall E.K./10-2013/3

Zeitungsausschnitt I.2.A, vermutlich 1929

Berliner Zeitung, Besitz M. v. Grenwald

Unterlagen H. Breger aus der Hausdurchsuchung Sept. 2013

Ausstellung Filip Collin

Erotik von Oben

Nach den Ausführungen Professor van der Veldes, die nun genügend von uns ausreichend lange beschäftigt haben, um an die Allmacht des erotischen Kurens zu glauben, leistet sich Collin einen Abend, von dem man noch reden muss – an anderen Abenden.

Beklagt van der Velde die amerikanische Frauendienerei als Spannungsnehmer des sexuellen Antagonismus, ist bei Collin nichts davon zu spüren.

Eros in extenso, deutlich, wiewohl unbestritten auf der Höhe unserer Kunst, feiert den richtigen Spannungsgrad männlicher und weiblicher Prozente, um bei van der Velde zu bleiben. Dies in so erfrischend abwechslungsreicher Form und Farbe (sic!), dass die üblichen Gespräche eines Vernissagenpublikums gedämpft ausfielen.

Proteste gab es ebenso. Herr Magnus B., Vorsitzender der von ihm gegründeten »Liga gegen Abscheulichkeit«, plakatierte sich selbst im Protest gegen die Ausstellung und bewarf das Schaufenster der Galerie mit Eiern.

Collin blieb gelassen. »Ich würde ja die Ehre mit der Schande annehmen«, erklärte er später bei einem Diner im Roberts am Kurfürstendamm. »Aber all das gebührt meiner Assistentin Fräulein v. G. Sie hat das organisiert. Wenn Sie jemanden wollen, der in der Moderne orientiert ist, dann sie!«

Die schöne Baronesse, die Kunstliebhabern jeder Epoche, die bereits als das Ästhetikum in Berlin aufgefallen ist, verweigerte sich unseren Nachfragen.

»Gucken Sie doch, statt zu fragen«, entfernte sich das muntere Fräulein zum Tanz mit einem amerikanischen Mäzen. Da kann ich nur sagen: Herrschaften, gucken Sie, gucken Sie – und wenn Sie können, kaufen Sie auch, denn dieser Eros wird mal Gold wert sein. J.B.

Kapitel 3Nachwirkungen

Die drei Mädchen und ich wurden ob unserer so ganz offensichtlich gewordenen Unwichtigkeit nicht verhaftet, obwohl der Wadenbeißer, dieser bleiche Klawuttke, das sehr zu bedauern schien. Er zischelte beseligt von Vermerken, Sittenwidrigkeit und Zuchthaus. Solche wollen die ganze Welt für vergnügte Gedanken verhaften.

Es war also doch noch glattgegangen.

Aber Hilde, Sigrid und Kirsten mochten trotzdem nichts weiter mit mir und meinem Geburtstag zu tun haben, was ich verstehen konnte. Rausgeschmissen aus der Pavillon, die nun doch schließen musste, trennten wir uns eher verstimmt und ziemlich betreten und ernüchtert, was mich anging.

Die drei Grazien strebten bieder und büßend wieder der Universität zu – und ich stand auf der Straße.

Ich hatte mir freigenommen, um zu feiern, unbezahlt versteht sich. Nicht dass die Bezahlung ansonsten eine wirkliche Entschädigung für die bisweilen olfaktorisch überwältigende Gegenwart meines Arbeitgebers gewesen wäre. Collin trug seinen Sexus genauso aufdringlich wie sein zu üppiges Cologne. Er belästigte mich nie damit, aber ich empfand es dennoch als störend.

Nun musste ich wohl doch tun, was ich unbedingt hatte vermeiden wollen – ergo die Kellerbar –, nämlich meiner auf Gut Grenwald dahingrimmenden Familie einen Besuch abstatten. Zwei Stunden häufig unterbrochene Zugfahrt gen Waldrehna vom Anhalter aus trennten mich von der sandigen Gruft. Oder dem, was von meiner Familie übriggeblieben war. Märkische Stammbäume wie der unsere pflegten nach dem letzten Kriege ein bisschen gestutzt zu sein.

Ich entstamme dem nicht zu edlen Hause derer von Grenwald. Ein »von« klingt natürlich immer nach irgendetwas, aber meist ist es nur Messing, im Halbdunkel auf Hochglanz poliert; Staffage, übrig geblieben von der Dreistigkeit oder vom Glück früherer Jahrhunderte und ihrer Glücksritter. Wem wir das »Von« und wofür zu verdanken haben, wurde nicht erwähnt. Wir wurden schon geadelt, bevor Preußen ein ernstzunehmendes Königreich wurde. Und dann hielten wir uns, kostete es, was es wollte. Wir stellten die wackere Mittelschicht preußischer Beamter gehobenen Dienstes bis 70/71. Danach kam für die meisten Herren die Offizierslaufbahn in der Reserve oder die Grundstücksspekulation. Was meinen Vater anging, kam beides. Mit sehr mäßigem Erfolg.

Ein paar aus der Art geschlagene Figuren wenigstens verliehen uns dekadenten Glanz, wie mein Großonkel Achaz von Grenwald, der anno 1889 seinen Säbel versetzte, über Hamburg nach Afrika fuhr und dort angeblich Missionar wurde.

Jedenfalls glaubten das alle, bis ein Kabel von ihm aus Damaskus ankam: Send me money, or I die.

Daran fand seine Schwester am vulgärsten, dass er sich für seinen interkontinentalen Hilferuf nicht des Französischen bedient hatte.

»Sauve qui peut«, soll sie zu dem Kabel gesagt haben, mehr nicht. Und Geld schickte sie auch nicht, eine Frage des Charakters, versteht sich.

Onkel Achaz kam daher nicht nach Hause, starb aber auch nicht, sondern schickte über Jahrzehnte Postkarten mit anstößigen Reimen und Pakete mit Indianerkopfschmuck oder Bärenklauen. Man munkelte, er hätte den Verstand verloren, und dazu das Wort »Lues«, unter dem ich mir damals freilich noch nichts vorstellen konnte. Inzwischen hatte ja der bereits erwähnte universitäre Lichtbildervortrag erhellend eingegriffen …

Als Kind verehrte ich Onkel Achaz aus der preußischen Ereignislosigkeit von Gut Grenwald abgöttisch.

Und bis zu diesem schicksalhaften Geburtstag konnte ich mich nicht von einer Fruchtbarkeitsgöttin aus Sambesi trennen, die auf meinem Nachttisch prunkte – ohne diesbezügliche Nebenwirkungen. Ich sah sie vielmehr als einen Glücksbringer der gegenteiligen Art an. Tante Friekchens Aufwartung ließ sie jedes Mal beim Abstauben fallen – auch dies ohne Erfolg.

Außer Onkel Achaz gab es keine nennenswerten Skandale. Einige Damen, nachgerade die unverheirateten, frömmelten im Alter oft in diversen Damenstiften vor sich hin. Wenn eine aus lauter Verzweiflung mal katholisch heiratete, wurde sie nicht mehr eingeladen. Die Herren ihrerseits wandten sich nach dem Großen Krieg dem Aktienhandel, dem Suff oder der Landwirtschaft zu – wie mein Vater. Auf meine Mutter lasse ich nichts kommen. Sie kam aus Westfalen, hieß es, aber ich konnte in diesen Jahren meiner Jugend nie Dokumente finden, die sie aus ihrem Nebel befreit hätten, warum auch immer.

Niemand sprach von ihr. Meine Mutter verstarb, als ich sieben Jahre alt war, bald nach der Geburt meines jüngeren Bruders Fritz.

Dass ich in Namengebung und Wesensart glücklich aus der Art geschlagen bin, ist nur meiner Mutter zu verdanken.

Sie bestand auf Melusine, was meinen Vater schockierte.

»Sonst Undine«, soll sie ihm gesagt haben.

Da im Stechlin eine Melusine vorkommt, wählte er das kleinere von zwei Übeln. Fontane war Preuße, und, wenn auch Künstler, so doch in kaiserlichen Gnaden.

Mein Vater ertrotzte sich nur, den Namen des wirklich wichtigen Kindes, des noch ausstehenden Stammhalters derer von Grenwald, dann selbst bestimmen zu dürfen. Meine Mutter gab offenbar nach.

Sie war eine herrliche Frau, ich erinnere mich an ihre langen Haare und an ihr sanft strahlendes Gesicht, wenn sie mir »Gute Nacht« sagte. Sie roch nach Veilchen und nach Flieder, und sie liebte mich mit einer ganz und gar unpreußischen Wärme, die mir vermutlich das Leben gerettet hat.

Sie erzählte wie ein orientalischer Bazarzauberer. Jeden Abend Märchen, Sagen und ganz und gar ungeeignete Küchenlieder, bis ich einschlief.

Die Geschichte der sinnlich-keuschen Melusine, halb Mensch, halb Schlange, war mein erstes Märchen.

Meine Mutter erzählte sie mir erst auf Deutsch, dann auf Französisch.

»In beiden Sprachen: Ungeeignet, das kannst du dir merken«, wie Cousine Gunhild befand, die wegen Geldmangels für außerfamiliäres Personal meine Nurse geworden war.

Ich fand es sehr geeignet. Ich liebte die Vorstellung der verborgenen, geheimnisvollen Nacktheit der Schlangenfrau.

Melusines zurückgezogenes Mysterium im Bade.

Ein Ort, an dem man etwas anderes sein konnte, als die Welt glaubte …

Als meine Mutter starb, befand es Cousine Gunhild ob dieser Phantasien für angezeigt, mich stundenweise in kaltes Wasser zu setzen, um meine überentwickelte Sinnlichkeit, die sie fürchtete, zu dämpfen.

Mein Vater ließ sie. Irgendwann zog sich Cousine Gunhild in eine morganatische Ehe mit einem Landarzt zurück, da hatte ich Ruhe vor den Wasserkuren.

Aber insgesamt war es kein Vergnügen, unter der bösen Zucht der von Grenwalds zu erwachsen. Erwachen konnte man schon gar nicht.

Wedekind hätte sich an uns einen Nobelpreis verdienen können. Ich schlug mich also so durch. Mit jedem Jahr, das ich älter wurde, wollte ich dringender fort.

»Verwahrlosung«, urteilte mein Vater, änderte aber nichts daran. Er hatte ja Fritz. Ich wurde früh der schon prophezeite Schandfleck und gab mir auch alle Mühe dabei. Ich ging mit den Perlen meiner toten Mutter zur Schule – und sobald es irgend ging, auch in ihren Schuhen. Mit zwölf, im schrecklichen Kriegsjahr 1916, küsste ich bereits begeistert den Sohn von Pastor Riesenick. Johannes Riesenick, vier Jahre älter als ich, wurde von mir auf niederträchtigste Art verführt. Ich machte ihm weis, ich müsste an der Auszehrung sterben und sein Kuss wäre die einzige weltliche Seligkeit, die ich mir wünschte. Wir kamen übrigens nicht über das Küssen hinaus, weil Johannes mir mit lustvoll verbissenen Zähnen versicherte, mich zu sehr zu achten. Wahrscheinlich hatte er selber Schiss, er wusste ja auch nicht, wie es ging. Hachja. Keiner glaubte ihm, als es dann aufflog. Sie erwischten uns im alten Backhaus, mehlig, rotwangig, derangiert und zu verdutzt, um zu leugnen.

Über der Tür prangte der Spruch: »Hartes Brot ist nicht hart. Kein Brot, das ist hart.« 1917 hatten wir das bereits ziemlich gut verstanden.

Für Johannes wurde es schlimm. Sein Vater meldete ihn noch am selben Abend als Freiwilligen, obwohl er noch nicht mal achtzehn war. Er fiel im Januar 1918 an der Westfront.

Da trug ich sechs Wochen Schwarz, sonst passierte mir nichts, weil ich nicht schwanger war, woher auch. Oft habe ich gedacht, ich hätte ihn auf dem Gewissen. Dann fühlte ich mich elend und biss an meinen Fingernägeln.

Für Johannes machte es wahrscheinlich keinen Unterschied.

Alles in allem: Ich musste weg von Gut Grenwald, sobald es ging. Ich machte ein wackliges Abitur auf der Höheren-Töchter-Anstalt und floh mit einem vorausbezahlten Erbteil, das man mir nicht verweigern konnte, nach Berlin. Die Flucht endete rein logistisch leider bei Tante Friekchen – wegen der Wohnungsnot. Ich studierte Kunstgeschichte »wegen der Aktgemälde«, wie ich Tante Friekchen mitteilte, um sie zu schockieren.

In Wirklichkeit aber, weil Kunst mich immer interessiert hatte. Ich wusste, ich hätte nie das Talent, selber welche herzustellen, aber ich erkannte Qualität auf einen Blick – wie ein sächsischer Pferdehändler. Bei Männern, das erwähnte ich bereits, ist mir das ebenso gegangen. Ich habe im Schlafzimmer nie eine wirklich böse Überraschung erlebt. Enttäuschungen, auf die man sich sehenden Auges einlässt, sind eher ennuyant. Unter anderem war es auch deswegen so, weil ich mich nie habe verführen lassen, ich war lieber die Verführerin. Jedenfalls habe ich mir das gerne eingebildet.

Dass ich mit so jemandem wie dem gelblichen Ooster geschlafen hatte, war eine Art Feldforschung. Es interessierte mich nicht qualitativ, er war ein quantitatives Trittbrett, hatte es wenigstens sein sollen.

Bei Ooster war symbolisch und faktisch zu wenig los, was den Pinsel anging. Auch als Phallos.

Aber ich hatte mir vorgenommen, mit wenigstens zehn Männern geschlafen zu haben, bevor ich fünfundzwanzig war. Ooster war Nummer fünf, es sah also schlecht aus, je weiter das Jahr 1929 dahinschmolz. Ich zählte manchmal an den Fingern, und es wurden trotzdem nicht mehr, was mich verdrießlich stimmte.

Ich glaube sicher, diese fixe Idee von den zehn Bettgenossen ging zurück auf einen Roman, den ich ebenfalls zwölfjährig gelesen hatte, kurz bevor ich den armen Johannes zu unsittlichen Handlungen nötigte.

Der Roman jedenfalls – französisch logischerweise –, der Titel ist mir entfallen, erzählte eine sehr aufregende Reihe sehr verbotener Dinge. Die Hauptheldin, entweder eine Kurtisane, die heimlich heiratete, oder eine Ehefrau, die heimlich eine Kurtisane war, diffamierte eine andere Frau, indem sie über sie sagte (wortgetreu, bitte! Das ist ja nun fast hundert Jahre her, aber ich habe es nie vergessen.): »Was weiß eine Frau schon von der Liebeskunst, wenn sie nur eine Hand braucht, die Männer zu zählen, deren Auge sie hat im entscheidenden Moment brechen sehen.«

Mich hat das ungemein inspiriert, sowohl was das Brechen eines Männerauges im entscheidenden Moment anging als auch die Ambition, möglichst schnell die Hand hinter mir zu lassen beziehungsweise erst die eine, dann die andere.

Deswegen Ooster. Man könnte denken, dass es nicht so schwer gewesen sein müsste für mich, aber weit gefehlt.

Wenn ich mir jetzt diese Bilder meiner Jugendzeit ansehe, dann weiß ich mit der Genauigkeit eines ewig erfolgreichen Spekulanten, der schließlich sein ganzes Vermögen verloren hat, dass ich schön war.

Nicht hübsch oder proper oder reizend, oder was man über junge Frauen sonst so sagen kann.

Das Alter gestattet mir wenigstens die Ehrlichkeit auch gegen meine eigenen Vorzüge.

Jetzt glaubt mir das sowieso kein Mensch mehr.

Aber die Wahrheit ist: Ich war wunderschön. Eine Symphonie an Sinnlichkeit und Weiblichkeit. Ich hatte schwere, glänzende Haare in der Farbe von dunklem Honig, immer mit einer Spur schimmerndem Gold darin, dass meine Blondheit nie fade oder brav wirkte. Ich trug sie vorn kurz und hinter den Ohren mit Kämmen gehalten, hinten jedoch lang und gewunden, ganz gegen die Zeit, was reizvoll mit meiner übrigen Moderne kontrastierte.

Mein Gesicht war schmal und in der Tat nach dem goldenen Schnitt angelegt.

Ich hatte strahlende Augen, lange, sinnliche Wimpern und einen Mund, bei dem fast jeder Mann, den ich traf, bis ich fünfzig wurde, seine eigenen Überlegungen anstellte, ohne dass ich hier degoutant direkt werden möchte.