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Der zweite Band der bewegenden Familiensaga, die ursprünglich im Roman »Das Flüstern des Glücks« unter dem Autorinnennamen Viola Alvarez komplett erschienen ist. Als die Ärztin Louisa ein altes Herrenhaus in Wesel erbt, ahnt sie noch nichts von den verschwiegenen Schicksalen, die sich hier für ihre Familie im Glück wie Unglück verbunden haben. Wer war ihre Großmutter wirklich, die rätselhaft schöne Henni Schellack, der Louisa wie aus dem Gesicht geschnitten scheint? Welcher Skandal trieb sie in den 40er Jahren aus der kleinen Stadt nach Hamburg, wo sie zu einer gefragten Modemacherin wurde? Warum kehrt Henni Anfang der 50er in ihre Heimat zurück – ihr Bruder inhaftiert, eine Schwester tot und die zweite nur voll Hass und bitterem Schweigen darüber, was geschehen ist? Henni weiß, was auch ihre Enkelin Louisa viele Jahrzehnte später begreifen wird: Wenn sie eine Zukunft haben will, muss sie endlich mit der Vergangenheit aufräumen … Ein mitreißender Familiengeheimnisroman für die Fans von Susanna Abel und Katharina Fuchs.
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Seitenzahl: 413
Über dieses Buch:
Der zweite Band der bewegenden Familiensaga, die ursprünglich im Roman »Das Flüstern des Glücks« unter dem Autorinnennamen Viola Alvarez komplett erschienen ist.
Als die Ärztin Louisa ein altes Herrenhaus in Wesel erbt, ahnt sie noch nichts von den verschwiegenen Schicksalen, die sich hier für ihre Familie im Glück wie Unglück verbunden haben. Wer war ihre Großmutter wirklich, die rätselhaft schöne Henni Schellack, der Louisa wie aus dem Gesicht geschnitten scheint? Welcher Skandal trieb sie in den 40er Jahren aus der kleinen Stadt nach Hamburg, wo sie zu einer gefragten Modemacherin wurde? Warum kehrt Henni Anfang der 50er in ihre Heimat zurück – ihr Bruder inhaftiert, eine Schwester tot und die zweite nur voll Hass und bitterem Schweigen darüber, was geschehen ist? Henni weiß, was auch ihre Enkelin Louisa viele Jahrzehnte später begreifen wird: Wenn sie eine Zukunft haben will, muss sie endlich mit der Vergangenheit aufräumen …
Über die Autorin:
Viola Gehring, geboren 1971 in Lemgo, ist eine deutsche Schriftstellerin, Dozentin und Keynote-Speakerin. Sie ist Inhaberin eines Instituts für Managemententwicklung und Kommunikationspsychologie. Sie lebt im Rheinland.
Die Autorin im Internet:
www.viola-gehring.de
www.instagram.com/viola_gehring_alvarez_romane
Von Viola Gehring sind bei dotbooks auch die folgenden Romane erschienen: »Henni – Geheimnisse einer Familie«, »Der Mut einer Frau«, »Was uns am Ende bleibt«, »Ein Tag, ein Jahr, ein Leben« und »Die Hexe von Oldenburg«.
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Überarbeitete eBook-Neuausgabe November 2024
Dieses Buch bzw. Teile dieses Buchs erschienen bereits 2017 unter dem Titel »Das Flüstern des Glücks« und dem Namen Viola Alvarez bei dotbooks und wurde für die Neuausgabe 2024 in die zwei Bände »Henni« und »Louisa« aufgeteilt.
Copyright © der Originalausgabe 2015 dotbooks GmbH, München
Copyright © der überarbeiteten Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung eines Motives von Dina / Adobe Stock sowie mehrerer Bildmotive von © shutterstock
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (vh)
ISBN 978-3-98952-667-9
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Viola Gehring
Louisa – Das Erbe einer Familie
Roman
dotbooks.
Hamburg 1942
Margarete Vanders war überhaupt keine schöne Frau, wenn man auf der Suche nach einem gefälligen Gesicht und lieblichen Zügen war.
Sie war fast so groß wie ihr Mann, auch nach vier Schwangerschaften geradezu unweiblich hager und voll unausgesprochener Abwehr gegen äußere Versuche der Verschönerung wie Schminke, Dauerwellen oder Schmuck, der keine wesentliche, namentlich familiäre Bedeutung gehabt hätte.
Dennoch war Henni verliebter in Margarete als in ihren Mann, wenn auch jener erste Schwarm damals der Anlass zu ihrer halsbrecherischen Reise nach Hamburg gewesen war.
Hennis Verliebtheit, übrigens gänzlich unerotisch, äußerte sich durch eine fast schon hündische Anhänglichkeit an Margarete, eine Bereitschaft der völligen Unterwerfung ihres eigenen Selbst, dessen Aufgabe Margarete aber – vielleicht zu Hennis Glück – nie in den Sinn gekommen wäre zu fordern.
Margarete Vanders wäre auch nicht einmal im Vaupel’schen Sinne »apacht« gewesen; Mode erschien ihr als eine Frivolität, jenseits des klassischen, vielleicht auch standesgemäßen Ausdrucks von zurückgenommener Weiblichkeit.
Aber sie hatte eine tief in ihr wohnende Ruhe, die ihre Bewegungen ebenso bedeutsam wie elegant machte, und eine unerschütterliche Selbstbeherrschung, von der Henni dachte, dass nur Gemälde sie ausstrahlen könnten. Jede Drehung ihres Kopfes, jede Handbewegung, die Margarete ausführte, war so von Richtung, Vorhaben und Zweck erfüllt, dass die Luft um sie herum von einem tiefen Ton – so wie der chinesische Gong, der im Esszimmer hing, ihn aussandte – zu schwingen schien. Vielleicht war es die Ruhe, die Henni so liebte, der Frieden, den Margarete auf ihre Umgebung zu übertragen schien, eine tiefe und widerspruchslose Ordnung, voller Sinn und Verstehen. Margarete Vanders hatte einen Platz in der Welt, und an ihrer Seite hatte auch Henni einen Platz, vielleicht war es das.
Margarete war fünfundvierzig Jahre alt, und ihre schwarzen Haare zeigten mehr und mehr weiße Strähnen. Sie trug zum Lesen eine Brille, die ihr an einer Kette um den Hals hing, so dass sie im Notfall keine Zeit verschwenden musste, um sie zu suchen. Sie hatte einen breiten Mund, blasse Lippen und klare blaue Augen. Selten trug sie Kleider, eher eine wechselnde Reihe von geraden Röcken und weich fallenden Blusen, häufig mit einer Strickjacke, da es im Haus stets etwas zu kühl war.
Sie war nicht nur wegen ihrer Hagerkeit kein wirklich mütterlicher Typus, doch diese Aussage wäre nur mit Absolutheit zu treffen gewesen, wenn eine gewisse kindliche Bilderbuchwelt vollbusiger, weicher, lachender Gestalten die Vorlage dafür wäre.
Für Henni, die nur Johanna in ewiger Missbilligung und Kränklichkeit gekannt hatte, war Margarete die vollkommene Mutter.
Sie blieb ruhig auch in der prekärsten Situation, die ihr ihre beiden Ältesten – Günter und Herbert –, ihrer Natur gemäß willentlich widerwärtig, wie manche Heranwachsende sind, zumuteten.
Sie blieb ruhig ob der häufigen unerklärlichen Tränen ihrer Neunjährigen – Meike –, wenn etwas sich nicht anließ, wie sie es dachte, und der nervenaufreibenden Verzogenheit der Jüngsten – Lilo, siebenjährig.
»Setzt euch«, würde sie sagen, mit ruhiger heller Stimme, und sich dessen annehmen, was es auch immer war, bereit zu richten, ob die Angelegenheit Strafe, Vergebung oder schlicht ein blindes Auge verdiente. Auch wenn sie keine Glucke war, dachten ihre Kinder grundsätzlich, dass sie in den mütterlichen Augen das Wichtigste auf der ganzen Welt wären, eine Wahrnehmung, die Emil Vanders jeden Sonntag beim Mittagessen der Familie verstärkte.
»Wir wollen an das denken, was wirklich wichtig ist«, würde er in seinen Tischreden häufig in der einen oder anderen Variante sagen, »was unersetzlich kostbar ist: eure Mutter, zum Beispiel.«
Henni war anfangs, wenn sie im Haushalt Fehler machte, zu Tode erschrocken gewesen, fürchtete den sofortigen Verweis aus dem Haus in Eppendorf, das ihre einzige Zuflucht gewesen war.
»Setzen Sie sich«, sagte Frau Vanders dann aber nur, voller Ruhe, mit einem beherrschten, niemals unfreundlichen oder unehrlichen Lächeln. »Was ist Ihnen denn so misslungen?«
Und wenn Henni dann von diesem oder jenem stotterte, voller Entschuldigungen, schüttelte Margarete nur den Kopf. »So schlimm ist das doch nun wahrlich nicht, Henni. Es lässt sich doch in Ordnung bringen. Kommen Sie, fassen Sie sich.«
Fassung, das war es vielleicht mehr noch als Beherrschung, was Margarete so anziehend machte – niemand hätte sie je die Fassung verlieren sehen.
Margarete Vanders, Emils Frau seit siebzehn Jahren – »Man sollte sich Zeit lassen für die wichtigen Dinge, oder?« –, dabei vier oft bissig kommentierte Jahre älter als ihr Mann, konnte nicht verstehen, warum Henni, diese schöne, junge Frau, die ihr da ins Haus geschneit war, so unsicher und verschüchtert war.
Schon gar nicht, da sie doch den Mut gehabt hatte, aus ihrem Elternhaus auszubrechen und in eine fremde Stadt zu fremden Leuten zu kommen mit nichts als einem Zeitungsfetzen zur Sicherheit. Sie war auch ein durchaus anstelliges Hausmädchen. In jedem Falle weit besser als die anderen Trampel, die sie vorher notwendigerweise unter ihrem Dach beherbergt hatte.
Natürlich war es eine Überraschung gewesen, als das Mädchen plötzlich dastand, Emil verblüfft an der Tür, stotternd: »Kommen Sie erst mal rein.«
»Ich werde Ihnen einen Tee machen«, waren Margaretes erste Worte zu Henni gewesen.
Sie hatte Henriette hingenommen, so, wie sie die Unwägbarkeiten dessen, was die Kinder von der Schule oder der Straße mitbrachten, auch hinnahm: ruhig, gelassen, mit einer freundlichen Bereitschaft, sich zuzuwenden und alles in Ordnung zu bringen.
Kurz und unbemerkt aber hatte sie auch gezögert, als sie die Reaktion ihres Mannes auf die junge Frau sah. Und natürlich hatten Nachbarinnen, Freundinnen und Bekannte nichts Besseres zu tun, als sich selbst oder einander zu fragen, ob denn Margarete noch bei Trost wäre, ein so hübsches junges Ding – überall dort voll atemberaubender Verschwendung, wo Margaretes Äußeres zu wünschen übrigließ – ihrem Emil direkt vor die Nase zu setzen. »In Reichweite, der muss dafür nicht mal über die Straße gehen«, wie die Nachbarin von gegenüber, Frau Vorderfrahmsen, verräterisch in Bezug auf ihre eigenen Sehnsüchte gern ausrief.
Freunde, Nachbarn und Bekannte hatten natürlich auch schon vor Hennis unerklärlichem Auftauchen in Eppendorf viel über die so augenfälligen Unterschiede bezüglich der Attraktivität der Ehepartner Vanders zu sagen gehabt.
Frau Vorderfrahmsen war voller Weisheit zum Thema. »Ein schöner Mann gehört dir nie allein«, sagte sie besonders gerne, wenn von Herrn Vanders die Rede war. Sie sprach übrigens häufig von Herrn Vanders, vielleicht nur, um diesen Satz sagen zu können. Oder um überhaupt von ihm reden zu können. Emil Vanders war ein schöner Mann – kein Schönling, sondern ein schöner Mann. Der Unterschied lag vor allem darin, dass er so gar nicht eitel zu sein schien.
Und im Vergleich dazu Margarete: beherrscht, gefasst – aber schlicht.
Zudem boten die ungewöhnlichen vier Jahre Altersunterschied weiteren Nährboden.
»Man weiß ja, dass sich die Männer in den gewissen Jahren ohnehin gerne nach etwas Jungem und Knackigem umdrehen! Nur zu gerne! Und die jungen Dinger, denen ist doch heutzutage alles egal! Ob die ein Kind kriegen oder nicht, da hat jede Katze unter der Treppe mehr Skrupel.«
Frau Vorderfrahmsen hatte selbst die leidvolle Erfahrung gemacht, dass sich ihr Gatte in seinen gewissen Jahren oft, so hatte er es ihr gegenüber nicht eben taktvoll formuliert, im »Stenotypistinnen-Schaufenster Appetit geholt« hatte.
»Aber gegessen hat er immer zu Hause«, verteidigte sie diesen dunklen Fleck auf der ansonsten so makellosen Decke ihres Ehelebens. Obwohl sich natürlich alle zuhörenden Nachbarinnen dachten – während sie verständnisvoll nickten und ein Stück Kuchen mehr aßen, als sie eigentlich hatten nehmen wollen –, wie sie das denn bitte so genau wissen wollte.
Aber über Herrn Vorderfrahmsen gab es nicht viel oder zumindest nichts Ergiebiges zu tratschen. Er war geizig, ein regelrechter »Sitopnsack«. Ein großer, fast schon übergroßer Mann mit sauertöpfischer Miene, ungepflegten grauen Haaren und von eher unersprießlicher Natur, verbiestert geradezu, der nicht zu der Vermutung anregte, dass junge Stenotypistinnen für ihn mehr als ein berechnendes Lächeln zum Zeitpunkt einer möglichen Gehaltserhöhung übrig hatten.
Emil Vanders hingegen, das war nun eine ganz andere Geschichte!
Über Emil Vanders hatte jede Frau in der Nachbarschaft schon einmal in einer Art und Weise nachgedacht, deretwegen sie sich später selbst zu rügen hatte, entsprechendes Schamgefühl vorausgesetzt – was ja nicht überall der Fall war.
Nicht, dass er ein Flirt gewesen wäre oder gar zudringlich, anmaßend, nicht mal ein Schäkerer war er, wiewohl sehr humorvoll.
»Mutterwitz hat er«, wusste Frau Thomsen aus der Nachbarstraße, deren Sohn mit Günter und Herbert Vanders genauso oft Fußball spielte, wie sie sich keilten.
Da waren dann wechselseitige Besuche der zu angeblicher Reue angehaltenen Flegelknaben keine Seltenheit.
Und wenn es Günter und Herbert gewesen waren, die sich zu entschuldigen hatten, dann ging Emil Vanders, so er zu Hause war, öfter mit ihnen – Margarete ließ sie immer allein gehen – und wusste die Situation zwischen dem Geschädigten und seinen verbrüderten Peinigern schnell zu entschärfen.
Frau Thomsen nutzte dann die Gelegenheit, um ihn ausführlich zu betrachten, wie er so dastand, ein halbes weltweises Grinsen, den Hut salopp im Nacken, spitzbübisch und männlich zugleich.
Und dann musste sie anschließend oft einen kalten Pfefferminztee trinken, weil sie sich so sehr wünschte, Emil Vanders würde auch auf sie so zugehen, mit diesem Gesicht, und sie im Flur gegen das Bismarck-Gemälde pressen und küssen.
Nur machte Herr Vanders keinerlei Anstalten, den guten alten Bismarck derart zu inkommodieren, was Frau Thomsen natürlich im Sinne des ehelichen Anstandes mehr als recht war, wenn auch sie öfter, als ihr lieb war, darüber nachdachte, wie er Margarete denn wohl küsste. Oder – ob er sie überhaupt noch küsste.
In ihrer Beherrschtheit wirkte sie so unerreichbar für jegliche Form der Sinnlichkeit, Verspieltheit oder Lockerheit, dass man es sich nicht wirklich vorstellen konnte, ja, es eigentlich fast unmöglich schien – trotz der vier Kinder.
Und dann dieses Mädchen, das jetzt bei ihnen im Hause wohnte.
»Nicht schlecht, Herr Specht!«, hatte Herr Thomsen dazu zu sagen, als er Henni das erste Mal gesehen hatte.
Henni, hübsch, nein, eher schön, wie man es auf der Kinoleinwand, aber nicht auf der Straße zu sehen erwartete, dabei schüchtern und zurückhaltend, war natürlich auch bei Thomsens Anlass für endlose Spekulationen.
Und bisweilen warfen dann Frau Thomsen, Frau Vorderfrahmsen und auch Frau Apotheker Schmitt ihre Vermutungen zusammen, ohne dass etwas anderes dabei herausgekommen wäre als ein Nachmittag voller Klatsch und Tratsch.
Was wusste man schon über Henni?
Sie war eines Tages plötzlich da gewesen. Sie war das neue Mädchen im Hause Vanders – nun schon seit drei, fast vier Jahren, wo die Mädchen vorher fast vierteljährlich gewechselt hatten. Sie trug an ihren freien Nachmittagen eine Garderobe, die einem Hausmädchen, überhaupt so einem jungen Mädchen, ob ihrer Eleganz nicht zukommend war. Sie spielte allerdings auch unbekümmert Schlagball mit Günter und Herbert, wenn Margarete nicht da war. Meike und Lilo starrten sie von der Treppe zum Garten aus begeistert an.
»Vielleicht eine Ménage-à-trois«, vermutete Frau Schmitt und wackelte dazu bedeutungsvoll mit den Augenbrauen.
Frau Thomsen allerdings wusste nicht, was das war, man musste sie ins Bild setzen.
»Was? Das machen Leute?«, kreischte sie.
»Soll es geben«, beharrte Frau Schmitt, die sich jetzt etwas zu frivol vorkam, es gewusst und angesprochen zu haben.
Aber das traute man nun wirklich weder Emil noch Margarete Vanders zu.
Aber alle Damen waren sich darin einig, dass sie ihre Ehemänner nicht tage- oder gar wochenlang mit so einer wie Henni allein im Hause lassen würden, wie Margarete es nun vorhatte. Sie plante, mit den Kindern, namentlich Lilo und Meike, in den Osterferien in den Harz zu reisen.
Emil konnte nicht mit, und natürlich musste Henni sich um Herbert und Günter kümmern. Ein frauenloser Haushalt, das wäre ja noch schlimmer gewesen. Günter hätte man vielleicht noch aus der Schule nehmen können, aber Herberts Versetzung hing am seidenen Faden. Jeden Nachmittag hatte er Nachhilfe.
Natürlich waren viele Kinder nun auch einfach durcheinander wegen der Bombenangriffe und der oft gestörten Nächte, so wie Lilo und Meike wohl auch, die sich jeden Abend heulend an Margarete klammerten und nicht einschlafen konnten. Margarete hatte ihnen versprochen, dass im Harz keine Bomben fallen würden, was beide nicht recht glauben konnten.
»Sie müssen wohl auch nicht jeden Tag kochen, Henni«, sagte Margarete ruhig, als sie mit Henni abermals die Listen durchging, auf denen stand, was während ihrer Abwesenheit zu beachten sei.
»Alle unsere Freunde werden sicher darauf achten, Emil und die Jungs regelmäßig zum Essen einzuladen. Passen Sie nur auf, das wird ein regelrechter Wettbewerb werden.«
»Ja, gnädige Frau. Ich kann ja montags immer einen Eintopf kochen. Der hält sich lange, und man kann ihn schnell aufwärmen.«
Margarete machte sich eine Notiz auf einer ihrer Listen und lächelte. »Es gefällt mir, wie praktisch Sie denken, Henni.«
Henni wurde rot vor Freude.
»Sie können natürlich das Nähzimmer benutzen, sooft Sie wollen. Und das Musikzimmer auch. Ich werde es mit meinem Mann noch besprechen. Vielleicht färbt es schließlich auf die Jungen ab, irgendwann.«
Das Musikzimmer, manchmal auch das Lesezimmer genannt, lag im ersten Stock des schönen Hauses, in dem Henni ihre Kammer unter dem Dach hatte. Im Musikzimmer stand ein kleiner Bechstein-Salonflügel, von dem keiner mehr zu sagen wusste, wie man es geschafft hatte, ihn die nicht eben breite Treppe hochzuschaffen. »Wahrscheinlich hat der Maurer um das Ding herumgebaut«, pflegte Emil zu sagen. Aber auch Margarete, deren Elternhaus es war, vermochte sich nicht zu erinnern, ob der Flügel einmal nicht im ersten Stock gestanden hatte. Umgeben war das schöne Instrument von heillos unordentlichen Bücherregalen, in die Emil alles an Büchern, was er so fand, las, lieh, wahllos hineinstopfte. Schopenhauer neben Johanna Spyri, Goethe neben Architekturzeitschriften, Aristoteles neben Spoerl. Ein unzeitgemäßer Dichterreigen, der die Worte, die die Welt erinnerte und hersagen konnte, mit den mondänen und unbedeutenden auf jakobinische Art vereinte.
»Ich könnte gar nicht mal sagen, ob wir verbotene Literatur haben«, bemerkte Emil manchmal, »das ist doch ein Vorteil.«
Margarete hatte es aufgegeben, die überladenen Regale zu ordnen, auch nur zu entstauben. »Und machen Sie sich da drinnen bitte auch keine Kopfschmerzen, Henni, außer dem Flügel ist da drinnen Hopfen und Malz verloren.«
Außer dem Flügel standen noch ein altes, verschossenes Ledersofa und ein zwar vom Alter her, aber nicht farblich dazu passender Sessel, bezogen mit grünem Samt. Hier pflegte Emil zu sitzen – sich zu flegeln, wäre der Sache nähergekommen – und zu rauchen oder seine Cognacs zu trinken. Bisweilen klimperte er auch auf dem Flügel, an dem alle Kinder wöchentlich nacheinander Klavierstunden bekamen – alle ohne Enthusiasmus und ohne Talent, das über ein Abliefern des »fröhlichen Landmanns« hinausgegangen wäre.
Es war Emil gewesen, der Henni eines Tages dabei überrascht hatte, wie sie völlig versunken am Flügel stand, ein Notenheft in der Hand, die Stirn gerunzelt, als läse sie etwas Verstörendes.
»Interessieren Sie sich denn für Musik, Fräulein Schellack?«
Er nannte sie nie Henni, obwohl alle andern es taten.
Sie schrak zusammen und entschuldigte sich.
»Was haben Sie denn da?«
Es war »Im Abendrot« von Schubert. Caspar hatte ihr geschrieben, er stelle sich vor, wie sie es singen würde.
»Spielen Sie ein Instrument, Fräulein Schellack? Das wussten wir ja gar nicht.«
»Nein, ich …früher habe ich mal gesungen, ganz früher. Ich wollte nur … ich kann Noten gar nicht gut lesen.«
Sie hielt ihm die Noten abbittend hin, als wäre sie bei einem häuslichen Diebstahl ertappt worden.
»Kennen Sie es?«, fragte Emil, der es seltsam erregend fand, dass Henni offenbar ein verborgenes Talent hatte.
Stumm schüttelte sie den Kopf.
»Na, geben Sie mal her. Wenn ich dem alten Knaben nicht zu viel Gewalt antue, kann ich es ja mal versuchen. Ganz eingerostet, natürlich. Können Sie blättern, wenn ich nicke?«
Er trank einen schnellen Cognac und tastete sich dann durch die Melodie und versuchte, hinreißend schlecht, die Worte mitzusingen, wobei er vom Falsett in einen eher unrasierten Bariton rutschte und wieder zurück.
Als er fertig war, grinste er sie offen an. »Nicht so übel, oder?«
Da rannte sie schnell hinaus. Er erzählte Margarete davon, die dann Henni wieder ins Musikzimmer rief, ihr alle möglichen Noten zeigte und sagte, sie sollte sich keinen Zwang antun. Wenn sie Zeit hätte, stünden Flügel und Noten zu ihrer freien Verfügung.
Manchmal hörte sie dann, wie Henni sich Note für Note durch einige Stücke ihren Weg suchte. Richtig singen hörten sie sie nie.
Aber seltsamerweise war es genau das, was Margarete vor dem Einschlafen beschäftigte, wenn sie an ihre bevorstehende Reise in den Harz dachte.
Sie stellte sich vor, wie Henni allein im Haus wäre, die Kinderzimmer still und auf befremdliche Art geordnet. Und wie sie dann an den Flügel ginge, einige Noten anschlagen und mit sirenenhaft schöner Stimmer zu singen beginnen würde; Klänge, die sich silbern aus dem halb geöffneten Fenster ihren Weg auf die stille Straße suchen würden, sanft und schwellend, so berückend, dass jeder, der sie hörte, innehalten müsste, sich umdrehte, um etwas zu sehen, was zuvor nie zu sehen gewesen war.
Der Krieg hatte begonnen, die Hamburger bleich, verstört und – mangels Alternativen – hart zu machen. Jeden Monat sagte man sich, natürlich nur denen, denen man zu vertrauen glaubte, dass es noch schlimmer doch wohl nicht werden dürfte. Dann wurde es schlimmer, und man sagte, dass es ja früher nicht so schlimm gewesen war – verglichen.
Die Rationierungen und das ewige Schlangestehen machten den Hausfrauen mindestens genauso viel Sorgen wie die wachsende Zahl derer, die einem ausgebombt eingewiesen werden konnten.
Jeder hatte Geschichten gehört – zwei Frauen und ein Herd, das ging nie gut, wusste jede noch aus den Zeiten, als die Schwiegermutter mitkochte. Und man sorgte sich umso mehr, je mehr Zimmer man hatte. Viele flohen natürlich auch, aber nicht jeder hatte Verwandte auf dem Land. Es blieben genug zurück, die keine Wahl hatten.
»Denk man an die armen Ausgebombten«, wusste Frau Vorderfrahmsen dann – bei der aufgrund von Beziehungen ihres sauertöpfischen, geizigen Mannes noch niemand eingewiesen worden war und wohl auch auf absehbare Zeit nicht werden würde –, »die armen Leute da hätten wohl gern noch Zimmer, um die sie sich sorgen könnten. Wollen wir doch froh sein, dass wir ein Dach überm Kopf haben, nicht?«
Jeder hatte Sorgen. Solche, über die man auf der Straße sprach, und solche, über die man hinter verschlossenen Türen sprach. Und solche, über die man gar nicht sprach, wenn man wusste, was gut für einen war.
Die Sorge zum Beispiel, wie man am besten die Straßenseite wechselte, wenn man diese verängstigten Gestalten mit dem gelben Stern sah, von denen man ja einige schließlich mit Namen kannte. Von denen man mit einigen im Rotary Club gewesen war, die man am eigenen Tisch zu Hause zu Gast gehabt hatte, die man einmal beim Vornamen genannt hatte.
Und dann waren ja schon so viele junge Männer gefallen.
Erst waren einige, wenn es entfernte Vettern oder Neffen waren, auch noch stolz mit dem Trauerflor durch die Gegend gegangen, hatten vom Heldentod und der Notwendigkeit der Stunde geschwatzt – aber wenn es an die Söhne ging, wurde man doch meist vorsichtiger. Wann sollte dieser Krieg denn endlich vorbei sein? Bei all den Siegen? Weihnachten dieses Jahr, spätestens, las man sich gegenseitig aus dem Kaffeesatz. Viele Frauen legten Patiencen oder pendelten über den Fotografien von Frontsoldaten, Angst und fadenscheiniger Trost im stündlichen Wechsel beherrschten fast jedes Haus. Allein die überzeugten Nazis hatten keinerlei seelisches Bauchgrimmen. Aber Sorgen um ihr eigenes heiles Überleben hatten auch überzeugte Nazis.
Was sich in Wesel bei der kurzen Begegnung in Minna Vaupels Laden schon deutlich abgezeichnet hatte: Emil Vanders war kein Parteimitglied. Er hasste die Nazis.
Natürlich konnte das kein Mensch, dem das eigene Leben und die Unversehrtheit der eigenen Familie etwas bedeutete, laut sagen, das war klar.
Und seit der Sache mit Minna musste er noch vorsichtiger sein. Man konnte nicht sicher sein, dass er seitdem nicht unter Beobachtung stand.
Emil Vanders war kein Hitzkopf, kein Eiferer – und auch kein Held.
»Ich bin völlig unpolitisch«, hatte er sich schon gleich ’33 angewöhnt zu sagen. Das war ein Satz, bei dem man ihm zuerst noch markig auf die Schultern haute, ihn anwies, doch besser mit der Zeit zu gehen, den Zug nicht zu verpassen, das Schiff nicht ohne ihn abfahren zu lassen.
»Ich bin gar nicht eilig«, sagte er dann und lächelte gewinnend.
Und die Schulterklopfer machten erst betrübte, dann überlegene Gesichter und meinten untereinander, dass, wer sich so gut verheiratet hätte, es vielleicht wirklich nicht eilig zu haben brauchte. Dabei waren die Vanders keinesfalls unabhängig.
Was das Vermögen anderer anging, urteilten die Leute meistens zu gut oder zu schlecht. Im Falle von Familie Vanders – zu gut.
Margaretes Familie und deren Vermögen, wusste zum Beispiel Frau Thomsen es besser, hatten den Börsenkrach und die Inflation aber gar nicht so gut überstanden, wie viele meinten.
»Aber an dem, was denen übrig geblieben ist, ist auch nichts auszusetzen, mir wäre das nicht zu schäbig!«
Bestimmt war, was Margarete und ihren Schwestern übrig geblieben war, nicht im Mindesten schäbig. Es war allerdings auch nicht genug, Emil einen Privatier zu schimpfen, der sich nur ins gemachte Nest setzen wollte. Und auch nicht genug, ihm anzuhängen, dass er Margarete eben nur wegen ihres Geldes geheiratet hatte.
»Wollen wir mal so sagen«, erklärte Frau Schmitt gerne kategorisch zum Thema, »abgehalten hat es ihn sicher auch nicht!«
Margaretes Vermögen hatte ausgesprochen zwischen ihr und Emil vielleicht nie eine Rolle gespielt. Es lag auf der Bank, in Gold und Sparanleihen, und bestand zudem aus ein paar Grundstücken und Häusern und wurde nicht angetastet. Besorgt waren beide höchstens wegen einer äußerst schrappigen Schwester, die gerne um Minimalwerte prozessierte und deren Habgier auch der eigentliche Grund für die Erholungsreise in den Harz war. Weder Margarete noch Emil waren gierig, was das Geld anging.
Es war ihnen natürlich nicht egal, aber es war, das hatten sie irgendwann einmal, beide vom Thema peinlich berührt, besprochen: »Für die Kinder.«
Nur sicher machte es Emil seine politische Standhaftigkeit leichter in Bezug auf die Sicherheit, dass – würde er seinen Posten verlieren – er seine Familie nicht sofort in Not bringen würde.
Emil Vanders war Arzt, eigentlich.
Jetzt war er Leiter der Vertriebsabteilung eines großen Medikamentenherstellers. Es war, so erklärte er gezwungenermaßen auf Nachfrage öfter, eine Abänderung seiner ursprünglichen Berufswahl, die ihm erstens erlaubte, weniger menschliches Leid zu sehen, als es den meisten Ärzten vergönnt war, und zweitens abends und an den Wochenenden ungestört bei seiner Familie sein zu können, worauf er – für die übrigen Männer in der Nachbarschaft unerklärlich – großen Wert legte.
Man war sich einig, dass Vanders zwar Köpfchen, aber nicht genug Mumm hatte, um es wirklich zu etwas zu bringen. Immerhin legte man in seiner Firma genug Wert auf ihn, um ihn auch ohne Parteizugehörigkeit als Vertriebsleiter zu behalten, obwohl der Geschäftsführer schon ein paarmal hatte durchblicken lassen, dass es so langfristig ja wohl nicht weitergehen könnte.
»Ach, wissen Sie, Dr. Grimm«, hatte Emil dann wie üblich nur gesagt, »ich bin ganz und gar unpolitisch. Es macht also keinen Unterschied.«
»Für Sie nicht«, knurrte Grimm dann. Und dass Vanders seinen Titel nie benutzen wollte, machte ihn auch fuchsig.
Er hätte ihn gerne zumindest dazu gezwungen, aber es gab keinen Grund, weil man Emil in seinem Beruf nicht im Mindesten kritisieren konnte. Er war scharfsinnig, aufmerksam, wendig, flink in Gedanken und Taten, selbständig bis an die nie überschrittene Grenze der Insubordination – und er war ein echter Schlager bei den Kunden.
»Ist denn der Vanders auch dabei?«, fragten sie, wenn Dr. Grimm zu einem Umtrunk, einer Elbfahrt, einer Partie ins Alte Land einlud.
Und wenn er Emil – schon aus politischen Gründen – eigentlich gar nicht hatte einladen wollen und sagte, das stehe noch nicht ganz fest, dann spürte er, wie der Enthusiasmus der Kunden, dieser Einladung Folge zu leisten, entwich wie Luft aus einem platten Reifen.
Wenn Emil aber dabei war – »Halten Sie mir mal einen Platz neben dem frei, Grimm, ja?« –, schwärmten Apotheker und Ärzte, Forschungsgelehrte und Professoren gleichermaßen wie verknallte Backfische um Emil herum, lachten mit ihm, hörten ihm sinnend zu und machten dann Dr. Grimm gegenüber ein gravitätisch anerkennendes Gesicht, wenn sie sich wieder verabschiedeten.
»Der Vanders, Menschenskind, der hat was los, mein lieber Kokoschinski, so einen, den könnte ich bei mir auch brauchen.«
Dr. Grimm liebte diesen Kult um seinen Angestellten nicht, auch wenn Vanders sich daran nicht schadlos hielt.
Aber keinesfalls wäre er so dumm oder unfähig, diesen Vorteil nicht im Falle eines Falles für sich zu nutzen, das wusste Grimm auch. Er machte sich aber im Moment weit weniger Sorgen, Emil könnte ihm von einem allzu betörten Mitbewerber entführt werden, als vielmehr um einen Einberufungsbefehl, der jeden Tag bei Vanders eintreffen könnte.
Man brauchte Ärzte an der Front. Auch wenn diese keine Ärzte mehr sein wollten. Und wenn sie dann nicht in der Partei waren oder keine Freunde in der Partei hatten, dann waren sie meist sehr schnell unterwegs an die Ostfront.
Bislang war aber noch kein Einberufungsbefehl eingetroffen. Margaretes Koffer, natürlich auch die der Mädchen, waren gepackt, alle Listen mehrfach durchgesehen, und es schien, da es sehr diesig war, auch eine bombenfreie Nacht zu werden.
Emil saß am geöffneten Fenster im Schlafzimmer und rauchte.
Margarete, im lavendelblauen Schlafrock, setzte sich auf das Fußende des Bettes und sah ihren Mann lange an.
»Ich werde dich wie immer auf der Arbeit anrufen«, sagte sie, »aber die Reise kann natürlich etwas dauern. Man weiß nicht, ob alle Züge fahren, wie sie sollen. Braunschweig, Magdeburg. Vielleicht müssen wir einen Umweg machen.«
»Ich hoffe vor allem«, sagte Emil, »dass du dich auch etwas erholst. Deine Schwester kann vielleicht auch mal ein Geschirrtuch in die Hand nehmen.«
»Ach, Emil«, es klang fast gereizt.
»Meinetwegen musst du nicht fahren.«
»Ja, das weiß ich.«
»Lass sie das Geld doch haben.«
»Es geht aber ums Prinzip. Nicht ums Geld.«
Was bei Margarete sogar vielleicht ausnahmsweise einmal stimmte.
Er brummte und drückte seine Zigarette aus.
»Ich würde …«, sie zögerte, »ich würde der Henni ja auch gerne Urlaub geben in der Zeit. Aber sie scheint überhaupt niemanden zu haben, zu dem sie hinkönnte, nicht?«
»Vermutlich.«
»Willst du den Vater denn nicht mal anschreiben, Emil?«
»Das geht uns nichts an. Das Mädchen ist über einundzwanzig.«
»Ja, jetzt! Als sie kam, wie alt war sie da?«
»Was willst du, Margarete?«
»Ich will nur …«, aber die richtigen Worte kamen ihr nicht über die Lippen, wie so oft, wenn etwas eigentlich unaussprechlich ist, »ich möchte nur, dass hier alles in Ordnung ist.«
»Es ist alles in Ordnung«, sagte er ruhig, aber er sah sie nicht an.
»Die Nachbarn reden, weißt du? Jetzt schon.«
»Leute reden, Hunde bellen. Es gibt keinen Grund, sich deswegen aufzuregen.«
»Ich meine ja nur.«
»Ich weiß, was du meinst.«
»Langweilen wirst du dich jedenfalls nicht. Du bist fast jeden Abend woanders mit den Jungen zum Essen eingeladen.«
»Wirklich aufmerksam.«
Sie stand auf, setzte sich dann wieder hin. »Emil …«
Er drehte sich nicht um.
»Du machst es mir schwer, Emil.«
Da streckte er die Hand nach ihr aus, das Gesicht noch immer der dunklen Straße zugewandt. »Manchmal ist es schwer. Niemand hat uns versprochen, dass es immer leicht sein würde.«
Sie nahm die Hand nur sehr kurz und ging dann zu Bett.
Als die Taxe am nächsten Morgen kam, bereits um halb sieben, um Margarete und die Kinder zum Bahnhof zu bringen, stieg Emil zu aller Überraschung, ausgehfertig für die Arbeit, mit ein. Eine seiner vielen Unvorhersehbarkeiten, die alle Nachbarinnen an ihm so reizend fanden; immer für eine Überraschung gut.
»Ich bringe euch zum Bahnsteig und geh von da aus zu Fuß ins Büro«, erklärte er lächelnd. »Fräulein Schellack, wollen Sie wohl bitte zusehen, dass diese beiden ungeschlachten jungen Männer da, meine Herren Söhne, dennoch rechtzeitig zur Schule kommen?«
Henni, die mit ihrem Abschiedsschmerz beschäftigt gewesen war, zuckte zusammen und lief los, wobei sie ganz vergaß, sich von Margarete zu verabschieden.
»Danke, Papa«, flüsterte Meike selig an seiner Schulter. Das Kind war in letzter Zeit noch weinerlicher als sonst. Man schob es auf die Bomben, aber es war bisweilen recht anstrengend. Emil tätschelte ihre Hand. Lilo kletterte auf seinen Schoß. Aber Margarete sah starr aus dem Fenster.
Eine rührende Geste des liebevollen Ehemannes und Vaters – könnte man denken. Wie aufmerksam, wie zartfühlend, Margarete nicht allein auf den zugigen Bahnsteig zu schicken, die Endgültigkeit des Abschiedes noch ein wenig hinauszuzögern. Sie sollte ihm genauso dankbar sein wie ihre Töchter. Sie sollte gerührt sein. Emil spielte mit Lilo und Meike »Ich sehe was, was du nicht siehst«.
Diese ungewöhnliche Zugewandtheit zu seinen Kindern; noch rührender, noch zartfühlender.
Aber sie wusste, weswegen er es tat. Er wollte nicht, dass sie dieses Bild als Letztes sah, dachte sie, er und Henni winkend auf den Stufen, gemeinsam, ein Paar. Und auf seine Art war das schlimmer, als das Bild sehen zu müssen.
Seine Feinfühligkeit war seine Vorbereitung. Auch wenn er es selbst vielleicht noch nicht wissen wollte. Sie wusste es.
Und natürlich wusste Henni auch nach dreieinhalb Jahren im Hause Vanders noch, dass sie in Emil verliebt war. Dass er ihr König vom Brennnesselbusch war. Aber ihre Anhänglichkeit und Zuneigung für Margarete verboten ihr, weiter so darüber nachzudenken, wie sie es in Wesel getan hatte. Der »heiße Brand«, die Erinnerung an die Brennnessel an der Lippe, war mehr zu einer eingesperrten Asche geworden, unsichtbar glosend, verborgen in der Stille.
Als sie damals nach fast dreitägiger Reise schließlich in Hamburg angekommen war, bei der Adresse, die sie auswendig kannte wie sonst nur den Katechismus, da hatte Herbert ihr die Tür geöffnet.
»Ja?«, hatte er gesagt, halb unfreundlich, halb neugierig.
»Ist Herr Vanders im Hause?«, hatte sie gefragt, die Haare strähnig, das elegante Kostüm zerknittert und fleckig – unendlich müde, Minnas Kiste unter dem einen Arm, den Koffer an der anderen Hand, bleischwer.
»Vati«, brüllte der Junge, ohne den Kopf nach hinten zu nehmen.
Aber es erschienen zunächst das damalige Hausmädchen Elsbeth, dann Meike, dann Lilo, dann Günter und erst dann Emil, als alle anderen Henni schon halb wieder auf die Straße gestarrt hatten.
»Herr Vanders«, brachte sie erschöpft hervor, »ich bin Henriette Schellack aus Wesel.«
Er sah sie an, das Bild in seiner Erinnerung leuchtend neben der müden jungen Frau auf seiner Schwelle. Margarete kam hinter ihm die Treppe hinunter.
»Na, kommen Sie erst mal rein.«
»Ich werde Ihnen einen Tee machen«, hörte er seine Frau sagen.
Dann saßen sie um den Teetisch im Wohnzimmer, nicht in der Küche, Margarete hatte Elsbeth sogar angewiesen, das gute Geschirr zu nehmen.
»Ich wusste nicht, wo ich hinsollte.«
Dann wurden die Kinder aus dem Zimmer geschickt, Elsbeth auch, und leise fiel Minnas Name, zu dem Margarete nur überrascht die Augenbrauen hob.
Elsbeth ging widerwillig und voller Galle zum nächsten Ersten. Henni bekam die Mädchenkammer unter dem Dach.
»Hast du was mit dem Mädchen gehabt, Emil, ja oder nein?«, hatte Margarete ihn am ersten Abend gefragt.
Er war daraufhin aus dem Zimmer gegangen, als gebührte der Frage nicht die leiseste Antwort. Sie überzeugte sich dann im Laufe der Monate selbst, dass dies nicht der Fall gewesen war.
Diese Henni war überhaupt sehr angenehm. Ein kluges Kind, anstellig im Haushalt, bescheiden und fleißig. Sie konnte phantastisch nähen. Sie tratschte nicht, sie stahl nicht, sie trank nicht heimlich von den Likörvorräten, sie schnüffelte weder im Wäscheschrank noch in der Post. Günter und Herbert liebten sie, weil sie mit ihnen Schlagball und Fußball spielte, als hätte sie nie etwas anderes getan. Und für Meikes und Lilos Puppen nähte sie an den Abenden eine Garderobe wie von einem Modehaus. Und Emil hätte man nicht den leisesten Vorwurf machen können, dass er es darauf anlegte, mit ihr allein zu sein. Er war formvollendet höflich zu ihr, wie er zu allen Frauen formvollendet höflich war.
Wenn sie sich je unterhalten hatten, meist ja über die Belange der Kinder, ohne dass Margarete dabei war, dann erzählten sie es ihr beide unaufgefordert, sobald sich die Gelegenheit ergab – und die Wiedergabe der Dialoge stimmte stets überein, wie es nur die Wahrheit oder absolute Verfemtheit ermöglicht.
Henni vermied es, Emil länger anzusehen als mit einem Blick, wie er in Konversationen üblich ist. Und auch er wäre nie dabei ertappt worden, Henni sehnsuchtsvoll oder gar zudringlich zu betrachten.
Und dennoch wusste Henni, dass dieser köstliche Brennnesselschmerz noch verborgen zwischen ihnen lebte.
Dass es nur einer Gelegenheit bedürfte, aus der Asche ein Feuer zu machen – wider alle Anhänglichkeit an Margarete.
Und dann dachte Henni, dass sie ein schlechter Mensch wäre, verdorben und gewissenlos, der dafür irgendwann bestraft würde.
Was Emil dachte, wusste keiner.
Auch als Henni Jahrzehnte später darüber nachdachte – mit der Erfahrung und dem Wissen einer Frau, der nichts mehr so leicht das Herz stocken ließ wie der jungen Henriette von damals –, hätte sie nicht zu sagen vermocht, ob er es auch getan hätte, wenn da nicht dieser Zufall gewesen wäre, der sie geradezu aufeinander zustieß.
Jener Zufall, der Herbert und Günter in der vierten Nacht von Margaretes Abwesenheit wegen eines drohenden Bombenalarms bei den Thomsens hielt. Frau Thomsen konnte zum Glück noch durchtelefonieren, dass sie die beiden in den Keller mitnehmen würde und dass sie über Nacht besser dableiben sollten, falls der Alarm käme. Im Radio hatte man gewarnt: »Achtung, Hamburg!«
Aber nicht immer hieß das, dass sie auch nach Hamburg kamen. Sie konnten auch nach Bremen oder Kiel fliegen oder weiter nach Berlin oder ins Ruhrgebiet.
»Ja, danke. Guten Abend.«
Emil stand in der Diele am Telefon, ein Glas in der Hand, und legte auf.
Henni war oben ganz blass an der Treppe stehen geblieben.
»Herr Vanders? Ist alles in Ordnung?«
»Es gibt vielleicht Alarm. Die Jungen sind bei Thomsens. Da bleiben sie heute auch.«
»Ein Glück. Ich dachte schon.«
»Möchten Sie sicherheitshalber in den Keller gehen, Fräulein Schellack? Ich meine, es gab ja noch keinen Alarm.«
Sie setzte sich auf die oberste Stufe, als wären ihr plötzlich die Knie weich geworden.
»Nein.«
»Ist Ihnen nicht gut?«, er machte drei eilige Schritte die Treppe hoch, hielt dann aber an.
»O Gott«, flüsterte Henni nur, sie verbarg das Gesicht in den Händen. Da kam er die Treppe hinauf und setzte sich neben sie.
»Na, was denn? Machen Sie sich Sorgen um Ihre Familie? Wir können morgen einmal versuchen, mit ihnen zu telefonieren, ja? Manchmal bekommt man eine Verbindung.«
»Nein.«
Jetzt hätte er aufstehen müssen, jetzt gleich, sagen müssen, dass die Welt morgen schon wieder anders aussähe, dass es so schlimm nicht werden würde, dass sie es sich jederzeit anders überlegen könnte.
Aber er blieb sitzen.
»Scheißkrieg«, sagte er, und sie fing übergangslos an zu schluchzen.
»Scheißnazis«, sagte er, und sie musste genauso übergangslos lachen.
»Was?«, fragte er, ein bisschen stolz, und lachte auch. »Stimmt doch.«
Da nickte sie, zog die Nase hoch wie Heini damals und lachte weiter. »Scheißnazis«, wiederholte sie in der Sprache, die außer ihnen beiden niemand zu sprechen vermochte. Die Sprache aus Minnas Laden, die Sprache ihrer ersten Begegnung, die Sprache einer kleinen, winzig kleinen Freiheit.
Er nahm ihre Hand, und ihr Herz blieb stehen.
»So viel, so viel … So … Wenn man nun so ganz frei wäre«, begann er leise und langsam zu sprechen, »so ganz frei, nur zu denken und zu tun, was man wollte, glaubst du, man würde etwas Gutes damit anfangen? Der Mensch an sich, meine ich.«
Sie bekam kaum Luft.
»So viele Verbote, wie es gibt, Henni«, redete er weiter, sein Daumen streichelte sanft kreisend ihre Knöchel. Er nannte sie Henni, als hätte er es tausendfach so gesagt, ihren Namen, nicht das ewige Fräulein Schellack, als hätten sie die Form einfach überstiegen, gemeinsam, Hand in Hand – und hinter der Form war nichts als Freiheit.
»Und manche Verbote, da weiß man genau, die sind nur Unsinn, Unterdrückung. Aber was ist mit den anderen? Ist das gut, dass die etwas verbieten? Oder genauso falsch …? Woher weiß ich, Henni, dass nicht alles falsch ist, was ich tue? Oder nicht tue, hm? Weißt du das?«
Sie küsste ihn, das wusste sie später ganz genau. Es war nicht sein Fehler gewesen, auch wenn das vielleicht alle gesagt hätten, weil er verheiratet und Vater und zwanzig Jahre älter war.
Sie küsste ihn, direkt auf den Mund, es stach schlimmer, als jede Brennnessel es vermocht hätte. Er rührte sich nicht, er hielt nur still.
»Henni«, sagte er dann, es klang unentschieden.
»Doch«, sagte sie und küsste ihn wieder, diesmal hielt er nicht still.
Wenn Henni und Hilde je darüber geredet hätten, über ihre ersten – und in Hildes Fall ja auch einzigen – Erfahrungen mit Männern, dann wären sie vielleicht erstaunt gewesen, dass es ihnen so leichtfiel, ihre Sinnlichkeit an die Oberfläche steigen zu lassen.
In so vielem waren sie Geschöpfe der Jahre, in denen sie geboren wurden, gefangen zwischen dem eisernen Griff des Alten und verloren in der nachlässigen Gleichgültigkeit des Neuen. Nur hierin nicht. Hier waren sie zeitlos, befreit, unversehrt von Mode und Verboten, von Vorgaben und Zwängen. Als hätte irgendeine lächelnde Liebesgöttin den Schellack-Schwestern dieses Geschenk an ihre unglückliche Wiege gelegt. »Hier, Mädchen, wenn es so weit ist, dann amüsiert euch wenigstens mal …«
Natürlich fanden diese Unterhaltungen zwischen den beiden Schwestern aber ebenso wenig statt wie andere, in gewisser Weise notwendigere, aber es hätte helfen können.
Dennoch blieb es ein kleines Juwel unter all dem Plunder, den sie hatten zu tragen bekommen, diese sorgenfreie Freude, plötzlich in Freiheit, und obwohl nie ermutigt, so verlässlich, so wundervoll.
Das ging schließlich lange nicht jeder so.
Später, als sie die Schneiderin für Wesels »Hautevolee« geworden war, hörte Henni viele Frauen über die mangelnde Empfindsamkeit, die unersprießliche Begegnung unter den ehelichen Daunendecken vom Anfang bis zum herbeigesehnten Ende klagen. »Es war ja nun noch nie ein Vergnügen, aber jetzt! Wenn man doch erst fünfzig wäre, Frau Henriette, nicht? Dann könnte man all das schon zum guten Schluss hinter sich haben, ohne dass ein Mann was dagegen sagen könnte! Mit fünfzig ist Schluss, das hab ich dem schon von Anfang an gesagt.«
»Ach, na ja«, würde die spätere Frau Henriette sagen, unbestimmt, weder ablehnend noch verräterisch, auch als sie schon selbst über fünfzig war und es keineswegs hinter sich haben wollte.
Ihr war es immer als reine Seligkeit erschienen, vom ersten Anfang an. Und als den ersten Anfang könnte man Caspars Kuss am Rhein sehen oder diese Nacht mit Emil Vanders, in beidem hätte man recht, auch wenn sie natürlich nicht vergleichbar waren, Vanders und Caspar, wie ein Regenschauer und eine Sintflut vielleicht.
Wenn sie noch einmal so verliebt gewesen wäre wie in Vanders, dann hätte sie ihn vielleicht auch mit dem Abstand der Zeit anders gesehen, eingeordnet, verglichen, vielleicht dadurch auch geschwächt in ihren Empfindungen.
Dieses Verzehrtwerden von innen nach außen, dieses Überbordwerfen von allem, was sich gehörte. Sich sein Recht machen müssen, wo es Unrecht war, weil alles andere unmöglich gewesen wäre.
Aber sie war nie wieder so verliebt wie in Vanders, dafür sorgte er selbst, ohne das zu ahnen.
Er blieb einzig in dem, was er in ihr angerichtet hatte, an endloser Liebe, die ganzen Jahre lang, bevor etwas geschah, und dann die paar Tage, die mit diesem Abend begannen – und so jäh endeten, ungewollt. Aber vielleicht war auch dies unvermeidlich, wenn man schon einmal so dachte. Beginn und Abschied ineinander verflochten.
Denn Vanders wäre sonst fraglos ihre Endstation gewesen.
Sie spielte nicht mit dem, wer er für sie war. Und trotz aller Grenzen, die sie überstieg, sie spielte auch nicht mit Margarete oder mit sich selbst. Wenn dieses Wachsen die ganze Zeit, in der Henni unter Margaretes und Emils Dach lebte, nichts Endgültiges als Ergebnis hätte, lag es nicht an ihr. Emil Vanders wurde eine Weggabelung, keine Ankunft, obwohl es sich nicht danach anfühlte damals, an diesem ersten Abend.
Sie gingen ins Musikzimmer, zuerst, als wäre es lange und klar abgesprochen zwischen ihnen beiden, keiner musste dem anderen ein Signal geben. Sie waren zusammen wie eine einzige Richtung, eine Bewegung.
Auf dem verschossenen Ledersofa küssten sie sich wieder und wieder; und als er ihr sagte, dass er hier an sie dachte, auch auf diese Art, wusste sie es ja längst.
Seine Finger in ihren Haaren, ihre Lippen an seiner Wange, alles Feuer, wie es sein musste, auch wenn es falsch war, Unrecht.
Sie tranken seinen Cognac zwischendurch, mit wundervoller Kameradschaft und Ebenbürtigkeit aus einem Glas.
»Komm mit«, sagte er irgendwann.
Sie gingen ins Gästezimmer, der einzig mögliche Ort, auch diesbezüglich stimmten sie wortlos überein – um unter den Umständen nicht noch schändlicher zu sein. Ein ungenutzter Raum mit etwas abgestandener Luft, Lavendel und Kölnisch Wasser; alle paar Monate nur ging Henni hier lüften und Staub wischen. Ein oder zwei Mal im Jahr vielleicht nächtigte hier Margaretes schrappige Schwester, sonst war es wie ein vergessener, stiller Ort in diesem Haus voller Bewegung.
Sie fing damit an, sich auszuziehen, er sah ihr bewegungslos zu.
»Und du«, befahl sie dann fast.
Später, als es für Henni viel darum ging, fast ausschließlich darum ging, die Kontrolle zu behalten, als sie es darauf anlegte geradezu, da empfand sie hin und wieder Bedauern, dass es nie wieder so war wie mit Emil Vanders, frei von solchen Gedanken.
Als es nicht darum ging, wer was wie für wen tat, sondern nur darum, dass es getan wurde, unüberlegt, träumerisch und doch hellwach. Seine Haut heiß und eiskalt zugleich, nicht mehr von ihrer zu unterscheiden, sein Atem an ihrer Schläfe, diese unglaubliche, unerträgliche, unentbehrliche Nähe.
Die hellen Schatten im verdunkelten Zimmer, das vorsichtige Atmen des komplizenhaft leeren Hauses um sie herum, der fürchterliche Verrat als einzig richtiges Handeln in dieser schrecklichen Welt. Das Falsche, von dem sie beide wussten, dass es sich jederzeit bemerkbar machen könnte wie die in der Nacht schweigend lauernden Sirenen, verhielt sich bis auf den leisesten Ton schuldhaften Flüsterns, der versuchte, ein Gedanke zu werden, aber sie erlaubten es zumindest nicht, solange es währte.
Und nachher die Stille, voller Entschuldigungen aneinander, an Margarete natürlich auch, an die sie beide so hörbar dachten, dass man taub werden könnte davon, und zugleich war jede Geste, jeder Atemzug voller Versprechen an das nächste Mal. Was hätte es auch zu sagen gegeben? Sie waren maßlos, unerschrocken, von einer so ernsthaft tiefen Gier nacheinander, die jeden anderen vielleicht erschreckt hätte, aber nicht sie.
Auch mit zweiundzwanzig war Henni nicht das junge Mädchen, das die in ihr sahen, die sich auf der Straße nach ihr umdrehten, mit anderen, banaleren Schlafzimmergedanken.
Sie war nicht die Verführte und sie war nicht das Opfer eines fremdgehenden Ehemannes.
Sie wollte nicht seine Entschuldigungen an ihre Tugend oder Jugend, sie wollte nicht hören, dass es ihm ja so leidtäte und was vielleicht andere Männer an dieser Stelle gesagt hätten, um ihr Gewissen zu entlasten.
Emil sagte es auch nicht. Er war ihr nun endlich geworden, was er ihr werden sollte. Maleen und der König, die sich wiedergefunden hatten. Sie wollte nicht, dass es kaputtging durch das Offensichtliche, das ja auch da war, ein unangenehmer Beobachter auf der Bettkannte: Das Recht-gehabt-Haben der Thomsens und Vorderfrahmsens, also doch, ahaha, ein Verhältnis zwischen Hausherrn und Hausmädchen.
»Ich will so viele Tage, wie ich kriegen kann«, sagte sie schnell an seine Schulter. »Wie viele?«
»Die Jungen«, gab er zu bedenken. Hatte er dasselbe gedacht?
»Ich weiß«, sagte sie. Es war zu gefährlich, sich auf kindlichen Schlaf zu verlassen, wenn Kinder schon fast daran gewöhnt waren, jede zweite Nacht bei Sirenengeheul aus dem Bett gerissen zu werden, um in den Keller zu rennen. Und es würde hier auch kein zweites Mal geben, nicht vorsätzlich, geplant und erwartet.
»Ich lasse mir etwas einfallen«, versprach er. Und sie nahm es als seine nachträgliche Initiative, einen Ausgleich für den ersten Kuss, den sie erst hatte hervorlocken müssen. Irgendwann stand sie auf und ging aus dem Zimmer.
»Henni?«, sagte er ihr hinterher, der fahle Schimmer seiner nackten Schultern fast silbern in dem dunklen Raum.
»Ja?«
»Es war nicht falsch«, sagte er, nur war es in Wirklichkeit eine Frage. Deswegen gab sie ihm keine Antwort darauf.
Der nächste Morgen war schrecklich. Ab sechs Uhr saßen sie beide stumm in der Küche, so weit voneinander entfernt, wie es eben ging, um die Rückkehr von Herbert und Günter auszuhalten.
Sie trichterte Kaffee und sah ihn nicht an, er rauchte schon die fünfte Zigarette, übernächtigt und grau. Sie hatten Angst, dass den Kindern etwas auffallen könnte, aber beide kehrten so in einen Streit miteinander vertieft von Thomsens zurück, dass die kindliche Selbstbezogenheit alles, was Henni und ihren Vater an verräterischer Nähe noch umgab, in sich aufsog und nichts davon übrig ließ.
Sie trieb die Kinder zum Waschen, Kämmen und Zähneputzen so resolut wie an jedem anderen Morgen ins Bad, Emil rief ihnen nach, dass er früh ins Büro müsste und dass sie sich benehmen sollten.
Es gab einen schrecklichen Moment, kurz bevor er ging, als sie beide in der Diele standen und er so sichtbar überlegte, was schlimmer wäre: sie zu küssen – oder es nicht zu tun.
Deswegen drehte sie sich schnell um und ging in die Küche zurück. »Herr Vanders?«, rief sie über die Schulter, so dass es klang wie an jedem anderen Morgen, wenn sie noch nach irgendetwas fragte, das er mitbringen oder erlauben musste.
»Ja?«, er klang viel auffälliger als sie, zum Glück brüllte Herbert oben Günter an: »Gib mir das Handtuch, du Schießbudenfigur!«
Und Günter brüllte nach einem Klatschen aufheulend zurück: »Du Missgeburt!«, ein Wort, das im Hause übrigens streng verboten war und normalerweise Hausarrest nach sich zog.
Jetzt blinzelte Emil nur einmal, als er es hörte.
»So viele, wie ich kriegen kann«, wiederholte sie noch einmal eindringlich, als ginge es um eine rationierte Ware, für die er seine Beziehungen spielen lassen müsste.
»Ist gut, Fräulein Schellack«, er floh trotzdem mehr, als dass er ging, und sie schüttelte den Kopf.
Zu Frau Thomsen sagte er am späteren Nachmittag mit ausreichend zerknirschter Miene, dass seinem Chef ja wohl kein blöderer Zeitpunkt hätte einfallen können, ihn als Vertretung für einen just einberufenen Kollegen nach Hannover zu schicken, aber Konferenz wäre Konferenz, doch das hätte er ja mal früher sagen können.