Die Hüter der flüsternden Schlüssel (1). Verlorene Magie - Tanja Voosen - E-Book + Hörbuch

Die Hüter der flüsternden Schlüssel (1). Verlorene Magie Hörbuch

Tanja Voosen

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Beschreibung

Willkommen im Magitorium, wo die flüsternden Schlüssel dich und deine Magie rufen Am ersten Schultag zum Nachsitzen verdonnert zu werden, hat Lenna Phips bisher noch nicht geschafft. Und sie hat wirklich schon so einige erste Schultage hinter sich. Dabei will sie endlich einfach nur irgendwo ankommen und ein normales Leben haben. Stattdessen stolpert sie vom Nachsitzen geradewegs ins Abenteuer: Lenna findet einen verzauberten Schlüssel, mit dem sie ins Magitorium gelangt ? einem Ort voller Magie und Wunder. Viele Jahre war das Magitorium und damit auch die Magie der Schlüssel versiegelt. Mit dem Bruch des Siegels kehrt nicht nur die Magie zurück, es entbrennt auch der Kampf um deren Macht von Neuem. Und das Magitorium hat Lenna und ihre neuen Freunde auserwählt, Beschützer der Magie zu werden. Magische Schlüssel, mutige Held*innen und tierische Gefährten ? Tanja Voosen entführt in ein spannendes Fantasy-Abenteuer voller Freundschaft, Action und Atmosphäre. Weitere Bücher von Tanja Voosen: Die Zuckermeister (1). Der magische Pakt Die Zuckermeister (2). Die verlorene Rezeptur Die Zuckermeister (3). Das letzte Bündnis M.A.G.I.K. (1). Die Prinzessin ist los M.A.G.I.K. (2). Das Chaos trägt Krone

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Zeit:9 Std. 16 min

Sprecher:Uta Dänekamp
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Der magische Pakt (1)

Die verlorene Rezeptur (2)

Das letzte Bündnis (3)

M.A.G.I.K.

Die Prinzessin ist los (1)

Das Chaos trägt Krone (2)

Tanja Voosen

wurde 1989 in Köln geboren und schreibt seit ihrem Abitur Kinder- und Jugendbücher. Sie liebt Hüte, DIYs und ganz besonders ihre zwei Katzen Elly und Lilly. Als waschechte Nachteule fallen ihr die besten Ideen immer nachts ein. Wenn sie nicht am Schreibtisch sitzt und schreibt, stöbert sie gerne auf Flohmärkten nach kleinen Schätzen – so fiel ihr auch ihr ganz eigener magischer Schlüssel in die Hände, der den ersten Funken für die Idee zu »Die Hüter der Schlüssel« entzündete.

Ulyana Regener

war früher Opernsängerin. Die Wendungen des Lebens führten dazu, ihrer wahren Leidenschaft zu folgen: der Kunst. Mit unbeirrbarer Hingabe hat sie ihr Hobby zum Beruf gemacht.

Für mich.Weil dieses Buch zu schreiben,meine bisher größte Herausforderung war.Und als Erinnerung daran, dass ich sie gemeistert habe.

Ein Verlag in der Westermann Gruppe

1. Auflage 2024

© 2024 Arena Verlag GmbH

Rottendorfer Straße 16, 97074 Würzburg

Alle Rechte vorbehalten.

Der Verlag behält sich eine Nutzung des Werkes für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

Text: Tanja Voosen

Umschlag- und Innenillustrationen: Ulyana Regener

Vignette für Innengestaltung: Shutterstock.com,New York / Mudrak, Janna

Lektorat: Laura Held

Layout und Satz: Malte Ritter, Berlin

E-Book-ISBN 978-3-401-81086-7

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1

»Beeindruckend, oder? Die Statue ist richtig alt«, sagte ihre neue Mitschülerin Millie. »Das ist die Gründerin der Schule und meine Vorfahrin, Millicent Wolf. Meine Eltern haben mich nach ihr benannt. Steht dein Name auch für etwas Besonderes? Ist Lenna eine Abkürzung?«

»Ähm, was?«, murmelte Lenna. Sie war abgelenkt vom Gesicht der Steinstatue gewesen, denn der fehlte die Nase. Und ob das so beeindruckend war? Eher nicht.

»Lass mich raten!«, sagte Millie eifrig. »Leonora? Loretta? Londyn?«

Lenna räusperte sich. Sie war sich sicher, dass Millie sich den letzten Namen gerade spontan ausgedacht hatte. »Einfach Lenna. Wie in Lenna.«

Millie nickte, sah aber enttäuscht aus. »Na gut. Einfach Lenna.«

Nachdem Lenna in den letzten Jahren pausenlos umgezogen war und mehr Schulen gesehen hatte als jede andere Zwölfjährige auf der ganzen Welt, fand sie den Gedanken schön, zur Abwechslung mal »einfach Lenna« zu sein. War klar, dass Millie-ich-wurde-nach-einer-Statue-benannt-die-keine-Nase-mehr-hat das öde fand.

»Komm, wir haben noch etwas Zeit, bis die zweite Stunde anfängt«, meinte Millie, als Lenna schwieg. »Die Führung soll sich schließlich lohnen! Hast du Fragen?«

»Mhm«, machte Lenna und sah zum Schulgebäude, das wirkte wie das Heim von irgendeinem Vampir namens Lord Finsterzahn oder Gräfin Gruselschuppen. Denn die dunkelblaue Fassade und schief zusammengeschusterten Etagen schrien förmlich: Hier hausen Untote, die gerne Blutschorle nippen. »Nope. Keine Fragen.«

Millie ließ die Schultern hängen und wirkte noch enttäuschter.

Plötzlich tat sie Lenna ein bisschen leid, denn mit Enttäuschungen kannte Lenna sich selbst bestens aus. Ob sie Millie vielleicht erklären sollte, dass ihr das alles bloß egal war, weil sie sowieso nicht lange hier sein würde? Das war Lenna leider nie.

In ein paar Monaten würden ihre Mum und ihre Tante hinter die Stadt Kieburg ein Häkchen machen und dann ging es weiter, auf in die nächste Stadt …

Trotzdem setzte Lenna ein freundliches Lächeln auf, denn Millie konnte für ihre grummeligen Gedanken schließlich nichts. »Ich find’s aber echt nett, dass du mich rumführst. Du gibst dir voll viel Mühe, danke. Wohin geht’s als Nächstes?«

Millie strahlte sie an. »Zur Sporthalle. Die ist hochmodern!«

Lenna sah noch mal zur Statue ohne Nase. Bye, Millicent! Auf mich wartet eine Halle voll Käsefußgeruch. Juhu! Hier gab’s an jeder Ecke wahre Wunder zu entdecken.

Sie folgte Millie in Richtung der Sporthalle, als ihr zwei Katzen auffielen. Sie saßen im Schatten des Nebengebäudes und schienen jeden ihrer Schritte sehr aufmerksam zu beobachten.

Die größere der beiden hatte silbergraues Fell, war schlank und sah selbst im Sitzen irgendwie elegant aus und die andere war rostrot mit braunen Steifen und wirkte durch das leichte Zucken ihres Puschelschwänzchens aufmerksam und unruhig zugleich.

»Hey, Millie. Gehören die Katzen zur Schule?«, fragte Lenna.

Flauschige Katzen wären definitiv ein Pluspunkt für diesen Gruselschuppen!

Millie war am Eingang der Sporthalle stehen geblieben. »Katzen? Wo denn?«

Lenna blickte zu der Stelle zurück, aber die beiden waren verschwunden. Achselzuckend folgte sie Millie, die sie ungeduldig heranwinkte. Nach der Sporthalle endete die Führung vor dem Klassenzimmer der 6d. Lenna spürte, wie sie nervös wurde. In ihrem Bauch blubberte es wie nach fünf Gläsern Himbeerbrause.

Ihr neuer Klassenlehrer Herr Biegart begrüßte die beiden freundlich an der Tür. Er schickte Millie zu ihrem Platz und schenkte Lenna einen ermutigenden Blick. »Bereit, deine neuen Mitschüler und Mitschülerinnen kennenzulernen? Ich verspreche, sie beißen nicht.«

»Puh, da bin ich aber froh, dass Sie mich nicht in ein Haifischbecken werfen«, erwiderte Lenna. »An einem Stück lässt es sich bestimmt auch besser Hausaufgaben machen.«

Der Lehrer lachte. »Na, dann mal los. Das kennst du sicher bereits.«

Lenna nickte. Klar kannte sie das. Doch ihre Nervosität ging davon auch nicht weg – Klassenzimmertüren waren wie der Durchgang in eine andere Welt, nie wusste Lenna, was sie dahinter erwartete. Sie atmete tief durch, ehe sie Herrn Biegart folgte. Das Zimmer der 6d war hell und aufgeräumt, mit einigen Pflanzen auf der Fensterbank und bunten Bildern an der Wand und gefiel Lenna ziemlich gut.

Sofort schienen sich alle Augenpaare im Raum auf sie zu richten.

In welche Schublade man sie wohl gerade steckte?

An ihrer letzten Schule hatte man sie Schneewittchen genannt, weil ihre Haut so weiß wie Schnee war und ihre schulterlangen, gewellten Haare dunkel wie Ebenholz. Den Vergleich hatte Lenna eigentlich ganz nett gefunden, aber schon da war es ihr schwerergefallen, sich auf die neue Klasse einzulassen.

»Na, dann stell dich mal vor«, meinte Herr Biegart fröhlich.

Wenn Lenna ehrlich war, hatte sie darauf so gar keine Lust. An jeder neuen Schule ratterte sie dasselbe herunter und Spaß machte ihr das schon lange nicht mehr.

Ich heiße Lenna Phips, bin zwölf Jahre alt und wurde gegen meinen Willen in dieses Städtchen verschleppt, weil meine Familie über mein Leben bestimmt. Hobbys? Von einer Zeitreisemaschine träumen, die mich zu meinem Paps zurückbringt, denn der ist nicht mehr da. Ach – und ich bin gut im Umzugskisten-Einpacken. Niemand klebt Paketband so schnell auf Kartons wie ich. Das ist meine Superkraft!

Moment mal, wieso starrten sie alle so an? Hatte sie das etwa laut gesagt?

Lenna spürte, wie ihr Hitze in die Wangen schoss.

»Wie … interessant«, sagte der Lehrer wohlwollend. »Hat jemand Fragen?«

Im Klassenzimmer blieb es still.

Lenna wäre am liebsten im Erdboden versunken. Was war heute nur los mit ihr? Sie meisterte solche Tage doch sonst mit Leichtigkeit. Vielleicht war das ein Naturgesetz: Ziehst du neunmal um, nimmt es dir jeder krumm?

Wäre ihre Superkraft doch nur, sich unsichtbar machen zu können.

»Ich habe eine Frage«, sagte jemand laut.

Sie sah auf und entdeckte einen rothaarigen Jungen, der mit der Hand in der Luft herumwedelte. Dutzende Sommersprossen saßen wie Tupfen auf seiner weißen Haut und in seinen grünen Augen lag ein Funkeln, das Lenna nicht deuten konnte.

»Könnte ich Elfriede ein Schlückchen Wasser geben? Sie sieht gar nicht gut aus«, sagte er. »Eine Xanthosoma Lindenii wie sie braucht sehr oft Wasser.«

Ein genervtes Stöhnen ging durch die Tischreihen.

Lenna verstand nur Bahnhof. Wer war Elfriede und was war ein Xanthodingens?

»Nein, Rudi, darüber haben wir oft genug gesprochen. Pflanzen werden entweder vor oder nach dem Unterricht gegossen«, sagte Herr Biegart streng.

Diese Abfuhr ließ Rudi nicht auf sich sitzen und er erklärte dem Klassenlehrer lang und breit irgendetwas über Pflanzenbewässerung. Herr Biegart scheuchte Lenna auf den leeren Platz neben Millie und kurz darauf den plappernden Rudi vor die Tür.

Dieser grinste fröhlich, als er an Lenna vorbeiging.

Hatte er ihr helfen wollen, damit alle ihre Plapperei vergaßen?

Sie nahm sich fest vor, sich noch bei ihm zu bedanken, aber den restlichen Tag über rauchte Lenna so sehr der Kopf, dass sie es vergaß. Da waren so viele Namen, die sie sich nun merken, und so viel neuer Schulstoff, in den sie hineinfinden musste. Erst als sie nach dem Unterricht nahe den Bushaltestellen stehen blieb, fiel es ihr wieder ein und sie hielt nach Rudi Ausschau. In dem großen Gedrängel war er jedoch nicht zu finden.

Da sah Lenna die silbergraue Katze von vorhin oben auf der Mauer des Schultors sitzen und es schien, als würde sie Lenna erneut beobachten. Lenna starrte verwundert zurück und die Katze machte sich mit einem Sprung aus dem Staub.

Rasch suchte sie die Nummer des Busses, mit dem sie zurück zum Bauernhaus kam, das ihre Mum und Tante als neues Projekt und somit vorübergehendes Zuhause auserkoren hatten. Sie setzte sich auf den erstbesten leeren Platz und seufzte.

Erste Schultage, egal in welcher Stadt, waren echt anstregend.

2

»Zwei Jahre?«, stieß Lenna aus. Eigentlich klang es viel mehr nach »Zweih Harje«, denn sie hatte den Mund voller Spaghetti, während die Worte aus ihr rausplatzten.

»Sofern du nicht gerade fürs Spaghetti-weit-Spucken übst, fände ich es toll, wenn du erst kaust und dann sprichst«, sagte ihre Mum und wischte sich eine Nudel mit einer Serviette von ihrem blauen Pullover mit dem albernen Rentier-Motiv.

Sie behauptete immer, in hässlichen Weihnachtspullovern ließ es sich besser nachdenken und die Kreativität würde nur so aus ihr heraussprudeln. Das war aber nicht die einzige Angewohnheit ihrer Mum, denn gab es wichtige News zu verkünden, sah sie mindestens fünfmal beim Sprechen zu ihrer Schwester, Lennas Tante Thea.

Tante Thea war es auch, die bekräftigend nickte. »Zwei Jahre.«

Lenna blieb der Rest ihrer Spaghetti fast im Hals stecken und kurz überlegte sie, ob sie möglicherweise wie eine Märchenprinzessin in einen Zauberschlaf gefallen war und das alles nur träumte.

Ihre Mum sah sie fragend an. »Ich weiß nicht, ob du dich gerade darüber freust oder deine Flucht ans andere Ende der Welt planst. Sag doch bitte etwas dazu.«

Lenna legte ihr Besteck weg und schwieg. Normalerweise packten sie nicht mal alle Kisten aus, wenn sie irgendwo ankamen, und es erschien ihr wie ein Fiebertraum, was die beiden da gerade von sich gegeben hatten. Völlig verkehrte Welt!

»Noch mal von vorn«, sagte Lenna. »Wir bleiben echt zwei Jahre hier?«

Ihre Mum strahlte. »Genau! So ein großes Projekt hatten wir noch nie. Dieses Mal sind wir nicht nur für die Umgestaltung verantwortlich, sondern auch den Umbau. Du hast es bei unserer Ankunft selbst gesagt: Das Bauernhaus ist ziemlich alt. Hier muss vieles saniert und erneuert werden. Da sind zwei Jahre sogar recht wenig.«

Lenna riss die Augen auf und starrte ihre Mum an. Hatte die gerade davon gesprochen, dass zwei Jahre an einem Ort »zu wenig« waren? Ihre Mum und Tante waren es doch, die es nie lange irgendwo aushielten! Und jetzt sagte sie das so leicht dahin? Was sollte Lenna darauf antworten? Sie fühlte sich vor den Kopf gestoßen, weil ihre Mum und Tante etwas ohne sie entschieden hatten – mal wieder!

Als Lenna noch kleiner war, hatte ihre Tante einen Blog gestartet, auf dem sie Umgestaltungstipps für ein schönes Zuhause teilte. Nach einer Weile waren daraus Auftragsarbeiten geworden, bei denen auch Lennas Mum mit angepackt hatte. Schließlich hatten die zwei einen YouTube-Kanal namens Pinsel & Plunder erstellt, auf dem sie Videos der DIYs, sogenannte »Do It Yourself«-Basteleien, und kleineren Renovierungsarbeiten hochluden. Der Kanal war innerhalb kürzester Zeit rasch gewachsen, sodass die beiden sich damit selbstständig machen konnten.

In Zeitschriften und auf Blogs waren die zwei Schwestern beliebt und hochgelobt. Für ihre sprühenden Ideen und dafür, dass sie alles gemeinsam von Hand umsetzten – von der Planung bis zum letzten Pinselstrich. Auch in den sozialen Medien gewann Pinsel & Plunder Tausende Follower dazu. Ihre Mum und Tante waren ein echtes Dream-Team.

Die Sache war nur die: Durch die viele Aufmerksamkeit hatten die beiden beschlossen, Pinsel & Plunder aufs nächste Level zu heben, und begonnen, längere Videostrecken über größere Make-over zu drehen. Zuerst waren sie über die Sommerferien für drei Wochen in Hamburg gewesen, um ein altes Feuerwehrhaus in eine Museumshalle umzufunktionieren. Dann war Lenna für zwei Monate bei einer damaligen Freundin untergekommen, weil ihre Mum und Tante irgendwo ein Freibad in ein Jugendzentrum umgestaltet hatten. Und dann stand plötzlich ein Umzug vor der Tür, weil sich die Chance ergeben hatte, in einer anderen Stadt für ein halbes Jahr der Altbau-Villa einer bekannten Moderatorin neuen Glanz zu verleihen.

Es war wie ein Stein, der eine Lawine ins Rollen gebracht hatte.

Irgendwo wartete immer ein neuer Auftrag, eine neue Herausforderung – und damit auch ein neuer Umzug in eine neue Stadt, wo sie einfach nie lange blieben.

Lenna fühlte sich dabei oft wie ein Koffer, der einfach mitgeschleppt wurde – und nun stand dieser Koffer in dem alten Bauernhaus hier in Kieburg, aus dem irgendein Erbe ein schönes Hotel machen lassen wollte.

Sie schob ihren Teller beiseite und murmelte ein leises »Aha«.

Ihre Mum runzelte die Stirn und musterte sie besorgt, aber Lennas Tante ging dazwischen und sagte beschwingt: »Ich erspare dir die langweiligen Details, aber das ist eine Riesenchance für uns. Wir hätten hier zwei Jahre lang einen festen Job.«

»Zwei Jahre«, wiederholte Lenna erneut, weil sie es kaum glauben konnte.

Die Augen ihrer Mum funkelten vor lauter Begeisterung. »Ganz genau!«

Lenna mochte es, wenn sie so glücklich war, denn lange Zeit war es ihrer Mum nicht gut gegangen. Aber es fiel ihr schwer, sich mit ihr zu freuen.

Wieso waren sie nicht zwei Jahre in Mainz geblieben, wo Lenna sich so gut mit den Mädchen aus der Kunst-AG verstanden hatte und sich das erste Mal richtig auf eine Klassenfahrt gefreut hatte? Oder in Zwolle, dem süßen niederländischem Dorf, wo Lenna so gerne mit ihrem Rad über die kleinen Brücken geradelt war und die Leute so einen charmanten Akzent hatten? Hier musste sie wieder ganz von vorn anfangen. Und etwas in ihr sträubte sich dagegen. Denn neu anfangen hieß auch, wieder etwas zu gewinnen, was sie durch den nächsten Umzug verlieren würde …

»Das wird phips-phänomenal!«, sagte Tante Thea fröhlich. »Wir werden dieses alte Bauernhaus auf Vordermann bringen, bis es nicht mehr wiederzuerkennen ist. Na, was sagst du? Bist du bei diesem neuen Abenteuer an Bord, Lenna?«

Im nächsten Moment ertönte irgendein Alarm auf einem der Handys, die auf dem Küchentresen lagen, und Lennas Mum sprang erschrocken auf. »O Mist! Wir haben gleich unseren Videocall mit Elif. Das hätte ich fast vergessen.«

Tante Thea lachte. »Genau deshalb der Erinnerungsalarm.«

Elif übernahm seit einer Weile das Schneiden und Bearbeiten der Pinsel-&-Plunder-Videos und zwischen den dreien gab es immer viel zu besprechen.

Lenna war froh, dass sie nun eine Gelegenheit hatte, sich aus dem Staub zu machen. Sie bedankte sich fürs Essen und lief hoch in ihr Zimmer. Alles stand voller Umzugskartons, aber das war Lenna egal. Am wichtigsten war ihr die große Truhe am Ende ihres Bettes. Sie war aus dunklem Holz mit goldenen Beschlägen.

Als kleines Kind hatte sie sich darin zum Schmollen versteckt und nur ihr Paps hatte sie herauslocken können. Wenn Lenna mal wieder geschworen hatte, für immer darin zu wohnen, hatte er seinen Spezialtrick benutzt: Bestechung durch Eis. Natürlich, ohne dass ihre Mum davon etwas mitbekam.

Eine Kugel gegen schlechte Laune und die zweite einfach so.

Den Klang seiner Stimme würde Lenna niemals vergessen. Obwohl die Erinnerung schön war, wurde ihr etwas schwer ums Herz. Sie kniete sich vor die Truhe und öffnete sie behutsam. Obenauf lag eine silberne Medaille, die sie für Platz fünfzehn bei einem Bogenschießturnier erhalten hatte, als sie noch jünger gewesen war. Ihr Paps hatte ihr an diesem Tag laut zugejubelt und Lenna war unfassbar stolz gewesen.

Sie nahm das Fotoalbum heraus, das daruntersteckte, und blätterte es eine Weile durch. Was würde ihr Paps jetzt tun, wenn er hier wäre? Er fehlte ihr so!

Es klopfte und ihre Mum fragte: »Darf ich reinkommen?«

»Okay«, antwortete Lenna halbherzig.

Ihre Mum setzte sich neben sie auf den Boden. »Ich wollte mal nach dir sehen. Du hast eben bedrückt gewirkt und – oh, ist das eines der alten Alben?« Lenna wollte es zuschlagen, aber ihre Mum legte eine Hand auf ihre und hielt sie auf. »Dein Paps war vielleicht ein wahres Talent im Bogenschießen, aber im Fotografieren leider nicht. Das hier sieht aus, als stünde hinter euch eine Geisterfamilie, findest du nicht?«

Lenna wollte protestieren, aber ihre Mum hatte recht. Das Foto zeigte Lenna und ihren Paps auf einem Übungsplatz und statt der Zielscheiben fürs Bogenschießen im Hintergrund erkannte man nur weiße Flecken, die wirklich etwas gruselig aussahen.

Lenna lachte. »Ein echtes Meisterwerk. Oder schau mal, hier!«

Die beiden sahen auf ein Foto, das bei einem Campingausflug entstanden war. Ihre Mum und Lenna saßen um ein Lagerfeuer herum und weil ihr Paps den Selbstauslöser zu früh betätigt hatte, war er nur halb im Bild und verzog das Gesicht zu einer ulkigen Grimasse. Trotzdem liebte Lenna dieses Foto und jedes andere genauso.

Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie automatisch näher an ihre Mum gerückt war. Diese strich ihr eine lose Haarsträhne hinters Ohr. »Wir haben dich ganz schön überrumpelt mit unseren ›tollen News‹, oder?«

Lenna nickte zaghaft. »Ja, schon. Ich hatte einen schlechten Tag.«

»Verstehe«, sagte ihre Mum und drückte sie fest an sich.

»Ich mag aber nicht drüber reden«, schob Lenna nach.

Ihre Mum ließ sie nicht los und drückte sie noch etwas fester. »Das ist okay. An schlechten Tagen helfen sowieso nur noch meine Katastrophen-Küsschen.«

Lenna runzelte die Stirn. »Was soll das sein?«

»Na, das hier!«, rief ihre Mum und drückte Lenna den ersten dicken Schmatzer auf die Wange, während sie Lenna gleichzeitig am Bauch kitzelte.

»Bäh! Was für eine hinterhältige Attacke!«, rief Lenna, musste aber kichern, als ihre Mum wieder mit ihrem Kussmund anrückte und ihr einen Kuss auf die Stirn drückte. »Hey! Dafür bin ich viel zu alt. Igitt! Überall Spucke!«

Ihre Mum lächelte. »Weißt du, was dein Paps oft zu mir gesagt hat? Ein schlechter Tag macht keine schlechte Woche und morgen sieht die Welt besser aus.«

Lenna sah sie verunsichert an. »Hat er das echt geglaubt?«

Ihre Mum stupste ihr sanft gegen die Nase. »Er hat an vieles geglaubt. Ich mach dir einen Vorschlag. Du gibst Kieburg eine zweite Chance. Und wenn du nach ein paar Wochen noch immer alles mies findest, überlegen wir uns etwas. Versprochen.«

Lenna zögerte. »Trotz des phips-phänomenalen Projekts?«

»Trotz des Projekts. Immerhin bist du meine phips-phänomenale Tochter.«

Lenna wurde bei diesen Worten ganz warm ums Herz. »Abgemacht.«

3

Am Schultor blieb Lenna stehen. Sie hatte sich fest vorgenommen, an die Worte ihres Paps zu glauben, und sagte sich selbst: Heute wird ein besserer Tag! Lenna atmete tief durch, sprach sich etwas Mut zu und ging weiter.

»Weg da!«, rief jemand unfreundlich. Die Warnung kam viel zu spät, denn schon rauschte ein schwarzhaariges Mädchen auf einem Skatebord so dicht an Lenna vorbei, dass diese erschrak und mit dem linken Arm gegen die Mauer prallte.

»Autsch!«, fluchte Lenna. »Das war nicht gerade nett!«

Klasse! Lahmer ging’s wohl nicht. Das Mädchen auf dem Skateboard sah aber tatsächlich zurück, grinste frech – und fuhr prompt die nächste Person über den Haufen.

Hey … das war der Sommersprossen-Junge von gestern! Rudi!

Lenna eilte zu ihm und kniete sich hin. »Hast du dich verletzt?«

»Er hat einen Arm verloren!«, sagte Rudi theatralisch und schob mit den Händen etwas zusammen, das nach Erde und einigen Tonscherben aussah.

Verwirrt starrte Lenna ihn an. Dann entdeckte sie den Kaktus, der ein Stück entfernt lag.

Rudi wandte sich ihr zu. »Ich brauche einen Topf.«

Sie setzte ihren Rucksack ab und kramte auf der Suche nach etwas Brauchbarem darin herum. »Wie wäre es mit einer leeren Brotdose?«

Die Apfelschnitze darin hatte sie eben schon im Bus gegessen.

»Geht klar«, sagte Rudi. »Schnell.«

Lenna reichte ihm ihre Brotdose und Rudi schob den Kaktus behutsam mit den Fingern hinein. »Armer Fidellius. Dabei ist er so ein eitler Acanthocalycium.«

»Ich dachte, das ist ein Kaktus«, meinte Lenna und schmunzelte. Rudi hatte der Pflanze in ihrem Klassenraum doch auch einen Namen gegeben. Irgendwie niedlich!

»Ja, das stimmt. Aber Acanthocalycium klingt doch viel cooler, findest du nicht?«, sagte Rudi. »Das ist die Gattung, zu der er gehört. Er bekommt sogar Blüten.«

»Du scheinst echt eine Menge über Pflanzen zu wissen«, sagte Lenna.

»Mein Onkel betreibt ein Gartencenter, da lernt man einiges«, antwortete Rudi. Er sah Lenna das erste Mal seit ihrem Zusammentreffen richtig an. »Hey! Du bist das.«

»Ja, ich«, murmelte Lenna. »Übrigens danke … also wegen gestern.«

Seine Wangen wurden rot und er räusperte sich. »Ach, kein Problem.«

Einige Leute aus ihrer neuen Klasse gingen gackernd an ihnen vorbei, als es zum Unterrichtsbeginn klingelte.

»Weißt du«, murmelte Rudi. »Die anderen finden mich nicht unbedingt cool.«

Lenna lächelte ihn an. »Cooler, als jemandem aus der Klemme zu helfen, geht’s doch gar nicht! Solche Kichererbsen gibt’s an jeder Schule. Einfach ignorieren!«

Rudi lächelte zurück und gemeinsam sammelten sie den Rest Erde auf.

»Wird er ohne seinen Arm überleben?«, fragte Lenna ehrlich interessiert.

»Fidellius schafft das schon, er hat ja mich«, antwortete Rudi, klang aber verärgert dabei. »Vielleicht lege ich seinen abgebrochenen Arm auf Kimies Stuhl.«

»Das wäre ein sehr stacheliger Racheakt«, meinte Lenna erheitert. »Diese Kimie, die geht auch bei uns in die Klasse, oder? Ist die immer so fies drauf?«

Rudi zögerte und sah statt Lenna seinen Kaktus an. »Mhm … ich denke, manchmal ist man so wütend auf die Welt, dass man nicht anders kann, als fies zu sein.«

Lenna runzelte die Stirn. Wie war das denn gemeint?

»Ach, vergiss das«, sagte Rudi hastig. »Willst du wissen, wieso ich einen Kaktus mit zur Schule nehme? Wegen der Garten-AG.«

»Dann gibt es hier einen Schulgarten? Baut ihr da irgendwas an?«, fragte Lenna neugierig. »An meiner letzten Schule gabs gar keine AGs, nur Schwimmunterricht. Wegen der kaputten Reinigungspumpe sah das Becken allerdings aus wie ein Troll-Teich.«

Rudi lachte. »Igitt! Ja, hier gibt’s einige AGs. Aber ähm … also einen Schulgarten gibt es nicht. Und in der AG sind auch nicht so viele.«

Verwundert sah Lenna ihn an. »Ach so?«

Rudi wurde wieder rot. »Ähm, außer mir eigentlich… niemand.«

Lenna schmunzelte erneut. Auch wenn Rudi etwas eigen zu sein schien, war er ehrlich und mit ihm zu reden echt witzig! Vielleicht hatte sie mit ihm schon eine Sache gefunden, die diesen Tag besser machte als den gestrigen? Plötzlich überkam sie ein komisches Gefühl und ihre gute Laune fiel in sich zusammen. Seit ihren letzten zwei Umzügen hatte Lenna keine richtigen Freundschaften mehr geschlossen – der Abschied war zu schwer gewesen. Was, wenn sie Rudi richtig ins Herz schloss und ihn dann zurücklassen musste? Klar, ihre Mum hatte von zwei Jahren gesprochen, aber wer wusste schon, ob es dabei blieb? War es nicht besser, Abstand zu halten?

Sie schob die Hände in ihre Jacke. »Es hat geklingelt. Lass uns reingehen.«

Ein enttäuschter Ausdruck huschte über Rudis Gesicht, aber er folgte ihr.

Lenna kam sich ziemlich schäbig vor. Sie hätte etwas Nettes sagen sollen, damit Rudi die Sache mit der AG nicht peinlich sein musste, aber stattdessen hatte sie ihn abblitzen lassen. Nun verletzte sie schon andere, echt toll.

Beim Betreten des Hauptgebäudes hörte Lenna eine verärgerte Stimme.

»Wir hatten viel Verständnis für dich, Kimie, aber meine Geduld ist erschöpft. Du musst dich wie jedes andere Kind an die Schulregeln halten.«

Lenna stoppte abrupt und Rudi wäre fast in sie hineingerannt.

Im Flur vor ihnen stand eine Lehrerin und plusterte sich vor Wut auf wie ein Pfau. Ihr standen richtig die krausen Locken zu Berge, als sie auf Kimie deutete.

Weil Lenna noch dabei war, die Gesichter ihrer Mitschüler und Mitschülerinnen mit ihren Namen zu verknüpfen, nutzte sie den Moment, um Kimie zu mustern.

Ihr herzförmiges Gesicht wurde von samtschwarzen, glatten Haaren eingerahmt und ihre felsgrauen Augen wirkten durch die runde Brille, die sie trug, noch größer. Mit der porzellanweißen Haut hätte Kimie den Spitznamen Schneewittchen definitiv mehr verdient als Lenna. Ihr Skateboard hatte sie sich unter den Arm geklemmt.

»Hast du das verstanden, Fräulein Seong-Riis?«, setzte die Lehrerin nach.

Rudi prustete leise. »Fräulein.«

Die Augen der Lehrerin richteten sich blitzschnell auf ihn und Lenna. »Und ihr zwei, wieso seid ihr nicht in eurer Klasse? Abmarsch!«

Lenna packte Rudi am Ärmel seines Pullovers und zog ihn weiter.

»Wir laufen in die falsche Richtung«, bemerkte Rudi. Die beiden blieben stehen. Rudi wandte sich einer Glastür zu und hielt sie Lenna auf.

Kaum war Lenna hindurchgetreten, rollte Kimie auf ihrem Skateboard an ihr vorbei und hätte sie fast ein zweites Mal umgefahren. So viel zur Standpauke der Lehrerin.

»Hey!«, riefen Rudi und Lenna wie aus einem Mund.

»Was denn?«, erwiderte Kimie.

In dem Moment, in dem sie sich zu ihnen umdrehte, tauchte aus einem der Seiteneingänge ein Junge auf und Kimie knallte direkt mit ihm zusammen. Die beiden gingen zu Boden. Dabei ergossen sich Dutzende Tüten voller Süßigkeiten über die Kacheln.

»Kannst du nicht aufpassen?«, blaffte der Junge.

»Ich? Pass du doch auf!«, giftete Kimie zurück.

Lennas Blick glitt verwundert über die ganzen Süßigkeiten, dann zu Kimie und dem anderen Jungen. Der sah mit einem Mal irgendwie panisch aus.

»Habe ich dich!« Eine stämmige Frau polterte durch den Eingang, den der Junge benutzt hatte. »Du kleiner Dieb! Hast wohl gedacht, ich bekomme nicht mit, dass du das Kiosk leer räumst, nur weil ich für ein paar Minuten weg war.«

Kurz darauf eilte die Lehrerin von eben durch die andere Glastür. »Was geht hier vor sich? Ihr solltet doch in eure Klasse. Wo kommen all diese Süßigkeiten her?«

»Gestohlen wurden die!«, krakeelte die Frau, die offenbar die Hausmeisterin war.

»Na, das wird ein Nachspiel haben«, sagte die Lehrerin und bei ihrem finsteren Blick, der sie alle einmal streifte, bekam Lenna ein ungutes Gefühl. »Mitkommen. Ihr alle!«

4

Tick, tock! Tick, tock! Tick, tock!

Lenna kam das Ticken der Wanduhr schrecklich laut vor und jede Minute schien sich endlos zu ziehen. Nach dem Zwischenfall im Flur hatte man sie und die anderen zur Rektorin gebracht. Und weil niemand die Schuld für den Süßigkeitendiebstahl auf sich hatte nehmen wollen, saßen die vier nun in der Schulbibliothek.

Lenna wurde ganz flau im Magen. Man hatte die Eltern aller benachrichtigt, damit man sie abholen kam. Sie war noch nie so richtig wirklich echt in Schwierigkeiten gewesen. Vielleicht hatte sie mal übers Zähneputzen geflunkert oder heimlich Tante Theas Pudding aufgemampft, aber mehr auch nicht.

»Wieso gibst du nicht zu, dass du das warst?«, stichelte Kimie.

Wie Lenna inzwischen wusste, hieß der Süßigkeiten-Junge Pirro Ortega und ging in dieselbe Klasse wie Rudi, Kimie und sie. Gestern hatte er gefehlt und Lennas erster Eindruck von ihm war alles andere als gut. Er wirkte irgendwie rebellisch.

Lässig strich Pirro sich das lockige tiefbraune Haar aus der Stirn und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Wieso regst du dich auf? Deine Eltern verzeihen dir eh alles.«

Jup, dachte Lenna. Rebellisch und frech.

»Verzeihen? Sie werden mich bis ans Ende aller Tage einsperren und wahrscheinlich noch Gitterstäbe vor meinem Fenster anbringen«, erwiderte Kimie. »Wegen dir hat die Rektorin auch mein Skateboard eingesackt.«

Pirro zuckte mit den Schultern. »Chill mal. Das bekommst du sicher wieder.«

Kurz glaubte Lenna, Kimie würde Pirro mit ihren wütenden Blicken gleich in Flammen setzen, aber dann wandte Kimie sich ab und schob sich einen Kopfhörer über die Ohren, dessen altmodisches Kabel in einem MP3-Player endete.

»Kimie hat aber recht«, meinte Rudi. »Die Aktion war bescheuert.«

»Wieso hast du die Süßigkeiten überhaupt geklaut?«, fragte Lenna.

Pirro zuckte erneut mit den Schultern. »Würdet ihr eh nicht verstehen.«

Der Lehrer, der sie eigentlich beaufsichtigen sollte, schnarchte im nächsten Moment wie eine altersschwache Schildkröte im Winterschlaf vor sich hin.

Lenna verkniff sich ein Kichern. Den störte offenbar gar nichts!

»Seht ihr: Herrn Ponkers ist das auch alles egal«, behauptete Pirro.

»Er wurde ja auch nicht in den Süßigkeitenklau mit reingezogen«, murrte Lenna.

Pirro sah Lenna mit zusammengekniffenen Augen an, sagte aber nichts.

Rudi seufzte. »Mein Onkel überlegt sich auf dem Weg hierher bestimmt schon ein paar Strafen. Wahrscheinlich muss ich das alte Gewächshaus mit einer Zahnbürste schrubben oder ich bekomm Fütterungsdienst bei den fleischfressenden Pflanzen, die echt gruselig sind.«

»Klingt doch spaßig«, meinte Pirro.

»Du verstehst unter Spaß echt was ganz anderes als wir«, murmelte Lenna.

Rudi funkelte Pirro verärgert an. »Weißt du, was? Wenn du das so spaßig findest, lade ich dich zu mir ein und dann machen wir diese spaßigen Dinge zusammen.«

»Ich bring als Party-Snack Tostones mit«, zog Pirro ihn auf.

Rudis Miene wirkte plötzlich nicht mehr ganz so finster. Fast beiläufig fragte er: »Du meinst, diese frittierten Bananenstücke, die dein Vater für unser Abschiedsfest der vierten Klasse gemacht hat? Ich würde sie als Friedensangebot akzeptieren.«

»Wird dein Vater gar nicht sauer, wenn er dich abholen muss?«, fragte Lenna.

Pirros gleichgültige Miene verschwand und er wirkte für einen Moment erschrocken.

»Aha!«, machte Lenna. »Von wegen, wir sollen mal chillen.«

Plötzlich herrschten drückende Stille und dicke Luft. Kimie tat so, als gäbe es außer ihrer Musik nichts, Pirro starrte stur an die Decke und die Stimmung zwischen Rudi und Lenna war seit der Sache auf dem Pausenhof auch seltsam.

Da ihr Aufsichtslehrer offenbar noch eine Weile ein Nickerchen machen würde, stand Lenna auf und ging die Regalreihen ab. Ein bisschen Abstand zwischen sich und die anderen zu bringen, tat irgendwie gut. Wahllos nahm sie ein Buch aus einem der Regale – und stockte. Durch die Lücke sah sie die rote Katze mit den braunen Streifen vom Vortag. Nanu? War Lenna ein Katzenmagnet geworden, oder was?

Die Katze starrte sie aus ihren grünen Augen an und in Lennas Nacken begann es zu prickeln. Rasch stellte sie das Buch weg und lief in den vor ihr liegenden Gang. Lenna sah ein Puschelschwänzchen um die Ecke verschwinden und folgte der Katze. Hinter der nächsten Regalreihe gab es eine Sitzecke und einen Getränkeautomaten. Die Katze setzte an und sprang darauf zu. Im nächsten Augenblick war sie im Getränkeautomaten verschwunden.

Hilfe! Der Geruch der alten Schulbücher ließ sie seltsame Dinge sehen!

Überrumpelt machte Lenna ein paar Schritte rückwärts und prallte gegen etwas.

»Uaaaaa!« Sie fasste sich vor Schreck an die Brust.

»Ich bin’s nur«, sagte Rudi. »Was machst du hier?«

»Da war … da war eine Katze«, sagte Lenna etwas atemlos.

Rudi runzelte die Stirn. »Echt? Wie kommt die denn rein?«

»Keine Ahnung. Ich will kurz was nachsehen«, murmelte sie. Sie ging vor dem Getränkeautomaten in die Hocke und klopfte ihn ab. Eine Attrappe wie im Film war das jedenfalls nicht. Wagemutig schob sie ihre Hand in das Ausgabefach und tastete darin herum. Tatsächlich schlossen sich ihre Finger um etwas und sie zog es heraus.

»Das sieht aber nicht wie eine Limodose aus«, meinte Rudi.

Der Gegenstand in Lennas Hand war schmal wie ein Brillenetui und bestand aus vergoldetem Metall. In die Oberfläche waren verschlungene Muster eingearbeitet, die in der Mitte bei einem Schloss zusammenliefen. »Ob da was drin ist?«

Rudi betrachtete den Getränkeautomaten genauer. »Glaubst du, jemand hat es dort versteckt und wollte es später holen? Geheimer Schulschmuggel oder so.«

Lenna schüttelte es. Ja, eine Geisterkatze hat es dort hingetan!

»Am besten geben wir es Herrn Ponkers«, meinte sie.

Rudi stand der Mund offen. »Guck mal, da passiert was!«

Er hatte recht! Die Schnörkel auf der Oberfläche bewegten sich wie Wellen. Aus den Mustern wurden Buchstaben, die nun über dem Schloss thronten.

Magix, Lenna!

Vor Schreck ließ sie das Kästchen fallen und es purzelte vor Rudis Füße.

»Was ist das für ein Trick?«, stammelte Lenna. »Da steht mein Name!«

»Woah!«, entfuhr es Rudi. »Das ist ja abgefahren!«

»Abgefahren? Das ist total unheimlich«, sagte Lenna.

Rudi bückte sich und hob das mysteriöse Kästchen auf. »Lenna, sieh mal!« Er hielt es nun so, dass es mit der Vorderseite zu ihr zeigte. »Jetzt steht da mein Name.«

Lenna blinzelte heftig. Tatsächlich! Magix, Rudi!

Puh, ein Glück. Dann war das wohl irgendeine Trickkiste. Einen Herzschlag lang hatte sie echt geglaubt, die Katze hätte das Kästchen für sie zurückgelassen. Was für ein Quatsch! Ihre Fantasie ging eindeutig mit ihr durch.

»Was macht ihr da? Schatzsucher spielen?« Pirro war aufgetaucht und beobachtete die beiden belustigt. »Na ja, ist auch echt langweilig hier. Was ist das?«

Rudi hielt ihm das Kästchen hin. »Haben wir gefunden. Cool, oder?«

»Das sieht aus wie Schrott vom Flohmarkt«, erwiderte Pirro.

»Du bist ein richtiger Sonnenschein, hat dir das schon mal jemand gesagt?«, meinte Lenna. »Geh doch in eine andere Ecke und langweil dich da allein, wenn alles, was wir sagen oder machen, dem großen Meisterdieb Pirro zu kindisch ist.«

Pirro starrte sie perplex an und bekam rote Ohren. »So war das nicht gemeint«, murmelte er. »Ich … ähm … sorry, wollte euch nicht den Spaß verderben.«

Er warf sich in einen der Sessel und seufzte tief.

Lenna und Rudi wechselten einen verwunderten Blick, dann setzten sie sich zusammen auf das Sofa. Eine unangenehme Stille entstand, weil keiner etwas sagte.

»Du bist also gar nicht so hart, wie du tust«, meinte Lenna.

Pirro runzelte die Stirn. »Und du bist ziemlich direkt.«

»Nicht immer«, murmelte Lenna. »Ehrlich sein ist schwer.«

»Ich wollte euch da gar nicht mit reinziehen«, sagte Pirro leise.

»Tja, deine Eltern verpassen dir bestimmt auch ’ne saftige Strafe. Erzähl uns einfach jedes grausame Detail, dann geht’s uns sicher besser«, scherzte Lenna.

Pirro schaute zur Seite. »Ich habe nur noch meinen Vater. Meine Mutter ist zurück nach Colima und schickt ab und zu eine Postkarte. Die hatte mich wohl genauso satt wie ihr.«

Lenna sah ihn betroffen an. »Das klingt schlimm. Bist du okay?«

»Ist schon gut«, nuschelte Pirro und starrte nun auf seine Turnschuhe.

»In dem letzten Paket, das meine Eltern von einer ihrer vielen Reisen als Zoologen geschickt haben, während ich bei meinem Onkel versauere, war ein Stein. Stellt euch das mal vor – irgendein Stein aus irgendeiner Savanne«, erzählte Rudi. »Die können sich mit deiner Mutter um den Preis ›Eltern des Jahres‹ streiten.«

»Krass«, sagte Pirro. »Da sind mir die Postkarten meiner Mutter lieber.«

Plötzlich begannen Pirro und Rudi zu lachen und Lenna stimmte mit ein.

»Also meine Mum und Tante schleppen ständig irgendwelchen Plunder an, der tatsächlich vom Flohmarkt stammt, und basteln daran herum«, sagte Lenna. »Das geht manchmal echt nach hinten los und ich kriege die seltsamsten Geschenke zum Geburtstag. Einmal haben sie versucht, aus einer Klobürste eine Lampe zu bauen.«

Wieder lachten sie alle drei los und die schlechte Stimmung war endgültig vorbei.

»Du hast da in der Klasse so was gesagt, wegen deinem Paps«, meinte Rudi.

Lenna biss sich auf die Unterlippe. »Darüber möchte ich nicht reden.«

Pirro und Rudi nickten bloß, als würden sie Lenna verstehen.

»Gib mal dieses Ding her«, sagte Pirro. »Was genau ist das jetzt?«

Rudi reichte ihm das Kästchen. »Eine magische Trickkiste.«

»Magix, Pirro«, las Pirro laut vor. »Abgefahren!«

»Sag ich ja.« Rudi sah triumphierend zu Lenna. »Aber es ist zu.«

Pirro versuchte es aufzudrücken, aber nichts geschah. »Komisch.«

»Komisch ist nur eure kleine Versammlung hier«, bemerkte Kimie, die an einem der Bücherregale lehnte.

Wie lange stand sie da schon? Hatte sie etwa alles mitgehört?

Pirro hielt ihr das Kästchen hin. Kimie nahm es und nun war sie diejenige, die es abtastete und versuchte, es zu öffnen. Sie runzelte die Stirn. »Wieso steht da plötzlich mein Name drauf? Was ist das für ein komisches Spielzeug?«

»Wenn ich das wüsste«, murmelte Lenna.

Kimie warf ihr das Kästchen zu und sie fing es auf. Behutsam strich Lenna über das eingravierte Schloss auf dem Deckel. Einer seltsamen Eingebung folgend, hob Lenna das Kästchen an die Lippen und flüsterte ihren Namen ins Schloss hinein. Als nichts passierte, versuchte sie erneut und sagte dieses Mal: »Magix, Lenna.«

Sie hörte ein Klicken und der Deckel des Kästchens sprang auf.

»Abgefahren«, entfuhr es nun auch Kimie.

Lenna grinste. Das war wirklich abgefahren!

5

Rudi reckte den Hals. »Was ist drin?«

»Lass sie das Kästchen erst mal aufmachen«, sagte Pirro.

Kimie stellte sich neben Lenna. »Und?«

Lenna hob den Deckel an und zum Vorschein kam ein Schlüssel, der auf einem Stück Stoff lag. Es war ein einfacher Schlüssel, wie es ihn für fast jede Tür gab. Sie wusste zwar nicht, was sie erwartet hatte, aber das ganz sicher nicht.

»Hä«, machte Pirro. »Wieso schließt jemand den ein?«

Lenna strich mit dem Zeigefinger darüber. »Vielleicht ist er wertvoll?«

»Wo habt ihr das Kästchen überhaupt her?«, fragte Kimie.

»Lenna hat es im Getränkeautomaten gefunden«, sagte Rudi.

Alle sahen zum Automaten hinüber, als würde er zum Leben erwachen können und eine Antwort darauf ausspucken, wie das Kästchen ins Fach gekommen war.

»Hier ist noch etwas«, sagte Lenna. Es war ihr nicht direkt aufgefallen, weil die Buchstaben ziemlich klein waren. »Da steht ein Text im Deckel.«

Pirro stand von seinem Platz auf. »Steht dort, wem es gehört?«

Lenna kniff die Augen zusammen. »Nein. Das liest sich wie ein Rätsel.«

»Ein Rätsel?« Rudi strahlte. »Das wird ja immer besser.«

Weil die anderen sie erwartungsvoll ansahen, las Lenna laut vor.

Um durch die verzauberte Tür zu treten,wird der Lehrling des Schlüssels um drei Dinge gebeten:Er darf nichts kopflos aus den Reihen entwenden,sonst liegt die Magie nicht mehr in seinen Händen.Er muss das Geheimnis in seinem Herzen wahren,selbst im Anblick schlimmster Gefahren.Er soll den Kuratoren sein Vertrauen schenkenund allen Key Keepern vor ihm in Ehren gedenken.Nimmt der Lehrling diese Bedingungenund seine Bestimmung an,funktioniert der Schlüssel mit jedem Schloss im Einklang.

Lenna war baff. »Das klingt geheimnisvoll und höchst dramatisch zugleich.«

»Verzauberte Tür klingt wie aus einem Videospiel«, sagte Pirro. »Als wäre das irgendeine Quest. Eine ziemlich wirre. Was soll ein ›Lehrling des Schlüssels‹ sein?«

»Na, Lenna!«, meinte Rudi wie selbstverständlich. »Sie hat ihn gefunden.«

Ihr schoss das Bild von der Katze durch den Kopf, wie sie im Getränkeautomaten verschwunden war. Ihre Hände wurden schwitzig und sie klappte das Kästchen zu. »Bestimmt hat Pirro recht und das gehört zu einem Spiel. Wir geben es bei Herrn Ponkers ab. Wir sollten nichts behalten, das uns nicht gehört. Lektion des Tages.«

»Haha«, machte Pirro eingeschnappt.

»Seid ihr gar nicht neugierig, ob was passiert, wenn Lenna ihn benutzt?«, fragte Rudi und sah die anderen an, als würden sie auf gratis Zuckerwatte verzichten.

»Was soll denn passieren?«, warf Pirro ein. »Das ist nur ein Schlüssel.«

»Habt ihr vergessen, dass das Kästchen unsere Namen kannte?«, entgegnete Rudi. »Welches Spiel kann so was? Wir sind da etwas auf der Spur, ganz sicher.«

Kimie sah Rudi an, als wäre er ein verlorenes Küken. »Du bist höchstens auf der falschen Spur, Rudolf. Das war kurz ganz witzig, jetzt aber nicht mehr.«

»Da gebe ich Kimie ausnahmsweise mal recht«, meinte Pirro.

»Ach, kommt schon.« Rudi sah Lenna an. »In dem Rätsel hieß es doch, dass der Schlüssel mit jedem Schloss im Einklang funktioniert. Versuch es doch mal. Bitte?«

Lenna wollte Rudi nicht wieder hängen lassen, also nickte sie. »Okay.«

Obwohl Pirro und Kimie Rudis Vorschlag lächerlich fanden, folgten sie Lenna und Rudi, als die beiden zur Eingangstür der Bibliothek gingen. Lenna nahm den Schlüssel aus dem Kästchen und war überrascht, wie warm er sich in ihrer Hand anfühlte. Ihre Finger prickelten, als sie ihn ins Türschloss steckte und umdrehte.

»Er passt nicht richtig«, sagte Lenna.

»Mhm«, machte Rudi. »Vielleicht steckt noch mehr dahinter?«

»Vielleicht musst du vorher laut rufen: ›Oh mystischer Schlüssel, ich akzeptiere all deine Regeln‹«, schlug Kimie vor und hatte alle Mühe, dabei ernst zu klingen.

»Na, komm schon«, zog Pirro Lenna auf. »Tu Pflanzenrudolf den Gefallen.«

Rudi zog verärgert die Augenbrauen zusammen und bekam wieder rote Wangen. »Ihr wisst genau, dass ich Rudi genannt werden möchte.«

»Psst«, machte Lenna, damit Kimie und Pirro von Rudi abließen. »Vielleicht möchtest du es ja mal probieren, Rudi? Kann ja sein, dass es bei dir klappt.«

»Na gut«, antwortete er, aber der Schlüssel passte nach wie vor nicht.

Weil Kimie und Pirro nun doch die Neugier ins Gesicht geschrieben stand, reichte Rudi den Schlüssel an Pirro weiter, der ihn ganz dramatisch hin und her schwang. »Oh, mystischer Schlüssel! Zeig uns deine tiefsten Geheimnisse! Simsalabim!«

Das sah so albern aus, dass sogar Rudi sich nun das Lachen verkniff.

»Herrjemine, wie viel Uhr haben wir denn?«, rief Herr Ponkers plötzlich erschrocken. »Ich meine natürlich … Kinder, was genau habt ihr da vor?«

Die vier tauschten Blicke untereinander und Lenna war die Erste, die losprustete. Kimie und Pirro begannen auch zu lachen und Rudi stimmte mit ein.

»Kinder, beruhigt euch bitte«, sagte Herr Ponkers mit Nachdruck. »Und setzt euch bitte wieder hin. Eure Eltern kommen sicher jeden Moment.«

Die kleine Gruppe ging zurück zu ihren Stühlen. Lenna schob den Schlüssel ins Kästchen und wollte den Lehrer ansprechen. Da spazierte eine Frau mit kurzem schwarzem Haar und schickem Hosenanzug zur Bibliothekstür herein – wie sich herausstellte, war sie Kimies Mutter.

Ein paar Minuten später kam auch Lennas Mum. Lenna winkte Rudi und Pirro zum Abschied kurz zu.

Als sie hinten ins Auto gestiegen war, stopfte sie das Kästchen in ihren Rucksack und schnallte sich an. Ihre Mum drehte den Kopf zu ihr herum.

»Möchtest du mir erzählen, was genau heute passiert ist?«, fragte sie.

Lenna zögerte, aber da die Stimme ihre Mum so sanft geklungen hatte, rang sie sich dazu durch zu antworten. »Ich weiß ja nicht, was die Direktorin gesagt hat, aber ich habe nichts geklaut. Das war alles ein … echt verzwickter Zufall.«

Sie starrte auf ihre Knie. Sie dachte an Kimie, Rudi und an Pirro. Und obwohl sie ihrer Mum gerne mehr erzählt hätte, fühlte es sich seltsamerweise so an, als müsse sie dafür Pirro verraten. Und das wiederum fühlte sich falsch an. Obwohl sie ihn gar nicht kannte, hatte Lenna das Gefühl, hinter dem Süßigkeitenklau steckte mehr.

Als Lenna wieder aufsah, nickte ihre Mum bedächtig. »Ich vertraue dir. Und wenn du erst mal nicht mehr erzählen möchtest, ist das okay für mich.«

Dankbar blickte Lenna sie an. »Krieg ich viel Ärger?«

»Direktorin Wolf hat nur eine Verwarnung ausgesprochen, weil du neu an der Schule bist. Natürlich musst du alles, was du heute verpasst, nachholen, inklusive der Hausaufgaben«, antwortete ihre Mum. »Deine Mitschülerin Millie ruft dich später an. Wenn dein vermeintlicher Diebstahl eine Ausnahme bleibt, drücke ich ein Auge zu. Vielleicht möchtest du Tante Thea und mir etwas zur Hand gehen, wenn du nicht mehr in den Unterricht zurückdarfst. Darüber würde ich mich freuen.«

»Okay«, sagte Lenna. »Das bekomme ich hin.«

Ihre Mum startete seufzend den Motor. »Sag das nicht zu früh. Es herrscht absolutes Chaos.« Sie lenkte den Wagen vom Parkplatz.

»Chaos ist doch nichts Neues«, zog Lenna sie auf.

Da mussten sie beide lachen, denn das stimmte absolut!

6

Beim Zähneputzen am Abend war Lenna völlig erledigt. Sie hatte stundenlang gemeinsam mit ihrer Tante und Mum die Scheune entrümpelt, damit diese als Lager für Werkzeuge und Materialien dienen konnte. Und die Hausaufgabenliste, die Millie ihr nachmittags am Telefon durchgegeben hatte, war nicht gerade kurz gewesen.

»Danke für heute«, sagte ihre Mum, die neben Lenna am Waschbecken stand und sich ihre langen braunen Haare kämmte. »Du warst uns eine große Hilfe.«

»Hat auch irgendwie Spaß gemacht«, sagte Lenna fröhlich.

»Findet eine geheime Bad-Party statt, zu der ich nicht eingeladen bin?«, fragte Tante Thea, die an der Tür aufgetaucht war. »Habt ihr noch Platz für mich?«

»Klar.« Lenna rückte mit ihrer Mum zusammen.

Derzeit gab es nur ein funktionierendes Bad im Haus und das war nicht sehr groß.

Tante Thea setzte sich auf den geschlossenen Klodeckel und zog die Socken aus.

»Deine Käsefüße waren aber nicht zur Party eingeladen«, scherzte ihre Mum.

Lennas Tante warf eine der müffeligen Socken nach ihrer Schwester.

Rasch spülte Lenna sich den Mund aus und stellte ihre Zahnbürste weg. Wenn ihre Mum und Tante anfingen sich zu kabbeln, zischte sie lieber ab. »Nacht!«

»Nicht so schnell«, hielt Tante Thea sie auf. »Was ist aus der guten alten Tradition geworden, seine Lieblingstante ganz fest vorm Schlafengehen zu drücken?«

»So eine Tradition gibt es nicht«, sagte Lenna und grinste.

Ihre Tante zog sie in eine Umarmung. »Jetzt schon. Schlaf gut.«

»Du auch.« Lenna drückte ihre Mum ebenfalls und verließ das Bad. Kaum war sie im Flur, hörte sie, wie die zwei im Flüsterton über sie redeten, und hielt inne.

»Sie lebt sich schon ein«, sagte Tante Thea. »Mach dir keine Sorgen.«

Ihre Mum seufzte. »Irgendwas ist dieses Mal anders, das spüre ich.«

»Quatsch, sie hat doch sogar schon Freunde gefunden«, kam die Antwort.

»Freunde mit Schwierigkeiten im Gepäck«, murmelte ihre Mum.

Lenna huschte in ihr Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Freunde mit Schwierigkeiten im Gepäck. Aha. Dabei waren Rudi, Kimie, Pirro und sie gar keine Freunde. Aber die Erinnerung an das gemeinsame Lachen war irgendwie schön – und gleichzeitig machte sie Lenna traurig. Keine Freunde, keine Abschiede mehr. Das hatte sie sich geschworen. Trotzdem keimte in ihr auch ein kleines Fünkchen Hoffnung auf. Denn was wäre, wenn sie wirklich zwei Jahre hierblieben?

Als sie sich ins Bett gekuschelt hatte und die Nachttischlampe ausschalten wollte, fiel ihr Blick kurz auf ihren Rucksack. Stimmt ja, sie hatte das Kästchen samt Schlüssel eingesteckt! Beides würde sie morgen im Sekretariat der Schule abliefern.

Habt ihr vergessen, dass das Kästchen unsere Namen kannte?, hallte Rudis Stimme in ihren Gedanken wider.

Magix, Lenna. Was das wohl bedeutete?

Ne, diese ganzen Gedanken schob sie besser weg! Die ersten Schultage waren stressig genug gewesen, da musste sie sich nicht auch noch das Hirn wegen so einem komischen Trickkästchen verknoten. Grummelnd zog sie die Decke höher, aber es half nichts. Lenna war hellwach. Sie stand auf und holte das Kästchen aus ihrem Rucksack. Sie nahm den Schlüssel heraus und las erneut den rätselhaften Text.

»Um durch die verzauberte Tür zu treten«, murmelte Lenna.

Dass im Text auch die Rede von Gefahren war, fand sie allerdings abschreckend. Welche Gefahren? Key Keeper hingegen klang spannend. Übersetzt hieß das so was wie Hüter der Schlüssel. Der Schlüssel aus dem Kästchen sah aber langweilig-normal aus. Wieso sollte jemand einen solchen Schlüssel hüten müssen?

Lenna konzentrierte sich auf das Gewicht in ihrer Hand und ihre Finger kribbelten – genau wie in der Schulbücherei. Früher hatte ihr Paps ihr vorm Einschlafen immer Geschichten vorgelesen. Ihr Lieblingsbuch war »Die Legende der Papagei-Piraten« gewesen. Die spannenden Stellen hatte sie am meisten geliebt und ganz besonders, wenn ihr Paps beim Vorlesen seine Stimme verstellt hatte. Im Kapitänin-Lora-Paradiesvogel-Ton hatte er verwegen gesagt: Abenteuer finden einen, wenn man es am wenigsten erwartet. Zu der Zeit hatte Lenna Abenteuer noch sehr gemocht. Und wenn ihr Paps hier wäre, würde er noch immer sagen: Geh ein Abenteuer suchen!

Lenna schlüpfte in ihre Pantoffeln und ging hinüber zur Tür.

Es würde sowieso nichts passieren, genau wie in der Schule. Richtig?

Um das Kästchen zu öffnen, hatte sie es dicht vor ihre Lippen gehalten und es mit den Worten »Magix, Lenna« aufgeschlossen. Musste man bei dem Schlüssel vielleicht etwas Ähnliches machen? Im Text war die Rede von Bedingungen und einer Bestimmung, die es galt anzunehmen. Lenna hielt sich den Schlüssel vor den Mund und flüsterte: »Ich nehme die Bedingungen und meine Bestimmung an.«

Nichts geschah.

Tja, Paps! So viel zum Abenteuer …

Lenna gab es ungern zu, aber ein wenig enttäuscht war sie schon. Gleichzeitig kam sie sich albern vor. Ihr war es höchstens vorherbestimmt, ständig umzuziehen …

Mit einem Mal zischte ein Funke aus dem Nichts empor und Lenna erstarrte. Es knisterte und knackte und ein seltsames Licht hüllte ihre Hand und den Schlüssel darin ein. Lenna riss die Augen auf und schnappte nach Luft. Das Metall des Schlüssels wurde glühend warm und obwohl die Hitze unangenehm in ihren Fingerspitzen pochte, konnte sie den Schlüssel aus irgendeinem Grund nicht loslassen.

Moment! Der Schlüssel! Er veränderte sich!

Ihr Herz begann schneller zu schlagen. Eine Wärme erfüllte sie bis in ihre Zehenspitzen und aus Lennas anfänglichem Schreck wurde Staunen.

Das war irgendwie … magisch!

Lenna drehte den Schlüssel hin und her. Er sah richtig verwandelt aus! Er glänzte silbern wie frisch poliert und hatte viele Details dazugewonnen. Obenauf befand sich ein Miniatur-Bogen, durch den ein Pfeil floss. Der Hals des Schlüssels sah aus, als bestünde er aus verschieden großen Plättchen – als hätte man ihn an dieser Stelle Stück für Stück zusammengesetzt, aber gerade das fand Lenna schön.

Das Kribbeln auf ihrer Haut wurde stärker und Lenna war, als spürte sie eine Energie durch den Schlüssel und sich selbst pulsieren. Vorsichtig strich sie darüber. Es fühlte sich an, als wäre das hier ihr Schlüssel, der nur für sie allein gemacht war.