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In der unterirdischen Welt stillgelegter Bergwerke leben die Hüter des Schwarzen Goldes, sagenumwobene Zwerge. Ihr größter Schatz, der Kraftstein Achazurit, hält die Welten über und unter Tage im Gleichgewicht. Noch. Denn jetzt ist er verschwunden. Sophie und Luca begeben sich auf eine abenteuerliche Reise, um ihn zu retten. Dabei begegnen sie weiteren mythischen Figuren - einem Werwolf, der weisen Frau, dem uralten Berggeist - und geraten zunehmend in Lebensgefahr.
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Seitenzahl: 382
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Über die Autorinnen:
Anja Kiel wurde in Süddeutschland geboren, ging in Essen und Gelsenkirchen zur Schule, studierte in Münster und zog nach einem Umweg über Bochum schließlich nach Hagen, wo sie mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern lebt. Sie arbeitete u. a. einige Jahre als Gästeführerin auf der Zeche Zollverein. Seit 2010 arbeitet sie hauptberuflich als Autorin und hat seitdem mehr als 30 Bücher geschrieben, die zum Teil in andere Sprachen übersetzt wurden.
Inge Meyer-Dietrich kommt aus Bochum, lebt mit ihrem Mann in Gelsenkirchen – die drei Kinder sind erwachsen – und ist bekennende Ruhrgebietlerin. Sie hat in verschiedenen Berufen garbeitet und ist seit 1986 freie Autorin. Sie hat mehr als 30 Bücher geschrieben, einige wurden in andere Sprachen übersetzt. Die Autorin wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Gustav-Heinemann-Friedenspreis und dem Österreichischen Staatspreis für Jugendliteratur. 1995 erhielt sie den Literaturpreis Ruhr für ihr Gesamtwerk.
Die Autorinnen sind Tochter und Mutter. »Die Hüter des Schwarzen Goldes« war ihr erstes gemeinsames Buch. Es wurde im März 2011 mit dem »LesePeter« der Arbeitsgemeinschaft Jugendliteratur und Medien (AJuM) der GEW ausgezeichnet.
Dies ist ein Roman, der in einer verborgenen, unterirdischen Welt im Ruhrgebiet spielt. Tatsächlich hinterließ der Bergbau so manche Hohlräume und Gänge unter Tage. Auch das Bergbau-Museum und die Zeche Zollverein existieren in Wirklichkeit. Sie sind weit über das Ruhrgebiet hinaus berühmt. Ausgedacht haben wir uns einige weitere Bergwerke, unterirdische Seen und Friedhöfe, Kammern und Säle – sowie einen Garten, ein wenig nachempfunden den Industriebrachen, die sich die Natur zurückerobert hat.
Im Anhang haben wir die wichtigsten Personen aufgeführt und einige, meist bergmännische Begriffe erläutert. Wir sind allerdings nicht vom Fach. Fehler bitten wir deshalb zu verzeihen!
Anja Kiel & Inge Meyer-Dietrich
In den Fängen der uralten Zwerge
Ein unerwartetes Zusammentreffen
Im geheimen Archiv
Eine schwerwiegende Entscheidung
Die Ereignisse überstürzen sich
Der gefahrvolle Weg zu den Blaukobolden
Allerlei verwirrende Ereignisse
Alles anders, als es scheint
Der Friedhof der flüsternden Seelen
Im verborgenen Garten
Zurück in den Berg
Der Geschichtenerzähler
Vom Zauber der Mandoline
In den Wellen
Ein eigenartiges Trio
In der Grotte von Witte Wieb
Freude, Schrecken und Trauer
Endlich eine Spur
Gefährliche Verstrickungen
Treppe für Treppe, Tür um Tür
Vom Loslassen und Abschied nehmen
Begriffserklärungen
Personenverzeichnis
Luca trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Sein Lehrer verhandelte mit der Kartenverkäuferin. Wieso dauerte das so lange? Luca wollte den Museumsbesuch möglichst schnell hinter sich bringen. Das berühmte Bochumer Bergbau-Museum, na wenn schon! Bloß heute nicht zu spät zum Fußballtraining kommen. Schließlich ging es auch um die Aufstellung für das Spiel am Samstag.
Jetzt winkte Herr Löwe die Klasse zu einer jungen Frau, deren Namensschild sie als Mitarbeiterin des Museums auswies.
»Ich bin Frau Köhler«, sagte sie. »Ich werde euch im Rahmen einer Führung die Ausstellung erklären.«
Sie lotste die Kinder in einen Aufzug, der die Besucher in das Anschauungsbergwerk bringen sollte. Es lag rund zwanzig Meter unter dem Museum. Die Jungs drängelten beim Einsteigen, und einige Mädchen kreischten.
»Sicher wisst ihr, wie die Kohle entstanden ist?«, fragte Frau Köhler, als endlich alle wieder aus dem Aufzug gestiegen waren und sich in einer Art Tunnel wiederfanden.
»Klar!«, sagte Sophie, bevor sich irgendjemand zu Wort melden konnte.
Diese Oberschlaue musste natürlich wieder beweisen, dass sie zu Recht eine Klasse übersprungen hatte. Sie hielt gleich einen kleinen Vortrag über gespeicherte Sonnenenergie und die Urwälder in grauer Vorzeit. Typisch! Konnte die Streberin nicht einfach mal den Mund halten?
Inzwischen erzählte Frau Köhler etwas von brennenden Steinen, die ein Schweinehirt an der Ruhr gefunden hatte. Und Sophie fragte, als wäre das furchtbar wichtig: »Wissen Sie vielleicht auch etwas über die Schwarzmännchen? Mein Großvater hat mir von ihnen erzählt, als ich klein war.«
Ha, Luca grinste. Als sie klein war. Die reichte ihm immer noch kaum bis ans Kinn.
»Nein«, sagte Frau Köhler, »von Schwarzmännchen hab ich nie gehört.«
Sophie wurde rot. »Es sind Zwerge, denen angeblich die Kohle gehört, das Schwarze Gold. Sie leben versteckt im Berg.«
»Ach nee! Und da hat dein Opa sie getroffen? Vielleicht seid ihr ja verwandt?« Das konnte Luca sich einfach nicht verkneifen.
»Luca!«, sagte Herr Löwe scharf.
Sophie biss sich auf die Lippen »Es heißt, dass sie früher in nebligen Nächten aus dem Berg kamen«, sagte sie leise. »Auf abgeernteten Feldern machten sie Feuer. Und … Ungerechtigkeit konnten sie nicht ertragen. Sie halfen Menschen, die in Not waren –«
»So ein Quatsch!«, unterbrach Luca. »Das sind doch Kindermärchen!«
»Vielleicht.« Frau Köhler lächelte wieder, und zwar so, als wüsste sie es besser.
Herr Löwe sagte verärgert: »Du musst es ja nicht glauben, Luca, aber es ist schon eine originelle Geschichte!«
Natürlich würde er den Quatsch nicht glauben! Diese Zwergenstory und originell? Nee, echt nicht!
Frau Köhler führte die Klasse jetzt durch immer neue Gänge mit unebenem Boden, in dem gelegentlich Schienenstränge verliefen. Dazu erzählte sie allerhand über den Bergbau. Das langweilte Luca, er hörte kaum hin. Sein Interesse galt allenfalls den Maschinen hier unten. Irre sahen die aus. Manche waren riesig, zum Beispiel der Tunnelfräser mit dem Spitznamen Maulwurf. Und sie machten einen Höllenlärm, wie Frau Köhler am Bohrwagen vorführte. Der war selbst im Leerlauf wahnsinnig laut; sogar Herr Löwe hielt sich erschrocken die Ohren zu. Ausgerechnet zwei Mädchen durften die angeblich ziemlich schweren Abbauhämmer ausprobieren, obwohl Luca sich auch dafür gemeldet hatte.
Schade, dass das Förderband nicht funktionierte. Luca hätte sich damit gerne ein Stück transportieren lassen, statt nur herumzulaufen. Aber warum nicht trotzdem einfach auf das Band klettern? Von dort hatte er bestimmt einen besseren Überblick!
Und schon war er oben! Stand da wie ein Schauspieler auf der Bühne, breitete die Arme aus und rief: »Her mit der Kohle, sonst knallt’s!«
Seine Mitschüler johlten. Luca stand wie immer im Mittelpunkt.
»Komm sofort da runter!« Frau Köhler war das Lächeln vergangen. Herr Löwe ging wütend auf Luca zu … Aber dann wurde es mit einem Mal schlagartig dunkel. Und für einen kurzen Moment herrschte Totenstille.
Luca hielt die Luft an. Er spürte mehrere kleine Hände an seinem Körper. Kinderhände? Luca wollte sie abschütteln, schlug zu und trat um sich. Doch er hatte keine Chance. Die kleinen, unglaublich starken Hände packten ihn und zogen ihn vom Förderband. Und als Luca um Hilfe schreien wollte, wurde ihm brutal ein Knebel in den Mund geschoben. Dann folgte ein Schlag auf den Kopf. Luca stöhnte. Er wurde gnadenlos vorwärts bugsiert. Vorwärts, wohin?
***
Dieser schreckliche Luca mit seinen gehässigen Bemerkungen! Sophie hatte sich zu Beginn seines albernen Auftritts ein Stück von der Gruppe entfernt und war heftig zusammengezuckt, als plötzlich das Licht erlosch. Noch nie hatte sie eine so vollständige Dunkelheit erlebt. Und dazu die beängstigende Stille.
Sophies Wut auf Luca und die Enttäuschung darüber, dass niemand aus der Klasse zu ihr hielt, wich einem Gefühl von Beklemmung. Nach einigen Schrecksekunden hörte sie wie von weit weg die aufgeregten Stimmen ihrer Klassenkameraden, hörte, wie Herr Löwe sagte, sie sollten sich beruhigen, ein kleiner Stromausfall, gleich würde das Licht bestimmt wieder angehen. Doch es blieb dunkel. Ein seltsam gedämpftes Wispern und Raunen, das Sophie nicht zuordnen konnte, war ganz in ihrer Nähe zu hören. Und dann sagte eine freundliche leise Stimme: »Komm mit! Bitte, komm mit! Ich zeige dir Dinge, die du noch nie gesehen hast!«
Sollte sie? Sollte sie nicht? Vorsicht!, warnte Sophie sich selbst, das könnte gefährlich werden. Aber dann hatte sie Lucas verächtliches Grinsen vor Augen, und Trotz kam in ihr hoch. Was konnte ihr denn schon passieren? In einem Anschauungsbergwerk? Neugierig war sie immer gewesen. Und wer wusste schon, welche Geheimnisse hier unten auf sie warteten? Ihren Klassenkameraden war sie ja offensichtlich egal.
Sie kämpfte noch mit sich, als jemand sie bei der Hand nahm. Dieser Jemand schien kleiner zu sein als sie selbst. Ja, jetzt sah sie es auch. Ein schwaches Glimmen ging von den hellen Haaren des kleinen Jungen aus. Wenn sie ihn nur deutlicher sehen könnte! Sie riss die Augen weit auf. Nein, das war kein Junge, der sie den schmalen unterirdischen Gang entlangführte. Das war ein kleiner alter Mann.
»Bist du etwa ein …?«, rutschte es ihr heraus.
»Ein Schwarzmännchen. Ganz recht.« Der winzige Alte nickte. »Du hast ja offensichtlich schon von uns gehört.«
Der Lichtschein um seine Haare verstärkte sich, und Sophie konnte ihn allmählich genauer erkennen. Sein Gesicht war faltig und wie von Kohle geschwärzt. Die kleinen dunklen Augen funkelten lebhaft. Bis auf die Haare war alles an dem kleinen Kerl dunkel. Die Lippen waren von einem tiefen Rotbraun, anders, als Sophie es jemals bei einem Menschen gesehen hatte. Kapuzenjacke, Hose und die Stiefel, die der Zwerg trug, waren schwarz wie die Nacht.
»Wohin gehen wir?«, wollte Sophie wissen.
»Das wirst du sehen.«
Der lange Gang schien kein Ende zu nehmen. Langsam mischte sich Angst in Sophies Neugier. Hatten sie das Anschauungsbergwerk irgendwie verlassen? Sophie hörte nichts außer ihren eigenen Schritten neben denen des kleinen Mannes. Die Schritte klangen hohl und schienen in Sophies Kopf widerzuhallen. Sie schwitzte. Was hatte der Alte mit ihr vor? Vielleicht brachte er sie als seine Gefangene in ein unterirdisches Verlies. Und sie musste bis ans Lebensende als Sklavin für ihn schuften.
»Wir sind nicht ausgestorben, auch wenn deinesgleichen über uns reden, als gäbe es uns längst nicht mehr oder als habe es uns nie gegeben«, sagte der Alte im Flüsterton. Er machte eine Pause, bevor er feierlich versprach: »Folge mir, und dir wird nichts Böses geschehen!«
Etwas Graues huschte an Sophies Füßen vorbei. Unwillkürlich blieb sie stehen und schnappte nach Luft.
»Keine Angst«, beruhigte sie der Zwerg. »Das war nur eine von unseren zahmen Mäusen. Du magst die putzigen Tierchen doch hoffentlich?«
»Es geht so«, krächzte Sophie. »Hauptsache, keine Ratten.«
»Oh, Ratten gibt es hier auch. Du brauchst sie aber nicht zu fürchten. Sie sind genauso zahm wie die Mäuse. Und sehr klug.«
Sophie schluckte. Das hatte sie auch schon gelesen. Trotzdem, Ratten waren ihr unheimlich. Und unheimlich wurde es ihr auch mit dem kleinen Alten bei jedem Schritt, den er sie tiefer in die Schwärze des endlosen Ganges zog.
»Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt«, sagte er plötzlich. »Ich heiße Noirus. Und wie darf ich dich nennen?«
»Sophie.«
»Ein schöner Name«, bemerkte Noirus. »Du bist ja auch ein schönes Mädchen.«
Jetzt war Sophie froh über das spärliche Licht, denn sie spürte, wie sie rot wurde. Schön. Das hatte noch niemand zu ihr gesagt. Dass sie klein und zierlich war, weiche blonde Haare und hellgraue Augen hatte, wurde gelegentlich von anderen bemerkt. Aber bei klein und zierlich meinte Sophie immer das zu klein herauszuhören. Luca hatte auch schon mehrfach spöttisch auf ihre Körpergröße angespielt.
Wie das wohl ausgegangen war mit ihm und Herrn Löwe?
Sophie durchfuhr der Gedanke, dass ihr Lehrer sicher auch auf sie böse war. Wie hatte sie nur einfach verschwinden können? »Ich muss zurück zu meiner Klasse, Noirus«, sagte sie hastig. »Mein Lehrer macht sich bestimmt schon Sorgen.«
»Es gibt kein Zurück. Damit musst du dich abfinden«, sagte Noirus.
»Kein Zurück? Das soll wohl ein Scherz sein, oder?« Sophies Stimme klang schrill.
»Scherze sind meine Sache nicht«, versicherte Noirus.
»Du spinnst wohl!«, schrie Sophie, riss sich von dem Alten los und lief in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Einige Schritte lang ging es gut. Doch dann stieß sie gegen eine raue Wand und rieb sich den schmerzenden Kopf. Wie sollte sie bloß ins Museum zu den anderen zurückfinden? Außer dem leuchtenden Zwergenhaar gab es keinerlei Lichtquelle in der unterirdischen Dunkelheit.
»Allein findest du hier nicht heraus, niemals«, hörte sie Noirus sanft, aber bestimmt sagen. Und schon war er bei ihr und ergriff ihre Hand. »Du wirst alles verstehen, Sophie. Nach und nach. Und du wirst es nicht bereuen. Hab Geduld und vertrau mir!«
Sophie kämpfte mit den Tränen. Wie hatte sie nur so dumm sein und sich von dem Alten einwickeln lassen können? Aber sie wollte sich nicht damit abfinden, seine Gefangene zu sein. Sie musste hier raus! Ihr würde schon etwas einfallen. Einfach aufgeben, das kam für sie nicht infrage.
***
Lucas Schädel brummte. Nicht nur von dem Schlag, den er auf den Kopf bekommen hatte. Was für ein Albtraum! Doch der Knebel in seinem Mund fühlte sich echt an. Und auch die Hände, die ihn beharrlich vorwärts schoben.
Inzwischen tat es ihm leid, dass er, ohne groß nachzudenken, auf das Förderband geklettert war. Wurde er jetzt dafür bestraft?
An die Schwarzmännchen wollte er nicht glauben. Aber was, wenn die kleinen Hände an seinem Rücken bedeuteten, dass es die Zwerge tatsächlich gab? Falls er sie beleidigt hatte, war er bereit, sich zu entschuldigen. Mist! Noch nie hatte er sich so hilflos gefühlt. Er konnte in der tiefen Dunkelheit nichts erkennen. Und der Knebel im Mund hinderte ihn am Reden, sonst hätte er wenigstens fragen können, was das Ganze bedeuten sollte.
Das Fußballtraining fiel ihm wieder ein. Er musste unbedingt hier raus, und zwar schnell!
Luca blinzelte. Was war das für ein seltsames Licht? Es umschwebte die Köpfe kleiner Männer, nein, es waren deren Haare, die leuchteten! Die offensichtlich alten winzigen Typen sahen aus, als würden sie einem Trickfilm entstammen. Oder einem Comic.
Ob das Trolle waren? Kobolde?
Es sind die Schwarzmännchen, das weißt du doch, flüsterte eine Stimme in seinem Kopf.
Nein, er wollte diesen Unsinn nicht glauben. Er war schließlich nicht durchgeknallt! Luca stöhnte wieder und stolperte in dem schmalen Gang voran. Sobald er ein bisschen langsamer wurde, schoben und zogen die kleinen Gestalten ihn unerbittlich mit sich fort.
Nur nicht riskieren, einen weiteren Schlag auf den Kopf zu kriegen. Er fühlte sich immer noch leicht benommen. Aber vielleicht lag das auch an der stickigen Luft hier unten.
Jetzt wurde der Gang allmählich etwas breiter. Und heller schien es auch zu werden.
Ein paar Stufen waren in den Berg gehauen. Die stiegen die kleinen Männer mit Luca hinab. Sie kamen in eine große Halle, die von zahlreichen Fackeln erleuchtet war. Auf niedrigen hölzernen Tischen lagen Werkzeuge und Gegenstände aus Holz und Metall, wie Luca sie noch nie gesehen hatte. Und an den Wänden entdeckte er ganze Stapel von Büchern, auf Brettern, die von Ziegelsteinen gestützt wurden.
Noch mehr dieser kleinen Männer huschten hierhin und dorthin, unglaublich schnell. Sie sprachen so leise, dass Luca kaum ein Wort verstand. Alle trugen die gleichen schwarzen Kapuzenjacken, Hosen und Stiefel. Etwas erhöht, inmitten des Raumes, stand ein einzelner kleiner Mann an einem Stehpult und schrieb in ein dickes Buch.
Luca wurde zu ihm geführt und entdeckte gerade noch die Ratte zu seinen Füßen, bevor sie blitzschnell verschwand. Kurz war Luca zusammengezuckt und unwillkürlich einen Schritt zurückgegangen. Doch er fasste sich schnell. Vor Ratten hatte er keine Angst.
Der kleine Alte hörte auf zu schreiben und sah Luca an. Seine dunklen Augen blickten ernst und eindringlich, aber nicht böse. »Befreit den Jungen von dem Knebel!«, befahl er. »Und gebt ihm zu trinken!«
Sobald das lästige Ding aus seinem Mund entfernt war, griff Luca nach dem Becher, den man ihm reichte. Er trank in gierigen Zügen. Es schien einfaches klares Wasser zu sein. Luca bevorzugte sonst eher Cola. Trotzdem tat das Getränk gut. Es löschte den Durst und spülte auch den unangenehmen Geschmack weg.
»Willkommen unter Tage«, sagte der kleine Mann, der wirklich sehr alt sein musste. Noch nie hatte Luca ein Gesicht mit so vielen Falten und Runzeln gesehen. »Ich heiße Mutus«, fuhr der Alte fort. »Die anderen hier wirst du mit der Zeit noch kennenlernen.« Mit einer gebieterischen Handbewegung wies er auf die vielen kleinen Männer, die durch die Halle wuselten.
Der war wohl eine Art Anführer. Diese Winzlinge kennenlernen? Dazu hatte Luca keine Zeit. Also musste er deren komischen Chef dazu bringen, ihn freizulassen. Und obwohl es ihm nicht leichtfiel, stellte er sich höflich vor. »Lasst mich bitte gehen«, bat er dann mit heiserer Stimme, was vielleicht von dem Knebel kam, den er im Mund gehabt hatte, aber auch, weil er schrecklich aufgeregt war. »Und Entschuldigung, dass ich auf das Förderband geklettert bin, ich wollte niemanden ärgern.«
»Du hast uns nicht geärgert«, entgegnete Mutus. »Im Gegenteil. So sind wir auf dich aufmerksam geworden und können prüfen, ob du der richtige Junge bist.«
»Richtig wofür?« Lucas Ton wurde schon weniger höflich. »Ich muss zurück zu meiner Klasse, damit ich rechtzeitig auf dem Fußballplatz bin. Bald fängt mein Training an.«
»Darauf musst du verzichten«, sagte Mutus mit strengem Gesichtsausdruck. »Weißt du, es gibt Dinge, die wichtiger sind.«
»Nein, weiß ich nicht!«, protestierte Luca zornig. Was glaubten die denn, diese Witzfiguren? Schlimm genug, dass sie ihn gekidnappt, geknebelt und ihm eins auf die Rübe gegeben hatten. Aber ihm das Fußballtraining verweigern, das durften sie einfach nicht!
»Ohne Knebel hättest du das ganze Museum zusammengeschrien«, sagte Mutus. »Und dass du den Hieb auf den Kopf bekommen hast, tut mir leid, aber du hast dermaßen um dich geschlagen und getreten, dass meinen Männern keine Wahl blieb.«
Woher wusste er das?, fragte sich Luca. Die kleinen Kerle hatten Mutus doch bestimmt keine Handy-Nachricht geschickt! Und der Zwerg tat auch noch so, als könnte er Gedanken lesen. Trotzig sah Luca dem Alten ins Gesicht. Der sollte wissen, dass er sich so leicht nicht einschüchtern ließ.
Der Alte lächelte in sich hinein. »Bring ihn in seine Kammer, Tenebrus!«, befahl er einem der kleinen Männer, die Luca hierher verschleppt hatten. »Gib ihm zu essen und lass ihn ausruhen. Er muss sich erst beruhigen. Wenn das Mädchen da ist, sehen wir weiter.«
Mädchen, was für ein Mädchen? Der tickte ja wohl nicht richtig! Und ausruhen! Mannomann, der hatte vielleicht Nerven! Luca hätte den kleinen Alten am liebsten durchgeschüttelt. Aber gegen die Mannschaft hier unten hatte er absolut keine Chance, das war ihm klargeworden.
»Komm, Junge!« Tenebrus packte Luca mit eisernem Griff. Der Zwerg führte ihn zurück in den dunklen Gang. Und nachdem er mit ihm immer wieder in Nebenwege abgebogen war, schob er ihn in einen kleinen Raum.
Eine Laterne, die auf einem runden Tischchen stand, verbreitete schummriges Licht. Sonst gab es nur einen Stuhl, ein schmales Bett und einen Hocker, auf dem ein Krug mit Wasser und eine Schüssel standen.
Luca starrte auf die armselige Einrichtung der Kammer und konnte nicht glauben, dass er es war, dem das passierte.
Tenebrus ließ ihn allein. Als Luca hörte, wie sich ein Schlüssel im Schloss drehte, warf er sich verzweifelt auf das Bett und spürte, wie ein Schluchzen in ihm hochstieg. Mit beiden Fäusten hieb er auf das Kopfkissen ein. Verdammte Zwerge! Er durfte sich nicht einfach alles von ihnen gefallen lassen.
Er schrak zusammen, als er von fern ein schauriges Heulen hörte. Ein Wolf? Aber Wölfe gab es in dieser Gegend doch gar nicht. Luca kannte sie nur aus Filmen und aus dem Zoo. Jetzt war er nicht mehr ganz so unglücklich über die fest verschlossene Tür.
Einer der Zwerge schien beruhigend auf das Tier – oder was immer es war – einzureden, und das Geheul verklang. Luca setzte sich entschlossen auf und wischte sich wütend die Tränen aus dem Gesicht. Diese lausigen Mistzwerge würden ihn nicht kleinkriegen, die nicht! Und unwillkürlich musste er über die Doppeldeutigkeit seines eigenen Gedankens grinsen.
Noirus und Sophie legten den Rest des Weges schweigend zurück. Wieder war nichts zu hören außer dem Hall ihrer Schritte. Und an manchen Stellen platschte gelegentlich ein Wassertropfen auf den Boden.
Sophie schauderte. Hier würde sie es nicht lange aushalten! Wie konnte sie Noirus nur umstimmen? Sie musste ihm klarmachen, dass die feuchte kalte Dunkelheit hier unten Menschen krank machen, vielleicht sogar umbringen konnte. Tiefer im Berg sollte es heiß sein, hatte Frau Köhler gesagt. Schon jetzt fand Sophie es unerträglich warm. Ihre Eltern sorgten zu Hause immer für angenehme Zimmertemperaturen. Und so unterschiedlich ihr Vater und ihre Mutter auch waren, selbst in den Ferien mieden sie Orte, die für extreme Hitze oder Kälte bekannt waren. Ihre Eltern! An sie und an Herrn Löwe durfte Sophie gar nicht denken. Sie suchten vielleicht schon nach ihr. Aber ob sie sie jemals finden würden?
Ein ganzer Trupp Schwarzmännchen erschien. »Warum ist sie nicht gefesselt, Noirus?«, fragte einer der Zwerge und hatte auch schon einen Strick in der Hand. Doch Noirus hielt ihn zurück. »Lasst sie, die Kleine ist nicht so störrisch.«
Sophie biss sich auf die Lippen. Da hatte sie es wieder. Selbst ein Zwerg nannte sie die Kleine! Trotzdem war sie dankbar für sein Eingreifen. Gefesselt zu werden, das hätte ihr gerade noch gefehlt.
»Du hast mir etwas versprochen«, erinnerte sie Noirus. »Du wolltest mir etwas zeigen, was ich noch nie gesehen habe. Oder war das nur ein billiger Trick, um mich aus dem Museum zu locken?«
»Nein«, erwiderte er. »Wir arbeiten nicht mit billigen Tricks. Ich halte mein Versprechen, da kannst du sicher sein. Aber noch ist es nicht so weit.«
»Und wo bringst du mich hin?«, fragte sie leise.
»Zu Mutus, unserem Ältesten«, sagte er. »Komm!«
***
Sophie fühlte sich, als wäre sie in einem Fantasy-Film gelandet. Die riesige Halle, die Bücher, Werkzeuge … und die vielen, vielen Zwerge! Einer von ihnen, mit einem Korb voller Holzklötze, kam so schnell angeschossen, dass er über ihren Fuß stolperte und hinfiel. Sofort streckte sie ihm eine Hand entgegen, um ihm aufzuhelfen.
»Danke.« Er verbeugte sich vor ihr.
»Hat es weh getan?«, fragte sie besorgt.
»Nein, nein.«
Als sie sich nach den Holzklötzen bückte, um ihm beim Aufsammeln zu helfen, wehrte er entschieden ab.
»Ich bin Mutus und heiße dich bei uns im Berg willkommen, Mädchen«, sagte einer der anderen Zwerge, der inzwischen zu Sophie und Noirus gestoßen war. Etwas Majestätisches ging von ihm aus, gleichzeitig lächelte er freundlich.
Das beruhigte Sophie ein wenig, denn dieser Mutus war ganz offensichtlich der Oberste der Schwarzmännchen, so eine Art König. Er würde vielleicht mit sich reden lassen. Deshalb gab sie energisch zurück: »Ich mag es nicht, dass ich gegen meinen Willen festgehalten werde.«
»Keine Angst, es ist nur vorübergehend«, entgegnete Mutus.
»Vorübergehend? Das heißt, bis wann?«
»Bis du uns geholfen hast, wenn du uns helfen willst. Wenn nicht, lassen wir dich ziehen.«
»Bei was kann ich euch denn schon helfen?« Und trotzig fügte sie hinzu: »Außerdem bin ich nur ein Mädchen – und ein kleines noch dazu.«
»Nein, nein«, beteuerte Mutus. »Du bist weder zu klein noch zu jung. Junge Menschen verstehen oft viel mehr als Erwachsene. Nur – es ist kompliziert. Du solltest dich kurz ausruhen und stärken.«
Sophie ließ die Schultern hängen.
»Sei nicht traurig«, sagte Mutus. »Etwas Großes wartet auf dich. Aber Noirus soll dich erst einmal zu dem Jungen bringen. Dann hast du wenigstens jemanden aus deiner Welt, der dir vertraut ist.«
»Ein Junge? Wer soll das sein?«
Mutus überhörte ihre Frage. »Bis später«, sagte er.
Noirus führte Sophie aus der Halle, die Stufen hinauf, wobei ihr ein köstlicher Geruch entgegenwehte, fast, als käme er aus einer Bäckerei.
Der Zwerg brachte sie in einen kleinen Raum. Eine altmodische Grubenlampe brannte auf dem Tisch, der für zwei Personen gedeckt war. Es gab auch nur zwei Stühle. Duftendes Fladenbrot und Käse lagen auf einem Zinnteller, mit Radieschen und Apfelstücken verziert. Ein gläserner Krug mit Wasser und zwei Becher standen daneben.
Heißhunger überfiel Sophie. Sie hätte sich am liebsten gleich über das Essen hergemacht. Wo blieb nur dieser Junge, von dem Mutus gesprochen hatte?
Zum Glück dauerte es nicht lange, bis er in Begleitung eines Schwarzmännchens den Raum betrat.
Sophie traute ihren Augen nicht. Luca? Ausgerechnet der!
»Tenebrus und ich lassen euch nun eine Weile allein«, sagte Noirus. »Versteht bitte, dass wir die Tür verriegeln müssen. Und versucht gar nicht erst, sie aufzubrechen. Glaubt mir, ihr findet den Weg zum Museum nicht. Und auch sonst keinen in die Welt dort oben. Zudem gibt es hier unten genügend wachsame Augen, die euch verfolgen.«
Die Zwerge deuteten eine Verbeugung an, setzten ihre Kapuzen auf und waren schlagartig verschwunden.
»Gruselig«, flüsterte Sophie.
Einen Moment saßen sie und Luca schweigend da. Dann platzte Sophie heraus: »Warum bist du hier? Ich versteh das nicht, du glaubst doch gar nicht an die Schwarzmännchen!«
Luca lachte verächtlich. »Tja, das hat mir wohl auch nichts genützt. Warum ich hier bin? Weil diese bescheuerten Zwerge mich entführt haben!«
»Entführt?«, fragte Sophie ungläubig.
»Ja, mit Knebel und allem Drum und Dran!«, schimpfte Luca.
»Mir hat ein Schwarzmännchen versprochen, dass ich etwas ganz Besonderes zu sehen kriegen werde«, sagte Sophie leise. Luca hielt sie wahrscheinlich für obernaiv. Ob der in sein Spatzenhirn reinkriegte, dass sie aus purer Neugier mitgegangen war?
»Was? Und darauf bist du reingefallen?«, höhnte Luca prompt. »Das bekommt man doch schon als Kind beigebracht, dass man sich von solchen Versprechungen nicht reinlegen lassen darf!«
Sophie zuckte kleinlaut mit den Schultern. »Ich weiß auch nicht, ich hab dem Zwerg vertraut.« Dann richtete sie sich auf und stieß hervor: »Außerdem hab ich schon eine ganze Menge ungewöhnlicher Dinge gesehen, ich war in einer großen Halle –«
»Ja, ja, da war ich auch«, wurde sie von Luca unterbrochen. »Kann ich aber gut drauf verzichten!«
Sophie seufzte. Ihre Neugier und ihren Wissensdurst würde Luca nie verstehen. Vermutlich glaubte er, sie sei einfach bloß eine Streberin, die gerne angab. Dabei war es ihr doch völlig egal, was Eltern oder Lehrer von ihrer Wissbegier hielten.
Luca riss sie aus ihren Gedanken. »Warum auch immer wir hier zusammen eingesperrt sind: Lass uns was essen. Ich bin echt hungrig!«
***
Mutus saß in seiner Kammer, tief unten in der Erde, und grübelte. Es war der Junge, der ihm Sorgen bereitete. Das Mädchen verhielt sich einsichtig, sie war Noirus sofort gefolgt. Das hatte niemand voraussehen können, aber der Zwergenälteste war natürlich froh darüber. Sophie schien nicht nur klug für ihr Alter zu sein, sondern auch ein Gespür für die Kümmernisse anderer zu haben. Und dass sie von der Schwarzmännchen-Sippe gehört hatte, das war in der heutigen Zeit durchaus ungewöhnlich. Doch Mutus wusste, dass er den Jungen ebenso brauchte. Obwohl ein ziemlicher Hitzkopf, war Luca auch stark und behände. Sicher konnte er mutig und tapfer sein. Und wenn er etwas als wichtig ansah, würde er gewiss dafür einstehen. Wie konnten sie den Jungen nur dazu bringen, dass er aus freien Stücken bereit wäre, für ihre Sache zu kämpfen? Noch dazu, nachdem Mutus’ Männer ihn so brutal entführt hatten, rücksichtsloser, als er es für nötig gehalten hatte? Diese Frage geisterte ihm im Kopf herum wie eine blinde Eule. Das Zwergenoberhaupt strich mit seiner kleinen gefurchten Hand über die Platte seines Sekretärs. Sie war aus Anthrazitkohle, genau wie die geschwungenen Beine, die die Platte trugen.
Mutus stand auf und ging um den Sekretär herum zu einer Nische, die kaum sichtbar in die dunkle Mauer eingelassen war. Hier stand ein rundes Becken, glatt wie Kieselstein und kühl wie Eis. Mutus sah sein uraltes bärtiges Gesicht gespiegelt in der klaren Flüssigkeit, die sich darin befand. Er griff nach dem ehernen Gefäß auf einem Sims über dem Becken und schöpfte von der Flüssigkeit in einen Becher. Er trank in ruhigen Zügen. Nichts verriet, wie aufgewühlt er war.
Ein kratzendes Geräusch ließ ihn innehalten und sich umdrehen. Noirus stand in der Tür zu Mutus’ Kammer. Er sah erschöpft aus. Und niedergeschlagen.
»Der Junge ist es, der dir Sorgen bereitet, nicht wahr?«, fragte Mutus sanft.
Noirus nickte langsam. »Vielleicht ist er nicht der Richtige.« Er hob die Hände, die einen Moment wie zwei verirrte Vögelchen in der Luft schwebten, und ließ sie kraftlos wieder sinken.
»Oh doch, er ist es!«, erwiderte Mutus.
Erst nachdem die Worte seinen Mund verlassen hatten, wusste er ganz sicher, dass es so war. Der Junge würde ihnen helfen. »Zuerst hatte ich auch Bedenken. Aber wir mussten ja dringend handeln. Als ich heute Morgen nur mühsam auf die Beine kam, wusste ich, dass es höchste Zeit ist.«
»Das Mädchen, klein von Gestalt, doch groß im Denken und Fühlen; der Junge ein heftiger Heißsporn – mutig und tapfer alle zwei …«, zitierte Noirus aus der Prophezeiung.
»Uralte Zwerge und junge Menschenkinder, vereint bemüht um das Gleichgewicht der Kräfte …«, fuhr Mutus im selben Tonfall fort. Dann bat er: »Bring mir die beiden, sobald sie ausgeruht sind. Du weißt, wie sehr ich auf dich zähle. Was täte ich ohne dich, meinen engsten Vertrauten?«
Ein dankbares Lächeln war die stillschweigende Antwort.
Kaum hatte Noirus den Raum verlassen, ließ Mutus sich wieder an seinem Sekretär nieder. Das Möbelstück war das Einzige, das seine Kammer von denen der anderen unterschied. Der Zwergenälteste bewohnte sie alleine, während sich sonst stets zwei Schwarzmännchen eine Unterkunft teilten.
Mutus sah nicht ein, warum er seine Kammer mit Tand und Reichtum schmücken sollte – auch wenn es ihm als Anführer ein Leichtes gewesen wäre. Er wünschte sich, dass alle Zwerge in diesen Dingen so dachten wie er. Doch er hatte im Laufe seines Lebens einsehen müssen, dass manch einem seiner Brüder die Bescheidenheit dieser Behausungen nicht zusagte. Die kleinen Kammern, die ärmliche Einrichtung und die schmalen Betten. Bequemer, schöner wollten sie es haben. Und sie scheuten sich nicht, den Reichtum der Zwerge auch nach außen zu zeigen. Dieser Reichtum aber war für Mutus nicht etwas, womit man prahlen oder was gedankenlos verschwendet werden durfte. Im Gegenteil: Der Reichtum war eine Verpflichtung.
***
Luca schnappte sich ein Stück Käse. Sophie schenkte sich von dem Wasser ein und nahm sich von dem Brot. Es schmeckte genauso gut wie es roch.
Luca kaute gedankenverloren. »Mutus meint, er weiß noch nicht, ob ich der richtige Junge bin. Nur wofür, das hat er nicht verraten.«
»Mir hat er auch nur gesagt, dass etwas Großes auf mich wartet.«
»Die Kerle könnten sich ruhig deutlicher ausdrücken«, knurrte Luca. »Warum haben sie wohl gerade uns ausgesucht?«
Sophie zog die Schultern hoch. »Keine Ahnung. Weißt du, was ich auch rätselhaft finde?«, flüsterte sie.
Luca antwortete nicht.
Sophie schien das nicht zu stören. »Es sind alles nur Männer, nicht wahr? Wie kann das funktionieren? Klar, die Zwerge in den Märchen und Fantasy-Romanen sind auch fast immer männlich.«
»Märchen, Romane!«, schnaubte Luca. »Und dieses ganze lächerliche Zwergentheater! Oh Mann! Ich will einfach nur weg von hier. Die können uns doch nicht als ihre Gefangenen festhalten!« Insgeheim hatte er aber auch schon darüber nachgedacht, warum sie bisher noch keiner einzigen Zwergin begegnet waren.
»Und Kinder gibt es wohl auch nicht«, führte Sophie ihre Gedanken weiter, ohne auf Luca einzugehen.
Ja, das war wirklich seltsam, grübelte jetzt auch Luca. Vielleicht waren die Schwarzmännchen gar nicht wie Menschen auf die Welt gekommen. Vielleicht wurden sie nicht geboren – und starben auch nicht. Jedenfalls nicht am Alter. Alt schienen sie alle zu sein, den zerfurchten Gesichtern nach zu urteilen … Hör auf, du Hohlbirne, schimpfte Luca im Stillen mit sich selbst. Begann er etwa auch schon, an den Hokuspokus zu glauben? Doch er merkte, dass ihn dieses Geheimnis nicht mehr losließ. Er schaute auf seine Armbanduhr. Mist, die war stehen geblieben. Und sein Handy befand sich in einem Schließfach oben beim Museumseingang. Herr Löwe hatte alle Handys für die Dauer der Führung eingesammelt und dort eingeschlossen. Sein Gefühl sagte Luca, dass es längst zu spät geworden war, um noch pünktlich zum Fußballtraining zu kommen. Selbst wenn die Schwarzmännchen ihre Meinung ändern und ihn und Sophie auf der Stelle freilassen würden, das Training musste er abschreiben. Seine Fußballkollegen waren sicher stinksauer auf ihn. Und natürlich der Trainer. Und … und Herr Löwe erst recht! Oh Mann!
»Wenn wir schon hier unten festgehalten werden, möchte ich unbedingt herausfinden, worum es überhaupt geht«, sagte Luca nach einer Weile.
»Oh ja, das will ich auch!«, erwiderte Sophie derart begeistert, dass Luca sich schon fast ärgerte, sein Interesse an der Zwergengeschichte zugegeben zu haben. Andererseits: Wie es schien, musste er sich mit der Streberin sowieso zusammenraufen. Vielleicht sollte er einfach das Beste daraus machen und versuchen, sich nicht allzu sehr von ihrer Besserwisserei nerven zu lassen.
Heftig riss er ein Stück Fladenbrot ab und biss hinein. Es schmeckte wunderbar! »Woher haben die Zwerge das wohl?«
»Sie backen es selbst«, sagte Sophie.
Überrascht sah er sie an. »Woher weißt du das?«
»Hast du es nicht gerochen?«
»Nein«, knurrte er. »Nur den grässlichen Staub oder was das ist. Der hat mir die Nase verstopft.« Luca zog ganz in Gedanken einen Schlüssel samt Anhänger aus der Tasche und spielte nervös mit dem winzigen Fußball, der an einem geflochtenen Bändchen von dem Metallring baumelte. »Wer weiß, wann ich wieder trainieren kann.«
»Bist du in einem Verein?«
»Ja. Schon seit ich fünf bin.« Luca grinste ein bisschen verlegen.
Sophie nickte nur.
»Interessierst du dich nicht für Fußball?«
»Nein«, sagte sie.
»Ich gehe regelmäßig mit meinem Vater ins Ruhrstadion. VfL Bochum, du weißt schon«, erklärte Luca.
»Mein Vater geht hin und wieder zu Basketballspielen. Früher habe ich ihn manchmal begleitet.« Sophie zögerte, bevor sie fortfuhr: »Ich interessiere mich ehrlich gesagt mehr für Musik als für Sport. Klassische Musik. Ich spiele Geige.« Sie sah ihn schräg von unten an, als erwarte sie seinen Spott. Doch er sagte nichts.
»Luca …«, begann sie vorsichtig nach einer kleinen Pause.
»Ja?«
»Stimmt das wirklich, sie haben dich entführt, mit Knebel und so?«
»Die verdammten Zwerge!« Luca ballte die Hände zu Fäusten. Auch wenn er eigentlich nur das Nötigste mit Sophie reden wollte, er musste loswerden, was ihm passiert war. Dass die Wichte ihn mit ihren kleinen Händen vom Förderband gezerrt und durch die langen Gänge halb geschleift, halb geschubst hatten. Und dass ihm nicht nur ziemlich brutal der Knebel, sondern auch noch ein Schlag auf den Kopf verpasst worden war.
»Die schrecken nicht vor Gewalt zurück«, murmelte Sophie, nachdem Luca aufgehört hatte zu erzählen und wütend vor sich hin schwieg. »Hätte ich nicht gedacht.«
»Hast du Angst?«
»Ja«, sagte sie. »Aber …«
»Aber was?«
»Sie brauchen uns wohl für irgendetwas, das ihnen sehr wichtig ist. Da können sie uns schlecht umbringen.«
»Und wenn das Ganze ewig lange dauert? Dann sind wir inzwischen bestimmt genauso verschrumpelt wie die Zwerge.«
Sophie kicherte. Doch sie wurde schnell wieder ernst. »Vielleicht ergibt sich ja noch eine Gelegenheit zu fliehen.« Sie klang nicht so, als wäre sie überzeugt davon.
Und Luca war es auch nicht. Er seufzte, und dann, oh!, verschluckte er sich fast an dem Radieschen, das er sich gerade in den Mund gesteckt hatte. Noirus und Tenebrus standen nämlich stumm neben dem Tisch. Wie lange schon? Vielleicht waren sie die ganze Zeit im Raum geblieben, unsichtbar, während er und Sophie gegessen und geredet hatten.
Sie mussten vorsichtiger sein, aber wie sollte das gehen?, dachte Luca noch, als Tenebrus sie aufforderte mitzukommen. Und Luca stellte zu seinem Erstaunen fest, wie sehr es ihn erleichterte, dass Sophie jetzt dabei war. Wenigstens musste er nicht mehr allein mit den Zwergen fertig werden.
***
In der großen Halle wurde weiterhin fleißig gearbeitet. Sophie hielt Ausschau nach Mutus, doch der war nicht dort bei seinen Leuten. Schon winkte Noirus sie und Luca weiter. Kurz darauf betraten sie erstmals die Kammer des Zwergenältesten. Vor sich auf dem Sekretär hatte er ein Buch liegen. Bergmannshemd ist Totenhemd – Vom Schicksal der Grubenarbeiter in alten Zeiten.
Sophie deutete kaum merklich mit dem Kopf zu dem Buch hinüber. Luca zeigte ihr genauso vorsichtig, dass er den Titel ebenfalls gelesen hatte.
»Ich bin froh, euch zu sehen«, stellte der Zwergenälteste fest. »Sicher wollt ihr nun wissen, warum wir euch geholt haben.«
»Allerdings. Scheint ja eine furchtbar dringende Sache zu sein. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass Sophie und ich dafür wichtig sind. Wir wollen so schnell wie möglich von hier verschwinden – falls ihr uns endlich freilasst!« Der Zorn in Lucas Stimme war nicht zu überhören.
»Es wird uns wohl nichts anderes übrig bleiben, wenn ihr weiterhin darauf beharrt.« Mutus rieb sich die Stirn, als hätte er Kopfschmerzen. »Doch erst möchten wir euch alles erklären.«
»Das wird aber auch Zeit!« Sophie war genauso zornig wie Luca.
Noirus und Tenebrus hatten inzwischen Schemel herbeigeschafft.
»Setzt euch«, bat Mutus die Kinder. »Ich will euch erzählen, worum es geht. Und anschließend sollt ihr entscheiden, ob ihr uns helfen wollt.« Er sah eine Weile schweigend vor sich hin, als müsste er seine Gedanken erst ordnen. Dann begann er mit seiner rauen tiefen Stimme von Zeiten zu erzählen, die so weit zurücklagen, dass er selbst sich nur noch verschwommen an manche Geschehnisse erinnern konnte. Mit Begeisterung sprach er von dem einzigen Zwergenvolk, geboren irgendwann aus der Schwärze versunkener Sumpfwälder, die vor Jahrmillionen entstanden und zu Steinkohle geworden waren. So hatten die Zwerge von jeher tief in der Erde gelebt, an den Ufern unterirdischer Seen oder in Höhlen und Felsspalten. Ja, einig waren sie gewesen und einer war für den anderen da. Und sie hatten es sich zur Aufgabe gemacht, den Menschen das Schwarze Gold zu schenken. Das war ihnen gelungen, obwohl sie im Verborgenen wirkten und nur in äußersten Notfällen direkten Kontakt mit den Menschen aufnahmen.
»Dann ist jetzt so ein Notfall eingetreten?«, fragte Luca, nachdem sie dem Bericht des Zwergenältesten aufmerksam zugehört hatten.
»Oh ja«, sagte Mutus. »Wir erleben in letzter Zeit äußerst beunruhigende Dinge. Und erstmalig nimmt unsere Lebenskraft spürbar ab. Aber wir wussten aufgrund einer Prophezeiung, dass wir eines Tages die Hilfe zweier Menschenkinder brauchen würden. Wir durften euch in unser Reich holen, mehr nicht. Ob ihr die Aufgabe annehmt, ist allein eure Entscheidung. Es hat schon seine Richtigkeit, dass gerade ihr jungen Leute dazu ausersehen seid, Teile des uralten Schatzes zurückzuerobern. Er kann auch euch Menschen vielleicht die Zukunft sichern.«
»Es gibt einen Schatz?«, staunte Sophie.
»Zurückerobern.« Luca klang ehrlich beeindruckt.
»Kommt mit, wir müssen euch etwas zeigen«, sagte Mutus.
»Ich wäre gern dabei, doch ich muss mich um Faol kümmern, allein hält er es nicht lange aus.« Noirus wandte sich zum Gehen.
»Bleib nur, ich übernehme das gern für dich! An mich ist er auch gewöhnt.« Tenebrus huschte davon.
»Faol?«, fragten Sophie und Luca gleichzeitig.
»Unser … nein, das ist eine viel zu lange Geschichte«, erklärte Mutus. »Darüber ein anderes Mal. Ihr müsst euch unbedingt etwas ansehen.«
Noirus lächelte Sophie verschwörerisch zu. »Mein Versprechen, Mädchen!«, flüsterte er. »Habe ich dir nicht Dinge verheißen, wie du sie nie zuvor gesehen hast? Du wirst staunen!«
Zu viert machten sie sich auf den Weg. Wieder ging es durch endlose Gänge, bis sie zu einem rabenschwarz schillernden Tor kamen, das aussah, als sei es aus Hunderten glänzender, kunstvoll bearbeiteter Kohlestückchen zusammengesetzt.
Mutus zog die Klingelschnur. Ein tiefer, lang anhaltender Glockenton erklang. Dann näherten sich Schritte, und das Tor wurde von einem Schwarzmännchen geöffnet, das ein wenig gebückt ging, so dass es noch kleiner wirkte als Mutus und Noirus.
»Anthrasius, hier bringe ich die langersehnten Besucher!«, erklärte Mutus. »Das sind Sophie und Luca.«
Anthrasius verschränkte die Arme vor der Brust. Er musterte die beiden eingehend mit einem Gesichtsausdruck, als wollte er sagen: Die langersehnten Besucher habe ich mir anders vorgestellt. Dann wandte er sich an den Zwergenältesten, ohne Sophie und Luca auch nur begrüßt zu haben. »Bei allem Respekt, Mutus, das kann nicht Euer Ernst sein?«
»Wie meinst du das?«, fragte Mutus. »Du weißt, dass es Kinder sein müssen.«
»Das allein ist schon schwer begreiflich. Aber wieso ausgerechnet diese beiden? Das Mädchen ist ja fast noch kleiner als wir – und dünn und schwach. Und der Junge … auch nicht gerade Vertrauen erweckend! Er sieht aus, als käme er geradewegs aus dem Bett.« Anthrasius zeigte auf Lucas wild vom Kopf abstehende Strähnen, die er offensichtlich mit Gel in Form gebracht hatte.
Sophie fand die Frisur auch ein bisschen albern, trotzdem hatte Anthrasius kein Recht zu so gemeiner Kritik. Aber was der Zwerg über sie, Sophie, gesagt hatte, übertraf alles. Klein, sicher, das war sie. Wenn auch lange nicht so klein wie dieser unverschämte Anthrasius. Aber schwach und dünn! Das ging zu weit. Sie holte tief Luft, doch bevor sie etwas sagen konnte, kam Luca ihr zuvor. Seine Augen blitzten. »Na toll, der Riese hier scheint sich mit Menschen ja bestens auszukennen. Und ganz besonders mit der Mode. Er könnte glatt als Topmodel durchgehen!« Luca zeigte auf Anthrasius’ Kapuzenjacke und Hose, die an mehreren Stellen notdürftig geflickt waren. »Wenn wir nicht gut genug für euch sind, warum lasst ihr uns dann nicht gehen?«
Mutus hob beschwichtigend die Hände. »Anthrasius, ich bitte dich, lern die beiden erst einmal kennen! Und ihr«, wandte er sich dann an Sophie und Luca, »bitte nehmt es ihm nicht übel. Er will immer das Beste, vergreift sich aber manchmal im Ton.« Er warf Anthrasius einen strengen Blick zu, der keinen Widerspruch duldete.
Das Schwarzmännchen guckte zwar böse und brummelte noch etwas Unverständliches, senkte aber den Kopf und schwieg. Es trat einen Schritt zur Seite und machte mit dem Arm eine unbestimmte Bewegung, die Mutus offensichtlich als Einladung deutete. Mit sanftem Druck schob er Sophie und Luca durch das Tor.
Nach wenigen Schritten blieben sie wie angewurzelt stehen. Diese Halle war noch größer als die, in der die beiden den Zwergenältesten kennengelernt hatten. Was sie jetzt im Schein mehrerer Fackeln vor sich sahen, war überwältigend. Der langgestreckte Raum, dessen Ende sie nur erahnen konnten, wurde von Säulen abgestützt. Manche schimmerten silbern, kupfern oder golden, andere waren aus Holz; doch alle wiesen zahlreiche Verzierungen auf: kleine Tiere und Pflanzen, und dazwischen etliche Schriftzeichen.
»So ähnlich muss es in den ägyptischen Tempeln aussehen«, flüsterte Sophie voller Bewunderung.
Anthrasius warf ihr einen seltsamen Blick zu, schwieg aber beharrlich.
Auf langen Tischen lagen schier unbeschreibliche Kostbarkeiten unter gläsernen Hauben. Wunderschöner Schmuck mit funkelnden Steinen, eine ganze Reihe offensichtlich alter kostbarer Musikinstrumente und Bücher mit Titelbildern in so leuchtenden Farben, wie Sophie sie noch nie gesehen hatte.
»Wo habt ihr das alles her?«, stammelte sie.
»Vieles haben wir Zwerge selbst angefertigt, anderes in Jahrhunderten gesammelt, von nah und fern zusammengetragen«, antwortete Noirus.
»Oftmals im Tausch gegen Kohle«, fuhr Mutus fort. »All das Schöne, das es einmal gab, darf nicht verloren und vergessen sein.« Er lächelte stolz. »Vielleicht fragt ihr euch, warum wir das tun?«
»Ich zum Beispiel sammle Autogrammkarten von berühmten Fußballspielern, weil ich selbst mal so einer werden will.« Luca grinste.
»Wir sammeln nicht für uns«, erklärte Mutus. »Die Dinge sind euch zugedacht, euch Menschen. Wir haben euer Tun stets voller Anteilnahme betrachtet, aber oft auch mit Sorge.«
»Das alles soll für uns sein? Und wer hat euch den Auftrag gegeben?« Sophie steuerte auf die farbenprächtig eingebundenen Bücher zu.
»Niemand«, zischte jetzt Anthrasius. »Wir brauchen keine Auftraggeber. Wir ganz allein haben uns diese Aufgabe gestellt. Schöne alte Dinge muss man pflegen und erhalten, Überlieferungen weitergeben.«
Verwundert sah Sophie ihn an. »Und was sind das für Bücher?«, wollte sie wissen.
»Alte Handschriften, allesamt auch von Hand illustriert«, erklärte Mutus. »Schaut sie euch ruhig an.«
»Das ist der Wahnsinn!« Luca griff nach einem besonders dicken Buch. Andächtig blätterte er einige Seiten um. »Alles von Hand gezeichnet? So viel Geduld hätte ich nie! Dabei zeichne ich auch viel, am liebsten Comics.«
Sophie war verblüfft. Luca – der hatte noch andere Hobbys als Fußball!
Mutus warf Anthrasius einen triumphierenden Blick zu, doch der Archivar tat so, als hätte er nichts gesehen.
Luca trat an einen gläsernen Schrank, dessen Scheiben außergewöhnlich dick waren.
Als sich Sophie neben Luca stellte, sah sie einen großen Steinbrocken mit Abdrücken von Reptilien und Pflanzen darin liegen.
»Der muss unheimlich alt sein«, flüsterte Sophie. »Und wie schön er ist!«
»Da kann ich dir nur beipflichten«, sagte Mutus und öffnete den Schrank. »Wir befürchten allerdings, dass man uns dieses außergewöhnliche Stück missgönnt, wie auch manch anderen Schatz.«
»Und wer sollte dieser man sein?«, fragte Luca.
»Wir glauben, dass es die Blaukobolde sind«, erwiderte Mutus.
»Blaukobolde?« Sophie runzelte die Stirn.
»Es gibt Wesen, die du nicht kennst?«, feixte Luca.
Mutus seufzte. »Sie waren einmal unsere Brüder. Doch einst kam es zu heftigem Streit und schließlich zur Trennung. Aus Brüdern wurden Feinde. Die Blaukobolde leben seitdem in einem anderen Teil unseres unterirdischen Reiches. Wir sind uns lange aus dem Weg gegangen. Doch in letzter Zeit müssen sich einige von ihnen bei uns eingeschlichen haben. Es sind Dinge passiert, die wir eigentlich nur ihnen zuschreiben können. Wir verdächtigen sie, einen Teil unserer Bücher beschädigt und eine kostbare alte Mandoline gestohlen zu haben, die einen ganz besonderen Klang hat.« Er sah versonnen vor sich hin. »Ihre Töne machen glücklich.«
»Die würde ich mir gerne anhören«, sagte Sophie, während Luca noch einmal die Versteinerungen betrachtete.
Mutus fuhr mit dem Finger über den feinen Abdruck eines Schachtelhalms. »Das Fossil erinnert an die Entstehung der Kohle. Für uns eine Mahnung, sorgsam mit der Natur und den Bodenschätzen umzugehen.«
»Na ja, schön ist das schon … genau wie der Rest von dem alten Kram, den ihr hier ausgestellt habt«, sagte Luca.
Sophie sah, wie Mutus und Anthrasius zusammenzuckten. Nur Noirus schien sich an Lucas respektloser Äußerung nicht zu stören.
»Was ist denn jetzt der kostbare Schatz, von dem ihr gesprochen habt? Ich meine, so ähnliches Zeug gibt es doch in allen möglichen Museen!«, machte Luca weiter.
Anthrasius knurrte. Auf seiner Stirn zeigte sich eine tiefe Falte.
Mutus nickte nachdenklich. »Nun, ich halte unseren Bestand schon für einzigartig. Aber deine Frage ist berechtigt. Es gibt noch etwas viel Wertvolleres.«
Er schloss den gläsernen Schrank wieder und ging mit festen Schritten in den hintersten Teil der Halle, der bisher in völligem Dunkel gelegen hatte.
Als sie näher kamen, konnten Sophie und Luca ein weiteres, geradezu riesiges Fossil erkennen. Es war der untere Teil eines mächtigen versteinerten Schuppenbaums. Die Wurzeln waren etliche Meter lang, und um den Stamm umfassen zu können, hätten Sophie und Luca die Hilfe aller ihrer Klassenkameraden gebraucht. Mutus trat an ihn heran und machte sich an einer der Schuppen zu schaffen. Da schob sich die Rinde in der Mitte des Stamms auseinander und gab einen schmalen Durchgang frei.
Staunend folgten Sophie und Luca den Zwergen in einen Raum, der im Vergleich zu der riesigen Halle wie eine winzige Höhle wirkte – mit ungleichmäßigen Wänden, die in einer Art Kuppel zusammenliefen. Hier brannten keine Fackeln, nur die Haare der Schwarzmännchen gaben ein wenig Licht. Eigenartigerweise