Die Hütte - Benjamin Leuteritz - E-Book

Die Hütte E-Book

Benjamin Leuteritz

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Beschreibung

Wo liegt die Grenze zwischen Einbildung und Realität? Was ist, wenn es Ihnen nicht mehr gelingt, zwischen beidem zu unterscheiden? Was ist, wenn Realität und Einbildung plötzlich die Plätze tauschen und für Sie eine Achterbahnfahrt in den Abgrund Ihrer eigenen Psyche beginnt, an deren Ende es keinen Weg mehr zurück gibt? Maik Beyer leidet nach einem traumatischen Erlebnis in seiner Vergangenheit unter Schizophrenie. Immer wieder suchen ihn Backflashs heim, bis zu dem Punkt, an dem die Vergangenheit ihn völlig vereinnahmt und er in der Gegenwart die Frau seiner Träume dazu zwingt, ihn zu lieben. In einer verlassenen Hütte schmachtet sie ihr quälendes Martyrium. Wer kann Maiks blutigen Pfad stoppen? Denn um die schöne Jennifer zu erobern, gilt es sämtliche Gegner einen nach dem anderen auszuschalten…

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Prolog

Schizophrenie ... Ist eine psychische Erkrankung, die zur Spaltung und zum Zerfall der Persönlichkeit, zu Wahnvorstellungen und Sinnestäuschungen führen kann.

In Deutschland erkranken jährlich zirka 6.000 Menschen an Schizophrenie, weltweit sind es sogar über 800.000. Für Betroffene und Angehörige kann die Krankheit verheerende Folgen haben, wenn sie nicht behandelt wird, was nicht heißt, dass eine Behandlung in jedem Fall von Erfolg gekrönt ist. Dem Erkrankten ist seine Krankheit oftmals selbst nicht bewusst; seine Wahrnehmung, sein Charakter, sein ganzes Wesen verändern sich, ohne dass er es mitbekommt.

Kapitel 1

Ein Junge mit Problemen

1

Eine angenehme Kühle herrschte im Zimmer 201. Das fahle Licht der Neonleuchten erhellte den Raum und sorgte für eine wohlige Atmosphäre. Der dicke Mann auf dem gepolsterten Stuhl (der einzige gepolsterte Stuhl im Raum) strahlte Ruhe, aber dennoch eine gewisse Strenge aus.

„Frau Beyer“, sagte er. „Ihr Sohn könnte bedeutend mehr leisten, wenn er sich mehr anstrengen und seine häuslichen Aktivitäten verstärkt pädagogischen Tätigkeiten zuwenden würde.“

Ein Standardspruch von Herrn Schmidt, dessen suggestive Rhetorik sich in seiner gesamten Laufbahn kein einziges Mal geändert hatte. Maiks Klassenlehrer versuchte (wieder einmal), seiner Mutter beizubringen, sie solle ihren Sohn zu mehr Pflichtbewusstsein und Fleiß erziehen.

Maik Beyer saß während dieser Elternsprechstunde auf einem Stuhl neben seiner Mutter und musste sich zum x-ten Mal anhören, wie faul er doch sei . Ihm gegenüber saß sein Lehrer, Herr Schmidt, der in einem unaufhörlichen Erzählschwall über ihn herfiel.

„Sie müssen verstehen, dass es jetzt kein Spaß mehr ist“, fuhr Herr Schmidt fort, „Wenn Maik nicht bald die Kurve kriegt, dann sieht es schlecht aus mit seinem Abitur. Das Kollegium ist sich einig darüber, dass Maik das Potenzial besitzt, einen hervorragenden Abschluss zu machen. Wenn Sie mich fragen, ist er ein überaus intelligenter Schüler. Er müsste sich ganz einfach nur mehr anstrengen.“

Maiks Mutter saß nickend da und hörte sich alles genau an, was Herr Schmidt zu sagen hatte. Ab und zu warf sie einen vorwurfsvollen und enttäuschten Blick auf ihren Sohn, um anschließend wieder den sich wiederholenden Worten seines Klassenlehrers zu lauschen.

Es war Maiks siebentes Jahr auf dem Albert-Einstein Gymnasium in Neustadt, einer mittelgroßen deutschen Stadt mit dreißigtausend Einwohnern. Und nun stand er kurz davor, zum ersten Mal sitzen zu bleiben und die 12. Klasse zu wiederholen. Sein Klassenlehrer, Herr Schmidt, ein kleiner, untersetzter Mann mit Brille, hatte ihn und „einen Elternteil Ihrer Wahl“ zu einem Gespräch über seine schulische Zukunft eingeladen. Seine Mutter hatte sich entschieden, diese Einladung wahrzunehmen.

Als sie den Brief der Schule las, reagierte Sie resigniert. „Ach, Maik...“ Dieser Seufzer und der anschließende Blick seiner Mutter, der ausdrückte: „Was hast du denn jetzt schon wieder ausgefressen? Was soll ich nur mit dir machen?“ brachten Maik jedes Mal fast zur Weißglut. Er selbst war sich keiner Schuld bewusst. Die Schule war ihm egal. Er verstand nicht, warum seine Mutter so viel Wert darauf legte. Auch verstand er nicht, warum sie ihn wie ein Problemkind behandelte.

Sein Vater war in dieser Beziehung ganz anders. Er war mehr der pragmatische Typ. Mit der Androhung, eine gewischt zu kriegen, sollte Maik seine Mutter zum Weinen bringen, machte er seinen Standpunkt unmissverständlich deutlich: Maiks schulische Leistungen tangierten ihn nicht. Er erachtete die Schule im Allgemeinen sowieso für überflüssig; das Gymnasium im Speziellen erst recht. In seinen Augen musste ein Mann mit seiner Händearbeit etwas schaffen, und nicht den ganzen Tag nur reden. In Bezug auf die Elternsprechstunde war ihm nur wichtig, dass Dana nicht wieder anfing zu heulen. Das wäre nicht gut für den Haussegen, der generell so gut wie immer ein bisschen schief hing.

Auf dem Weg zur Schule wechselte Dana Beyer kein Wort mit ihrem Sohn. Mit gemischten Gefühlen hatte sie sich ausgemalt, was kommen würde, was man ihr sagen würde und vor allem, wie es um ihren Sohn bestellt war. Gedankenverloren betrat sie mit Maik das Gebäude, ging rauf in den ersten Stock ins Zimmer 201 und setzte sich erwartungsvoll auf einen der Stühle im Zimmer. Maik setzte sich neben sie und starrte gelangweilt und geistesabwesend die Tafel an. Nach zwei Minuten betrat Herr Schmidt den Raum und begrüßte Dana mit einem höflichen „Guten Abend, Frau Beyer“ und setzte sich seinen Gästen gegenüber. Nach ein paar Begrüßungsfloskeln kam er dann endlich zum Punkt.

Und jetzt wetterte er seit über zehn Minuten über Maiks Einstellung zum Lernen.

„Es würde ja schon genügen, wenn er jeden Tag zwei Stunden lang etwas für die Schule machen würde. Es ist immer bedauerlich, wenn man niedriges Leistungsvermögen reziprok zur mentalen Kapazität des Schülers feststellt.“ Er sah Dana über seine Brille hinweg an, die mit großen Augen zurücksah. „Denn er könnte mehr leisten, wenn er nur wöllte, verstehen Sie?“, fügte er hinzu, wie ein Lehrer, der einem begriffsstutzigen Erstklässler geduldig das ABC beibringt.

„Ja, das verstehe ich.“ (Sie verstand, so wie ein Mensch aus dem 18. Jahrhundert die Funktionsweise eines DVD-Players verstehen würde.)

„Ich will aber nicht mehr leisten“, platzte es unvermittelt aus Maik heraus.

Dana wandte sich überrascht zu ihrem Sohn. „Maik, was ist denn in dich gefahren?“ Ihr Blick schien zu sagen: Halt jetzt ja die Klappe. Ich will mich hier nicht wegen dir blamieren.

„Schon gut, Frau Beyer.“ Herr Schmidt blickte verständnisvoll zu Dana und wandte dann den Kopf zu Maik. „Und warum willst du nicht mehr leisten?“, fragte er in einem ruhigen, diplomatischen Tonfall.

„Ich hab‘ einfach keine Lust. Ich hab‘ wirklich Besseres zu tun, als mich auch noch in meiner Freizeit mit Schule zu beschäftigen. Und mein Abitur schaffe ich auch so“, setzte er hinzu, als wäre es das Natürlichste auf der Welt.

„Oh, da sind wir uns alle sicher, dass du das schaffst. Mit deiner Intelligenz wirst du es auf jeden Fall schaffen. Die Frage ist nur, mit welchem Durchschnitt du es schaffst und ob du es noch in diesem Jahr schaffst. Denn so wie es aussieht, ist es nicht abwegig, dass du sitzenbleibst“, wandte Herr Schmidt ein.

„Ich glaub nicht, dass das passieren wird.“ Maik war sich seiner Sache sicher – und entsprechend selbstbewusst artikulierte er seinen Standpunkt.

„Richtig, du glaubst es nicht. Aber du weißt es nicht genau. Und außerdem: wünschst du dir nicht, ein möglichst gutes Abitur zu machen, damit du dann später das studieren kannst, was du willst?“

Maik senkte den Kopf und betrachtete interessiert seine Hände. Der dicke Kerl begann allmälig zu nerven und Maik beschloss, dagegen etwas zu unternehmen: „Hören Sie, Herr Schmidt, Sie haben anscheinend auch nicht ein möglichst gutes Abitur gemacht, um etwas besseres und nicht nur Lehrer zu werden.“ Er machte eine bedeutungsvolle Pause. „Ich möchte Ihnen nicht unterstellen, Sie hätten ein schlechtes Abitur gemacht. Aber Sie sind doch schließlich nur ein Lehrer geworden. Also sollten Sie eigentlich der Letzte sein, der mir hier predigt, ich kann alles werden, wenn ich mich nur anstrenge.“ Dann sah Maik wieder zu Herrn Schmidt auf, dessen Gesichtsausdruck inzwischen zu Stein geworden war.

Dana vergrub ihr Gesicht in den Händen. Sie schämte sich für ihren Sohn. Als ob sie nicht geahnt hätte, dass es so kommen würde. Warum sie überhaupt immer zu diesen Elternsprechstunden kam? Es war doch immer das Gleiche: Lehrer beschwert sich über Maiks Einstellung – Maik fühlt sich beleidigt und denunziert den Lehrer – Lehrer bricht das Gespräch ab – Dana ist traurig und würde am liebsten im Erdboden versinken.

Doch dieses Mal trieb es Maik noch ein Stückchen weiter und setzte noch eins drauf: „Ich glaube sogar, dass Sie jetzt Ihre Versäumnisse in der Vergangenheit, beziehungsweise Ihre Unzulänglichkeiten in der Gegenwart mit neunmalklugen Ratschlägen zu kompensieren versuchen.“

An dieser Stelle hätte Herr Schmidt ausrasten können und zu Maik Sachen sagen können wie: „Was fällt dir ein, in diesem Ton mit mir zu sprechen?!“ oder „Sag mal, du bist wohl verrückt geworden?“ Doch stattdessen blieb er ruhig und sagte: „Eloquent wie immer, Maik, doch das wird dir bei deinem Abitur auch nicht helfen. Es geht hier nicht um mich, sondern um dich. Du kannst natürlich versuchen, mich mit deinen“ – Er suchte nach einem diplomatischen Wort – „Analyseversuchen auf die Palme zu bringen, um dir selbst etwas zu beweisen. Aber ich denke, das ist der falsche Weg.“ Herr Schmidt sah Maik traurig an, dann fuhr er fort: „Wie dem auch sei. Ich kann nur hoffen, dass du zur Vernunft kommst und wünsche dir viel Glück auf deinem weiteren Lebensweg - wie auch immer der aussehen wird.“

Herr Schmidt stand auf und reichte Dana die Hand. „Auf Wiedersehen, Frau Beyer. Es hat mich gefreut, dass Sie gekommen sind.“

„Vielen Dank für Ihre Einladung Herr Schmidt ... Und entschuldigen Sie bitte das Verhalten meines Sohnes.“ Ihre Augen waren rot und wässrig. Maik vermutete, dass sie gegen Tränen ankämpfte.

„Dafür brauchen Sie sich doch nicht zu entschuldigen. Maik ist alt genug, um zu wissen, was er tut. Er wird schon noch zur Vernunft kommen.“

Das glaubst auch nur du, du Schleimscheißer, dachte Maik, sagte es aber nicht laut.

„Maik, wir sehen uns Morgen früh.“ Sie schüttelten sich die Hände und dann verließen Maik und Dana das Klassenzimmer.

Es war schon dunkel draußen. Am Himmel hingen keine Sterne und auch der Mond war nur zu einem Viertel zu sehen; nur die Straßenlaternen spendeten Licht. Mutter und Sohn stiegen in den roten 3er Golf.

Auf dem Weg nach draußen waren Dana die Tränen gekommen. Aus ihrer Handtasche hatte sie ein Taschentuch geholt und wischte sich damit die Tränen aus den Augen. Dann startete sie den Motor und fuhr los. Ihr Sohn saß mit gefalteten Händen auf dem Beifahrersitz und sah seine Mutter von der Seite her an. In ihren Augen stand das Wasser zur Zeit auf Flut.

„Mutti“, begann Maik. „Es tut mir leid. Es ist so aus mir herausgeplatzt.“ Er wusste, dass er zu weit gegangen war. Ihm war klar, dass er seine Mutter bitter enttäuscht hatte. Am liebsten würde er das Gespräch wiederholen und sich dieses Mal zusammenreißen.

Stille auf der Fahrerseite.

„Hey Mutti, ich wollte dich wirklich nicht blamieren. Aber manchmal macht mich dieser dicke Knilch einfach verrückt.“

„Weißt du was?“, begann Dana und tat so, als hätte sie Maiks Worte gar nicht gehört. „Du kannst froh sein, dass du einen so verständnisvollen und toleranten Lehrer hast. Er hätte auch ganz anders reagieren können. Er hätte dich von der Schule schmeißen können.“

Nein, das hätte er nicht, dachte Maik. Und ist ja mal wieder klar, dass du dich auf die Seite des Lehrers stellst. Aber Maik sagte nichts. Es war gerade unpassend, irgendetwas zu sagen.

„Aber es ist ja nicht nur das.“ Dana sah ihren Sohn kurz an und konzentrierte sich dann wieder auf die Fahrbahn. „Er hat Recht: du könntest viel mehr leisten. Du bist doch nicht dumm. Du bemühst dich einfach nur nicht. Und das ist das, was ich nicht verstehe. Wenn ich die Möglichkeiten gehabt hätte, mein Abi mit eins-Komma-irgendwas zu schaffen, dann hätte ich doch die Chance wahrgenommen. Aber dich interessiert das alles scheinbar gar nicht. Du machst dir gar keine Gedanken über deine Zukunft. Und dabei bist du so ein schlauer Junge.“

„Ich weiß Mutti, aber ich bin nun mal kein Lern-Typ. War ich noch nie gewesen. Und wenn ihr versucht, mich krampfhaft umzukrempeln, wird euch das nicht gelingen. Ich bin, wie ich bin.“

Den Rest der Autofahrt herrschte Schweigen.

2

Als Tino Beyer die roten Augen seiner Frau sah, holte er kommentarlos aus und die linke Gesichtshälfte seines Sohnes färbte sich rot. Maik hielt es aus. Er wehrte sich nicht und blieb ruhig und gefasst stehen. Er hatte schon in dem Moment mit Prügel gerechnet, als er Herrn Schmidt die Meinung geigte.

„Verdammt noch mal, ich hab’s dir doch gesagt: Wenn du deine Mutter zum Weinen bringst, dann prügle ich dich windelweich. Und wie ich es mir schon gedacht habe, hast du’s mal wieder geschafft.“ Tino seufzte. „Jetzt trage die Konsequenzen wie ein Mann.“

Und das tat er. Auch die nächste Schelle überstand Maik ohne eine Reaktion. Hätte er geweint wie ein kleines Kind, wären ihm sicherlich weitere Schläge erspart geblieben, aber er wollte es tragen wie ein Mann; er stand zu den Mist, den er verbockt hatte. Außerdem wäre es ihm vor seinen Eltern peinlich gewesen, zu weinen.

Den dritten und den vierten Schlag spürte Maik kaum noch, den fünften gar nicht mehr. Sein Vater schlug heftig zu. Schon nach den ersten beiden Schlägen war Maiks Gesicht taub und knallrot. (Das wird Morgen in der Schule wieder fragende Blicke geben, dachte er)

Sein Kopf dröhnte vor Schmerz, als sein Vater ihm sagte, er könne rauf auf sein Zimmer gehen. Ohne ein Wort zu sagen, kam er dem nach, stieg die Treppe hoch und öffnete dann die Tür zu seinem Zimmer. Im Wohnzimmer würden seine Eltern sich bereits über ihn unterhalten. Nach dem Motto, was wohl „zu tun sei“ und was sie mit ihm noch „anstellen sollten“, damit er wieder ein „normaler Junge“ würde.

Ihm war es egal. Sollen sie doch nur reden. Er schaltete seinen PC ein und legte sich auf sein Bett, während der Rechner hochfuhr. Maik starrte an die Decke, die mit Postern von Rockbands wie AC/DC oder den Rolling Stones bedeckt war. Er lauschte den Geräuschen seines Computers. In seinem Zimmer stand ein riesiges Bücherregal, gefüllt mit Unmengen von Büchern. Maik war ein leidenschaftlicher Leser, einer der Gründe, warum er in der Schule so schlecht war. Er las einfach das Falsche; statt Schulbücher las er Belletristik und unterrichtsfremde Sachbücher.

In einer Ecke stand ein Fernseher mit DVD-Player und einer Ansammlung DVDs. Der Kleiderschrank war klein; Maik hatte nicht viele Sachen. Auf Kleidung legte er nicht viel Wert und so war sein Styling auch sehr monoton. Sein Bett war schmal, aber lang und befand sich an der Seite mit dem Fenster. Maik ließ sich gern von den morgendlichen Sonnenstrahlen wecken und lag oft noch minutenlang wach da und genoss den Morgen, bevor sein Wecker klingelte.

Der Computer war hochgefahren und Maik setzte sich auf seinen Computer-Stuhl und rief seine E-Mails ab. Er verbrachte sehr viel Zeit am PC. Ein weiterer Grund für seine schlechten schulischen Leistungen. Doch er war kein Zocker, also keiner, der stundenlang spielte. Maik war ein begeisterter Hacker. In vielen Foren und Communities vertreten, tauschte er sich oft mit anderen freundelosen Stubenhockern aus. Er hatte es bereits geschafft, den Schulserver zu knacken und dadurch das System zum Absturz gebracht. Er wollte eigentlich nur an die Dateien für die LKs und Klausuren, doch irgendwas ging schief und der Server stürzte ab. Die Folge war ein Schaden von mehreren Tausend Euro, die der Steuerzahler begleichen durfte; denn man konnte nicht zurückverfolgen, dass Maik der Verursacher war. Seit diesem Vorfall hatte er nie wieder versucht, den Server zu knacken. Das Risiko von der Schule zu fliegen, war ihm dann doch zu groß.

Außer zu lesen oder am Computer zu sitzen, unternahm Maik so gut wie nie etwas. Früher, als Steve noch lebte, zog er oft um die Häuser, betrank sich und war den ganzen Tag außer Haus. Doch seit Steves Tod fand Maik keinen Anschluss zu anderen Klassenkameraden. Er verbrachte seine Zeit meist allein, ohne Freunde, ohne Gesellschaft. Seit zwei Jahren betrachtete man ihn in der Schule als Außenseiter, als Freak, als jemanden, bei dem „da oben eine Schraube locker ist.“ Seine Mitschüler begegneten ihm mit Ignoranz; für sie existierte Maik Beyer gar nicht, er war zwar da, aber er existierte nicht in ihrer Welt.

Maik durchforstete das Internet. Unten im Wohnzimmer – das wusste er – sprachen seine Eltern bereits über ihn. Er versuchte nicht daran zu denken, und auch nicht daran, dass er am nächten Tag wieder in die Schule musste, wo er weder Freunde noch Freude hatte. Vielleicht würde er heute noch in dem neuen Stephen King Roman lesen. Doch wie er sich kannte, würde er wieder stundenlang lesen und irgendwann zwischen Kapitel X und Y seinen Wecker hören und feststellen, dass er sich festgelesen und nicht eine Sekunde geschlafen hatte. Dann würde er den Rest des Tages durchhängen und zu nichts in der Lage sein. Man müsste eigentlich auf Stephen King Romanen einen Warnhinweis anbringen, ähnlich wie auf Zigarettenschachteln: „Vorsicht! Suchtgefahr.“ Hat man erst angefangen zu lesen, kann man nicht wieder aufhören. Man legt das Buch einfach nicht wieder aus der Hand, bis man nicht auch das letzte Wort verschlungen hat.

Mitten in den Datendschungel vertieft, bemerkte Maik, wie sich die Tür öffnete und sein Vater hereinkam. Er schloss hastig die Internetseiten und drehte sich dann mit seinem Drehstuhl in Richtung Tür. Sein Vater stand noch im Rahmen.

„Maik, deine Mutter hat mir gerade gesagt, was passiert ist. Willst du darüber reden?“

Das wird wohl wieder ein längeres Gespräch werden, dachte Maik und fuhr vorsichtshalber seinen Computer runter. „Weiß nicht, willst du denn mit mir darüber reden?“

Tino Beyer ignorierte die rhetorische Frage seines Sohnes. Er setzte sich auf Maiks Bett. „Warum hast du versucht, deinen Lehrer zu beleidigen? So werden deine Zensuren auch nicht besser.“

„Ich weiß, aber irgendjemand musste es ihm mal sagen, diesem arrogantem Idioten. Er ist so von sich selbst überzeugt, ich musste ihm einfach mal einen Dämpfer verpassen.“ Maik sah seinem Vater in die Augen und hoffte, eine Reaktion zu erkennen.

Dieser fuhr im ruhigen Tonfall fort: „Ach Maik, wir alle begegnen Menschen, die wir nicht leiden können und deren Art und Weise uns auf die Nerven geht. Auch ich kenne solche Menschen, aber trotzdem muss ich mit ihnen leben und wenn ich sie beleidige, mache ich alles nur noch schlimmer. Du wirst in deinem Leben noch vielen Menschen begegnen, deren Gesicht du nicht magst, aber du musst es akzeptieren. Vor allem im Job.“

Das sagte sein Vater absichtlich. „Im Job.“ Maik sollte sich dadurch erwachsener vorkommen und professioneller handeln. „Im Job“ hieß: „Hey Junge, du bist jetzt erwachsen und musst dich auch dementsprechend verhalten. Mit deinem kindischen Benehmen kommst du nicht weit. Sei professionell und nimm‘s wie ein Mann.“ Maik kannte das Spiel, machte seinen Vater aber nicht darauf aufmerksam. Der würde nur verärgert oder gar wütend reagieren. So sagte Maik: „Hast ja recht. Aber daran hatte ich in dem Momentnicht gedacht.“

„Das solltest du aber in Zukunft.“

„Ja.“

Maiks Vater deutete mit dem Zeigefinger auf den Computer. „Und der hilft dir in der Schule auch nicht. Du solltest nicht so lange vor dem Ding sitzen. Lies mal lieber ein Buch.“

„Ich lese viel mehr Bücher als du“, murmelte Maik.

„Was hast du gesagt?“

„Ach nichts, schon gut“, beschwichtigte er.

Tino Beyer stand auf, ging zur Tür und drückte die Klinke herunter. „Wir haben uns verstanden?“, fragte er noch einmal, indem er über die Schulter zu seinem Sohn sah. Es war eigentlich keine Frage, vielmehr eine Feststellung.

„Ja, Paps.“

Paps verließ das Zimmer und sein Sohn rollte mit den Augen und machte seinen Computer wieder an, den er erst kurz nach zwölf wieder ausschaltete. Den ganzen Abend und die halbe Nacht verbrachte er im Internet. Er suchte nichts spezielles, er klickte nur wahllos irgendwelche Seiten an, las sich den einen oder anderen Artikel durch. Alles, nur um nicht ins Bett gehen zu müssen. Er dachte, er könnte sowieso nicht einschlafen und würde sich nur ewiglange, sinnlose Gedanken machen. Das wollte er sich ganz einfach ersparen und deshalb blieb er am Rechner sitzen, nur um seiner Gedankenwelt zu entfliehen und die leichte Unterhaltung zu suchen.

3

Am nächsten Morgen ließ Maik sich von den ersten Sonnenstrahlen des neuen Tages wecken. Er schlief letzte Nacht erst gegen drei Uhr ein und hatte an diesem Morgen entsprechende Augenringe. Sein erster Handgriff galt dem Einschalten seines CD-Players, der prompt eine Heavy-Metall-Scheibe abspielte; solche Musik brauchte Maik, um richtig wach zu werden. Er achtete weder auf Text, noch auf Melodie, Hauptsache es dröhnte ordentlich.

Sein Vater war bereits auf Arbeit und seine Mutter saß in der Küche und frühstückte als er ins Bad ging. Der Kerl, der ihn im Spiegel ansah, gefiel ihm nicht. Er sah irgendwie übernächtigt und ganz und gar nicht gut aus, aber trotzdem putzte Maik dem Typen im Spiegel die Zähne und wusch sein Gesicht. Anschließend ging er zurück in sein Zimmer, zog Jeans und T-Shirt an und begab sich dann in die Küche.

Seine Mutter saß Zeitung lesend am Tisch und hatte einen dampfenden Kaffee vor sich gestellt, dessen Geruch den Raum erfüllte. Maik machte sich zwei Toasts mit Marmelade und setzte sich zu seiner Mutter.

„Wenn du einen Kaffee willst, es ist noch was in der Kanne“, sagte Dana ohne von ihrer Zeitung hochzusehen, deren Titelseite vom Tod Boris Jelzins berichtete.

„Danke, das ist jetzt genau das Richtige.“

„Wie lange haben wir denn gestern Abend noch gemacht?“

Maik trabte zur Anrichte, um sich einen Kaffee zu holen und zuckte dabei mit den Schultern. Seine Mutter konnte das unmöglich gesehen haben, doch sie registrierte es irgendwie und kommentierte es mit einem „Tss tss tss“, begleitet von einem leichten Kopfschütteln, welches ihr dennoch erlaubte, weiter in der Zeitung zu lesen.

Das Frühstück verlief gesprächslos, bis Dana Beyer aufstand. „Machs gut, Schatz. Viel Spaß in der Schule.“

„Tschüss Mutti.“

Dana legte ihre Zeitung weg, trank schnell im Stehen ihren Kaffee aus, gab ihren Sohn einen leichten Kuss auf die Wange (welchen dieser energisch abzuwehren versuchte) und verließ das Haus.

Maik saß weiter auf seinem Platz und rührte mit einem Löffel in seinem Kaffee. (Er mochte keinen heißen Kaffee, er trank ihn für gewöhnlich erst, wenn er lauwarm war) Ihm war an diesem Morgen nicht nach Schule zumute. Er stellte sich vor, wie er wieder von den anderen Schülern isoliert würde, vielleicht sogar gehänselt würde und wie er sich im Unterricht langweilen würde und seine Lehrer ihn rügen würden. Alles beschissen, dachte er.

In seiner schlechten Laune versunken tauchte vor seinem geistigen Auge ein Bild auf: Vor drei Jahren. Er war fünfzehn. Die Sommerferien hatten gerade angefangen. Er und Steve, sein damals bester Kumpel, fuhren mit dem Fahrrad. Sie fuhren aus der Stadt raus in Richtung Wald, immerzu über irgendetwas lachend. In Maiks Erinnerung lachten beide immer ununterbrochen. Steve ging in seine Klasse. Er hatte ein silbernes McKennzie Mountainbike, für das Maik ihn beneidete. Maik fuhr nur ein altes Panther-Fahrrad von seinem Vater. Entsprechend fuhr Steve immer voran. Er war bei Fahrradtouren immer der Anführer.

Als sie am Wald angekommen waren, fuhr Steve nicht auf einen der befestigten Wege weiter, sondern fuhr einen zweieinhalb Meter breiten, schlammigen Trampelpfad entlang. Das war für sein Super-Mountainbike kein Problem, doch Maik hatte stark zu kämpfen, sodass Steve immer wieder anhalten und auf Maik warten musste.

Sie fuhren ungefähr eine halbe Stunde durch den Wald, der teilweise so dicht war, dass man die kräftigen Sonnenstrahlen und den klaren, azurblauen Himmel an diesem Tag nur erahnen konnte. Steve schien genau zu wissen, wo er hinfuhr, doch in Wirklichkeit fuhr er einfach immer nur planlos vorwärts. Und Maik fuhr ihm überall hinterher; er vertraute Steve. Sie waren die besten Freunde. Maik wäre Steve sogar bis ans Ende der Welt gefolgt.

Doch soweit sind sie nicht gefahren. An einem kleinen Häuschen, mitten im Wald, hielten sie an. Steve lehnte sein Fahrrad vorsichtig an einen Baum, Maik schmiss seines achtlos auf den Waldboden. Das Häuschen maß acht mal acht Meter und war um die zweieinhalb Meter hoch. Als Dach dienten gewellte Metallplatten, das Häuschen selbst bestand aus massivem Stein, ehemals sicher mal weiß gewesen, an diesem heißen Julitag des Jahres 2004 nur noch ein schmuddeliges Grau mit schwarzen Stellen, wahrscheinlich Schimmel.

Maik und Steve öffneten die modrige Holztür und gingen in das Häuschen. Im Inneren stank es nach Fäulnis. Durch die verdreckten Fenster kam gerade so viel Licht, dass man erkennen konnte, dass es drinnen ein paar alte Gartenstühle und einen großen, leeren Schrank gab. Ansonsten war nichts in dem Häuschen.

Maik und Steve sahen sich an und sagten im Chor: „Cool“.

„Was meinst du, was das hier ist?“, fragte Steve.

„Keine Ahnung, war vielleicht mal die Hütte eines Försters.“

Steve fuhr mit dem rechten Zeigefinger über einen der Gartenstühle, wodurch sich auf seinem Finger eine dicke, schwarze Schicht ansammelte. „Ich würde denken, es wurde vor langer, vor sehr langer Zeit mal als Klubhaus oder so von Jugendlich okkupiert. Ich meine, die Gartenstühle sagen doch alles.“

Maik blickte sich in der Hütte um. „Da kannst du Recht haben. Aber jetzt scheint hier jedenfalls niemand mehr drin zu sein. Sieht für mich zumindest sehr verlassen aus.“

„Ja, das denke ich auch“, sagte Steve. Er dachte kurz nach, dann sah er Maik an. „Hey, was hältst du davon, wenn das jetzt unser Klubhaus ist?“

Maik zog die Augenbrauen hoch.

„Ich wette, wenn wir hier ein bisschen sauber machen, würde die Hütte hier ein erstklassiges Klubhaus abgeben.“

„Ich weiß nicht. Meinst du wirklich, die Mühe ist das wert?“, fragte Maik.

„Klar, wir müssen nur ein oder zwei Tage ordentlich anpacken und dann können wir den Rest der Ferien hier ungestört Spaß haben“, meinte Steve euphorisch.

Und sie packten ordentlich an. Nach einem Tag blitzte und glänzte es in dem Häuschen. Maik und Steve fuhren jeden Tag dorthin und hatten jeden Tag zusammen Spaß, weit weg von anderen Menschen. Sie richteten sich in der Hütte häuslich ein und erzählten niemanden (fast niemandem) von ihrem Zufluchtsort. Sie machten ihre ersten Erfahrungen mit Alkohol und Drogen und verlebten zu zweit die schönsten Sommerferien ihres Lebens.

Der Maik aus dem Jahre 2007 wollte am liebsten mit dem 15-jährigen Maik tauschen. Wie er so über den Sommer von 2004 nachdachte, huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Das war die schönste Zeit in seinem Leben. Und es war auch der letzte Sommer, den er mit Steve verbrachte. Steves Tod machte Maik immer noch sehr zu schaffen.

Ach Steve, wenn du doch noch leben würdest. Ich könnte dich jetzt echt gut gebrauchen, dachte er, vor seinem unangerührten (fast schon nicht mehr dampfenden) Kaffee sitzend.

Maik war seit Steves Tod nicht mehr in der Hütte gewesen. Wer weiß, vielleicht gab es sie ja schon längst nicht mehr. Oder vielleicht würde sie auch noch genau so aussehen, wie an dem Tag, an dem beide das letzte Mal dort waren.

Einen plötzlichen Instinkt folgend, sah Maik auf die Uhr. Er hatte bereits eine halbe Stunde lang seinen Kaffee umgerührt und in Erinnerungen geschwelgt. In einem Zug trank er nun aus (ähnlich wie vorhin seine Mutter), stellte sein schmutziges Geschirr in die Spüle und ging nach oben, um sein Schulzeug zu holen.

Ein harter Schultag stand ihm bevor.

4

Das Albert-Einstein Gymnasium war nichts Besonderes. Es war drei Stockwerke hoch, hatte einen Vorplatz mit Parkanlagen, Grünflächen und Sitzbänken mit Tischen. Zirka fünfzig Meter östlich stand die quaderförmige Sporthalle. Hinter der Schule befand sich ein kleiner Möchte-gern-Erholungspark, bestehend aus ein paar Eichen, wahllos und ungeordnet angepflanzt. Etwas über tausendzweihundert Schüler besuchten die Schule von der fünften bis zur zwölften Klasse. Eine typische Kleinstadtschule, ohne Auffälligkeiten oder besondere Merkmale.

Maik lag noch recht gut in der Zeit. Sechs Minuten vor Unterrichtsbeginn kam er an den Fahrradständern an. Viele seiner Mitschüler kamen mit dem Auto, doch wenn man einen der wenigen Parkplätze ergattern wollte, musste man mindestens eine viertel Stunde eher da sein. Für Maik lohnte sich eine Autofahrt nicht, mit dem Fahrrad kam er schneller durch die Stadt, als mit dem Auto. Außerdem hätte er es sich gar nicht leisten können, jeden Tag Benzin zu verbrauchen. Sein Computer sowie seine Büchersammlung kosteten ihn sein ganzes Taschengeld. Und um nach der Schule arbeiten zu gehen, wie es die meisten Autofahrer taten, hatte er nicht genug Zeit (auch aufgrund von Computer und Büchersammlung).

Als Maik die steinerne Treppe hinauf schritt und ins Gebäude ging, klingelte es gerade. Es war das Vorklingeln, das den Unterrichtsbeginn in fünf Minuten ankündigte. Auf dem schwarzen Brett las Maik, dass es keine Veränderungen im Unterrichtsplan für ihn gab, keine Ausfälle, keine Vertretungen, nichts. Alles wie immer.

In den ersten beiden Stunden hatte er Deutsch, bei Herrn Schmidt. Mit Unbehagen ging er rauf in den zweiten Stock, ins Deutschzimmer. Die meisten seiner Mitschüler im Kurs waren schon da und saßen, noch halb im Traumland, auf ihren Plätzen. Nur die üblichen Verdächtigen, die prinzipiell zu spät kamen, fehlten. Aber auch sie würden noch kommen.

Maik setzte sich auf seinen Platz, holte schnell einen Block und einen Stift aus der Tasche und ließ dann seinen Kopf auf den Tisch sinken. Es war zwar keine bequeme Art zu schlafen, dennoch empfand er Schulschlaf als den gesündesten. Wäre da nicht das Stundenklingelzeichen gewesen, das Maik unsanft aus dem kurzen Zweiminutenschlummer riss. Herr Schmidt saß auf seinem Lehrerstuhl und hatte das Kursbuch vor sich aufgeschlagen, als Maik seinen Kopf hob und nach vorn sah.

„Irgendjemand krank?“, fragte Herr Schmidt den Kurs. Er machte, wie jeden Morgen eine Anwesenheitskontrolle.

Keine Reaktion der Klasse.

Herr Schmidt sah von dem Buch auf und zählte durch. „Aha, Herr Lehmann mal wieder. Unser Langschläfer.“

Maik zog es vor, noch etwas weiter zu schlafen und legte seinen Kopf wieder auf den Tisch. Die meisten seiner Mitschüler taten es ihm gleich. An einem Freitagmorgen hatte keiner Lust, aufzupassen. Alle warteten nur auf das Unterrichtsende, um ins langersehnte Wochenende starten zu können.

„Und Herr Konrad fehlt auch mal wieder“, bemerkte Schmidt.

In diesem Moment öffnete sich die Tür und zwei weitere Schüler betraten das Zimmer.

„‘tschuldigung“, sagten beide gelangweilt im Chor und gingen auf ihre Plätze.

„Darf ich den Grund für eure Verspätung erfahren?“

„Verschlafen“, war die lapidare Antwort, ohne den Lehrer anzusehen.

Herr Schmidt neigte in einem kleinen Winkel leicht den Kopf und sagte: „Ach, und ihr beide habt natürlich gleichzeitig verschlafen.“

Keine Antwort.

„Na ja, wie dem auch sei. Jetzt sind ja alle da, dann können wir ja anfangen.“ Herr Schmidt stand auf und betrachtete die Klasse. „Ich bitte die Tischschläfer das Schlafen einzustellen und sich auf den Unterricht zu konzentrieren ... Danke.“

Maik hatte es tatsächlich geschafft auf dem harten Tisch, ohne Kissen, einzuschlafen. Es war ein traumloser und vor allem kurzer Schlaf. Denn Herr Schmidt ging langsam auf Maiks Platz zu und stellte sich vor den Tisch. Er sah auf Maik herab, dessen Kopf in Richtung Wand gerichtet war. Herr Schmidt fasste mit einer Hand in seine Hosentasche und zog einen Schlüsselbund heraus. Er streckte die Hand mit dem Schlüsselbund über den freien Teil von Maiks Tisch - und öffnete sie.

Ein lauter Knall war zu hören, auf den sich die anderen Schüler (außer vielleicht zwei oder drei weitere Schlafende) vorbereiten konnten; Maik jedoch nicht. Erschrocken hob er seinen Kopf.

„Oh, habe ich Sie geweckt, Herr Beyer? Ich bitte um Entschuldigung“, sagte Herr Schmidt mit gespielter Erschrockenheit.

War ja klar, dass der mir das von gestern Abend heimzahlt, waren Maiks erste Gedanken. Aber ich darf mir nichts anmerken lassen. So sagte Maik: „Schon gut Herr Schmidt, wir alle machen Fehler.“

Die Klasse lachte. Mit dieser frechen Antwort hätte keiner gerechnet. Auch Maik musste sich ein Kichern verkneifen, deshalb lächelte er nur schwach. Herr Schmidt jedoch fand diese Bemerkung nicht so amüsant.

„Herr Beyer, ich hoffe Sie haben nicht vergessen, worüber wir uns gestern Abend unterhalten haben...“

Du meinst wohl, worüber Du gestern einen Monolog gehalten hast.

„ ... Und mit solchen Äußerungen wie gerade eben, machen Sie alles nur noch schlimmer.“

Maik riss sich zusammen, darauf keine weitere sarkastische Bemerkung zu erwidern. Er durfte es nicht zu weit treiben, das wusste er. Auch wenn er nicht viel von Herrn Schmidt hielt, so musste er dennoch eingestehen, dass er der Mächtigere wäre, wenn es hart auf hart käme. Und er durfte es sich nicht erlauben, von der Schule zu fliegen.

Nach einer kurzen Zeit des Schweigens drehte sich Herr Schmidt um und ging wieder vor an seinen Tisch. Dann folgte der übliche Unterricht, den Maik im Halbschlaf, natürlich nun mit offenen Augen - das hatte er trainiert - an sich vorüberziehen ließ, wie einen Film, den man nur des Flimmerns wegen guckt, ohne auf den Inhalt zu achten.

5

Die Frühstückspause ließ lange auf sich warten. Herr Schmidt bombardierte Maik in regelmäßigen Abständen mit subtilen Seitenhieben, welche dieser, schlafenderweise, gar nicht mitbekam. Das war sicher auch besser so, Maik hätte sich angegriffen gefühlt und mit einer unüberlegten und folgenschweren Reaktion aufgewartet, welche das vorzeitige Ende seiner schulischen Laufbahn bedeutet hätte.

Maik hatte sich für die Pause vorgenommen, das Wetter draußen zu genießen und dabei ein paar Schnitten zu essen. Es würde sich mal wieder niemand zu ihm setzen, man würde ihn wieder vollkommen ignorieren. Das wusste er. Doch ihm machte das nichts aus, er war es gewöhnt und genoss die Ruhe.

Als er das Gebäude verließ, nahm er zwangsweise einen tiefen Zug Zigarettenrauch zu sich. Im Albert-Einstein Gymnasium gab es fünf verschiedene Sorten Schüler: Die erste Sorte waren die Nichtraucher; die zweite waren die Art Raucher, die nach anstrengenden Klausuren oder inmitten eines harten Schultages eine oder auch mal zwei rauchten. Dann gab es noch eine dritte Sorte, die nicht des Genusses wegen, sondern der Raucher wegen, mit denen sie sich unterhalten wollten, rauchten. Diese Gruppe fand eigentlich keinen Gefallen am Rauchen selbst, nur an den gesellschaftlichen Interaktionen während des Rauchens. Die vierte Gruppe waren die langsamen, bedächtigen Raucher, die nur in den großen Pausen - wie Frühstücksoder Mittagspause - rauchen gingen. Dafür aber richtig. Die kleinen Pausen waren ihnen zu kurz. Aber sie wollten auch nicht ganz aufs Rauchen in der Schulzeit verzichten und quarzten dafür in den großen Pausen eine nach der anderen. Die fünfte und letzte Gruppe waren die Extremisten, die in jeder Pause, auch wenn sie nur fünf Minuten lang war, raus gingen und rauchten. In den fünf Minuten schafften es manche Schüler (Gruppe 4) nicht einmal das Klassenzimmer zu wechseln und auszupacken. Und in dieser Zeit hatte sich diese fünfte Gruppe schon eine Dosis Nikotin in drei Riesenzügen einverleibt.

Als sich Maik in Richtung Sitzbank bewegte, um sein Frühstück zu sich zu nehmen, waren alle Gruppen, außer Gruppe 2, vertreten und verzehrten ihr „Lungenbrötchen“, wie es in Fachkreisen genannt wurde.

Passivrauchen ist gespartes Geld, dachte sich Maik und setzte sich auf eine Bank, die ganz von den Strahlen der morgendlichen Sonne erfasst wurde.

Maik hatte früher mal

(mit Steve)

geraucht, gab es aber kurz nach Steves Tod auf. Es war auch mehr Dummheit, als Genuss oder Sucht. Sie beide rauchten zum Vergnügen, um es „mal ausprobiert“ zu haben. Maik erinnerte sich noch genau, wie beide nach jedem Zug - anfangs Backe, später dann auf Lunge - einen schrecklichen Hustenanfall bekamen. Mit der Zeit wurde das Husten weniger, bis es sich letztendlich ganz auflöste. Aber bei beiden stellte sich nie eine Sucht ein (sofern man das bei Steve im Nachhinein beurteilen kann). Es rauchte auch keiner von beiden jemals allein. Sie rauchten nur gemeinsam.

Maik fühlte sich mit einem Mal wieder in die traurige Realität zurückversetzt. Da saß er. Allein. Ohne Steve. Ohne Freunde. Ohne irgendjemanden. Er fühlte sich schmerzlich einsam. Wäre doch nicht dieser eine Tag im April gewesen. Der „Schicksalstag“, wie er ihn immer nannte. Der Tag, der sein Leben so schlagartig und nachhaltig veränderte.

Die erste Schnitte war mit Schokoladencreme bestrichen und schmeckte hervorragend. Während Maik sie genussvoll aß, beobachtete er die anderen Schüler, die, sich unterhaltend, beieinander standen und lachten und rauchten. Von den künstlich angepflanzten Bäumen drang Vogelgezwitscher hervor. Kauend sah Maik zu den Bäumen und dann wieder zurück zu einer Gruppe Zwölftklässler.

Und da stand sie. Das wohl schönste Mädchen, das Maik je gesehen hatte. Braune Haare, mittelgroß, Beine bis zum Hals und ein Lächeln, das selbst den Papst bezaubert hätte. Sie trug Jeans und ein weißes Girly-Hemd und unterhielt sich angeregt mit den Umstehenden. Jedesmal wenn sie lachte, setzte Maiks Herz kurz aus, um dann mit rekordverdächtiger Geschwindigkeit kraftvoll weiterzuschlagen.

Maik wünschte sich nichts sehnlicher, als jetzt einer der Schüler in dieser Gruppe zu sein, und mit diesem Engel auf zwei Beinen reden und mitlachen zu dürfen. Verdammt, er hätte sogar geraucht, nur um bei ihr stehen zu können. Seine Gedanken kreisten nicht mehr um Steve, sondern um das Mädchen. Jennifer hieß sie, soviel wusste Maik.

Was sie wohl unter der Jeans trägt?

(Halt die Klappe, Maik)

Vielleicht nichts...

(Jetzt halt endlich die Klappe!)

Es fiel Maik schwer, vernünftige Gedanken zu fassen. Es schien ihm, als hätte ihm jemand die Schädeldecke geöffnet und mit einem Quirl in seinem Hirn rumgerührt. Hätte ihn jemand angesprochen, er hätte nur unsinniges, nicht zusammenhängendes Kauderwelsch von sich gegeben. Er hätte nicht einmal seinen Namen hervorgebracht.

Ein innerer Instinkt befahl ihm, zu Jennifer hinzugehen, doch er fürchtete, erstens nicht den Mut dafür aufbringen zu können, zweitens von der Gruppe dumm angesehen zu werden und drittens zu stottern, wenn er ihr gegenüberstünde. So entschied er sich, sitzenzubleiben.

Hat sie mich gerade angesehen? Oder jemanden, der hinter mir steht? Maik drehte sich um, doch da stand niemand. Sie hat tatsächlich mich angesehen. Nur kurz, vielleicht eine halbe Sekunde. Aber sie hat mich angesehen. Und ich hab sie angesehen.

Maiks Herz war kurz davor, zu explodieren. Es klopfte zuweilen so schnell, dass sein Puls jenseits des messbaren Bereiches liegen musste.

Hoffentlich denkt sie nicht, ich starre sie an.

Warum sollte sie das? Es war nur eine halbe Sekunde.

Aber eine halbe Sekunde ist eine halbe Sekunde.

Die zweite Schnitte war belegt mit Salami, mit ungarischer Salami – das ist die Beste. Sonst hätte Maik alles um sich herum vergessen, die Augen geschlossen und die Salami genossen. Doch jetzt aß er nur im Hintergrund. Vordergründig sah er (starrte er) Jennifer an. Ihre Bewegungen waren so grazil, ihr Körper so wohlgeformt und ihr Lachen ... unbeschreiblich.

Die Zeit verging schnell. Das Vorklingelzeichen ertönte, welches Noch-fünf-Minuten-bis-Unterrichtsbeginn ankündigte. Jennifer und die anderen gingen zurück ins Schulgebäude. Maik packte seine leere Tupperdose in seinen Rucksack und machte sich auch auf den Weg zurück ins Gebäude.

Die restlichen Unterrichtsstunden bis zur Großen Pause vergingen wie im Flug. Maik bekam von ihnen nichts mit, er war in Gedanken bei Jennifer. Er sah sie vor seinem geistigen Auge, mit ihren tiefen braunen Augen, in denen man sich verlieren konnte. Er war wie in Trance, wie bei einer Hypnose. Normalerweise schrieb er wenigstens das Tafelbild ab, auch wenn er in Gedanken ganz weit von der Schule entfernt war. Aber heute schrieb er nichts in seine vor ihm liegenden Hefter. Den meisten Lehrern war das egal, aber es gab ein paar wenige, denen das überhaupt nicht egal war. Diese machten erst einen „Wink mit dem Zaunspfahl“, den Maik jedoch verständlicherweise nicht mitbekam, dann ermahnten sie Maik direkt mit einer Floskel wie: „Herr Beyer, die Schule ist nicht zum Träumen da“ oder „Es wäre schön, wenn alle aufpassen würden“ und blickten Maik dabei scharf an. Wenn dieser das dann immer noch nicht realisiert hatte, erhoben sie ihre Stimme oder klopften mit der flachen Hand auf den Tisch – das entriss Maik dann endlich von seinen Tagträumen. Er blickte sich dann erschrocken um und tat so, als schriebe er mit und wäre aufmerksam. Doch es dauerte meistens nicht lange, bis er wieder an Jenifer dachte, die in seinen Gedanken auf ihn wartete, wo Schule und Unterricht Fremdwörter waren.

6

Maik wollte sie wieder sehen. Es war eine Sache, sie in Gedanken eingehend zu betrachten, doch eine andere, sie in Natura zu sehen. Sie würde wahrscheinlich wieder draußen sein, mit ihren Kumpels und rauchen.

Soll ich sie ansprechen?

Was willst du denn sagen?

Keine Ahnung. Irgendwas banales. Mir wird schon was einfallen.

Wenn du meinst...

Sein vernünftiges Ich war sich nicht so sicher, ob ihm etwas triviales, unterhaltendes einfallen würde, wenn er vor Jennifer stünde. Doch sein verliebtes Ich sah das etwas lockerer. Es war bestrebt eine Unterhaltung mit dieser Schönheitskönigin zu führen. Und zur Zeit hatte das verliebte Ich die Kontrolle über Maiks Körper.

Als Maik das Gebäude verließ, erblickte er Jennifer bereits. Sie stand neben einem gutaussehenden blonden Zwölftklässler - Frank war sein Name, soweit Maik wusste - an den Parkplatzanlagen. Frank besaß einen nagelneuen Audi A4 von seinem Vater, an dessen Front Jennifer und er standen.

„Verflucht“, murmelte Maik. In Gedanken schrie er es sogar. Dieser blöde Arsch ist mir zuvorgekommen.

Frank sagte anscheinend gerade etwas lustiges, vermutete Maik, er konnte es ja nicht hören - zumindest lachte Frank, und Jennifer stimmte in sein Lachen ein. Das wäre ja noch nicht mal so schlimm gewesen, doch Frank legte dabei geschickt einen Arm um Jennifers Taille. Das trieb Maik die Zornesröte ins Gesicht. Seine Hände hatte er unmerklich zur Faust geballt.

Frank ließ von Jennifer ab, ging zur Beifahrertür, öffnete diese und bedeutete ihr mit einer Guten-Tag-Madame-Ich-werde-heute-Ihr-Chauffeur-sein Geste, sie solle einsteigen, wobei er sich mehr als nötig verneigte, wie ein schlechter Schauspieler, der seine Rolle etwas zu ernst nimmt.

Jennifer lächelte und entblößte dabei makellose, gerade, weiße Zähne und stieg ein. Frank schloss behutsam die Tür, ging auf die andere Seite und stieg ebenfalls ein. Er startete den Motor, fuhr rückwärts aus der Parklücke und verschwand.

Weg.

Maiks Hände hatten sich inzwischen so stark zusammengeballt, dass die Knöchel weiß hervortraten und die Fingernägel (glücklicherweise, wie für einen Jungen üblich, nicht so lang, sondern kurz geschnitten) ins Fleisch stachen. Sein Blick drückte die pure Verachtung aus, Verachtung gegenüber Mr. Blödarsch Frank.

Ich würde zu gern wissen, wo der Mistkerl sie hinfährt und was sie dort machen.

Nein, das willst du nicht wissen, sagte ihm sein rationaler Verstand. Reg dich nur nicht zu sehr auf. Sie ist einfach nur in seinen Angeberwagen gestiegen und jetzt fahren beide wahrscheinlich ins Einkaufszentrum oder so. Nichts besonderes. Ein üblicher Fahrdienst.

Ach Quatsch, das glaubst du doch selbst nicht, widersprach der wütende Teil von Maiks Verstand. Ich kann mir schon denken, was der Kerl vorhat.

Aber du kannst es nicht ändern, sagte die rationale Stimme sachlich.

Ich wette, er stellt schmutzige Dinge mit ihr an.

Jetzt hör auf mit dem Quatsch. Es bringt nichts, sich darüber den Kopf zu zermartern.

Er will sie verdammt noch mal ficken, setzte der andere Teil in Maiks Denken fort.

Hör auf damit!!!

Die vernünftige Stimme in ihm hatte jetzt so laut geschrien, dass sie den wütenden Teil erst mal ruhiggestellt hatte. Maik war wieder in der Lage, normale Gedanken zu fassen. Da ist sie halt weg. Schön. Macht doch nichts. Sie kommt wieder. Etwa drei Minuten verharrte Maik in dieser starren Haltung, auf den Parkplatz blickend, das Gesicht, sowie die Hände zur Faust geballt.

Als ihm klar wurde, dass Jennifer wohl so bald nicht wiederkommen würde, drehte er sich um und ging zurück ins Schulgebäude. Die Sonne, der strahlend blaue Himmel und die frische Luft kotzten ihn an, genauso wie das monotone, stupide Zwitschern der Vögel. Wenn er doch nur einen kleinen Revolver mit Zielfernrohr hätte, dann könnte er diese Nervensägen abschießen, ruhig stellen.

Auch die anderen Schüler - die älteren, die nur dastanden und sich rauchend unterhielten und die jüngeren, die rumrannten, tobten und sich gegenseitig lauthals jagten - gingen Maik auf die Nerven. Wenn doch nur alle still auf ihren Plätzen im Klassenzimmer sitzen könnten, anstatt hier so einen Krawall zu veranstalten. Maik war frustriert. Der Tag, der noch während der Frühstückspause schön zu werden versprach, ödete ihn an. Es war mal wieder zum Mäusemelken. Da hatte er endlich die innere Feigheit überwunden und wollte sie ansprechen – schon ging alles schief. Er fragte sich, ob er wohl zu einem anderen (späteren) Zeitpunkt wieder den Mut haben würde, sie anzusprechen. Er bezweifelte es.

Dieser dämliche Frank. Frank Blödarsch Großer – du kriegst Jennifer nicht, soviel steht fest, schwor sich Maik.

Er wollte gerade das Klassenzimmer betreten, in dem er noch zwei Stunden rumgammeln musste, bis er endlich nach Hause durfte, da versperrte ihm Daniel Betka den Weg, der als Klassenrowdy bekannte Muskelprotz. Er wurde von jedem einfach nur „Der Schrank“ genannt.

Oh nein, nicht der auch noch. Den ertrage ich jetzt wirklich nicht. Heute geht aber auch alles schief.

„Hey Maiky Boy. Unser kleiner Außenseiter sitzt ja draußen gar nicht allein auf seiner Bank und beobachtet Vögel“, stichelte Daniel.

Maik hatte keine Lust, sich mit „dem Schrank“ rumzuärgern und versuchte die Sache so schnell wie nur möglich hinter sich zu bringen. „Nein, Daniel, dieses Mal nicht“, sagte er knapp und versuchte, an Daniel vorbeizukommen. Doch dessen überbreite Schultern machten ihm das unmöglich.

„Wir sind noch nicht fertig“, sagte Daniel scharf.

Aha wir, du meinst du bist noch nicht fertig. Mein Bedarf an Scheiße ist für den Tag gedeckt. „Was gibt’s denn, Daniel?“, fragte Maik.

„Mir gefiel dein Spruch in Deutsch. Bei Schmiddy. ‚Wir alle machen Fehler‘, weißt du noch?“

Damit hätte Maik nun wirklich nicht gerechnet. Er hätte gedacht, Daniel würde ihn mal wieder runtermachen, ihm sagen, was für ein Versager er sei, wie jämmerlich und so weiter. Und jetzt sagte er, ihm gefiel, was Maik in Deutsch gesagt hatte. „Irgendjemand musste doch Schmiddy `nen Dämpfer verpassen“, versetzte Maik langsam.

Daniel brach in schallendes Gelächter aus. Maik stimmte gekünstelt ein, er wollte „den Schrank“ nicht verärgern. „Oh ja, da hast du Recht. Der Typ braucht das.“ Daniel klopfte Maik auf die Schulter und sagte: „Ich hätte dich gar nicht so eingeschätzt. Ich dachte immer, du wärst einer dieser dämlichen Streber.“

Maik sah Daniel an, überlegte kurz, und sagte: „Tja ... wir alle machen Fehler.“

Und schon lachten beide wieder los, Daniel noch lauter als vorher. „Nicht schlecht. Nicht schlecht.“ Seine riesige, schwere Pranke klopfte noch ein paar Mal auf Maiks Schulter, bis er sie dann endlich, erlösend, wieder wegnahm. Betka hatte wirklich ungeheure Kraft in den Armen. Er hätte locker einen Menschen in der Luft zerreißen können, ohne sich großartig anstrengen zu müssen. Er merkte es wahrscheinlich auch nicht, wenn er jemanden wehtat, indem er ihm auf die Schulter klopfte. Aber es sagte ihm auch keiner, dass er eine etwas brutale Methode hatte, seine Sympathie zu zeigen. Diesem Menschen gegenüber verhielt man sich am besten sparsam mit Kritik.

Wir alle machen Fehler. Dieser Spruch fing an, Maik zu gefallen. Er war ihm ganz spontan eingefallen, als er Deutschlehrer-Schmiddy-Klugscheißer verbal eins auswischen wollte. Und jetzt hatte ihm der Spruch die Sympathien von Daniel eingebracht, einem Kerl, dem man lieber nicht im Dunkeln begegnen wollte, und dessen Verhalten sich durch Destruktivität und Vorurteile gegen jedweden Andersartigen auszeichnete.

Das war anscheinend alles, was Daniel zu sagen hatte (Er war generell ein Mann weniger Worte, wie man so schön sagt. „Erst schießen, dann reden“). Er bewegte seinen gewaltigen Körper aus dem Türrahmen zur Seite und ließ Maik passieren, indem er ihm kurz zunickte, quasi als offizielles Ende des Gespräches - sofern Maik Daniels Verhalten richtig deutete.

Gerade als Maik zu seinem Platz gehen wollte, klopfte Daniel ihm abermals auf die Schulter. Erschrocken drehte Maik sich um.

„Auch wenn es den anderen nicht gefällt“, begann Daniel gedehnt. Er schien jedes Wort, das über seine Lippen kam, zu genießen; fast so, als würde er damit zum Ausdruck bringen, dass er der Boss ist und sich von den anderen nichts sagen lässt, „aber bei mir steigt morgen Abend `ne Party und wenn du Lust hast, kannst du vorbei kommen. Bring zwei Euro mit und du kannst soviel trinken, wie du willst. Meine Eltern sind nicht da, also mach dich auf `ne Party der übelsten Sorte gefasst.“

„Okay, ich komm vorbei“, versicherte Maik.

„Das möchte auch sein. Ich unterbreite so ein Angebot auch nur einmal, und wenn es nicht wahrgenommen wird, ist das für mich ein Zeichen von Respektlosigkeit.“

„Das verstehe ich“, sagte Maik schnell. „Ach ja ... danke.“

Daniel tat Maiks „Danke“ mit einer Handbewegung ab und nahm seine Hand abermals von dessen Schulter.

Maiks Freude über das eben erfolgte Gespräch war leider nur von kurzer Dauer. Als er allein auf seinem Platz saß (die Pause würde noch ein Weilchen dauern) und aus dem Fenster sah (das ausgerechnet noch in Richtung Parkplatz zeigte), fiel ihm wieder Jennifer ein, wie sie mit Frank in seinen Wagen gestiegen war. Wie sie gelacht hatte. Wie sie weggefahren sind.

Franks Auto war noch nicht wieder da. Wie denn auch, sie sind doch eben erst weggefahren, sagte Maiks Verstand. Den Kopf auf seinen Händen abgestützt, als wäre er zu schwer, um nur vom Hals gehalten zu werden, sah Maik nach draußen, zu den Autoparkplätzen und obwohl er nicht darüber nachdenken wollte, überlegte er, was die beiden in diesem Augenblick wohl machten (und wie lange sie das machten). Unmerklich machte er ein verbittertes Gesicht. Er hatte weder seine Unterrichtsmaterialien ausgepackt, noch ein Mittagessen zu sich genommen.

Die Minuten verrannen (Franks A4 war immer noch nicht wieder da); das Klassenzimmer füllte sich. Daniel sah ab und an zu Maik herüber, was dieser nicht mitbekam. Manche Schüler spielten Skat, andere unterhielten sich und wieder andere aßen. Es gab sogar welche, die auf ihren (un)gemütlichen Tischen ihre Köpfe zum Schlafen hingelegt hatten. Maik sah weiterhin zum Parkplatz runter. Franks A4 war immer noch nicht wieder zurück...