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Seit ihrem ersten Fall zählt die Frankfurter Kommissarin Julia Durant zu den beliebtesten Ermittlerinnen in Deutschland. Ihre Leser lieben ihre manchmal spröde, kompromisslose, immer aber von großer Empathie geprägte Art. In ihrem 15. Fall bekommt es Julia mit einem Mörder zu tun, der sich selbst »Die Hyäne« nennt: Er mordet scheinbar ohne Plan und schickt die Eingeweide seiner Opfer an die Polizei.
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Andreas Franz / Daniel Holbe
Die Hyäne
Julia Durants neuer Fall
Knaur e-books
Er nennt sich selbst »Die Hyäne« – er mordet scheinbar ohne Plan – er weidet seine Opfer aus – und schickt ihre Eingeweide an die Polizei.
Zunächst scheint schnell ein Schuldiger gefunden, doch Julia Durant kommen bald Zweifel, denn es geschehen weitere Morde – auch als der Verdächtige längst festgenommen ist. Wer ist der Serienkiller, der Opfer ohne innere Organe hinterlässt? Bei ihren Ermittlungen stößt Julia auf einen Stalker, der der Polizei bereits bekannt ist und der sich nach Meinung der Kommissarin etwas zu selbstbewusst aufführt. Sollte er die gesuchte »Hyäne« sein?
Die häßliche Gestalt und die schauderhaft lachende Stimme der gefleckten Hiäne […] Man versicherte, daß die scheußlichen Raubthiere die Stimme des Menschen nachahmen sollten, um ihn herbeizulocken, dann plötzlich zu überfallen und zu ermorden;
unter sämmtlichen Raubthieren ist sie unzweifelhaft die mißgestaltetste, garstigste Erscheinung.
Alfred E. Brehm, Zoologe
aus Brehms Thierleben, 1864
Wahrlich ist der Mensch der König aller Tiere, denn seine Grausamkeit übertrifft die ihrige.
Leonardo da Vinci, Universalgelehrter um 1500
Er spürte es nicht, wenn er sich verwandelte. Wenn das Tier in ihm die Oberhand gewann. Wenn die menschliche Hülle von ihrem inneren animalischen Instinkt kontrolliert wurde.
Darius trat das Gaspedal durch, und der Vierzylinder des Z3 entfaltete seine Kraft. Der Wagen hatte ihn ein kleines Vermögen gekostet, doch es war der Schein, der zählte. Eine elegante Hülle für den Menschen, der wiederum nur eine Hülle für das Tier war. Nach einigen biederen deutschen Automodellen, von denen Tausende auf den Straßen herumfuhren, hob Darius sich nun von den anderen ab. Er drehte die Musik lauter. Startete den Titel erneut, als er, wieder langsamer werdend, die Friedberger Landstraße hinauffuhr.
Animal! Living in a human suit …
Dass er den Text von AC/DC falsch verstanden hatte, wusste er nicht. Es spielte auch keine Rolle. Darius passierte die schillernde Fassade des alten Shell-Hochhauses, dessen getönte Glasfront dem Koloss neuen Glanz und Esprit verlieh. Dann die Fachhochschule. Alt, heruntergekommen, voller Graffiti und mit einem unerträglichen Parkplatzproblem. Er richtete seine Pilotenbrille gerade, die Ampel sprang auf Grün.
If you want blood – you’ve got it!
Der Refrain der schottisch-australischen Rocker hämmerte bassstark in seinem Ohr, die Subwoofer massierten ihm den Rücken. Einige Studenten sahen zu ihm her, manche kopfschüttelnd, doch diese neidischen Mienen blendete er aus. Das vereinzelte Grinsen einer Blondine in Jeans wog weitaus mehr, und ein erregter Schauer überkam ihn.
Darius hatte das Gymnasium in der Zwölften verlassen, ein Sakrileg, wie es ihm sein verstocktes Elternhaus stets vorzuhalten wusste. Doch während andere endlose Semester lang vor sich hin studierten, verdiente er seit einigen Jahren bereits gutes Geld. Nicht Unmengen, aber genug. Darius hatte ein geschicktes Händchen in Computerdingen und wusste sich überdies gut zu verkaufen. Er war kein Nerd, aber noch weniger war er ein Mister Universum. Ein unvorteilhaft schwülstiger Mund verunzierte sein Gesicht, und seine Ohren waren etwas zu groß geraten. Doch er wusste dies durch Mimik und Frisur zu überspielen.
Zehn Minuten später parkte er den tiefblau metallischen Roadster vor einem eleganten Einfamilienhaus in der Melsunger Straße. Seckbach. Frankfurts Nordosten, der, auf einer Anhöhe gelegen, über die Stadt zu wachen schien.
Marlen öffnete ihm. Sie hatte ein rundes Gesicht, umrahmt von dunkelblondem Haar, das ihr glatt hinab auf die Schultern fiel. Sie trug ein blaues Sommerkleid, welches ihre wohlproportionierte Oberweite betonte.
»Hi«, säuselte sie mit einem neckischen Lächeln. »Schickes Auto.«
Ihre Mütter hatten einst gemeinsam entbunden, und aus diesem Zufallskontakt war eine Freundschaft geworden. Dass ihre Väter finanziell in derselben Liga spielten, hatte diesen Umstand begünstigt. Zwischen Marlen und Darius hingegen hatte es nie eine engere Freundschaft gegeben. Vor einer Woche waren sie sich nach Jahren zufällig begegnet und hatten unweit des Römers einen Kaffee miteinander getrunken. In ihrer unbedarften Offenheit hatte Marlen ihn dann zum Frühstück eingeladen. Sie paukte gerade für eine Seminararbeit und lebte noch zu Hause, ihre Eltern waren für sechs Wochen in Neuseeland.
»Danke.« Darius vermied ein breites Lächeln, weil es ihn aus seiner Sicht verunstaltete, und schürzte stattdessen die Lippen zu einem schelmischen Schmunzeln.
»Wollen wir?«, fragte sie.
Es roch nach Rührei mit Bacon, Toast, und er vermutete außerdem gebackene Bohnen und frisch gepressten Saft. Aus ihrer Liebe zum Kochen hatte Marlen kein Geheimnis gemacht, ebenso wenig wie aus ihrer Aufgeschlossenheit gegenüber verheirateten Männern, die sie in den vergangenen Jahren von einer unglücklichen Beziehung zur anderen geführt hatte. Zwei einsame Menschen. Schicksal war eine menschliche Erfindung, in der Tierwelt gab es so etwas nicht.
Doch Darius war überzeugt davon, dass ihr Wiedersehen kein Zufall war. Er hatte Pheromone aufgetragen, Sexuallockstoffe, die er bei einem windigen Händler erworben hatte. Angeblich verstärkten diese die Anziehungskraft, die man auf das andere Geschlecht ausübte. Wobei eine Grundsympathie gegeben sein müsse, wie betont worden war. Doch ohne diese Sympathie säße er wohl kaum hier – hätte ihn Marlen nicht zu sich eingeladen.
Was ich will, wirst du schon bald merken, dachte Darius, als er ihren schwingenden Hintern beäugte. Er legte den Autoschlüssel auf einen Garderobentisch und folgte Marlen ins Wohnzimmer.
»Du machst heute Lernpause?«
»Ja.« Sie seufzte und klapperte mit dem Porzellan. Goss Kaffee ein, schob Darius eine Untertasse hin. »Muss auch mal sein. Wellness, Beauty, eine Haartönung und, na ja …« Marlen schwieg geheimnisvoll.
Darius ging nicht darauf ein. Er hatte sich unwillkürlich verkrampft, dabei schwappte heißer Kaffee aus der Tasse und verbrannte ihn. Er fluchte, und Marlen neigte fragend den Kopf. »Ist was?«
»Du tönst deine Haare? Das schöne Blond?« Darius liebte Blondinen, und Marlens Haare waren perfekt.
»Du Charmeur«, erwiderte sie verlegen und fuhr sich mit den Fingern durch das Haar. »Es ist spröde, ich brauche dringend mal eine Haarkur. Und eine Veränderung.«
»Ich mag keine Veränderungen«, gab Darius trocken zurück. Doch Marlen reagierte nicht darauf, sondern wurde wieder kess. »Hättest du mich gefragt, was ich eben mit ›na ja‹ meinte, dann wüsstest du, warum.« Sie schnitt knirschend ein Vollkornbrötchen auf und bestrich es mit Frischkäse, auf den sie Lachsscheiben mit Dillrand legte.
Darius seufzte und nahm eine Portion Bohnen in Tomatensauce. Dazu Rührei, welches er mit Schnittlauch bestreute. Marlen hatte sich große Mühe gegeben. Für ihn. Doch das mit den Haaren gefiel ihm nicht.
»Warum also die Typveränderung?«, ließ er sich auf ihr offensichtliches Spiel ein.
»Es gibt da vielleicht jemanden«, sprudelte es freimütig aus ihr heraus, so unbedarft, dass sie nicht einmal realisierte, als ihm der Bissen förmlich im Halse stecken blieb. Darius wurde heiß und kalt, und feinste Schweißperlen schossen aus seinen Stirnporen. Noch während er nach Worten rang, sprach Marlen mit halbvollem Mund weiter. Redete von einem Anwalt, natürlich verheiratet und deutlich älter, aber das sei wohl ihr ewiges Los. Besser ein paar sinnliche Monate mit einer neuen Affäre, anstatt einsam auf den Traumprinzen zu warten, der ohnehin nicht angeritten käme.
Darius verfluchte die Pheromone, sein PS-Ross und Marlen. War sie wirklich derart blind? Oder lag es an den vielfältigen Essensdüften, dass sie seinen Paarungsduft nicht wahrnahm?
»Ein Gläschen Sekt?« Sie plapperte offenherzig.
Er nickte tonlos. Beobachtete, wie sie sich mit flinken Fingern an dem Aluminium zu schaffen machte. Ein spitzes Quieken, sie sprang auf. Krümel rieselten von ihrem blau bedeckten Busen. Ein Blutstropfen löste sich von ihrem Finger und fiel auf die weiße Tischdecke.
»Mist, geschnitten«, zischte sie und saugte an der Kuppe ihres Zeigefingers. Der schwarze Rand ihres BHs lugte millimeterweit hervor, doch Darius’ Augen hafteten an dem Blutstropfen, der sich ins Stoffgewebe saugte. »Kannst du uns einschenken? Ich hole mir ein Pflaster.«
Flink verschwand sie in Richtung Bad. Darius sammelte sich langsam. Zwang sich, seine Gier zu beherrschen, bis er die Kontrolle hatte. Seine Hände legten sich um den Flaschenhals. Drehten den spitzen Draht auf, der Plastikkorken ploppte. Kein teurer Sekt. Keine frevelhafte Verschwendung, K.-o.-Tropfen hineinzuträufeln. Nervöses Aufperlen, dann beruhigte sich die hellgoldene Flüssigkeit wieder. Sekunden später kehrte Marlen zurück an den Tisch. Setzte ein Lächeln auf, als sie das Glas in die Hand nahm.
»Auf deine nette Einladung«, prostete er ihr zu.
Zwanzig Minuten später lag er auf ihr, das blaue Kleid nach oben geschoben, den Slip gierig beschnuppert und danach zur Seite geworfen. Die obersten Knöpfe hatte Darius geöffnet, massierte die Brüste mit seinen zart geformten Händen. Unter dem BH erhärteten sich die Papillen. Kleine, erbsenförmige Erhebungen entstanden, wuchsen an, schwellten wieder ab. Er suchte sie mit seinen Zähnen, biss vorsichtig zu, stets darauf wartend, dass Marlen nicht doch eine Regung zeigte. Aber sie lag nur da. Willenlos. Er konnte mit ihr machen, was immer er wollte. Nur das, was er sich am meisten gewünscht hatte, gab sie ihm nicht.
Liebe. Leidenschaft. Hingabe.
Mit nur wenigen Stößen erreichte Darius’ Geilheit seinen Höhepunkt, und er ergoss sich zitternd zwischen ihre Lenden. So schnell er gekommen war, so niederschmetternd war das Bild, das er nun vor sich hatte. Das Mädchen atmete flach, war völlig entspannt, hatte von dem animalischen Akt der Paarung nicht das Geringste mitbekommen.
Konnte er Frauen nur auf diese Weise haben?
Aggressivität nahm von Darius Besitz. Selbsthass, eine unbefriedigte Leere, gegen die er nichts tun konnte, als sich der halbnackten Beute erneut zu nähern.
Sie zu besitzen.
Animal – livin’ in a human zoo.
Das Tier war erwacht.
Die Morgensonne glühte mit aller Kraft und verlieh selbst den blassgrauen Leitplanken einen warmen Anstrich. Der feuchte Asphalt dampfte an den Stellen, die kurz zuvor noch im Schatten gelegen hatten. Auf der doppelspurigen Trasse blitzte ein Lichtreflex auf. Ein vorbeidonnernder Sattelschlepper. Seine Vibrationen waren selbst am Rand des Parkplatzes noch unter den Schuhsohlen zu spüren. Julia Durant kniff die Augen zusammen und zog ein letztes Mal an ihrer Gauloise. Als die Glut sich in den Filter brannte, stach die Hitze in ihren Lippen. Fluchend schnippte sie den Stummel hinter sich.
»Kommst du?«, erkundigte die Kommissarin sich bei ihrem Kollegen, der den Wagen noch nicht verlassen hatte.
Frank Hellmer schälte sich ächzend aus dem Dienstwagen.
»Was zum Teufel machen wir hier?«, fragte er mürrisch. In seiner Hand rasselte eine halbleere Packung Tic Tac, von denen er sich drei Stück einwarf, während er mit dem Ellbogen die Tür zustieß. Seine Augen waren unterlaufen, er klagte seit Tagen, schlecht zu schlafen. Wie Julia Durant gehörte er zum Frankfurter K 11, der Mordkommission, und seine Frage war berechtigt. Der Autobahnparkplatz Stauferburg an der A 45, der sogenannten Sauerlandlinie, lag weit außerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs.
Julia Durant ignorierte den missmutigen Tonfall, den Hellmer schon geraume Zeit an den Tag legte. Wenn er überhaupt sprach. Die meiste Zeit der Fahrt hatte er schweigend aus dem Fenster gesehen. Beabsichtigt oder nicht, er trug damit sein Desinteresse zur Schau, und das ärgerte Durant.
»Beate Schürmann wird seit über zwei Jahren vermisst«, setzte sie an, »und nach Monaten haben wir heute nun eine Spur. Entschuldige, wenn mir das nicht am Arsch vorbeigeht.«
»Hab ich was gesagt?« Hellmer reagierte gereizt und hob abwehrend die Hände. Dabei fiel Julias Blick auf einen handtellergroßen Kaffeefleck, der die linke Brusttasche seines Hemdes zierte. Demnach trug er dieselbe Hemd- und T-Shirt-Kombi wie am Vortag. Doch bevor die Kommissarin darauf eingehen konnte, wurde sie von einem herbeieilenden Beamten unterbrochen. Es handelte sich um einen stattlichen Hünen von eins neunzig, der die Kommissarin um mehr als einen Kopf überragte.
»Sind Sie die Kollegen aus Frankfurt?«
Er atmete angestrengt und deutete mit dem Zeigefinger auf das Nummernschild ihres Dienstwagens.
»Eins a Ermittlungsarbeit«, gab Hellmer sarkastisch zurück. Er hielt sich die Hand vor die Augen, denn der Kollege stand mit dem Rücken zur Sonne. Wahrscheinlich war das auch besser so, Julia hätte sich sonst noch für ihn schämen müssen. Normalerweise machte Hellmer keine schlechte Figur. Doch in letzter Zeit …
Sie schüttelte dem Kollegen, der sich als Kuschnierzky vorstellte, die Hand.
»Rainer genügt mir«, fügte er grinsend hinzu. »Mit meinem Nachnamen hat selbst die Personalabteilung auch nach fast vierzig Dienstjahren noch zu kämpfen.«
Julia zog ihren Dienstausweis, und sie tauschten sich kurz aus. Setzten sich dann in Bewegung. Ein feinmaschiger Wildzaun säumte den Parkplatz, dahinter lagen Wald und Felder. Die Münzenburg reckte ihre beiden Wehrtürme trotzig in den Himmel, eine rot-weiße Fahne flatterte auf der Spitze. Sie erreichten ein offen stehendes Metalltor, ein Trampelpfad verlief hindurch. Das Gras war weiträumig platt getreten und nur noch lückenhaft intakt. Eine plötzliche Brise trug den scharfen Geruch von Urin in ihre Nasen.
»Passen Sie auf, es gibt hier überall Tretminen«, riet der Beamte, und Julia ließ ihren Blick fortan nicht von ihren Fußspitzen weichen.
»Wozu gibt’s hier ein Klo?«, dachte sie laut, denn das graubraune, achteckige Gebäude war kaum zu übersehen. Während sie den schmalen Pfad entlangtrotteten, hörte sie Hellmer hinter sich etwas von Schwulentreffs und Prostitution brummen. Dann meldete sich auch schon wieder Kuschnierzky zu Wort: »Den Feldweg links runter, über die Landstraße und gleich wieder rauf. Dreißig Meter, Sie können’s nicht verfehlen.«
»Kommen Sie nicht mit?«
»Nein.« Er rang sich ein gequältes Lächeln ab. »Ich bin heilfroh, wenn mein Büro mich wiederhat. Ich bin Innendienstler. Mein Bedarf an Freigang ist für die nächsten paar Monate hinreichend gedeckt.«
»Nicht jeder ist für die Kripo geschaffen«, stichelte Hellmer aus dem Hintergrund. Er knisterte mit der Plastikfolie seiner Zigarettenpackung und fingerte im Inneren nach dem letzten Glimmstengel.
»Mein Kollege hat einen schlechten Tag erwischt«, entschuldigte sich Durant wispernd, doch Kuschnierzky winkte lächelnd ab.
»Kein Problem. Meiner Frau wäre es wohl auch lieber gewesen, wenn mein Job mehr dem eines Fernsehermittlers gliche. Aber dieser ganze menschliche Abschaum war mir immer eine Nummer zu groß. Macht Sie das nicht fertig?«
Die Kommissarin stockte, und ihr Blick verfinsterte sich. »Oh doch«, nickte sie nach einigen Sekunden bedächtig. Ein düsteres »Mehr, als Sie sich vorstellen können« verkniff sie sich.
Beate Schürmann war eine lebensfrohe Gymnasiastin gewesen, eine auf den Fotos recht kindlich wirkende Elfjährige, mit langen blonden Haaren. Das Fahndungsfoto zeigte sie mit einem breiten pinkfarbenen Haarreif, bis über beide Ohren grinsend. Es war nur wenige Tage vor ihrem Verschwinden aufgenommen worden. Auf dem Nachhauseweg zwischen Ober- und Nieder-Erlenbach, wo Beate mit ihren Eltern und einem älteren Bruder lebte, musste ihr jemand aufgelauert haben. So zumindest erklärten sich die Ermittler und die Familie das spurlose Verschwinden des Mädchens, das nach einer Gitarrenstunde zu Fuß zwischen den beiden dörflichen Gemeinden unterwegs gewesen war. Ihre Gitarre und ein Paar Rollerblades wurden unweit eines Bachlaufs gefunden, doch dabei blieb es. Zeugen gaben später an, einen weißen Opel Astra mit getönten Scheiben und einem auswärtigen Kennzeichen gesehen zu haben, doch weder diese noch andere Hinweise führten zu brauchbaren Ergebnissen. Beate hatte Bluejeans getragen, einen rosafarbenen Pullover, denn Rosa war ihre erklärte Lieblingsfarbe, wie ihre Mutter zu Protokoll gegeben hatte. Ob sie den Reif im Haar gehabt hatte, daran erinnerte sich niemand so recht, auch nicht die Gitarrenlehrerin.
Julia Durant hatte mehrfach mit Beates Eltern gesprochen, denn regelmäßig starteten diese in ihrer Verzweiflung private Suchaufrufe oder erkundigten sich im Präsidium, ob es nicht endlich etwas Neues gäbe. Die Kommissarin hätte alles dafür gegeben, wenn ihr der nächste Kontakt zu den Schürmanns erspart geblieben wäre. Die angestaute Hoffnung, das sehnsüchtige Flimmern in den Augen, über denen ein permanenter Schleier Tränenflüssigkeit lag. Familie Schürmann lebte noch immer in Nieder-Erlenbach, auch wenn das Fingerzeigen der Nachbarn sie kaputt machte. Jeder schien zu wissen, dass Beate längst tot war. Vergewaltigt, missbraucht, verscharrt. Man sah Derartiges doch ständig in den Medien. Doch sie würden nicht wegziehen. Nicht, solange sie Tag für Tag dafür beteten, dass ihr Mädchen wieder vor der Haustür stehen würde, als sei nichts geschehen.
Als Julia Durant in dem ausgewaschenen Graben einen pinkfarbenen Haarreif erkannte, wusste sie, dass nun alle Hoffnung gestorben war. Sie nahm einen schweren, tiefen Atemzug. Ihr Glaube an einen allmächtigen Gott, der die Menschen vor dem Bösen zu bewahren versprochen hatte, wurde in solchen Situationen einer Zerreißprobe unterzogen. Jedes Mal aufs Neue. Sie betete, dass der Tag von Beates Verschwinden und ihr Todesdatum nicht wesentlich auseinanderlagen. »Bitte mach, dass sie nicht zu lange leiden musste.«
Doch nach zwei Jahren würde eine solch präzise Todeszeitbestimmung kaum mehr möglich sein.
Starker Regenfall hatte ein längst vergessenes Betonrohr freigespült. In ihm hatte der Hund einer Joggerin in den frühen Morgenstunden den zerrissenen Müllsack mit skelettierten Überresten aufgespürt. Aufgrund verschiedener Indizien, wie etwa der Kleidungsreste, hatte sich der Verdacht erhärtet, dass es sich um Beate Schürmann handeln könne. Obwohl der Fundort eine Dreiviertelstunde Fahrtzeit vom Ort ihres Verschwindens entfernt lag. Man hatte daraufhin die Kollegen aus Frankfurt informiert.
Trotz ihrer langjährigen Erfahrung musste Julia Durant einen dicken Kloß im Hals wegschlucken.
Heute war einer dieser Tage, an denen der Job an der Seele nagte. Mit scharfzahnigem Biss, der bleibende Narben hinterließ. Und es gab nichts, was sie dagegen tun konnte.
Eine knappe Stunde später sanken die beiden Ermittler kraftlos in das von der Sonne erhitzte Auto. Hellmer stöhnte und wischte sich Schweißperlen von der Stirn. Durant zündete sich eine Zigarette an, die dritte, seit sie den Rückweg angetreten hatten. Was als Vermutung im Raum gestanden hatte, war nun traurige Gewissheit geworden. Anhand der gefundenen Indizien und persönlichen Gegenstände war eine anderslautende Identifizierung als auf Beate Schürmann undenkbar. Die Rechtsmedizin würde den endgültigen Beweis erbringen, und da das Mädchen aus einem Frankfurter Stadtteil stammte, würde die Obduktion ihrer Überreste im dortigen Institut erfolgen. Julia legte Wert darauf, es mit eingespielten Kollegen zu tun zu haben, die sie kannte. Besonders in diesem Fall, auch wenn Hellmer noch immer den Unbeteiligten mimte.
»Hauptsache, die Eltern haben Gewissheit«, brummte er. »Darf ich eine schnorren?«
»Du bist doch selbst Vater, lässt dich das derart kalt?«, fragte Durant und hielt ihm die blaue Pappschachtel entgegen. Sie jagten, ohne viel zu sprechen, die Autobahn hinab, bis sie in einer grün schillernden Talaue die bunten Werbeschilder von Tankstellen und Fastfood-Restaurants erblickten. Hellmer murmelte etwas von Rausfahren und eigenen Kippen, außerdem habe er Durst.
»Ich muss ohnehin tanken.«
Durant fehlte die Kraft und die Lust, um sich über ihren Partner zu ärgern, und redete sich seine Laune im Stillen damit schön, dass er einen schlechten Tag erwischt habe. Wohl eher eine schlechte Woche. Eine beschissene Woche, um es deutlich zu sagen.
Argwöhnisch folgte sie ihm mit ihren Blicken, während sie den Tankrüssel hielt und ihre Nase von den stinkenden Dämpfen fernzuhalten versuchte. Hellmer durchschritt die Schiebetür, seine Bewegungen waren fahrig und schlecht aufeinander abgestimmt. Es war der unsichere Gang … Nein, das bildete sie sich ein. Dann verschwand Hellmer aus ihrem Blickfeld. Kurz darauf tauchte sein Kopf an der Kasse auf, und er orderte mit einem Fingerzeig Zigaretten. Er lächelte schief, als er aus der Schiebetür trat und Julias Blick begegnete. Öffnete eine Packung und ließ eine zweite in seiner Jacke verschwinden. Warum trug er seine Jacke?
Als Julia Durant zwei Minuten später selbst an der Kasse stand, konnte sie es sich nicht verkneifen.
»Säule Nummer drei«, sagte sie. Klappte das Portemonnaie auseinander und tat geschäftig. Der Kassierer grinste sie an.
»Sonst noch etwas?«
Flirtete er etwa mit ihr? Umso besser.
»Ach ja, gut, dass Sie fragen.« Sie hob ihren Blick und schlug die Augen weit auf. »Ich wollte noch was zu trinken kaufen. Oder hat mein Kollege das schon erledigt?«
Noch während ihr Daumen sich in Richtung der Zapfsäulen hob, schüttelte der junge Mann den Kopf.
»Nein.« Er druckste herum. »Kein Wasser jedenfalls.« Obwohl er nichts weiter sagte, registrierte die Kommissarin seinen Blick, der pfeilschnell über die Weinbrand- und Wodkafläschchen huschte, die in Kassennähe plaziert waren.
Scheiße.
Er war der erste Mann in ihrem neuen Leben. Die Zeitrechnung – zumindest, was ihr Liebesleben betraf – hatte für Julia Durant vor drei Jahren neu begonnen. Claus Hochgräbe, Ermittler bei der Münchner Mordkommission, verwitwet, war im Zuge einer Ermittlung in das Leben der Frankfurter Kommissarin getreten. Zufall oder nicht, dass er wie sie aus München stammte. Dabei hatte sie sich vor zwanzig Jahren nach dem katastrophalen Scheitern ihrer jungen Ehe geschworen, ihrer Heimat für immer den Rücken zu kehren. Doch Claus war anders, er war rücksichtsvoll, zurückhaltend und hatte selbst schon so manche Enttäuschung erlebt. Sie schienen füreinander geschaffen zu sein, nicht einmal die Distanz der beiden Städte bildete dabei ein Hindernis. Im Gegenteil. Keiner hatte vor, seinen jeweiligen Job an den Nagel zu hängen, und sie hatten gelernt, ihre begrenzte gemeinsame Zeit entsprechend zu nutzen. Nur noch selten wurde Julia von Angstträumen heimgesucht, aber wenn, dann trafen sie sie mit besonderer Härte. Das Verlies, ein alter Bunker, schmerzende Stille und in den Wahn treibende Isolation. Ungeschützte Nacktheit und brutale Gewalt. Diese Erinnerungen gehörten zur neuen Julia Durant, hatten sie geprägt, aber nicht zerstört. Und Claus wusste behutsam mit der Verantwortung umzugehen, dass er der erste Mann war, den Julia an sich heranließ. In sich hinein. Ohne Bedingungen.
Sie hatte zwei Wochen Resturlaub eingereicht. Kommissariatsleiter Berger musste nicht lange überzeugt werden. Die Ferien neigten sich dem Ende entgegen, und es waren genügend Beamte im Dienst. Zehn Tage Südfrankreich, im Haus von Julias bester Freundin, Susanne Tomlin.
»Wenn ihr euch ein Hotel bucht, werte ich das als persönliche Beleidigung«, waren ihre Worte gewesen. »Du wirst mir deinen Claus also nicht länger vorenthalten können.«
Gegen diese, wenn auch scherzhafte Argumentation hatte die Kommissarin nichts einzuwenden gehabt. Am neunzehnten August war es losgegangen, sie fuhren mit dem Auto, um gemeinsam das Hinterland zu erkunden. Es gab rund um die Côte d’Azur eine Menge zu sehen. Die Parfümstadt Grasse, das Picasso-Museum in Antibes und noch vieles mehr stand auf Claus’ Liste. Natürlich gehörten die Küstenserpentinen ebenfalls dazu. Alles Dinge, die auch per Mietwagen möglich gewesen wären, aber Julia Durant war es recht gewesen, diesmal nicht zu fliegen.
Eingehakt in Claus’ Arm, schlenderte sie nun neben ihm her. Ließ ihren Blick über sonnengoldene Mauern wandern, auf denen Eidechsen saßen, die sofort, wenn man sich ihnen näherte, in schattigen Spalten verschwanden. Julia seufzte leise. Acht Tage waren bereits verstrichen, viel zu schnell, und bald hieß es wieder Abschied nehmen. Doch sie verjagte diesen Gedanken, kurz bevor sie das Tomlin-Anwesen erreichten. Als Susanne ihr entgegeneilte, erkannte sie auf Anhieb, dass sich etwas Furchtbares zugetragen haben musste. Selbst die gebräunte Haut ihrer Freundin schien eine Nuance blasser zu sein, die Erregung stand ihr ins Gesicht geschrieben. Sofort begann Julias Phantasie zu arbeiten. In ihrem Kopf ratterten die Möglichkeiten durch. Ein Autounfall von Susannes Sohn, denn dieser fuhr gerne schnell. Oder eine verheerende ärztliche Diagnose. Ja, selbst ein vernichtender Anruf von der Bank hätte der Ursprung ihres Entsetzens sein können. Doch nichts dergleichen.
»Julia, bitte bleib jetzt ganz ruhig.« Susannes Stimme bebte, und geistesgegenwärtig trat Claus neben sie. Ahnte er etwas?
»Was ist los?« Durant kniff argwöhnisch das linke Auge zusammen und versuchte, aus Susannes Mimik zu lesen.
»Dein Vater«, hauchte diese.
Den Zusatz »Schlaganfall« vernahm die Kommissarin bereits nur noch, als riefe man ihn ihr über weite Distanz hin zu. Rauschend, als hielte sie eine Muschel ans Ohr. Surreal, als sei es nur ein Traum, aus dem man gerade erwacht.
»Ein Schlaganfall?«, stammelte sie schließlich mit weichen Knien. »Wann, wieso …?«
»Ich kenne noch keine Details. Seine Haushälterin hat ihn gefunden, es muss gerade erst passiert sein. Sein Glück, dass er sie hat. Sie hat mich angerufen. Mit deinem Handy scheint etwas nicht zu stimmen.«
Susannes Worte sprudelten nur so hervor, offenbar darauf bedacht, in Julia keine Schuldgefühle aufkommen zu lassen. Schuldgefühle, einem Job in dreihundertfünfzig Kilometern Entfernung von ihrem alleinstehenden, hochbetagten Vater nachzugehen. Irrationale Gedanken, denn Pastor Durant war keinen Deut besser. Zuerst kam immer der Job. Obwohl schon lange im Ruhestand, ging er unermüdlich von Kanzel zu Kanzel und widmete sich der Seelsorge in seiner Gemeinde. Immer dann, wenn Not am Mann war. Doch nun lag es nicht an seiner Gemeinde. Es lag an seiner Tochter, Verantwortung zu übernehmen.
»Claus, ich, ähm … wir«, begann sie zu sprechen und sortierte ihre Gedanken.
»Wir fahren sofort los«, nickte dieser wie selbstverständlich. Beim Packen ging ihnen Susanne zur Hand.
Julia Durant litt Höllenqualen.
Okriftel, Märchensiedlung.
Die Zimmertür war abgeschlossen, wie so oft in letzter Zeit. Wenn sie nach Hause kam, was meistens spät war, eilte Stephanie nach oben und verließ ihre vier Wände nur widerstrebend. Die selten gewordenen gemeinsamen Mahlzeiten gestalteten sich so zäh wie billiger Kaugummi. Wortkarg und freudlos stopfte sie ein Mindestmaß an Nahrung in sich hinein, den Blick nur selten nach oben gerichtet. Frank Hellmer zermarterte sich das Hirn, wann er den Draht zu seiner Tochter verloren hatte. Was geschehen war. Es fiel ihm nicht mehr dazu ein, als es auf die Pubertät zu schieben. Doch hormonelle Veränderung – selbst, wenn man deren Effekte deutlicher sehen konnte, als ihm lieb war – konnte für diese Wesensveränderung nicht allein verantwortlich sein. Mit dem unbeschwerten Mädchen war etwas geschehen, und ihre Mutter, Nadine Hellmer, war nicht da, konnte ihrem Mann nicht helfen. Sie war mit ihrer jüngeren Tochter Marie-Therese in die USA geflogen. Zum wiederholten Mal in eine Spezialklinik, wo man sich auf spezielle Therapieformen bei Mehrfachbehinderungen verstand. Es kostete Unsummen, aber Nadine hatte ein beträchtliches Vermögen geerbt und war bereit, alles dafür zu geben, damit es dem Mädchen besserging. Ein geringer Prozentsatz ihres Augenlichts konnte ihr wiedergegeben werden, ebenso ein wenig ihres Gehörs. Marie-Therese würde niemals ein so unbeschwertes Leben führen können wie andere Kinder, aber sie konnte wenigstens einen anderen Zugang zum Leben finden. Farben erkennen, Laute vernehmen, sich artikulieren lernen. Vier Wochen, davon war gerade einmal die Hälfte vergangen. Mit Stephanie war Frank Hellmer also fürs Erste auf sich allein gestellt. Gab es einen Freund in ihrem Leben? Eine unerträgliche Vorstellung, besonders für einen Vater. Würde sie mit ihm darüber sprechen? Und wie stand es um ihre Aufklärung?
»Verdammte Scheiße«, knurrte er, während er das Geschirr in die Küche trug, wo er es neben die anderen Teller und Brettchen stapelte, denn auf Abwasch hatte er keine Lust.
Er liebte Nadine, liebte seine Töchter. Doch der Fokus seiner Frau war auf Marie-Therese gerichtet, gehörte ganz ihr, und sie war Tausende von Kilometern entfernt. Vermutlich schlief sie gerade. Keine Chance, sie zu erreichen. Und Julia Durant war auch nicht greifbar.
Als er schlurfende Schritte vernahm, bezog Hellmer Stellung im Wohnzimmer, so dass Steffi ihm zwangsläufig begegnen musste, wohin auch immer sie wollte. Sie trug einen Bademantel und ein Handtuch über dem Arm.
»Was hast du vor?«, erkundigte er sich.
Augenrollen. »Wonach sieht’s denn aus?«
»Einen Waldlauf wirst du wohl nicht machen«, erwiderte er. Unterdrückte dabei den Groll über ihren schnippischen Tonfall, versuchte es mit Humor.
Schulterzuckend trabte sie weiter in Richtung Untergeschoss, wo sich Sauna und Schwimmbad befanden.
Hellmer kam eine Idee.
»Zwanzig Bahnen um die Wette?«, schlug er vor und deutete in Richtung Küche.
»Hä?«
»Der Verlierer wäscht ab.«
Doch Stephanie ließ ihn kopfschüttelnd stehen. Hellmer kochte innerlich, biss sich aber auf die Lippe. Bloß kein Geschrei, sagte er sich. Er schritt zurück ans Spülbecken und machte sich an den Abwasch. Per Hand. Denn die Spülmaschine quoll über, das gespülte und getrocknete Geschirr roch jedoch längst wieder muffig, und er ließ es daraufhin noch einmal durchlaufen. In wenigen Stunden begann seine nächste Schicht, er hatte sich auf ein wenig Entspannung gefreut, doch die Sorgen und der Ärger gewannen die Oberhand, sobald er die Haustür öffnete. Hellmer ballte die Fäuste und verkrampfte sich. Es knackte, die Porzellantasse fiel zu Boden. Den Griff noch in der Hand, sah er zu, wie sie in zwei große Scherben zerbrach.
»Scheiße!«, entlud es sich nun lautstark, eine wütende Träne löste sich, und er schmiss den Griff mit voller Wucht gegen die Wand.
Die Leiche von Mathias Wollner wurde an einem unkrautüberwucherten Feld gefunden, unweit einer Baumgruppe. Das Gestänge eines Hochsitzes warf seinen langen Schatten über die Szene. Vor Ort waren Peter Kullmer und Doris Seidel, die beiden diensthabenden Kommissare. Sie waren seit einigen Jahren liiert und hatten eine gemeinsame Tochter. Kullmer, dem früher der Ruf des unverbesserlichen Schwerenöters anhing, war ruhig geworden. Doch seinen Scharfsinn hatte er nicht eingebüßt. Seidel, einst wegen einer unglücklichen Beziehungsgeschichte von Köln nach Frankfurt gewechselt, war eine hochmotivierte Ermittlerin. Ihre neue Rolle als Mutter schmälerte das nicht im Geringsten. Kaum einer würde der zierlichen Person zutrauen, dass sie vor Jahren den schwarzen Gürtel in Karate errungen hatte. Sie war ein ganzes Stück jünger als der knapp jenseits der fünfzig liegende Kullmer. Elisa, ihre Tochter, wurde von einem Babysitter beaufsichtigt.
Kullmer kniete bis zur Hüfte im ungemähten Wiesengras, Doris Seidel stand hinter ihm und notierte sich etwas. Wenig entfernt kauerte Dr. Andrea Sievers, die Rechtsmedizinerin. Das braune Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, der Rest ihres drahtigen Körpers steckte in einem unförmigen Ganzkörperkondom. Das Gras um sie herum war größtenteils platt getrampelt, im Hintergrund huschten Beamte umher. Kollegen der Spurensicherung, ebenfalls gänzlich eingehüllt, verrichteten schweigend ihren Job. Den Mienen aller Anwesenden nach zu urteilen, bot sich am Boden ein erschütterndes Bild.
Hellmer nahm einen tiefen Schluck aus der zerdrückten Plastikflasche, die unter dem gierigen Druck seiner Finger knackte. Vor einer Dreiviertelstunde – gerade war das gröbste Chaos in der Küche beseitigt – hatte ihn ein Anruf von Julia Durant erreicht. Schlaganfall. Sie befand sich mit Claus bereits auf halbem Weg nach München. Scheiße. Aus der Traum, sich mit seiner langjährigen Partnerin zu treffen und ihr das eigene Leid zu klagen. Für sie gab es ein Familienmitglied, das wichtiger war. Genau wie für Nadine. Hellmer nahm einen weiteren Schluck, und seine Miene verdüsterte sich. Es war noch immer heiß, obwohl die Sonne längst ihren rotglühenden Untergang hinter die Taunusgipfel angetreten hatte. Er rieb sich mit dem Handrücken über den Mund, Stoppeln kratzten schabend, dann griff er einen Pappbecher Kaffee und näherte sich seinen Kollegen.
»Höchste Zeit, dass du kommst«, begrüßte ihn Kullmer, der sich mit einem Ächzen aufrichtete. Wirbel knackten. Er verzog das Gesicht und setzte ein sarkastisches »Schön, wenn der Schmerz nachlässt« hinterher.
»Was haben wir?«
»Leiche, männlich«, berichtete Andrea Sievers nach einem Begrüßungsnicken. In ihrem Blick glaubte Hellmer, Besorgnis zu erkennen, womöglich machte er im Abendrot keine besonders glückliche Figur. Zudem stach der weiße Verband hervor, den seine rechte Hand schmückte. Die Kaffeetasse. Er hatte sich beim Auflesen der Scherben unglücklich zwischen Daumen und Zeigefinger geschnitten.
»Weiter«, drängte der Kommissar, und während Andrea konzise berichtete, inspizierte er die Szenerie.
Mathias Wollner lag auf dem Rücken, wobei dies nicht seine ursprüngliche Position gewesen war. Aufgefunden hatte man ihn auf dem Bauch, blutüberströmt. Ein beherzter Spaziergänger hatte ihn in der Hoffnung, er würde noch leben, bewegt. Ob er zu diesem Zeitpunkt noch am Leben gewesen war, konnte Andrea bislang nur vermuten. Die Körpertemperatur war kaum abgesunken. Womöglich ein langer Todeskampf, wenn man den Blutverlust und die Anzahl der Stiche in Betracht zog. Außerdem wies der Hals breite Würgemale auf, zugefügt eventuell durch einen Gürtel, der einen Meter von dem Körper entfernt lag. Ein Turnschuh fehlte, wurde fünfzig Meter entfernt aufgefunden. War das Opfer gerannt und hatte ihn auf der Flucht verloren? Die Spurensicherung untersuchte die Fundstelle auf Spuren eines Sturzes, und man war dabei, eine Route zu rekonstruieren. Hellmers Schädel pochte. Zu viele Informationen für seinen Geschmack. Ausgerechnet heute, wo er sich bis zum nächsten Dienst noch ein wenig Schlaf erhofft hatte. Oder eine Aussprache mit Stephanie.
»Er hat verzweifelt um sein Leben gekämpft«, schloss Andrea ihre Zusammenfassung und seufzte. »Verdammt noch mal, daran gewöhne ich mich wohl nie.«
»Was meinst du?«, fragte Doris Seidel.
»Kinder und Jugendliche, da hört es bei mir auf. Der Junge ist gerade mal siebzehn geworden. Keiner sollte in diesem Alter sterben.«
»Geht uns wohl genauso«, pflichtete Kullmer den beiden Frauen bei. »Wenn man selbst Kinder hat, sieht man das Ganze mit anderen Augen. Stimmt’s, Frank?«
Alle Augen richteten sich auf Hellmer, was ihm überhaupt nicht behagte. Eine kleine Einlage von Andreas morbidem Humor wäre ihm lieber gewesen. Er presste nur ein »Hm« hervor und blickte zu Boden.
Ein Wagen näherte sich. Es waren die Gnadenlosen, wie man sie im Polizeijargon nannte. In Anthrazit gekleidete, schweigsame Männer mit einem dunklen Kastenwagen, der einen Zinksarg beinhaltete. Die beiden Männer erkannten, dass ihr Delinquent noch nicht bereit war. Also lehnten sie teilnahmslos rauchend im rotgoldenen Abendschein. Düstere Romantik umgab sie. Die auf- und abschwingenden Glutpunkte ihrer Zigaretten waren die einzigen Bewegungen, welche man von ihnen registrierte.
Mathias Wollner war bei seinen Eltern gemeldet. Frankfurt Fechenheim, Dietesheimer Straße, in unmittelbarer Nähe. Die Konturen der Mehrfamilienhäuser konnte man vom Fundort erkennen. Der alte Kern Fechenheims lag idyllisch in einer der Schleifen, die der Main auf seinem schlangenförmigen Kurs zwischen Frankfurt und Offenbach zeichnete. Hatte Mathias als Letztes sein Elternhaus gesehen? Oder war es die Fratze seines Mörders gewesen? Warum hatte der Täter das Portemonnaie nicht mitgenommen? Handelte es sich um nur eine Person? Fragen, die von der Spurensicherung geklärt werden mussten. Derweil konnte die Familie des Verstorbenen womöglich darüber Auskunft geben, was den jungen Mann hierhergeführt hatte. Zweifelsohne war der Mainbogen, wie man die S-förmige Schleife des Flusses gemeinhin nannte, nicht nur in der Abendsonne ein besonderer Ort. Ruhig, geheimnisvoll, romantisch. Für Jugendliche, Spaziergänger und Liebespaare gleichermaßen ein Platz des Müßiggangs. Hatte Mathias sich mit einem Mädchen getroffen?
»Wollen wir es ausknobeln?«, erkundigte sich Kullmer bei seinem Kollegen.
Hellmer schrak aus seinen Gedanken hoch. »Was meinst du?«
»Na, die Angehörigen-Verständigung. Ich reiß mich nicht drum, wenn ich ehrlich bin.«
»Ich auch nicht«, wehrte Hellmer ab, »schon gar nicht alleine.«
»Wann kommt Julia denn wieder?«, fragte Doris.
»Montag. Wenn alles glattgeht.«
»Was meinst du damit?«
Hellmer berichtete kurz von der Nachricht über den Schlaganfall Pastor Durants, den die beiden Kollegen ebenfalls gut kannten. Er war hin und wieder zu Besuch in Frankfurt gewesen, manchmal auch länger, zum Beispiel, als es Julia nach ihrer Entführung so schlechtgegangen war.
»Scheiße, dann sollten wir wohl nicht so schnell mit ihr rechnen«, brummte Kullmer mitfühlend.
»Du kennst doch Julia«, widersprach Doris. »Die steht pünktlich zu Dienstbeginn auf der Matte.« Doch sie klang wenig überzeugt.
»Redet ihr von Julia Durant?«, fragte Andrea Sievers, die sich den dreien genähert hatte. Hellmer nickte, doch die Rechtsmedizinerin sprach ohnehin längst weiter: »Ihr solltet sie wohl besser informieren. Absonderliche Dinge sind doch ihre Spezialität, nicht wahr?«
Sie dirigierte die Kommissare mit dem Zeigefinger in Richtung des Toten, dessen T-Shirt gerade so weit nach oben geschoben war, dass es den Bund seiner Hose freigab. Diese war ein Stück hinabgezogen, Hellmer vermutete, dass dies von der rektalen Temperaturmessung herrührte. Der Körper ruhte auf dem Rücken, Andreas Handschuhe glitten unter das dunkelrot getränkte Shirt. Schmatzend löste sich verklebtes Blut. Hellmer war der Erste, dem die ungewohnten Male im Nabelbereich ins Auge stachen. Er ging näher heran, beugte sich hinab. Schriftzeichen. Ziffern. Unbeholfene Linien, mutmaßlich entstanden unter großen Schmerzen.
»Verdammt«, raunte er und hob sich die verbundene Hand vor den Mund. »Was ist das denn?«
»Keine Tätowierung jedenfalls«, grinste Andrea und zeichnete die Konturen nach. Im Nabelknoten waren die Buchstaben verzerrt. Mit Mühe waren ein H, ein S und ein oder zwei E zu erkennen. Den Rest machten Blut und verzerrtes Gewebe unkenntlich. Doch Hellmer hatte genug gesehen. Erinnerungen stiegen in ihm hoch, drängten aus längst verdrängten Sphären ins Hier und Jetzt. Es lag beinahe zwei Dekaden zurück. Ein Serienkiller ermordete junge, blonde Frauen. In den USA, jahrelang unerkannt, dann in der Mainmetropole. Julia Durant wechselte zu dieser Zeit nach Frankfurt, es war ihr erster großer Fall. Das exakte Datum würde er der Fallakte entnehmen können. Eine junge Frau war damals ermordet worden, gerade, als sie gehofft hatten, die Mordserie sei zu Ende. Auf ihren Unterleib waren Buchstaben gekritzelt worden. Hellmer sah das Tatortfoto so deutlich vor sich, als stünde er vor Rosemarie Stallmann anstatt zu Füßen Mathias Wollners. Einen Täter hatte die Soko Rosi seinerzeit nicht ermitteln können.
Hellmers Kopf schmerzte, unwillkürlich bekam er einen zügellosen Brand. Er kippte sich den lauwarmen Kaffee in den Rachen und tastete seine Taschen erfolglos nach Zigaretten ab.
Er musste Julia Durant informieren.
Für einige Bundesländer näherte sich das Ferienende, Unannehmlichkeiten schienen vorprogrammiert. Claus Hochgräbe hatte sich daher gegen die empfohlene Route über Bozen und Innsbruck entschieden, und abgesehen von einem zehnminütigen Engpass waren sie gut durchgekommen. Die Nachtschwester bedachte Durant mit einem vernichtenden Blick, doch Hochgräbe nahm sie zur Seite und beschwichtigte sie mit Engelszungen. In einem dunklen Zimmer, mittleres Bett, lag Pastor Durant. Er schlief, atmete flach. Den letzten Informationen nach hatte der Schlaganfall sein Sprachzentrum betroffen, die Gesichtsmuskulatur hingegen schien nicht gelähmt zu sein. Ohne Gebiss und unfrisiert wirkte er dennoch ungewohnt alt und kraftlos.
»Wir müssen die Untersuchungen abwarten«, flüsterte nach einer gefühlten Ewigkeit Claus’ vertrauter Bariton. Julia spürte eine Hand, die sich ihr sanft auf den Arm legte. Sie aus dem Krankenzimmer leiten wollte. Sie entwand sich. Zog ihrem leise atmenden Vater eine verklebte Haarsträhne aus der Stirn. Streichelte ihn zärtlich. Ein gutturales Schnarren, ein Zucken hinter den Lidern. Wie sehr wünschte sie sich, dass er sie ansähe. Ein warmer, verständnisvoller Blick. Doch nichts geschah. Tränen rannen über das Gesicht der Kommissarin. Am Nebenbett hob und senkte sich ein Beatmungsgerät mit monotonem Klacken und Zischen. Das andere Bett war leer. Diese Station verließen nicht wenige Patienten auf vier Rädern. Bestenfalls im Rollstuhl. Julia schüttelte den Kopf, wischte sich die Tränen ab und hüstelte.
»Lass uns hier verschwinden«, flüsterte Claus. »Wir gönnen uns eine Mütze Schlaf und fahren gleich morgen früh wieder her. Deine Kontaktdaten für den Notfall habe ich bei der Schwester hinterlegt.«
Julia Durant widersprach ihm nicht. Sie konnte Gott danken für einen Partner wie Claus. Aber ihre Gebete galten derzeit einzig und allein ihrem Vater.
Frank Hellmer fuhr seinen Porsche 911 in die Garage. Die letzten Stunden hatte er im Präsidium verbracht. Alleine im Büro, das er sich sonst mit Julia Durant teilte. Doch ihr Platz war seit zehn Tagen leer, und er vermisste sie. Aber selbst nach seiner Recherche in den alten Fallakten konnte er sich nicht dazu überwinden, sie anzurufen. Rosemarie Stallmann stammte aus Norddeutschland, war in Richtung Bodensee getrampt. Es hatte Monate gedauert, um ihre Route einigermaßen lückenlos zu rekonstruieren, und noch immer lagen mehr Stunden im Unklaren als solche, über die man Gewissheit hatte. Ihre Leiche hatte man unweit der A 5 gefunden, nördlich von Frankfurt, in der Nähe eines Rastplatzes. Tagelang hatte sie dort unentdeckt gelegen, im Schatten einer Baumgruppe, unweit eines Entwässerungsschachtes. Der Fall wurde von der Autobahnpolizei aufgenommen und dem K 11 übertragen. Die Soko Rosi bezog das benachbarte Polizeipräsidium Mittelhessen mit ein. Auf Rosis Körper hatte man die Lettern S, P, R und S vorgefunden, im Steißbereich. Die Rechtsmedizin folgerte, dass sie aufgrund ihrer Lage und Symmetrie kaum von Rosemarie selbst geschrieben sein konnten. In der Presse spekulierte man lautstark über die krudesten Theorien. Hatte der Mörder sein Opfer gezeichnet? Gab es einen zweiten Täter? Oder waren es gar Runen, die auf einen düsteren Kult deuteten? Ein Hobby-Bibelforscher gelangte zu der Erkenntnis, dass es sich bei dem zweiten S um die Ziffer 5 handeln müsse, seiner Überzeugung nach ein offenkundiger Hinweis auf das Buch der Sprüche, fünftes Kapitel. Dahinter verbarg sich eine Sammlung von Weisheiten, welche man Salomo zuschrieb. In dem besagten Abschnitt ging es um die Verwerflichkeit der Hurerei. Da es sich bei Rosemarie Stallmann um ein ausgesprochen hübsches und zugleich lebensbejahendes Mädchen handelte, lag für eine bestimmte Personengruppe der Zusammenhang zwischen Trampen, Drogen und freier Liebe auf der Hand. Fakt war (zumindest in deren Augen), dass Rosi, wenn sie ein biederes Leben geführt hätte, wohl kaum ihren Tod als Tramperin gefunden hätte, fünfhundert Kilometer entfernt von ihrem Heimatdorf. Der Tenor der Medien klang ähnlich. Nach und nach verlor sich das Interesse an dem Fall. Ihre Eltern zerbrachen daran, aber das bekam man im entfernten Frankfurt nicht mit. Rosemarie fehlte die Lobby, um im Gedächtnis zu bleiben, also vergaß man sie mit der Zeit. Umso heftiger drängte sich das Lächeln ihres rotstichigen Passfotos in Hellmers Bewusstsein. Weiße, strahlende Zähne. Eine millimeterbreite Lücke zwischen den vorderen Schneidezähnen. Blaue Augen, in denen sich neben Lebenslust auch Nachdenklichkeit abzeichnete. Mit ein wenig Phantasie ähnelten ihre weichen Gesichtszüge denen von Stephanie.
Steffi. Mist! Er hatte längst zu Hause sein wollen.
Leise durchschritt er den Flur, lauschte, ob aus ihrem Zimmer Musik oder der Fernseher klang. Sah auf die Uhr. Höchste Zeit zu schlafen. Das Zeugnis seiner Tochter war nicht schlecht, aber nach oben war noch Luft. Auch wenn das neue Schuljahr gerade erst begonnen hatte, war keine Zeit für Schlendrian. Schlimm genug, dass der gepunktete Rucksack mit den Schulsachen am Tag der großen Ferien in die hinterste Ecke ihres Zimmers geflogen war und sechs Wochen lang keines Blickes gewürdigt wurde. Hellmer war sich sicher, auch wenn er es mit der Gläubigkeit nicht so hatte, dass Pubertät eine biblische Strafe sein musste. Seine Gedanken kehrten zu Mathias Wollner zurück.
Welche tiefere Bedeutung verbarg sich hinter den Lettern auf seinem Bauch? Würde es diesmal gelingen, ihnen einen Sinn zu entlocken? Oder war die Ähnlichkeit mit der Zeichnung auf Rosemaries Rücken nicht doch ziemlich weit hergeholt? Immerhin waren fast zwanzig Jahre vergangen.
Hellmer klopfte leise an Stephanies Zimmertür. Im Inneren regte sich nichts. Er wartete einige Sekunden, drückte dann behutsam die Klinke hinab und lugte durch den Türspalt. Der Fernseher flimmerte, zeigte das Menü einer DVD. Seine Tochter lag friedlich im Bett, atmete leise und gleichmäßig. Reagierte auf den einfallenden Lichtschein mit einem Seufzer und drehte den Kopf. Wenn sie so dalag, sah sie aus wie ein Engel. Hellmer schloss die Tür wieder und nahm sich vor, früh aufzustehen und ihr ein liebevolles Frühstück zu machen. Er war ihr Vater. Es war sein Job, sie zu ertragen, selbst dann, wenn sie das selbst kaum konnte. Eine Chance, die den Eltern von Mathias und Rosi brutal genommen worden war. Er zog sich aus, registrierte im Spiegel, dass er eine Rasur bitter nötig hatte. Erledigte das sofort, obwohl ihm die Augen fast von selbst zufielen und er sich kaum mehr auf den Beinen halten konnte.
Er durfte Julia Durant nicht anrufen – noch nicht.
Es war ein Kampf, den er mit seinen inneren Stimmen führte, ein Konflikt, bei dem er nur verlieren konnte. Hellmer wusste genau, was geschehen würde. Sobald er seine Partnerin anrief, stünde diese in Windeseile auf der Matte. Für Julia Durant stand an allererster Stelle der Job, das wusste jeder, der mit ihr zu tun hatte. An zweiter Stelle kamen Freunde und Familie, kaum weniger wertig, von daher würde sie aufgerieben werden bei der Entscheidung, wem ihre Loyalität galt. Wo ihre Prioritäten lagen. Hellmers Bett schien sich zu drehen. Rufe ich sie nicht an, dachte er, wird sie mir, sobald sie davon erfährt, die Hölle heißmachen. Andersherum täte ich es schließlich auch. Aber kommt sie, und dann stirbt ihr Vater, so wird sie sich das niemals verzeihen. Und ich mir auch nicht, dachte er weiter, denn mein Anruf wäre der Auslöser dafür gewesen.
Es machte ihn rasend. Doch kurz bevor er endlich in einen ruhelosen, kaum erholsamen Schlaf fiel, war seine Entscheidung getroffen. Er würde einen Teufel tun, Julia Durant anzurufen.
Weder psychologische Seminare noch die jahrzehntelange Berufserfahrung hatten den Effekt, dass das Überbringen von Todesnachrichten erträglicher wurde. Eher das Gegenteil war der Fall. Professionelle Distanz, die Nummern eines Arztes oder Seelenklempners bereitzuhalten; all diese Mechanismen verloren sich in jenem unendlich langen Augenblick, wenn die gegenüberstehende Person realisierte, dass ihre Hoffnung zerschlagen war. Den Tod vor die Füße geknallt bekam, friss oder stirb. Ehepartner, Geliebter, Angehöriger oder, was am erbärmlichsten war, das eigene Kind. Jene einzelne Sekunde, in der der hoffnungsvolle, bange Glanz in den Augen einfror und sich in panische Verzweiflung verwandelte. Glichen sich die ersten versteinerten Mienen in den meisten Fällen noch, so spielten sich die unmittelbar darauf folgenden Szenen komplett unterschiedlich ab. Manch einer brach noch im Türsturz zusammen, der Kreislauf versagte seinen Dienst. Manche sprangen die Beamten an, wollten auf irgendjemanden einprügeln, all der angestauten Angst und Spannung ein Ventil verleihen. Andere schrien, warfen Gegenstände, brauchten eine Beruhigungsspritze. So die Mutter von Mathias Wollner. Frank Hellmer konnte sich glücklich schätzen, dass Peter und Doris ihm diesen schweren Gang erspart hatten.
Er war direkt nach Fechenheim gefahren. Das Frühstück mit Stephanie war kurz und schmerzlos gewesen, zumindest für sie. Steffi war, fünf Minuten bevor ihr Bus ging, in die Küche geeilt, hatte sich eine Banane und einen Müsliriegel gegriffen. Der Geruch nach Rührei ließ sie unbeeindruckt, ebenso die getoasteten Brotscheiben. Von dem Orangensaft, auf den Hellmer gedeutet hatte, kippte sie einen hastigen Schluck und war Sekunden später im Hausflur verschwunden. Ein kaum hörbares »guten Morgen« und ein eiliges »Ciao« war alles, was ihr Vater von ihr zu hören bekam. Ein kurzer Blickkontakt, der jedoch genügte, um ihre traurigen, unterlaufenen Augen zu sehen. Stephanie hatte geweint. Dann versucht, das Ganze zu überschminken. Erfolglos. Frank Hellmer musste etwas unternehmen.
»Vergiss den Bus, ich fahre dich«, hatte er mit vollem Mund in die eisige Stille hinein gesagt. Er verstand nicht, weshalb seine Tochter daraufhin reagierte, als stünde ein Zombie vor ihr. Er fuhr sie nicht zum ersten Mal. Sie war so perplex, dass ihr keine Ausrede einfiel. Eine Chance, die Hellmer sich nicht entgehen ließ. Nach einer schweigenden Fahrt hatte er Stephanie vor der Schule abgesetzt. Sie trug Ohrstöpsel, aus denen Musik klang. Fuhr mit zittrigen Fingern über das Display ihres Smartphones. Das flüchtige Lächeln, das sie ihrem Vater schenkte, bevor sie die Wagentür zuknallte, wirkte gequält. Doch Hellmer musste zu den Wollners, ob er wollte oder nicht.
Mathias’ Eltern wohnten in einem Mehrfamilienhaus. Bieder, gepflegte Fassade. Man fiel nicht auf, achtete nicht auf seine Nachbarn. Die Möbel erinnerten an die fünfziger Jahre, dunkle, gelackte Holzoberflächen mit stumpfen Goldrändern. Kristallglasscheiben. Eine Vitrine voller Tinnef, auf dem Wohnzimmerregal eine Sammlung bunter Stoffteddybären. Es roch nach Alkohol, Hellmers Nase war für diese Art von Reizen besonders empfänglich. Darunter mischte sich der Geruch von stundenlang heiß gestelltem Kaffee und Zigarettenrauch. Auf dem Esstisch stand das Gedeck vom Vorabend. Drei Teller, drei Gläser, in der Mitte ein halbvoller Suppentopf, um den Fliegen kreisten. Sie hatten mit dem Essen auf Mathias gewartet. Wütend, weil er nicht pünktlich gekommen war. Unwissend, dass er zur selben Zeit seinen Todeskampf führte und verlor. Die Scham stand ihnen, neben dem tiefsitzenden Schock, ins Gesicht geschrieben.
Martin Wollner lehnte am Fenstersims, schaute aus dem ersten Stock hinab auf die Straße. Zündete sich eine weitere Zigarette an, der Aschenbecher neben ihm quoll bereits über. Ansonsten regungslos, musterte er Hellmer, während er eine dichte Rauchwolke gegen die Decke blies. Elisabeth Wollner kauerte auf dem karierten Sofa. Ihre Augen saßen tief in großen Höhlen, verquollen und düster umrandet. Ein Gedanke an Steffi durchzuckte Hellmer, er schob diesen schnell beiseite. Musste das tun, um sich zu konzentrieren. Die Gerüche, die ihn umgaben, machten es nicht einfacher. Frau Wollners Mundwinkel hingen hinab, auch ohne den schmerzlichen Verlust ihres Sohnes schien sie ein trauriges Gesicht zu haben. Das kastanienbraune, gelockte Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden. Kaum Busen. Sämtliche Weiblichkeit wurde von einer weiten Bluse und einem unförmigen Rock geschluckt. Ihre Handgelenke waren knöchern, sie griff ebenfalls zu einer Zigarette, entzündete diese ungeübt. Hustete beim ersten Zug und fragte heiser: »Wo sind Ihre Kollegen?«
»Heute bin ich dran«, erwiderte Hellmer ein wenig unbeholfen. Doch was blieb ihm übrig? Hätte er sagen sollen, dass Kullmer und Seidel sich um ihre Tochter kümmern mussten, bevor sie zum Dienst erschienen? Elterliche Pflichten zu erwähnen, nachdem man zwei Menschen den Verlust ihres einzigen Kindes mitgeteilt hatte, wäre denkbar unsensibel. »Es tut mir leid, Sie zu behelligen, aber es gibt noch ein paar Dinge zu klären.«
Peter und Doris hatten am Vorabend so viel in Erfahrung gebracht, wie es ihnen möglich gewesen war. Mathias Wollner machte eine Ausbildung bei einem ortsansässigen Malereibetrieb. Ein Familienunternehmen seit drei Generationen. Zweites Lehrjahr. Eine feste Freundin habe er wohl nicht, jedenfalls keine, die er mit nach Hause gebracht habe. Aber in diesem Alter wusste man als Eltern nicht mehr alles von seinen Sprösslingen. Nicht nur in diesem Alter. Hellmer verspürte für einen Moment Neid auf seine beiden Kollegen, da deren Tochter Elisa erst drei Jahre alt war. Ein Alter, welches man nur als anstrengend empfindet, weil man die Pubertät noch nicht kennengelernt hat.
»Finden Sie das Schwein besser vor uns«, grollte Martin Wollner. Seine Habichtsaugen unter dicken Brauen trafen Hellmer völlig unerwartet. Er schluckte. Der Hüne löste sich von der Fensterbank und schlurfte über den verblassten Teppichboden in Richtung Couch.
»Haben Sie einen konkreten Verdacht? Dann äußern Sie ihn bitte«, antwortete er.
»Verdacht?« Herr Wollner lachte höhnisch auf. Ließ sich in den Sessel fallen, sein Shirt rutschte nach oben und gab einige Zentimeter wabernden, dichtbehaarten Bauches frei. Er kratzte sich und zog den Stoff wieder hinab. »Man muss kein Kriminalist sein, um ein perverses Schwein zu erkennen. Jemand hat Mathias gewürgt und erstochen. So was tut kein normaler Mensch, oder?«
Hellmer nickte. Im Grunde hatte Wollner recht. Seine Trauer war in Wut umgeschlagen. Kalter Hass auf jene unbekannte Person, die ihm den Sohn genommen hatte.
»Wir stehen in unseren Ermittlungen noch ganz am Anfang«, gestand er ein. »Daher ist es umso wichtiger, den gestrigen Tag so exakt wie irgend möglich zu rekonstruieren. Warum war Mathias dort draußen im Feld? Hielt er sich öfter da auf, und mit wem verbrachte er seine Zeit? Gab es Probleme, Feindschaften, Rivalitäten? Was ist mit Drogen?«
»Mathias nahm keine Drogen«, schluchzte Elly verärgert. Zischend versenkte sie ihre nur halbgerauchte Zigarette in einem Glas abgestandener Cola.
»Ich muss solche Dinge leider fragen«, entgegnete Hellmer leise. Offenbar hatte er seinen Blick etwas zu lang auf der Pappschachtel verharren lassen, jedenfalls unterbrach ihn die Frau: »Nehmen Sie sich ruhig eine.«
»Danke.« Hellmer spürte, wie er nach zwei Zügen entspannter wurde, und setzte erneut an: »Wie gesagt, ich muss Ihnen eine Menge Fragen stellen. Mit wem verbrachte Mathias seine Zeit?«
»Es gibt da so eine Clique«, brummte Frau Wollner. »Die haben an ihren Rollern rumgeschraubt oder hingen am Ufer herum. Was Jugendliche eben so tun.«
Hellmer grübelte nach. Ein Mofa oder Ähnliches war seiner Kenntnis nach nicht gefunden worden.
»Hatte Mathias auch einen Motorroller?«
Nicken.
»Ist er mit diesem Roller unterwegs gewesen?«
»Nein, der steht unten im Hof«, wusste Herr Wollner und deutete vage in Richtung Fenster. »Der Vorderreifen ist platt.«
»Danke. Gab es in der Clique eine Art Anführer oder jemanden, der besonderen Einfluss auf Ihren Sohn hatte? Und was ist mit Mädchen?«
»Keine Ahnung«, brummte der Vater und wechselte einen flüchtigen Blick mit seiner Frau. Auch diese verneinte. Hellmer spürte, dass es zwischen den beiden etwas Unausgesprochenes gab. Doch er würde sie nicht zwingen können. Stattdessen zog er sein Notizbuch hervor und bat um die Namen der Freunde. Es kamen fünf Personen zusammen, zwei davon weiblich. Alle aus der näheren Umgebung, dazu weitere, von denen sie nur Vornamen oder Spitznamen kannten. Hellmer notierte die Adresse der Hinterhofwerkstatt, in der sie sich üblicherweise trafen. Als er wieder aufblickte, registrierte er, dass sein kurzer Besuch die beiden bereits sehr belastet hatte. Es hatte wenig Sinn, in dieser Situation weiter zu bohren, so ungern er sich das auch eingestand.
»Haben Sie Familie oder Freunde, die sich um Sie kümmern?« Die Frage klang wie eine billige Floskel.
»Wir haben uns«, betonte Wollner. Er wechselte seine Sitzposition demonstrativ und quetschte sich neben Elly auf das Sofapolster. Legte den Arm um sie, was auf sie mehr wie eine Last denn eine Stütze zu wirken schien.
»Bitte denken Sie noch einmal über gestern nach«, forderte Hellmer im Aufstehen. Legte seine Visitenkarte auf den Tisch und wollte noch etwas hinzufügen, aber der Vater schnitt ihm das Wort ab: »Ja, wir kennen uns aus«, wehrte er schroff ab. »Wir stehen zur Verfügung, gehen nirgendwohin. Warten einfach darauf, dass Sie uns mitteilen, dass Mathias von einem Unbekannten abgestochen wurde und die Ermittlungen eingestellt werden.« Tränen sammelten sich in seinen Augen, und seine Stimme klang unheilvoll. »Machen Sie uns nichts vor, so läuft es doch in diesem Scheißland. Wir sind eine unbedeutende Familie, haben weder Geld noch Einfluss. Wen interessiert es denn schon …«
Elisabeth Wollner zischte ihm etwas Unverständliches zu. Er fuhr sich mit dem Ärmel seines Jeanshemds übers Gesicht und stieß ein »Ist doch wahr« hervor.
»Ich bin selbst Vater«, sagte Hellmer und gab sich Mühe, mitfühlend zu klingen. »Verlassen Sie sich darauf, dass Ihr Sohn für mich keine anonyme Fallakte ist. Ehrenwort.«
Er suchte sich den Weg nach draußen. Fröstelte, als er auf die Straße trat, und war heilfroh, als ein wärmender Strahl der Morgensonne ihn traf. Der August war viel zu kalt, auch wenn gerade ein paar warme Tage hinter ihm lagen.
Hellmer sank in die Sportsitze seines Porsche und steuerte die nächstliegende Tankstelle an. Er brauchte Zigaretten. Außerdem quälte ihn dieser unerträgliche Durst.
Große Pause. Der Gong war auch außerhalb des Schulgeländes zu hören gewesen. Stephanie saß auf einer Parkbank, noch immer spielte Musik aus ihren Kopfhörern. Die Zeit wollte und wollte nicht vergehen. Sie trug eine Jeansjacke, aus der sie ein Taschentuch zog. Ein Papierkügelchen fiel zu Boden. Die Erinnerung traf sie wie eine scharfe Klinge. Christbaumschmücken. So oder ähnlich nannte man es unter Schülern. Das Zerknüllen winziger Papierfetzen, um sie dann in die Haare des weiter vorn Sitzenden zu befördern. Werfend oder mit Blasröhrchen aus zerlegten Kugelschreibern. Der niederträchtigen Phantasie waren keine Grenzen gesetzt. Schlimm genug, dass eine der Papierkugeln scheinbar ihren Kopf verfehlt hatte und direkt auf Steffis Tisch gelandet war. Dann der Gedanke, dass es sich dabei um Absicht handeln könnte. Vielleicht eine Nachricht von ihrer Freundin Xenia, dass sie die anderen Idioten einfach ignorieren solle? Xenia hatte leicht reden. Stattdessen trug der karierte Fetzen lediglich ein Wort. Bitch. Steffi hatte losschreien wollen, das gedämpfte Kichern quälte sie. Ein tadelnder Blick des Lehrers hatte das Ganze unterbrochen. Der Rest der Stunde hatte sich unerträglich hingezogen. Endlich, die Hausaufgabenansage des Lehrers bekam sie nicht mehr mit, hatte sie eilig ihre Sachen in die Tasche gestopft. Das Mäppchen kam offen hinein, Stifte verteilten sich. Raus, nur raus. Sie war wie mit Scheuklappen nach außen gehechtet, bloß nicht stehen bleiben, bloß keinen Blickkontakt. Die Erinnerung schmerzte, und das, obwohl seither Tage vergangen waren. Ihre Netzhäute wurden glasig. Mit dem Taschentuch wischte sich das Mädchen die Tränenflüssigkeit aus den Augenwinkeln. Zog die Nase hoch und nahm die weißen Plastikstöpsel aus den Ohren. Stimmen näherten sich. Verdammt. Sie sprang auf und wollte loslaufen. Ihr Vater war nun weit genug entfernt. Sie wollte nur noch nach Hause, in ihr Zimmer, wo ihr niemand etwas anhaben konnte. Da hörte sie die vertrauten Stimmen.
»Jo, Steffi!«, ertönte es.
Dann, eine andere Stimme: »Was treibst’n dich hier rum? Wartest du auf Kundschaft?«
Lachen. Sie setzte sich in Bewegung.
»Was nimmst du für die Stunde?«
Garstiges, verletzendes Lachen. Längst rannte sie, schluchzend, und die Tränen schossen ihr nur so übers Gesicht. Sie wollte nach Hause. Allein sein, mit niemandem reden. Sich unter ihrer Decke verstecken, wo niemand auf sie wartete außer einem alten, abgegriffenen Teddy.
Das grelle Tageslicht gab einen schonungslosen Blick auf die nur oberflächlich moderne Einrichtung des Krankenzimmers frei. Abgestoßene Ecken der Holztäfelung, Bettgestelle, deren Lackschicht klaffende Lücken aufwies. Aus der angelehnten Badezimmertür kroch ein unangenehmer Geruch nach Urin. Julia Durant wusste nicht, was sie schlimmer fand: dass sie an der Unterbringung ihres Vaters nichts ändern konnte oder dass er von alldem nichts mitbekam. Pastor Durant lag so friedvoll da wie in der Nacht zuvor. Er trug ein frisches Krankenhaushemd, die Haare waren noch immer zerzaust. Der Rollschrank wirkte aufgeräumt. Frühstück und Morgenvisite waren offenbar bereits durchgekommen. Claus bedeutete ihr, dass er jemanden suchen würde, der ihr Auskunft geben konnte. Sie nickte. Kaum fünf Stunden hatte sie schlafen können, stets die Schreckensbilder ihrer Mutter vor Augen, die vor Jahren an Lungenkrebs gestorben war. Krepiert. Ein unmenschlicher Tod, schleichend, mit fahler, grauvioletter Haut. Qualvoll erstickt. Der Brustkorb hob sich unter den Atemzügen, als läge eine Bleiplatte auf ihm. Doch es dauerte Tage, bis sie endlich aufgab. Das Los einer Kettenraucherin, die den Tabak zu Lebzeiten am liebsten gefressen hätte. Sie ließ ihre Familie allein zurück, mit fünfzig, verschuldet einzig und allein durch ihre egoistische Sucht.