Die Insel Berande - Jack London - E-Book

Die Insel Berande E-Book

Jack London

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Beschreibung

"Die Insel Berande" ist ein 1911 erschienender Roman des US-amerikanischen Schriftsteller und Journalisten Jack London. Der englische Originaltitel lautet "Adventure".

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Inhaltsverzeichnis

Etwas muß geschehen

Etwas geschieht

Die Jessie

Joan Lackland

Sie will Pflanzer werden

Sturm

Ein schwerer Kampf

Lokalkolorit

Kampf zwischen den Geschlechtern

Eine Nachricht von Boucher

Die Port-Adams-Bande

Herr Morgan und Herr Raff

Die Logik der Jugend

Die Martha

Eine Frage der Erziehung

Die Unverbesserliche

»Ihr« Fräulein Lackland

Romane werden Wirklichkeit

Das verlorene Spielzeug

Männerrede

Konterbande

Gogoomy machen Kwaque fertig ganz und gar

Eine Nachricht aus dem Busch

Im Busch

Die Kopfjäger

Sonnenglut

Ein zeitgemäßes Duell

Kapitulation

Etwas muß geschehen

Er war ein sehr kranker weißer Mann. Er ritt Huckepack auf einem wollköpfigen, schwarzhäutigen Wilden, dessen Ohrläppchen so durchbohrt und aufgeweitet waren, daß das eine ganz zerrissen war, während in dem andern ein runder geschnitzter Holzpflock von drei Zoll Durchmesser steckte. Das zerrissene Ohrläppchen war von neuem durchbohrt, konnte aber jetzt nur noch eine kurze Tonpfeife aufnehmen. Das zweibeinige Pferd war schmierig und, bis auf einen äußerst schmalen, schmutzigen Lendenschurz, nackt; der Weiße aber klammerte sich verzweifelt an ihm fest. Hin und wieder sank sein Kopf vor Schwäche auf den Wollschädel herab. Dann wieder hob er ihn und starrte mit verschwimmenden Augen auf die Kokospalmen, die in der flimmernden Hitze schwankten und schaukelten. Er trug ein dünnes Hemd und hatte um den Leib einen Streifen Baumwollstoff geschlungen, der bis zu den Knien reichte. Auf dem Kopfe trug er einen abgenutzten breitrandigen Cowboyhut. Um die Hüfte hatte er einen Gurt geschnallt, in dem eine großkalibrige automatische Pistole und mehrere gefüllte Ladestreifen gebrauchsfertig steckten.

Den Zug beschloß ein vierzehn- bis fünfzehnjähriger schwarzer Junge, der Medizinflaschen, einen Eimer mit heißem Wasser und verschiedene andre Krankenhausutensilien trug. Sie verließen den Hof durch eine schmale, aus Rohr geflochtene Pforte und schritten weiter unter der glühenden Sonne, zwischen neugepflanzten Kokospalmen hindurch, die keinen Schatten gewährten. Kein Lüftchen regte sich, und die drückende Atmosphäre war mit Krankheitskeimen geschwängert. Vor ihnen ertönte ein wildes Geschrei, wie von jammernden verlorenen Seelen oder gefolterten Menschen. Ein langer niedriger Schuppen mit Graswänden und Grasdach zeigte sich, und von ihm ging der Lärm aus: Geschrei und Gejammer, das Kummer und unerträglichen Schmerz verkündete. Als der Weiße sich näherte, konnte er ein schwaches, anhaltendes Wimmern und Stöhnen hören. Ihn schauderte bei dem Gedanken, daß er dort hinein sollte, und einen Augenblick glaubte er, ohnmächtig zu werden. Denn die gefürchtete Geißel der Salomoninseln, die Dysenterie, hatte die Berande–Plantage heimgesucht, und obgleich er selbst von ihr befallen war, mußte er doch ganz allein den Kampf mit ihr aufnehmen.

Indem er sich tief auf die Schultern seines Trägers bückte, gelangte er durch den niedrigen Eingang. Er nahm dem ihm folgenden Jungen eine Flasche ab und atmete das starke Ammoniak ein, um sich den Kopf für den kommenden Auftritt klarzumachen. Dann rief er: »Ruhe!«, und der Lärm verstummte. Eine sechs Fuß breite, leicht geneigte Plattform aus Bambusstäben erstreckte sich über die ganze Länge des Schuppens. Vor ihr lief ein Gang, der kaum einen Schritt breit war. Auf der Plattform lagen, eng nebeneinander ausgestreckt, etwa zwanzig Schwarze. Daß sie einer tiefstehenden Rasse angehörten, sah man auf den ersten Blick. Es waren Menschenfresser. Ihre Gesichter waren unsymmetrisch und tierisch, ihre Körper garstig und affenartig. Sie trugen Nasenringe aus den Schalen der Venusmuschel und aus Schildpatt, und aus den ebenfalls durchbohrten Nasenflügeln ragten Hörner hervor, die aus auf Draht gereihten Perlen gebildet wurden. Ihre Ohrläppchen waren durchbohrt und ausgeweitet, um hölzerne Pflöcke und Stäbe, Pfeifen und allerlei barbarischen Zierat aufzunehmen. Ihre Körper waren in scheußlichen Mustern tätowiert und genarbt. Während ihrer Krankheit trugen sie keinerlei Kleidung, nicht einmal einen Lendenschurz, sie hatten nur ihre Muschelarmspangen, Perlenhalsbänder und Ledergurte behalten, in denen blanke Messer steckten. Die Körper vieler von ihnen waren mit schrecklichen Wunden bedeckt. Fliegenschwärme hoben sich und ließen sich wieder nieder oder flogen in dichten Wolken durch den Raum.

Der Weiße ging die Reihen entlang und gab jedem Manne Medizin. Einigen gab er Chlor. Er mußte alle Willenskraft zusammennehmen, um sich zu erinnern, wer von ihnen Brechwurz vertragen konnte, und wer zu schwach dafür war.

Einen Toten ließ er hinaustragen. Er sprach scharf und bestimmt, wie ein Mann, der keinen Spaß versteht, und die gesunden Männer, denen er seine Befehle erteilte, runzelten böse die Stirn. Einer murrte, als er die Leiche bei den Füßen packte. Da brach der Weiße los. Es war ihm eine schmerzhafte Anstrengung, aber seine Faust schoß vor und traf den Schwarzen auf den Mund.

»Was Name du, Angara?« brüllte er. »Was für Rede du machen, wie? Ich läuten dir sieben Glocken, zuviel, los!«

Mit der mechanischen Schnelligkeit eines wilden Tieres setzte der Schwarze zum Sprunge an. Die Wut einer Bestie glühte in seinen Augen; aber er sah die Hand des Weißen nach der Pistole im Gürtel greifen. Der Sprung unterblieb. Der Körper entspannte sich, und der Schwarze beugte sich über den Leichnam und half ihn hinaustragen. Jetzt ohne Murren. »Schweine!« knirschte der Weiße.

Er war sehr krank, dieser Weiße, gerade so krank wie die Schwarzen, die hilflos vor ihm lagen, und die er pflegte. Wenn er diesen pestgeschwängerten Schuppen betrat, wußte er nie, ob er imstande war, den Rundgang zu beenden. Aber das wußte er sicher, daß, wenn er je inmitten dieser Schwarzen ohnmächtig werden sollte, alle, die dazu imstande waren, sich wie reißende Wölfe ihm an die Kehle stürzen würden. Ungefähr in der Mitte lag ein Mann im Sterben. Er gab Befehl, ihn, sobald er seinen letzten Atemzug getan, hinauszuschaffen. Ein Schwarzer steckte den Kopf zur Tür herein und sagte: »Vier fella krank zu viel.«

Neue Kranke, die noch gehen konnten, drängten sich um den Sprechenden. Der Weiße suchte den Schwächsten heraus und wies ihm den Platz an, von dem soeben der Leichnam entfernt worden war. Einem Zweiten bedeutete er zu warten, bis der Nächste gestorben wäre. Dann befahl er einem der gesunden Leute, aus den Plantagearbeitern eine Hilfsabteilung für das Hospital zu bilden, und schritt weiter die Reihe entlang, indem er Medizin austeilte und auf Trepang-Englisch Witze riß, um die Kranken aufzuheitern. Hin und wieder ertönte vom andern Ende ein seltsames Wimmern. Als er hinkam, sah er, daß es von einem Burschen herrührte, der gar nicht krank war. Der Weiße geriet in Zorn.

»Was Name du schreien alle Zeit?« »Ein fella mein Bruder gehören mir«, lautete die Antwort. »Ein fella sterben zuviel.«

»Du schreien, ein fella Bruder gehören dir sterben zuviel,« sagte der Weiße drohend, »ich werde cross zuviel auf dich. Was Name du schreien? He? Du Dummkopf machen Bruder gehören dir sterben viel schneller. Du fella hören auf mit Schreien, savvee? Du fella nicht hören auf mit Schreien, ich machen dich fertig verdammt schnell.«

Er drohte dem Burschen mit der Faust, und der Schwarze kauerte nieder, ihn mürrisch anstarrend. »Schreien nicht gut kleinstes bißchen«, fuhr der Weiße ruhiger fort. »Du nicht schreien. Du jagen fella Fliegen weg. Zuviel groß fella Fliegen. Du holen Wasser. Washee Bruder gehören dir; washee Menge zuviel, dann Bruder gehören dir all right. – Marsch!« schrie er schließlich wütend, und sein Wille wirkte auf den stumpfsinnigen Schwarzen mit solcher Kraft, daß er aufsprang, um die widerlichen Fliegenschwärme zu vertreiben.

Dann ritt er wieder in die dunstige Hitze hinaus. Er umklammerte den Hals des Schwarzen und schöpfte tief Atem. Aber die totenstille Luft schien seine Lungen zusammenzupressen; er ließ den Kopf sinken und stierte halbschlafend vor sich hin, bis das Haus erreicht war. Jede Willensanstrengung war eine Pein für ihn, und doch wurde sie dauernd von ihm verlangt. Er gab dem Schwarzen, der ihn getragen hatte, einen Schluck Genever. Viaburi, der Hausboy, brachte ihm Sublimat und Wasser, und er wusch sich gründlich. Er nahm selbst eine Dosis Chlor, fühlte sich den Puls, nahm ein Thermometer in den Mund und legte sich mit unterdrücktem Stöhnen auf das Ruhebett. Es war Nachmittag, und er hatte heute seinen dritten Rundgang hinter sich. Er rief den Hausboy.

»Nimm groß fella Gucker nach Jessie!« befahl er. Der Boy ging mit dem langen Fernrohr auf die Veranda und suchte die See ab.

»Ein fella Schoner weit weg bißchen«, meldete er. »Ein fella Jessie.« Ein Freudenschimmer ging über das Gesicht des Weißen.

»Du machen Jessie aus, du bekommen fünf Stück Tabak«, sagte er.

Eine Weile herrschte Schweigen, und er wartete voller Ungeduld.

»Vielleicht Jessie, vielleicht anderer fella Schoner«, lautete das stockende Zugeständnis.

Der Mann wand sich bis zum Rande des Ruhebettes und glitt auf den Boden; er sank in die Knie. Mit Hilfe eines Stuhles kam er auf die Füße. Sich an dem Stuhl festhaltend und ihn als Stütze benutzend, schob er ihn durch die Tür auf die Veranda. Der Schweiß lief ihm in Strömen über das Gesicht und durchnäßte das Hemd an den Schultern. Es gelang ihm, auf den Stuhl zu kommen, wo er, völlig zusammengebrochen, nach Luft schnappte. Nach einigen Minuten richtete er sich auf. Der Boy hielt das Ende des Fernrohrs an einen Pfosten der Veranda, und der Mann starrte durch das Glas auf die See. Endlich erblickte er die weißen Segel des Schoners und beobachtete sie. »Nicht Jessie,« sagte er sehr ruhig, »das die Malakula.«

Er vertauschte seinen Sitz mit einem Deckstuhl. In einer Entfernung von dreihundert Fuß brach sich die See in schwacher Brandung am Strande. Zur Linken konnte er die weiße Linie der Brecher, die die Barre des Balesuna bezeichneten, und darüber hinaus die zackigen Umrisse der Savoinsel sehen. Gerade vor ihm, jenseits des Zwölfmeilenkanals, lag die Floridainsel, und weiter rechts erschienen undeutlich Teile Malaitas, der wilden Insel, wo Mord, Raub und Menschenfresserei herrschten, und wo seine eigenen zweihundert Plantagenarbeiter angeworben waren. Zwischen ihm und dem Strande lag der Bambuszaun seines Gartens. Die Tür stand halboffen, und er schickte den Hausboy hin, um sie zu schließen. Innerhalb des Zaunes wuchs eine Anzahl Kokospalmen. Zu jeder Seite des Weges, der hinausführte, standen zwei hohe Flaggenmaste. Sie waren auf zehn Fuß hohen künstlichen Hügeln errichtet. Am unteren Ende stand jeder Mast zwischen kurzen Pfosten, die weiß gestrichen und durch schwere Ketten verbunden waren. Die Masten selbst waren wie Schiffsmasten mit Stengen, Wanten, Gaffeln und Leinen versehen. Von der Gaffel des einen hingen zwei bunte Flaggen schlaff herunter, die eine ein Schachbrett aus blauen und weißen Quadraten, die andere ein weißer Wimpel mit rotem Ball in der Mitte: das internationale Notsignal. In der gegenüberliegenden Ecke der Umzäunung brütete ein Habicht. Der Mann beobachtete ihn und sah, daß er krank war. Er dachte, ob der Vogel sich wohl ebenso schlecht fühlte, wie er selbst, und belustigte sich leise über den Gedanken an die Ähnlichkeit zwischen ihnen. Er stand auf, um die große Glocke läuten zu lassen, als Zeichen, daß die Plantagenarbeiter Feierabend machen und in die Baracken gehen sollten. Dann bestieg er sein zweibeiniges Pferd und machte die letzte Runde des Tages.

Im Hospital gab es zwei neue Fälle. Er reichte den Kranken Rizinusöl. Er wünschte sich Glück; es war ein leichter Tag gewesen, nur drei waren gestorben. Dann inspizierte er das Kopratrocknen, das nicht unterbrochen worden war, und ging durch die Baracken, um zu sehen, ob sich nicht ein Kranker seinen Vorschriften entgegen dort versteckt hatte. Nach Hause zurückgekehrt, empfing er die Berichte der Aufseher und gab Anweisungen für die Arbeit des nächsten Tages. Den Vormann der Bootsleute hatte er ebenfalls hinbestellt, um sich, wie jeden Abend, zu vergewissern, daß die Walboote eingeholt und angeschlossen waren. Es war dies eine sehr notwendige Vorsichtsmaßregel, denn die Schwarzen befanden sich in großer Angst, und ein Boot abends am Strande liegenzulassen, hätte einen Verlust von zwanzig Schwarzen am nächsten Morgen bedeutet. Da die Schwarzen bis zu dreißig Dollar das Stück wert waren, je nachdem, wieviel sie von ihrer Zeit abgearbeitet hatten, durfte sich die Berande-Plantage einen solchen Verlust kaum erlauben. Außerdem waren Walboote im Salomon-Archipel nicht billig, und die Todesfälle reduzierten täglich das arbeitende Kapital. Sieben Schwarze waren in der vergangenen Woche in den Busch geflohen; vier von ihnen hatten sich, hilflos vor Fieber, mit der Nachricht zurückgeschleppt, daß zwei von den gastfreundlichen Buschleuten getötet und gefressen worden. Von dem siebenten Mann, der noch in Freiheit war, erzählten sie, daß er an der Küste ein Kanu stehlen wollte, um nach seiner Heimatinsel zu entkommen.

Viaburi brachte dem Weißen zwei brennende Laternen. Er sah, daß sie hell, mit klaren breiten Flammen brannten, und nickte mit dem Kopf. Die eine wurde an die Gaffel des Flaggenmastes gehißt, die andere auf die Veranda gestellt. Dies waren die Richtungslichter für den Ankerplatz von Berande. Und das ganze Jahr hindurch wurden sie allabendlich in dieser Weise untersucht und ausgehängt.

Mit einem Seufzer der Erleichterung ließ er sich wieder auf sein Ruhebett fallen. Das Tagewerk war beendet. Eine Büchse lag neben ihm. Sein Revolver befand sich in Reichweite. Eine Stunde verging, ohne daß er sich regte. Im Halbschlummer, in halber Bewußtlosigkeit lag er da. Plötzlich wurde er munter. Auf der hinteren Veranda hatte etwas geknarrt. Der Raum hatte die Form eines L; die Ecke, in der das Ruhebett stand, war finster, aber die Lampe, die im Hauptraum über dem Billardtisch so aufgehängt war, daß ihr Schein nicht auf ihn fiel, brannte hell. Die Veranden waren ebenfalls hell erleuchtet. Er wartete, ohne sich zu regen. Das Knarren wiederholte sich, und er wußte, daß mehrere Leute auf der Veranda lauerten. »Was Name?« rief er scharf.

Das Haus, das zwölf Fuß hoch über dem Boden errichtet war, erzitterte auf seinen Grundpfeilern unter den sich entfernenden Schritten.

»Sie werden dreist«, murmelte er. »Etwas muß geschehen.«

Der Vollmond ging über Malaita auf und schien auf Berande herab. Nichts regte sich in der stillen Luft. Vom Hospital her erklang noch das Stöhnen der Kranken. Unter den Grasdächern der Baracken schliefen zweihundert wollköpfige Menschenfresser nach der ermüdenden Tagesarbeit, und nur ein paar beugten die Köpfe, um zuzuhören, wie einer den Weißen, der nie schlief, verfluchte. Auf den vier Veranden des Hauses brannten die Laternen. Drinnen zwischen Büchse und Revolver stöhnte der Weiße und wälzte sich in unruhigem Schlummer.

Etwas geschieht

Am nächsten Morgen stellte David Scheldon fest, daß es ihm schlechter ging. Kein Zweifel, er war merklich schwächer, und zudem machten sich weitere ungünstige Anzeichen bemerkbar. Auf Ärger wartend, begann er seinen Rundgang. Er brauchte Ärger. Wenn er gesund gewesen wäre, würde die gespannte Lage ernst genug gewesen sein, wie die Dinge aber lagen und bei seiner zunehmenden Hilflosigkeit mußte etwas geschehen. Die Schwarzen wurden immer mürrischer und herausfordernder, und das Erscheinen der Leute in der Nacht auf der Veranda – eines der schwersten Vergehen auf Berande – war von übler Vorbedeutung. Früher oder später mußten sie ihn kriegen, wenn er sie nicht zuerst kriegte, wenn er ihren schwarzen Seelen nicht wieder einmal die überlegene Herrschaft des weißen Mannes klarmachte.

Enttäuscht kehrte er nach Hause zurück. Es hatte sich keine Gelegenheit geboten, einen Fall von Frechheit oder Ungehorsam festzustellen, wie sie bisher jeden Tag vorgekommen, seit die Krankheit Berande ergriffen hatte. Diese Ruhe war an und für sich schon verdächtig. Sie wurden immer tückischer. Es tat ihm leid, daß er in der Nacht nicht gewartet hatte, bis die Leute hereingeschlichen waren. Dann hätte er einen oder zwei niederknallen können, was den andern eine neue, mit Blut geschriebene Lehre gewesen wäre. Er war einer gegen zweihundert, und er fürchtete am meisten, daß die Krankheit ihn überwältigen und ihn in ihre Gewalt bringen könnte. Im Geist sah er schon, wie die Schwarzen die Plantage überfielen, das Lager plünderten, die Häuser in Brand steckten und nach Malaita flohen. Und er sah seinen eigenen Kopf, gedörrt und geräuchert, das Kanuhaus eines Kannibalendorfes zieren. Wenn die Jessie nicht kam, mußte er etwas tun.

Die Glocke, die die Arbeiter an die Arbeit rief, hatte kaum geläutet, als Scheldon Besuch erhielt. Er hatte sich sein Ruhebett auf die Veranda stellen lassen und lag dort, als Kanus ankamen und auf den Strand geschoben wurden. Vierzig, mit Speeren, Bogen, Pfeilen und Kriegskeulen bewaffnete Männer sammelten sich vor der Pforte, aber nur einer trat ein. Sie kannten die Gesetze von Berande, wie jeder Eingeborene das Gesetz auf den Besitzungen aller Weißen in dem auf Tausende von Meilen verstreuten Salomon-Archipel kannte. In dem Manne, der den Weg heraufkam, erkannte Scheldon Seelee, den Häuptling des Dorfes Balesuna. Der Wilde stieg nicht die Stufen empor, sondern blieb unten stehen und sprach zu dem weißen Herrn oben.

Seelee war intelligenter als die meisten seines Stammes. Seine eng beieinanderstehenden, kleinen Augen zeugten von Grausamkeit und List. Eine G-Saite und ein Patronengürtel machten seine ganze Kleidung aus. Die geschnitzte Perlmutterschale, die ihm von der Nase bis zum Kinn hing und ihn am Sprechen hinderte, diente nur als Zierat, und die Löcher in seinen Ohren hatten nur den Zweck, Pfeife und Tabak zu tragen. Die Stümpfe seiner ausgebrochenen Schneidezähne waren schwarz gefärbt vom Betelsaft, den er hin und wieder ausspie.

Wenn er sprach oder zuhörte, schnitt er Grimassen wie ein Affe. Er sagte »ja«, indem er die Augenlider senkte und das Kinn vorschob. Die kindische Arroganz seiner Sprache stand in krassem Widerspruch zu der unterwürfigen Haltung, die er vor der Veranda einnahm. Er hatte viele Anhänger und war Herr und Meister des Dorfes Balesuna. Aber der Weiße, der keine Anhänger hatte, war Herr und Meister von Berande – ja, er, der Einzelne, hatte sich gelegentlich sogar zum Herrn und Meister des Dorfes Balesuna gemacht. Seelee erinnerte sich nicht gern dieses Vorfalls. Damals hatte er die Natur der Weißen kennen und verabscheuen gelernt. Er hatte sich strafbar gemacht, indem er drei Durchbrennern aus Berande Unterschlupf gewährte. Sie hatten ihm alles, was sie besaßen, für das Obdach und die für das Entkommen nach Malaita versprochene Hilfe gegeben. Das hatte ihm die Aussicht auf eine einträgliche Zukunft verschafft, in der das Dorf zu einer Station der Untergrundbahn zwischen Berande und Malaita werden konnte.

Unglücklicherweise kannte er das Wesen der Weißen nicht. Dieser merkwürdige Weiße belehrte ihn, als er bei Tagesanbruch vor seinem Grashause erschien, eines Besseren. Im ersten Augenblick hatte es ihn belustigt, er fühlte sich so vollkommen sicher inmitten seines Dorfes. Aber im nächsten Augenblick hatten ihn, ehe er schreien konnte, ein paar Handfesseln, die der Weiße in der Hand hielt, auf den Mund getroffen und das Hilfegeschrei in seiner Kehle erstickt. Gleichzeitig hatte ihn die andere Faust des Weißen hinter dem Ohr getroffen, so daß er von dem folgenden nichts mehr wußte. Als er wieder zu sich kam, lag er in dem Boot des Weißen, das nach Berande fuhr. Auf Berande war er wie ein gewöhnlicher Nigger behandelt, war in Ketten gelegt und mit Handschellen an Händen und Füßen gefesselt worden. Nachdem sein Stamm die drei Durchbrenner wiedergebracht, wurde er freigelassen. Aber dann hatte der furchtbare Weiße ihn und Balesuna noch mit einer Strafe von zehntausend Kokosnüssen belegt. Nie wieder hatte er den Malaita-Leuten Unterschlupf gewährt. Statt dessen machte er sich nun ein Geschäft daraus, sie einzufangen. Das war sicherer. Zudem bekam er eine Kiste Tabak für jeden. Sollte dieser Weiße ihm aber je eine Gelegenheit bieten – daß er ihm krank in die Hände fiele, daß er, Seelee, ihm in den Rücken käme, wenn der Weiße im Busch stolperte und fiel – nun, dann gab es einen Kopf, der in Malaita etwas wert war.

Scheldon war über das, was Seelee ihm sagte, erfreut. Der siebente von den letzten Ausreißern war gefaßt worden. Er wurde hereingeschleppt. Es war ein kräftiger Mann, dessen Arme mit Kokosfaserstricken gebunden waren; das geronnene Blut vom Kampfe mit seinen Überwältigern klebte ihm noch am Körper. »Mich savvee du gut fella, Seelee«, sagte Scheldon, während der Häuptling ein viertel Wasserglas voll starkem Genever hinuntergoß. »Fella Boy gehören mir kurze Zeit klein bißchen. Dies fella Boy stark fella zuviel. Ich geben dir fella eine Kiste Tabak – mein Wort, eine Kiste Tabak. Dann, du gut fella, ich geben dir drei Faden Kaliko, ein fella Messer groß fella zuviel.«

Der Tabak und die andern Gegenstände wurden von zwei Hausboys aus dem Lager gebracht und dem Häuptling von Balesuna ausgehändigt, der die Zusatzbelohnung mit einem verbindlichen Grunzen entgegennahm und zu seinen Kanus zurückging. Auf Scheldons Anweisung legten die Hausboys dem Gefangenen Hand- und Fußschellen an und fesselten ihn an einen der Pfosten des Hauses. Als die Arbeiter um 11 Uhr von der Plantage kamen, ließ Scheldon sie vor der Veranda zusammentreten. Alle gesunden, einschließlich derer, die im Hospital helfen mußten, waren zur Stelle. Selbst die Frauen und Kinder der Plantage waren mit den übrigen in zwei Reihen angetreten – eine Horde von kaum weniger als zweihundert nackten Wilden. Außer dem Zierat aus Perlen, Muscheln und Knochen trugen ihre durchbohrten Ohren und Nasenflügel Sicherheitsnadeln, Nägel, Haarnadeln, rostige Pfannenstiele und Büchsenöffner. Einige hatten sich Federmesser in die krausen Locken geklemmt. Auf der Brust des einen hing ein Porzellantürknauf, auf der eines andern ein Messingrad aus einer Weckuhr. Ihnen gegenüber, aufs Verandageländer gestützt, stand der Weiße. Jeder einzelne von ihnen hätte ihn mit dem kleinen Finger umwerfen können. Trotz seiner Feuerwaffen wäre es für die Horde eine Kleinigkeit gewesen, ihn über den Haufen zu rennen, und dann hätten sein Kopf und die Plantage ihnen gehört. Haß, Mordgier und Rachedurst besaßen sie im Übermaß. Aber eines fehlte ihnen, eben das, was er besaß: der Zorn des Herrschenden, der nicht zu löschen war, der immer noch in diesem von Krankheit zermürbten Körper glimmte und jederzeit bereit war, aufzulodern und sie zu vernichten.

»Narada! Billy!« rief Scheldon scharf.

Zwei Mann schoben sich unwillig vor und warteten. Scheldon gab einem Hausboy den Schlüssel zu den Handschellen, und der Gefangene wurde losgemacht. »Du fella Narada, du fella Billy, nehmen dies fella Boy und machen ihn an Beinen fest, Hände ganz hoch!« befahl Scheldon.

Während dies langsam und unter dem Murren der Zuschauer geschah, brachte einer der Hausboys eine schwere Peitsche. Scheldon hielt eine Ansprache: »Dies fella Arunga mich machen cross auf ihn zuviel. Ich nicht bestehlen dies fella Arunga, ich nicht betrügen. Ich sagen, ›all right, du kommen zu mir Berande, arbeiten drei fella Jahre.‹ Er sagen ›all right, mich kommen zu dir drei fella Jahre.‹ Er kommen. Er kriegen viel gut fella Kai-kai, viel gut fella Geld. Was Name er laufen weg. Mich zuviel cross auf ihn. Ich zeigen was Name dies fella. Ich bezahlen Seelee, groß fella Herr in Balesuna, eine Kiste Tabak, weil fangen dies fella Arunga. Schön. Arunga bezahlen dies fella Kiste Tabak. Sechs Pfund dies fella Arunga bezahlen. Das heißen ein Jahr mehr dies fella Arunga arbeiten Berande. Schön. Jetzt er kriegen zehn fella Hiebe dreimal. Du fella Billy geben Hiebe, geben dies fella Arunga zehn fella dreimal. Alle fella Jungen zusehen, alle fella Marys zusehen; sie jemals möchten weglaufen, sie denken stark fella zuviel, nicht weglaufen. Billy, stark fella zuviel zehn fella dreimal.« Der Hausboy reichte Billy die Peitsche, aber der nahm sie nicht. Scheldon wartete ruhig. Die Augen aller Kannibalen waren in Zweifel, Furcht und Gier auf ihn gerichtet. In diesem Augenblick handelte es sich für den einsamen Weißen um Sein oder Nichtsein.

»Zehn fella dreimal, Billy«, sagte Scheldon ermunternd, aber es lag ein gewisser metallischer Klang in seiner Stimme.

Billy runzelte die Stirn, hob den Blick und senkte ihn wieder, regte sich aber nicht.

»Billy!«

Scheldons Stimme explodierte wie ein Pistolenschuß. Der Wilde erschrak sichtlich. Ein Grinsen lief über die grotesken Züge der Zuschauer, und ein leichtes Kichern war zu hören.

»Meinen, du wollen zuviel Hiebe das fella Arunga, du schicken ihn fella Tulagi?« sagte Billy. »Ein fella Regierungsagent befehlen Prügel. Das fella Gesetz. Mich savvee fella Gesetz.«

Es war Gesetz, und Scheldon wußte das. Aber er wollte heute und morgen am Leben bleiben und nicht sterben in der Erwartung, daß das Gesetz nächste oder übernächste Woche in Kraft träte. »Zuviel sprechen du!« schrie er wütend. »Was Name, he? Was Name?«

»Mich, savvee Gesetz«, wiederholte der Wilde hartnäckig.

»Astoa!«

Ein anderer Mann sprang vor und blickte ihn unverschämt an. Scheldon suchte sich die schlimmsten Kerle für diese Lehre aus.

»Du fella Astoa, du fella Narada, binden dies fella Billy neben anderen fella auf selbe fella Art. Fest fella binden«, warnte er sie.

»Du fella Astoa nehmen das fella Peitsche. Tüchtig groß fella zuviel zehn fella dreimal. Savvee!«

»Nein«, grunzte Astoa.

Scheldon griff nach der Büchse, die er an das Geländer gelehnt hatte, und spannte sie.

»Ich kennen dich, Astoa«, sagte er ruhig. »Du arbeiten Queensland sechs Jahre.«

»Mich fella Mission«, unterbrach ihn der Schwarze mit wohlberechneter Frechheit.

»Queensland du bleiben Gefängnis ein fella Jahr. Weiß fella Herr verdammter Narr dich nicht aufhängen. Du zuviel schlimm fella. Queensland du bleiben Gefängnis sechs Monate zweimal. Zwei fella Mal du stehlen. Du Mission? Schön. Du savvee ein fella Gebet?«

»Ja, mich savvee Gebet«, lautete die Antwort. »Schön. Dann du beten jetzt, kurze Zeit klein bißchen. Du sagen ein fella Gebet verdammt schnell, dann mich töten dich.«

Scheldon richtete die Büchse auf ihn und wartete. Der Schwarze blickte sich nach seinen Genossen um, aber keiner rührte sich, um ihm zu helfen. Sie waren gespannt, was da kommen sollte und starrten regungslos auf den Weißen, der, den Tod in der Hand, auf der großen Veranda stand. Scheldon hatte gewonnen, und das wußte er. Astoa trat unschlüssig von einem Fuß auf den andern. Er blickte den Weißen an und sah über das Visier hinweg in seine Augen.

»Astoa!« sagte Scheldon, den psychologischen Moment wahrnehmend. »Ich zählen drei fella Mal. Dann ich schießen dich fella tot, gute Nacht, alles aus.«

Und Scheldon wußte, daß er ihn auf der Stelle erschießen mußte, wenn er drei gezählt hatte. Der Schwarze wußte es ebenfalls, und das war der Grund, warum Scheldon es nicht zu tun brauchte, denn, als er eins gezählt hatte, streckte Astoa die Hand nach der Peitsche aus. Und recht kräftig handhabte er sie, aufgebracht darüber, daß seine Genossen ihn im Stich gelassen hatten. Mit jedem Hiebe machte er seiner Wut Luft. Von der Veranda aus trieb Scheldon ihn an, kräftig zu schlagen, bis die beiden gepeitschten Wilden schrieen und heulten und das Blut ihnen vom Rücken troff. Es war ein tüchtiger Denkzettel.

Als der letzte von der Bande mit den beiden heulenden Übeltätern durch die Pforte verschwunden war, sank Scheldon halb ohnmächtig auf sein Ruhebett.

»Ich bin ein kranker Mann«, murmelte er. »Ein kranker Mann.

Aber ich kann heute nacht ruhig schlafen«, fügte er eine halbe Stunde später hinzu.

Die Jessie

Zwei Tage vergingen, und Scheldon, der immer schwächer wurde, fühlte, daß es mit ihm zu Ende ginge, und daß er nicht mehr lange seine täglichen vier Hospitalbesuche machen könnte. Es gab durchschnittlich vier Todesfälle täglich, und die Krankheit griff immer mehr um sich. Die Schwarzen befanden sich in großer Angst. Jeder schien sich, krank geworden, die größte Mühe zu geben, zu sterben. Waren sie einmal von der Krankheit gepackt, so fehlte ihnen der Mut, sich gegen sie zu wehren. Sie glaubten, daß sie sterben mußten, und taten ihr bestes, diesen Glauben zu rechtfertigen. Selbst die Gesunden waren überzeugt, daß es nur eine Frage von Tagen war, bis die Krankheit auch sie packte und hinwegraffte. Aber so fest sie es auch glaubten, fehlte ihnen doch der Mut, den weißen Mann, der dem Tod so nahe war, über den Haufen zu rennen, und dem Hause des Grauens in den Booten zu entfliehen. Sie blieben lieber und warteten auf den schleichenden Tod, der ihrer, wie sie bestimmt wußten, wartete, als daß sie den sofortigen Tod wählten, der sie ereilen mußte, wenn sie sich gegen ihren Gebieter auflehnten. Daß er nie schlief, wußten sie. Daß er nicht tot gezaubert werden konnte, wußten sie ebenso sicher – sie hatten es versucht, und selbst die Krankheit, die sie alle hinwegraffte, konnte ihn nicht töten.

Seit der Auspeitschung hatte sich die Disziplin gehoben. Die Schwarzen krümmten sich unter der eisernen Faust des Weißen. Sie zeigten ihre finsteren, bösen Blicke nur mit abgewandten Gesichtern oder hinter seinem Rücken. Sie warteten mit ihrem Murren bis zur Nacht in der Baracke, wo er sie nicht hören konnte. Und es gab keine Ausreißer und keine nächtlichen Lauscher auf der Veranda mehr.

In der Morgendämmerung des dritten Tages nach der Auspeitschung erschienen die weißen Segel der Jessie. Sie war acht Meilen entfernt, und es dauerte bis zwei Uhr nachmittags, ehe die schwache Brise ihr ermöglichte, eine Viertelmeile vor der Küste zu ankern. Ihr Anblick verlieh Scheldon neuen Mut, und die ermüdenden Stunden des Wartens verdrossen ihn nicht. Er erteilte den Vorarbeitern seine Befehle und machte seine regelmäßigen Hospitalbesuche. Jetzt war alles gut. Er hatte es überstanden. Er konnte sich niederlegen und sich gesund pflegen. Die Jessie war da. Sein Teilhaber war an Bord, gesund und frisch vom sechswöchigen Rekrutieren in Malaita. Der konnte jetzt den Betrieb leiten, und alles auf Berande wurde gut.

Scheldon lag auf dem Deckstuhl und beobachtete das zum Strande rudernde Boot der Jessie. Er wunderte sich, daß nur mit drei Riemen gepullt wurde, und wunderte sich noch mehr, daß nach der Landung das Aussteigen so lange dauerte. Dann verstand er. Die drei Schwarzen, die gepullt hatten, kamen mit einer Tragbahre auf den Schultern über den Strand. Ein Weißer, in dem er den Kapitän der Jessie erkannte, schritt voran, öffnete die Pforte und ließ sie vorbei. Scheldon wußte, daß der, der auf der Bahre lag, Hughie Drummond war, und ein Schleier legte sich über seine Augen. Er spürte ein überwältigendes Verlangen zu sterben. Die Enttäuschung war zu groß. In seinem eigenen, entsetzlich schwachen Zustand fühlte er, daß es ihm unmöglich war, seine Aufgabe, die Berande-Plantage fest in der Hand zu halten, weiter zu erfüllen. Dann aber erwachte seine Willenskraft wieder, und er wies die Schwarzen an, die Tragbahre neben ihn auf den Boden zu setzen. Hughie Drummond, den er zuletzt vor Gesundheit strotzend gesehen hatte, war ein abgezehrtes Skelett. Die geschlossenen Augen waren tief eingesunken. Die eingeschrumpften Lippen entblößten die Zähne, und die Backenknochen schienen die Haut durchstechen zu wollen. Scheldon schickte einen Hausboy nach dem Thermometer und blickte fragend den Kapitän an.

»Schwarzwasserfieber«, sagte der Kapitän. »Er ist seit sechs Tagen bewußtlos. Und dazu haben wir Dysenterie an Bord. Was ist mit Ihnen los?«

»Ich begrabe vier Mann täglich«, erwiderte Scheldon, indem er sich von seinem Liegestuhl hinabbeugte und seinem Partner das Thermometer unter die Zunge steckte.

Kapitän Olson fluchte und schickte einen Hausboy nach Whisky. – Scheldon sah auf das Thermometer. Hundertsieben«, sagte er. »Armer Hughie.« Kapitän Olson bot ihm Whisky an.

»Das hat gerade noch gefehlt«, sagte Scheldon.

Er ließ einen Aufseher holen und befahl, ein Grab zu schaufeln und aus ein paar Kisten einen Sarg zu zimmern. Die Schwarzen bekamen keinen Sarg. Sie wurden begraben, wie sie starben, indem sie nackt, wie sie waren, auf ein Stück Wellblech vom Hospital zur Grube gefahren wurden. Nachdem er seine Befehle erteilt hatte, legte sich Scheldon mit geschlossenen Augen auf seinem Stuhl zurück.

»Es war die reine Hölle, Herr Scheldon«, begann Kapitän Olson; er brach ab, um einen Schluck Whisky zu nehmen. »Die reine Hölle, Herr Scheldon, sage ich Ihnen. Widrige Winde oder überhaupt keine. Zehn Tage sind wir getrieben. Zehntausende von Haien folgten uns zehn Tage lang, weil wir sie fütterten. Als wir an Land pullten, schnappten sie nach den Riemen. Ich wünschte, ein Nordwest wäre gekommen und hätte die ganzen Salomons in die Hölle geweht.

»Wir kriegten es vom Wasser – Wasser vom Owgabach. Füllten die Fässer damit. Konnten es ja nicht ahnen. Ich hatte früher Wasser dort eingenommen, und es war immer gut gewesen. Wir hatten sechzig Rekruten – genau sechzig – und fünfzehn Mann Besatzung. Tag und Nacht mußten wir sie über Bord schmeißen. Die Kerls wollten nicht leben, verdammt sollen sie sein! Aus reiner Bosheit starben sie. Nur drei von meiner Mannschaft stehen noch auf den Füßen. Fünf liegen. Sieben sind tot. Verfluchte Kiste! Was sollen wir weiter darüber reden!«

»Wieviel Rekruten sind noch übrig?« fragte Scheldon. »Die Hälfte ist weg. Dreißig sind noch übrig, davon liegen zwanzig, und die letzten zehn schwanken noch eben herum.«

Scheldon seufzte. »Das bedeutet wieder Erweiterung meines Hospitals. Sie müssen irgendwie an Land geschafft werden. Viaburi! He, du, Viaburi, läuten groß fella Glocke stark fella zuviel.«

Die Leute, zu so ungewöhnlicher Zeit von der Arbeit gerufen, wurden in Gruppen abgeteilt. Einige wurden in den Busch geschickt, um Holz für die Häusergerüste zu schlagen, andere mußten Gras zur Bedachung schneiden, und vierzig Mann hoben das Walboot über ihre Köpfe und trugen es zum Strand hinunter. Scheldon hatte mit den Zähnen geknirscht, den sinkenden Mut zusammengerafft und Berande wieder in seine Faust genommen.

»Haben Sie das Barometer beobachtet?« fragte Kapitän Olson, der am Fuß der Treppe stehengeblieben war, um die Ausschiffung der Kranken zu beobachten.

»Nein«, antwortete Scheldon. »Steht es niedrig?«

»Es fällt.«

»Dann schlafen Sie heute Nacht lieber an Bord«, meinte Scheldon. »Kümmern Sie sich nicht um das Begräbnis. Ich werde nach dem armen Hughie sehen.«

»Ein Schwarzer biß ins Gras, als ich vor Anker ging.« Der Kapitän sagte dies ganz beiläufig, wartete aber offenbar auf einen Vorschlag.

Den andern überkam plötzlich der Zorn.

»Schmeißen Sie ihn über Bord!« schrie er. »Großer Gott, Mann, glauben Sie nicht, daß ich genug Gräber an Land habe?«

»Ich meinte ja nur«, antwortete der Kapitän, durchaus nicht gekränkt.

Scheldon tat sein kindisches Benehmen leid.

»Ach, Kapitän Olson,« rief er. »Wenn Sie Rat wissen, kommen Sie morgen an Land und helfen Sie mir. Wenn Sie nicht selber können, schicken Sie mir den Steuermann.«

»Ich komme selbst. Johnsson ist tot. Ich vergaß, es Ihnen zu erzählen – vor drei Tagen.«

Scheldon sah dem Kapitän der Jessie nach, wie er, die Arme schwingend und Gott und die Salomoninseln verfluchend, den Weg hinunterging. Seine Blicke fielen auf die Jessie, die draußen in der glasigen Dünung rollte, und schweiften weiter nach Nordosten, wo, hoch über der Floridainsel, eine hohe dunkle Wolkenwand lagerte. Dann dachte er an seinen Partner. Er rief nach Leuten, um ihn ins Haus tragen zu lassen. Aber mit Hughie Drummond ging es zu Ende. Sein Atem war kaum noch zu spüren. Durch bloße Berührung konnte Scheldon feststellen, daß die Temperatur des Sterbenden sank. Sie mußte schon im Sinken gewesen sein, als das Thermometer hundertsieben zeigte. Er hatte ausgelitten. Scheldon kniete neben ihm nieder, und die Hausboys stellten sich herum. Ihre weißen Hemden und Lendentücher bildeten einen merkwürdigen Kontrast zu ihrer schwarzen Haut, ihrem wilden Aussehen und ihren großen Ohrpflöcken und glänzenden, geschnitzten Nasenringen. Mit Anstrengung kam Scheldon wieder auf die Füße und ließ sich auf den Liegestuhl fallen. So schwül es auch vorher gewesen, jetzt wurde es noch drückender. Man konnte kaum atmen. Er rang nach Luft. Die Gesichter und die bloßen Arme der Hausboys waren mit Schweißperlen bedeckt. »Herr,« wagte einer von ihnen zu sagen, »groß fella Wind er kommen stark fella zuviel.«

Scheldon nickte, sah aber nicht auf. So nahe ihm Hughie Drummond auch gestanden hatte, sein Tod und das sich daraus ergebende Begräbnis schienen ihm eine unerträgliche Last aufzubürden, zu der, unter der er bereits zusammenbrach. Er hatte das Gefühl – nein, die Gewißheit – daß er nur die Augen schließen und alles gehen lassen sollte, wie es wollte, und daß er dann sterben, in einer Unermeßlichkeit von Ruhe versinken dürfte. Er wußte, daß es so war. Es war sehr einfach. Er brauchte nur die Augen zu schließen; denn er war jetzt so weit, daß er nur noch durch seinen Willen lebte. Sein ausgezehrter Körper schien von der aufsteigenden Angst vor der Auflösung zerrissen. Er war ein Narr, daß er sich ans Leben klammerte. Zwanzig Tode war er schon gestorben, und welchen Zweck hatte es, das Leben nochmals um zwanzig Tode zu verlängern, ehe er wirklich starb. Er hatte nicht nur keine Furcht vor dem Tode, er wünschte ihn herbei. Sein zermarterter Körper und sein Geist wünschten es, und warum sollte seine Lebensflamme nicht ganz erlöschen? Aber sein Wille, der Leben und Tod meisterte, war noch wach. Er sah die beiden Boote am Strande landen und sah die Kranken auf Tragbahren oder Huckepack in trauriger Prozession vorbeiziehen. Er sah die Anzeichen des aufsteigenden Windes am bewölkten Horizont und dachte an die Kranken im Hospital. Hier wartete seiner etwas, das geschafft werden mußte, und es lag nicht in seiner Natur, sich schlafen zu legen oder zu sterben, wenn es noch eine Aufgabe zu erfüllen galt.

Die Aufseher wurden gerufen und erhielten den Befehl, das Hospital mit den beiden Anbauten festzulaschen. Er erinnerte sich der Reserveankerkette, die, neu gestrichen, unter den Deckenbalken des Hauses aufgehängt war, und befahl, sie gleichfalls beim Hospitalbau zu verwenden. Der Sarg wurde gebracht, grotesk aus Kistenholz zusammengezimmert, und nach seiner Anweisung wurde Hughie Drummond hineingelegt. Ein halbes Dutzend Leute trugen ihn zum Strand hinunter, und er ritt auf den Schultern eines Schwarzen, die Arme um seinen Hals geklammert, ein Gebetbuch in der Hand, hinterher. Während er das Gebet las, starrten die Schwarzen furchtsam auf die schwarze Linie, über der die Wolken, sich überstürzend, daherjagten. Als er die Andacht beendet hatte, wehte der erste Hauch, schwach, zärtlich und erfrischend durch seinen ausgedörrten Körper. Während dann die Schaufeln schnell das Grab mit Sand füllten, kam der zweite Windstoß. So heftig war er, daß Scheldon, der noch auf dem Boden stand, sich, um nicht fortgeweht zu werden, an seinen Träger klammerte. Die Jessie war nicht mehr zu sehen, und ein merkwürdiges, unheilverkündendes Geräusch erhob sich, während Unmengen kleiner Wellen schäumend auf den Strand rollten. Es war wie das Aufwallen eines mächtigen Kessels. Überall her ertönte das dumpfe Geräusch fallender Kokosnüsse. Die hohen zierlichen Stämme wanden sich und klatschten wie Peitschenschläge. Die Luft schien angefüllt mit ihren fliegenden Wedeln, deren jeder mit seiner Schneide den Kopf eines Mannes hätte zerschmettern können. Dann kam der Regen; eine Sintflut, eine horizontale Masse, die, allen Gesetzen der Schwere Hohn sprechend, wie ein Strom daherschoß. Der Schwarze, auf dem Scheldon ritt, stürzte sich mitten in das Unwetter hinein, indem er sich weit vorbeugte, um nicht rücklings niedergeworfen zu werden.

»Er kann sich heute nacht ausschlafen«, fuhr es Scheldon durch den Kopf, als er an den toten Mann im Sande und an das auf den kalten Lehm rieselnde Regenwasser dachte.

So kämpften sie sich den Strand hinauf. Die andern Schwarzen packten seinen Träger und schleiften, zerrten ihn vorwärts. Manche von ihnen hätten nichts lieber getan, als den Reiter in den Sand zu werfen, auf ihn zu springen und ihn zu einem widerlichen Nichts zu zerstampfen. Aber die automatische Pistole mit ihrem schnell ratternden Tod in seinem Gürtel und der automatische, todesverachtende Geist in dem Manne selbst hielten sie zurück und trieben sie, ihn mit Aufgebot ihrer ganzen Kräfte durch den Sturm in Sicherheit zu bringen.

Durchnäßt und erschöpft, wie er war, mußte er sich über die Leichtigkeit wundern, mit der er die Kleider wechseln konnte. Obwohl er furchtbar schwach war, fühlte er sich doch tatsächlich besser. Die Krankheit hatte ausgetobt, und die Genesung begann.

»Jetzt nur kein Fieber«, sagte er laut und entschloß sich im selben Augenblick, zum Chinin überzugehen, sobald er stark genug war, es wagen zu können.

Er kroch auf die Veranda. Der Regen hatte aufgehört, aber der Wind war schon zum halben Sturm geworden und wuchs immer noch. Die See toste, und meilenlange Brecher überstürzten sich zweihundert Meter vor dem Strande und krachten auf den Sand. Die Jessie, die jetzt wieder zu sehen war, stampfte wild vor zwei Ankern, und jede zweite oder dritte See brach über ihren Bug hinweg. Zwei Flaggen flatterten steif an der Flaggleine, wie Vierecke aus biegsamem Eisenblech. Die eine war blau, die andere rot. Er kannte ihre Bedeutung aus dem Privatcode von Berande: »Was wünschen Sie? Soll ich versuchen, ein Boot zu landen?« An der Wand, zwischen Flaggenmast und Billardregeln, hing der Code, mit dessen Hilfe er das Signal entziffert hatte und jetzt antwortete. An der Gaffel des Flaggenmastes ging eine weiße Flagge über einer roten hoch, was bedeutete: »Gehen Sie in Schutz der Nealinsel.«

Daß Kapitän Olson dies Signal erwartet hatte, erkannte er an der Schnelligkeit, mit der die Schäkel aus beiden Ankerketten geschlagen wurden. Er slippte die Anker, nachdem er sie mit Bojen versehen hatte, um sie bei besserem Wetter aufzunehmen. Die Jessie wendete unter vollem Stagsegel, dann wurde das doppelt gereffte Toppsegel gehißt. Sie schoß fort wie ein Rennpferd und kam auf eine halbe Kabellänge vom Balesunariff frei. Eben bevor sie die Spitzen rundete, wurde sie von einer furchtbaren Bö getroffen, die weit heftiger als die erste war.