Die Irrlichter - Marie Petersen - E-Book

Die Irrlichter E-Book

Marie Petersen

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Beschreibung

Dieses eBook: "Die Irrlichter" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Marie Luise Auguste Petersen (1816-1859) war eine deutsche Schriftstellerin. Aus dem Buch: "Ein breiter Strom hellen Sonnenscheins fiel, durch zerrissenes Gewölk, auf die grüne Lichtung des Waldes, die von vorspringenden Bergesrücken, auf halber Höhe des Gebirges, den Blick ungehindert in's Weite schweifen läßt. — Arm in Arm geschlungen, standen dort zwei jugendliche Wanderer und schauten mit leuchtenden Augen auf das in Wolken und Abendschatten gehüllte Land zu ihren Füßen."

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Marie Petersen

Die Irrlichter

e-artnow, 2015
ISBN 978-80-268-4040-4

Inhaltsverzeichnis

Cover
Titelblatt
Text

Es hatte schon mehrere Tage lang gewittert. Die schweren Wetterwolken konnten keinen Ausweg finden ans den Klüften des Gebirges. Finster und grollend zogen sie ihre schwindelnden Pfade an den schroffen Bergeswänden dahin — Pfade, auf denen kein Maulthier, kein kühner Jäger ihnen nachkletterte, — oder sie senkten sich tief herab in die Schluchten, riefen mit brüllender Donnerstimme in jede Felsenspalte, in jede Höhle hinein und hauchten ihren schwülen Athem auf die Bäume und Pflanzen, die angstvoll und regungslos dastanden. Das scheue Wild hatte den Schutz der Wälder und Höhlen gesucht, und die Bergschwalbe, die an den Felsenwänden nistet, wagte sich nicht mehr hinauf in die obere Luft. Dicht über dem Boden dahin fahrend, mit den dunklen Spitzen ihrer Flügel fast die Gräser streifend, zog sie in zitternden Kreisen hin und wieder.

In kurzen, heftigen Stößen hatte der Sturmwind die Thäler durchbraust, als Vorläufer von sinnverwirrenden Regengüssen. Toll und grausam, wie er ist, hatte er es wenig Acht gehabt, ob die schönsten und stolzesten Bäume des Waldes ihm bittend ihre grünen Arme entgegen streckten. Wenn auch hier und dort eine schlanke, biegsame Birke sich unverletzt seiner wilden Umarmung entwand, so mußte doch manche herrliche Eiche, manche immergrüne Fichte mit gebrochenen Gliedern seine rauhe Begrüßung entgelten.

Des Sturmes Schwestern, die Regengüsse, die standen ihrem Bruder kaum nach an Wildheit und Schadenfreude. Von derselben Wolke geboren, stürzten sie mit derselben ungezügelten Kraft und Ausgelassenheit auf Berg und Fluren herab. Ueber die Abhänge rauschend, in den Schluchten sich zusammendrängend, schleppten sie gewaltsam Alles mit sich fort, was ihnen dort in den Weg kam, rollten Bäumchen und schwere Steine von den Bergen und rissen ohne Erbarmen den alten Klippen große Fetzen aus den grünen Sammetmänteln, die der Frühling mitleidig um ihre nackten Schultern gehängt.—Wehe aber vor allen Andern den reifenden Saaten, in die ihre wilde Strömung sich den Weg gebahnt! Da wurden die zarten Halme zu Boden gerissen, um nie wieder aufzustehen. Von Schlamm und Steinen überschwemmt, mit grünen Wucherranken gefesselt, starben sie einen kläglichen Tod — sie, denen jeder Sonnenstrahl von künftigen Triumphen erzählt hatte: wie sie einst, in goldener Reife, auf hohen, geschmückten Wagen ihren festlichen Einzug in's Dorf halten, vom Pfarrer gesegnet, vom glücklichen Landvolk mit Gesang und Tanz gefeiert werden sollten.

So viele Wasser aber schon herabgerauscht, die dunkle Wolkendecke wollte ihre schweren Falten nicht auseinander schlagen. Schatten über Schatten breitend, verhüllte sie jedes Fleckchen Himmelsbläue, das sonst so lachend und sonnig, zwischen Laubdächern und Felsenkuppen hindurch, auf den blumigen Rasengrund blickte.

Heut war seit früher Morgenstunde die heulende Stimme des Sturmwinds nicht mehr vernommen worden, die wilden Regengüsse hatten aufgehört, ihre Silbermähnen zu schütteln; nur ein sanftes Getröpfel zog in ihrem Gefolge leise rieselnd über Berg und Thal. Auf dem glatten Spiegel des Unkenteichs am Waldessaume — da hatten die Regenelfen den ganzen Nachmittag ihre Ringeltänze getanzt und huschten erst hinweg, als jetzt die Sonne zur Ruh' gehen wollte, und der Abendwind, der kampfesmüde im Grase geruht, sich aufmachte und hier und da in das Gewölk eine Oeffnung brach, durch welche freundliche Sonnenstrahlen ihren stillen Abendgrüß in das Thal senkten. Von neckenden Lüften verfolgt, flohen die Regenelfen in's hohe Uferschilf, hängten sich schaukelnd an die Federbüschel und schmalen Blätter des Rohres; öder stiegen, in langen, nebelhaften Zügen auf schräg gestellten Sonnenstrahlen, zur Wolkenmutter empor, in ihrem Schooße neuen Festen entgegen zu träumen.

Ein breiter Strom hellen Sonnenscheins fiel, durch zerrissenes Gewölk, auf die grüne Lichtung des Waldes, die von vorspringenden Bergesrücken, auf halber Höhe des Gebirges, den Blick ungehindert in's Weite schweifen läßt. — Arm in Arm geschlungen, standen dort zwei jugendliche Wanderer und schauten mit leuchtenden Augen auf das in Wolken und Abendschatten gehüllte Land zu ihren Füßen.

Nach Süden hin schroff abfallend, greift das Gebirge, mit zwei mächtigen Armen weit in's Land, ein paar Meilen von der fruchtbaren Ebene, die sich bis an den fernen Strom breitet, losreißend und als sein Eigenthum in Besitz nehmend. Es ist ein grünes, liebliches Fleckchen Erde, das, von den gewaltigen Armen umschlossen, gegen Nord- und Ostwinde geschützt, warm und geborgen an der Felsenbrust der alten Berge ruht. Von ihren Quellen genährt, zu immer kräftigerem Gedeihen sich entfaltend, mit üppigen Wiesen und Feldern, mit bewaldeten Hügeln und Obstgärten geschmückt, schaut es lachend und dankbar zu den lichtgekrönten Bergesstirnen empor, — drängt sich schmeichelnd mit jugendfrischem Grün in die wildesten Schluchten hinein — und klettert mit keckem Baumwuchs, mit duftigem Waldesschatten, die steilen Abhänge empor, — springt wagehalsig über schauerliche Klüfte und Abgründe, um einer einsamen Klippe ein paar dunkle Tannen, einen lichtgrün wehenden Birkenschleier auf das ernste Haupt zu stecken, — oder es tritt freundlich bei Seite und dehnt sich behaglich zur Ruhe, wo lustige Bergwasser ihm sprudelnd entgegenhüpfen.

Es war nicht die Abendsonne allein, die einen so hellen Glanz auf die beiden Knaben auf dem Bergrücken warf, — von innen herausstrahlend, lag auf ihren blühenden Gesichtern der volle Sonnenschein der eben beginnenden Sommerferien, jener funkelnden Knabenfreude, die ein paar Wochen außerhalb des Schulkäfigs, mit losgebundenen Schwingen frei hinausflatternd in Feld und Wald, als eine Ewigkeit unerschöpflicher Jugendlust erscheinen läßt. Und wo es nun gar eine Heimreise ins ferne Vaterhaus gilt, ein Wiedersehen mit Eltern und Geschwistern, mit all' den lieben Plätzen in Haus und Garten, die von den ersten Erinnerungen aufdämmernden Bewußtseins vergoldet sind, — wie flackert das junge Herz da auf in hellem Freudenfeuer!

Beide Knaben, schon dem Jünglingsalter nahe, kamen aus einer großen Stadt jenseit des Gebirges. Der schwere Postwagen, welchen sie benutzten, kam nur langsam vorwärts auf den vom Regen ausgewaschenen Gebirgswegen; und während er beim letzten Stationshause in einer der hinteren Thalschluchten auf Vorspann wartete, hatte der eine der Knaben das schwüle Gastzimmer verlassen und auf wohlbekanntem Fußpfad die Höhe erklommen. Der Freund, der ihm nachgeeilt, hatte ihn erst hier oben erreicht und stand jetzt neben ihm und schaute ihm tief aufathmend in das erhitzte Gesicht.

„Wie Du glühst!“ sprach er lächelnd, „Du kletterst ja wie eine Gemse; ich hatte Mühe, Dir nachzukommen.“

„O, hier bin ich zu Hause!“ rief fröhlich der Andere, „hier kenne ich jeden Baum, jeden Stein. — Hier finde ich mich bei Nacht zurecht; bin ja oft genug nach Sonnenuntergang in diesen Felsen umhergeklettert, um Nachtfalter zu fangen. — Die Reisegesellschaft hat mich schon den ganzen Tag gestört; ich habe die Burschen nie leiden mögen und unten in der dumpfen Gaststube — da war mir ihr wüstes Gelärm vollends zuwider.“

„Es sind aber gute Jungen,“ entgegnete der Freund, „ein bischen wild und roh, aber grundehrlich. Ich glaube, sie hätten uns gern aufgefordert, mit zu spielen, Du setztest nur eine so vornehme Miene auf, daß sie sich nicht heranwagten.“

„Nun, das freut mich, daß sie sich nicht heranwagten! Aber sieh' doch um Dich, Mensch, kann es Dir hier denn leid sein, daß Du nicht unten geblieben?“

„Nein, weiß Gott!“ sagte der Erste, „es ist herrlich hier oben, und der Blick in's Weite entschädigt reichlich für die feuchten Kleider und den steilen Pfad. Der Regen hat jetzt auch ganz aufgehört, und die langen Sonnenstrahlen leuchten ordentlich hinein in die waldigen Schluchten und zeigen die glitzernden Bergwasser tief im Grunde. Sieh' nur das alte Kirchlein dort auf dem Hügel, — das goldne Kreuz auf der Spitze glüht, als ob es in Feuer stände.“

„Das ist auch die Kirche von Nordingen“, erklang die freudige Antwort. „Links bei der Waldecke, tief im Grunde, da kannst Du auch den Giebel unseres Häuschens erkennen. Die zwei Fenster, die eben so hell aufglänzen, das sind die Fenster unseres Fremdenstübchens; da wirst Du wohnen, wenn Du über's Jahr auf Besuch kommst. Ach, könnt ' ich Dich nur gleich mitnehmen! Daß Deine Schwester auch gerade in den Ferien heirathen muß!“

„Ei der Tausend! Es ist doch eigentlich recht hübsch von ihr, daß sie in den Ferien heirathet und ich dabei sein kann. — Aber zu Dir wäre ich auch so gern gekommen. — Wie schön wird es im nächsten Sommer sein! Gehören die kleinen Häuser dort hinten auch noch zu Deinem Nordingen?“

„Ja wohl, die Häuserchen der Bauern und Weber liegen einzeln verstreut zwischen Gärten und Feldstücken. Das Herrenhaus konnte man sonst auch von hier aus sehen; aber die Ulmen und Linden im Park haben sich ausgebreitet und das öde, traurige Gebäude ganz zugedeckt.“

„Wohnt denn jetzt Niemand darin?“

„Im Seitenflügel, da wohnt der Verwalter mit Frau und Kindern; aber der Hauptbau steht ganz leer, und die Läden und Vorhänge werden nur selten geöffnet. Mein Vater geht oft hinüber und sieht nach, daß Alles gut erhalten wird und Nichts verfällt.“

„Wird denn der junge Erbe immer in England bleiben?“

„O nein, er wird nur dort erzogen, bei Verwandten seines Vaters, und soll zurückkommen, sobald er mündig ist. Dort drüben, dicht an der Kirche, wo die hohen Tannen über's Dach ragen, da sind die Gräber seiner Großeltern. Mein Vater hat die alte Herrschaft sehr lieb gehabt. So lange ich zu Hause war, ließ er mich den ganzen Sommer hindurch, jeden Sonntag frische Blumen auf die Gräber tragen, und er selbst oder die alte Brigitte haben mich oft begleitet. Der Kirchhof zieht sich auf der andern Seite den Hügel hinunter bis dicht an den Park. Schon manchen Sarg habe ich dort einsenken sehen.“

„Deine Mutter ist wohl auch dort begraben?“ fragte der Freund mit leiserem Tone.

„Ach nein“, sagte traurig der Andere, „meine Mutter starb auf einer weiten Reise, als ich noch ganz klein war; sie ruht gar nicht in deutscher Erde.“ —

Hättest Du, liebe Leserin, den Tag über im Postwagen den Knaben gegenüber gesessen und ihren heiteren Gesprächen gelauscht, und hättest auch jetzt diese einfache Antwort hören und dabei in das plötzlich verdüsterte Gesicht des Sprechenden schauen können, vielleicht wäre Dir auf einmal klargeworden, warum gerade dies Gesicht Dich so wunderbar anzog, warum Deine Blicke nicht loskonnten von diesen festen, feingeschnittenen Zügen, dem ernsten Munde und den träumerischen dunklen Augen, die einen Lichtglanz kindlicher Reinheit ausstrahlten, der einer anderen Welt anzugehören schien. Wie ein Wolkenschatten auf einer frühlingsgrünen Landschaft, so lag ein Ausdruck wehmüthigen Ernstes auf diesen jugendlichen Zügen, der von etwas Anderem erzählte, als von den lachenden Tagen blühender Jugend, von den Wonnen der eben beginnenden Sommerferien, von etwas Anderem, als den einfachen Erlebnissen eines Schülers, welcher gute Zeugnisse und sogar eine Prämie mit nach Hause bringt. — Wir haben uns gewöhnt, wo wir auf einem Kinderantlitz jenen verklärenden Hauch einer über das zarte Alter hinausgehenden geistigen Bedeutsamkeit finden, mit fragendem, besorgtem Blick in die Zukunft zu schauen und dem jungen Wesen einen frühen Tod zu prophezeien. — Wie oft aber sehen wir nur die weit in das junge Leben hineinragenden Schatten einer trüben Vergangenheit vor uns — die Spuren von Thränen, die heiß und zahllos schon auf das Wiegenkindchen gefallen sind — die Wiederspiegelung von ernsten, traurigen Gesichtern, in deren Anschauen das arme Kleine sein erstes Lächeln, sein erstes Lallen geübt hat. — Und nun das einzige, kostbare Kleinod eines vereinsamten, trauernden Herzens, ein Kind, das um der Todten willen und weil es der ihm zugeborenen Mutterliebe entbehren muß, mit um so größerer Liebe gehegt und gehütet wird, — dem schreibt der liebe Herrgott aufs Angesicht einen Freibrief an den Liebesreichthum aller guten und fühlenden Herzen; und mit dieser Gottesschrift auf Stirn und Auge hätte der fremde Knabe auch Deine Theilnahme gewonnen, liebe Leserin, — und Du würdest nicht mehr gefragt haben, warum Du sie ihm geschenkt, seit Du wußtest, daß er eine mutterlose Waise sei.

Sein junger Gefährte schien auch etwas von jenem stillen Liebeszug zu empfinden, als er jetzt den Arm um die Schulter des Freundes legte und mit einem innigen Blick aus den offenen, ehrlichen Augen herzlich sagte:

„Dein Vater aber, wie wird der sich freuen, daß Du heut schon kommst, einen Tag früher, als er Dich erwartet.“

„O, mein Vater, mein lieber, lieber Vater! Dazu möge Gott mir helfen, ihm immer und immer nur Freude zu machen; Du glaubst nicht, Albrecht, wie angst mir oft wird! — weiß ich ja doch, daß alle seine Lebensfreuden und Hoffnungen auf mir ruhen. — —Und wenn ich nun nicht so würde, wie er mich haben möchte, — ich, sein einziges Kind!“

„Nein, das ist mir zu toll!“ rief der Erste und machte sich heftig von ihm los. — „Ist ein Wunderkind gewesen vom ersten Schultag an, die Wonne aller Klassenlehrer; selbst der gestrenge Herr Prorektor findet Nichts an ihm auszusetzen; — und das Bürschchen fürchtet, der eigne, zärtliche Vater könnte in Verzweiflung fallen über den mißrathenen Thunichtgut. Hast mir doch versprochen, allen trübseligen Grübeleien den Abschied zu geben. — Da war's nun eine Freude und ein Jubel die zwei Reisetage hindurch — immer den Kopf aus dem Fenster, Deine Berge zu sehen, welche die Regenwolken doch versteckt hielten, bis wir dicht davor waren. In der Nacht hast Du kein Auge zugethan; und als der Weg zu steigen begann, da hast Du gebettelt und schön gethan mit dem bärbeißigen dicken Herrn, bis er Dich wirklich draußen sitzen ließ. — — Und hier nun auf der Schwelle der Heimath, das geliebte Nordingen vor Deinen Augen, da willst Du den Kopf hängen lassen und Grillen fangen! Komm, komm, die Schatten werden länger, wir dürfen den Wagen nicht verfehlen.“

„Oho!“ rief der Andere und zog schnell den Arm zurück, den Jener eben gefaßt hatte, „denke nicht, ich werde noch einmal in den heißen Kasten klettern und den langen Weg bis zur Waldschenke mitfahren, wo mich heute doch kein Mensch erwartet, kein Wagen mich abholt. Hier durchs Gebüsch hinunter — am Weizenacker entlang — und durch das Elsenbruch, da bin ich in einer kleinen Stunde zu Hause. Mein Gepäck kann der Waldwirth in Obhut nehmen, bis ich es morgen abholen lasse.“

„Nein, nein, Walter, der Plan gefällt mir nicht“, wendete der besonnenere Freund ein. „Sieh' nur, wie es schon dunkelt unten im Thal; die Nebel heben sich aus allen Schluchten und könnten Dir Schaden bringen.“

„Ach, die Schleiermuhmen! — — die thun keinem Landeskind etwas zu Leide. Nur wer hier fremd ist und die Wege nicht kennt, dem könnten sie in den Klüften gefährlich werden. Sorg' Dich nur nicht um mich; — kriech' in Deinen Postwagen und bestell' dem dicken Herrn einen schönen Gruß von mir. Morgen aber, wenn Du nach Hause kommst zu Deinen Eltern und Schwestern und den drolligen kleinen Brüdern, da vergiß mich nicht ganz in Deinem Glücke. — Ich werde dem Vater viel von Dir erzählen.“

„Lieber Walter!“ sagte jener, legte beide Hände auf die Schultern des Freundes und blickte ihm wehmüthig in's Gesicht. „Vier ganze Wochen soll ich mich ohne Dich behelfen! Aber auf der Rückreise, am letzten Juli-Montag, da treffen wir wieder in der Waldschenke zusammen?“

„Ja wohl, oder noch besser — wieder hier oben. Du verläßt den Postwagen, noch ehe Du an die Waldschenke kommst, schon bei dem Wasserfalle des Weißbachs, und schlägst den Fußpfad ein, der links vom Bache aufwärts führt. Da bist Du lange Zeit vor dem Wagen hier oben. Und hier findest Du mich mit dem Vater, der mir das Geleit giebt. — Und saftige Birnen aus unserem Garten und Mandelkringel, wie nur die alte Brigitte sie bäckt, die sollen auch dabei sein.“

Der lustige Klang eines Posthorns hatte die letzten Worte begleitet; jetzt hörte man auch Pferdegewieher und das Rasseln eines schweren Wagens im Walde hinter den Sprechenden. — Noch einen warmen Händedruck — ein frisches Lebewohl und Gott befohlen! — und der Eine eilte zurück in den Tannenwald, dem Wagen entgegen, während der Andere, das niedere Gebüsch am Abhang durchbrechend, auf ungebahntem, aber wohl bekanntem Pfade die Riesenstufen einer von der Natur gebildeten Freitreppe hinunter sprang. Zwischen hohen, senkrechten Felswänden dahinschreitend wurde er bald der Wandergefährte eines geschwätzigen Bergwassers, das, glänzend und schüchtern wie eine kleine Eidechse, unter den Steinen hervorschlüpft, im Weiterlaufen schnell an Kraft und Keckheit zunahm. Die vielen Gewitterregen hatten das Bächlein so wild und übermüthig gemacht, daß der Knabe bald in dem tollen Gebrause die wohlbekannte Stimme des alten Spielkameraden nicht mehr erkennen konnte, nicht mehr Schritt halten mit dem ungestümen Lauf des angeschwollenen Wassers. Unten, wo der Nixenfall von hoher Klippe herab seine durchsichtigen Schleier in den Schwarzbach flattern läßt, da war der Rand des grünen Felsenbeckens weit überfluthet, — und Walter fand nur dicht an die Bergwand gedrückt, hier und da einen nassen Stein, auf den er den Fuß setzen und so aus dem Felsenthor hinaustreten konnte.

Draußen hatte das Wasser den Steg hinweggerissen, der hinüber in die Felder führte. Der Bach ging zu hoch und reißend, um ihn, von Stein zu Stein springend, überschreiten zu können, was der Knabe oft dem bequemeren Stege vorgezogen. Eine Strecke lang irrte er suchend am Ufer dahin und beschloß endlich, sich links im Walde zu halten und erst bei der Nordinger Steinbrücke den Schwarzbach zu überschreiten.

Der Weg, den er hier wählte, war weiter, und der Vater hatte ihm von jeher verboten, ihn zur Abendzeit allein zu gehen, denn der Wald hatte sumpfige Stellen von grundloser Tiefe, welche den Unkundigen oder Unvorsichtigen in große Gefahr bringen konnten. Heute blieb indessen keine Wahl; Walter kannte so genau den festen Fußsteig und war auch zwei Jahre älter geworden, seit das Gebot zuletzt an ihn ergangen. Der Vater selbst würde keinen Einspruch gethan haben, wäre er zur Stelle gewesen.

So bog er denn in einen schmalen Fußpfad ein, der, den Bach verlassend, tiefer in den Wald führte. Die Erregung der letzten Tage, welche des Nachts den Schlaf von seinen Augen gescheucht, welche ihn so hastig auf den Berg und im flüchtigen Lauf, mit dem Schwarzbach um die Wette, die enge Schlucht hinunter getrieben, die wich allmälig der tiefen, beschwichtigenden Stille des abendlichen Waldes. Walter war sich nicht bewußt, wie ermüdet er war, — er schritt langsam unter den Bäumen dahin und gedachte der Wanderungen, die er hier mit dem Vater gemacht, der alten Geschichten, die sich in diesem Theile des Waldes zugetragen haben sollten. Ein ergrauter Jäger, welcher zur Hinterlassenschaft der alten Herrschaft gehörte und noch im Herrenhause verpflegt wurde, hatte ihm die allerverwunderlichsten erzählt. Es fiel dem Knaben ein, daß er selbst ein Sonntagskind sei, daß die alte Brigitte ihm anvertraut, er sei an einem Sonntagsmorgen gerade unter dem Kirchengeläut geboren und werde deshalb mehr und seltsamere Dinge in der Welt schauen, als andere Christenmenschen mit zwei gesunden Augen. Den Vater hatte er damals gefragt, was es denn für eine Bewandniß habe mit den Sonntagskindern, die unter dem Kirchenläuten geboren würden, wie er eins sei. — Und der Vater hatte ihm erwiedert, eine gar schöne Bewandniß werde es mit solchen Kindern haben, denen die lieben Kirchenglocken gleich bei der Geburt einen Segensgruß zugerufen. Wenn Gott der Herr mit Glockenstimmen die Seinen zusammenrufe, so sei es, um ihnen Gnade und Segen zu spenden, — und wie eine Segensverheißung habe auch seine liebe Mutter die heiligen Klänge vernommen, als sie ihr kleines Neugebornes in ihren Armen gehalten, in heißem Gebet Gott gedankt habe für das Kindchen, das er ihr geschenkt, — und sich gelobt, mit Ernst und Treue über dasselbe zu wachen und es nach Gottes Willen zu erziehen. Die liebe Mutter sei nun nicht mehr da, aber er selbst schon alt genug, Gottes Willen zu erkennen, und wenn er sich früh darin übe, diesen heiligen Willen zu achten und wach zu sein und auszuschauen nach den Gnadengaben Gottes, so werde die Zeit für ihn nicht ausbleiben, wo er mehr und herrlichere Dinge schauen werde, als andere Menschen, die eingeschlafen wären und sich durch keine Glockenstimme wecken ließen.

Der Vater hatte ihn darauf mit sich genommen in sein Zimmer, wo das schöne, große Bild der verstorbenen Mutter hing, und hatte ihm dort viel Liebes erzählt von der theuren Mutter, wie engelgut sie gewesen, die Freude und der Liebling Aller, die sie kannten, und wie herzinnig sie ihren kleinen Walter geliebt. Wenn sie noch so bittere Schmerzen gelitten — und die arme Mutter hatte viel und schwer zu leiden gehabt —, so sei Alles vergessen gewesen, sobald ihr Kind in's Zimmer gebracht worden. Mit ihm habe sie gelacht und gespielt und sei selbst zum Kinde geworden; — noch ihre letzten Kräfte hätte sie daran gegeben, selbst seine schwankenden Schritte zu leiten, als es zuerst gehen lernte. — Und beim Sterben im fremden Lande, als in der Todesstunde alles Erdenleid von ihr abgefallen und sie auch die herbe Qual des Scheidens von ihrem Knaben überwunden, da habe sie noch mit seligem Lächeln geflüstert, sie höre die Kirchenglocken, wie sie geläutet, als ihr Walter geboren wurde, — das seien die Morgenglocken des neuen Tages, der nun anbreche.