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Zwei Menschen, zehn Jahre und eine unvergessliche Liebe Maddi muss mit ihrem kleinen Sohn zurück nach Hause, in die Küstenstadt Haverberry Cove. Gern hätte sie das vermieden. Zu tief sitzt der Schmerz von damals, zu viele Gefühle sind ungeklärt. Doch auf Wunsch ihrer Mutter muss sie sich um das Testament ihres Vaters kümmern, das etwas mit seiner Bäckerei zu tun hat – und wie Maddi erst bei ihrer Ankunft erfährt mit Wilder. Wilder, ihr Kindheitsfreund, ihre große Liebe. Der Mann, der ihre Welt zum Einstürzen brachte. Nun muss sie eine Entscheidung treffen: die Familienbäckerei, die sie immer übernehmen wollte, aufgeben oder einen Weg finden mit Wilder zusammenzuarbeiten, ohne dass ihr Herz wieder in tausend Scherben zerbricht. »Ich habe gelacht. Ich habe geweint. Und ich habe mich in Maddi und Wilder verliebt.« SPIEGEL-Bestsellerautorin Jennifer Niven »Clever, witzig und – was am wichtigsten ist – sehr unterhaltsam. Adriana Mathers Schreibstil ist spritzig, und die Figuren wunderbar gezeichnet.« SPIEGEL-Bestsellerautorin Emily Henry
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Seitenzahl: 476
Veröffentlichungsjahr: 2024
Adriana Mather
Maddi ist zurück. Seine Maddi, seine beste Freundin aus Kindheitstagen – bevor alles zerbrach. Stundenlang standen sie in der Backstube und haben die süßesten Köstlichkeiten kreiert. Mit siebzehn waren sie unsterblich ineinander verliebt und unbeschreiblich glücklich. Aber Wilder hatte keine Wahl und musste sich von Maddi trennen. Bis heute hat er ihr nie den wahren Grund dafür genannt. Nun sind zehn Jahre vergangen, in denen Maddi immer in seinem Herzen war. Kann es eine zweite Chance für ihn und Maddi geben oder wiegen die schmerzlichen Erinnerungen, all die gesagten und ungesagten Worte zu schwer?
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Adriana Mather ist eine New-York-Times-Bestsellerautorin von Jugendbüchern. »Die Jahre zwischen uns« ist ihr Erwachsenendebüt. Neben dem Schreiben arbeitet sie als Schauspielerin, Produzentin und ist Mitinhaberin der Produktionsfirma Zombot Pictures.
[Widmung]
Wenn du an [...]
Heimfahren-ist-doof-Zitronen-Baiser-Tarte
Schoko-Vanille-Traum
Wenn-man-vom-Teufel-spricht-Schokoladentorte
Stich-nicht-ins-Wespennest-Torte
Ungebackener Nichts-wie-weg-Cheesecake
Ananas-Stürzkuchen
Alle-Straßen-führen-nach-Rom-würdiger Apfelkuchen
In-der-Ruhe-liegt-die-Kraft-Riegel
Morgenmuffel-Affogato
Halbgare-Idee-Keks
Draufgängerisches Wassermelonen-Wodka-Sorbet
Ich-fühle-mich-wie-ein-Narr-Stachelbeerpudding
Auf-frischer-Tat-ertappt-Red-Velvet-Cupcakes
Erdbeerkissenschlacht
Schleudere-den-guten-alten-Mississippi-Mud-Pie
Gestürzter Apfelkuchen
Jede Rosen-Cheesecake-Praline hat ihre Dornen
Mini-Napfkuchen
Bräutigamskuchen
Ich-lebe-meine-eigene-Oper-Torte
Eine Plage für eure beiden Lebkuchenhäuser
Bitterschokoladen-Krähenkuchen
Mein Herz rast wie ein Kolibrikuchen
Himbeerkuchen mit Twist
Gefühlsduselei-Butterkuchen
Um-die-Ecke-werfen-Schneebällchen
Kommunikation-ist-alles-Zitronenpie
Drauf-gepfiffen-Schichtkuchen
Das-Leben-ist-eine-Illusion-Kuchen
Für-Eis-ist-immer-Platz-Kuchen
Danksagung
Für meine geliebten Großeltern Claire und Frank Mather, die 1953 geheiratet haben und der Welt seitdem zeigen, was wahre Liebe ist.
Alles Gute zum 70. Hochzeitstag!
Wenn du an deinem neunten Geburtstag kiloweise Zucker konsumierst, dann kommt es dir vor, als seien dir plötzlich Flügel gewachsen und du hättest Lachgas eingeatmet. Heute fühlt es sich leicht an, ich selbst zu sein. Als würde ich genauso hell strahlen wie die Sonne.
Wilder verpasst meinem Ellbogen einen Knuff, so dass ich Mehl aus meinem Messbecher verschütte. Sofort wische ich es auf und zeige meinem besten Freund zufrieden grinsend den Mittelfinger.
Mein Dad wirft uns einen Blick zu. »Maddi!«, weist er mich zurecht und säubert die Arbeitsfläche. Wir haben in der Küche der Familienbäckerei ein ganz schönes Chaos angerichtet!
»Was denn? Er hat geschummelt!«
»Gar nicht«, erwidert Wilder, dem sein gewelltes, verstrubbeltes und mehlbestäubtes Haar ins Gesicht hängt. »Ich helfe mir nur selbst beim Gewinnen.«
Er verrührt in seiner Schüssel den Teig für die Cupcakes, die ganz sicher scheußlich schmecken werden, und grinst. Seit mein Dad mir mit vier einen Spielzeugofen zu Weihnachten geschenkt hat, befinden wir uns in einem permanenten Backwettbewerb.
»Dad, mein bester Freund ist ein Wichser!«, sage ich und benutze das Wort, das Wilder bei einem seiner Familienausflüge nach London aufgeschnappt hat.
Dad reißt die Augenbrauen nach oben. »Madeline DeLuca!«
»Was?« Ich starre ihn unschuldig an, während von meinem Rührlöffel der leckere Lebkuchenteig in die Schüssel tropft. »Was bedeutet Wichser denn?«
»Es bedeutet …«, setzt mein Vater an und verstummt. Seine Wangen nehmen die gleiche Farbe an wie Wilders samtroter Teig. »Die Bedeutung ist nicht wichtig. Es ist ein schlimmes Wort.«
Wilders Schultern beben, als er versucht, ein Lachen zu unterdrücken.
»Oh«, sage ich. »Aber was heißt es denn jetzt?«
»Es warten Kunden!«, antwortet mein Dad und flieht durch die Tür, die die Küche vom Verkaufsraum trennt.
Sobald die Tür geschlossen ist, prustet Wilder vor Lachen. Unsere Eltern zu piesacken ist unser liebstes Hobby. Besonders viel Spaß macht es, wenn unsere Familien einmal in der Woche gemeinsam Abend essen und wir sie alle gleichzeitig in den Wahnsinn treiben können.
Wilder tunkt seinen Finger in die Ahornglasur in meiner Schüssel und leckt ihn ab. »Nicht übel.«
»Du meinst wohl, dass es das Beste ist, was du je gegessen hast.«
Verschmitzt grinst Wilder. »Ich meine, dass du vielleicht in meiner Bäckerei arbeiten darfst, wenn wir älter sind.«
Ich muss lachen. »In deiner Bäckerei? Nee danke. Ich werde dann schon genug damit zu tun haben, diese hier zu betreiben. Und vielleicht, aber nur ganz vielleicht, darfst du mein Assistent werden.«
Wilders Grinsen wird noch breiter, und sein Haar hängt ihm in die Augen.
»Ein Wettkampf der Bäckereien. Geht klar!«
1
mit extraherben Zitronen und jeder Menge fluffigem Baiser, damit es nicht zu sauer wird
Das Einzige, was schlimmer ist, als in einer Backshow vor dem ganzen Land gedemütigt zu werden, ist direkt im Anschluss einen Anruf von deiner vorwurfsvollen Mutter zu bekommen, bei dem sie keine Zeit mit tröstenden Worten verliert, sondern dich ohne Umschweife wegen einer ungeklärten Angelegenheit im Testament deines Vaters nach Hause zitiert. Und dir mitteilt, dass du doch dann gleich bis Weihnachten bleiben kannst, wenn du schon da bist – und zwar nicht, weil es wunderschön wäre, dich zu sehen oder leckere Plätzchen zu backen, sondern weil du ja sowieso arbeitslos bist.
Ich würde mich zu gern weigern und die Feiertage einfach mit meinem neunjährigen Sohn in unserer Wohnung in L.A. verbringen, vergraben unter einem Haufen flauschiger Decken auf dem Sofa, wo wir uns in unseren gestreiften Pyjamas mit Süßigkeiten vollstopfen und Filme schauen. Mal ganz zu schweigen davon, dass meine Mutter und ich in den vergangenen zehn Jahren nicht mehr als ein paar angespannte Stunden miteinander verbracht haben. Aber ich bringe es auch nicht übers Herz, sie am ersten Weihnachtsfest nach dem Tod meines Vaters allein zu lassen. Ich würde gern sehen, dass es ihr gutgeht, und ihr umgekehrt dasselbe Gefühl in Bezug auf mich vermitteln – auf diese subtile, unterschwellige Art, bei der ich murmle »Alles okay bei dir? Bei mir ja«, auch wenn das vielleicht weder auf sie noch auf mich je zutreffen wird. Hier bin ich also, gemeinsam mit meinem Sohn unterwegs ins Haus meiner Kindheit. Meinen Stolz habe ich über Bord geworfen und durch das Rentiergeweih ersetzt, das ich an die Fensterscheiben meines zwölf Jahre alten Prius geklebt habe.
Ich rutsche auf dem Sitz hin und her, weil mein Hintern von der langen Fahrt schon ganz taub ist. Wir haben die Fahrt quer durchs Land innerhalb von vier Tagen beinahe hinter uns gebracht und sie so sparsam wie möglich gestaltet. Eine Nacht haben wir bei einer Freundin in New Mexico geschlafen, eine bei dem Freund einer Freundin in Missouri, und dann haben wir uns noch von den Reise-Bonuspunkten eines Freundes für eine Nacht ein Motelzimmer in Pennsylvania genommen. Auf dem Rückweg haben wir diese Möglichkeit nicht mehr, und meine einzige Hoffnung besteht darin, dass es sich bei der ungeklärten Angelegenheit aus Dads Testament um irgendwelche verschollenen Familienschätze handelt.
»Noch siebzehn Minuten!«, verkündet Spencer vom Rücksitz, der die verbleibende Reisezeit von meinem am Armaturenbrett befestigten Smartphone abgelesen hat. Ich brauche jetzt zwar keine Hilfe mehr bei der Route, lasse das Navigationssystem ihm zuliebe aber noch laufen. »Noch sechzehn Minuten!«, meldet sich Spencer ein paar Sekunden später erneut.
Tief hole ich Luft. »Spence, du Liebe meines Lebens, wenn du wirklich jede verbleibende Minute herunterzählst, dann explodiert vermutlich Mommys Kopf. Und in einem solch kleinen Auto landet das Gehirn wirklich überall. Du willst doch kein Gehirn auf dir haben, oder?« Bessere Sprüche habe selbst ich nach neun Stunden Fahrt nicht mehr auf Lager.
Er grinst mich im Rückspiegel an. »Niemand mag Sarkasmus.«
Ich gluckse. Er wiederholt einen Satz, den ein Lehrer mal zu ihm gesagt hat, erwischt mich damit aber jedes Mal. »Aber meine Witze sind doch so gut!«
»Sie sind nicht schlecht«, meint Spencer und denkt einen Moment lang nach. »Aber toll sind sie auch nicht.«
Niemand kann einem besser die nackte Wahrheit vor Augen führen als ein Viertklässler. Letztens hat mein Sohn ein Buch gelesen, in dem die Hauptfigur einen Trank zu sich nimmt, der es ihr unmöglich macht zu lügen. Spence hat mir erzählt, dass das Leben des Jungen dadurch zwar schwerer wurde, er gleichzeitig aber auch glücklicher war, weil er nicht mehr das Gefühl hatte, die Erwartungen anderer erfüllen zu müssen, und er dadurch mehr er selbst sein konnte. Und dann hat Spencer mir mitgeteilt, dass er es künftig auch so machen würde. Er zieht das erstaunlich konsequent durch, muss ich sagen.
»Haverberry Cove!«, ruft er, als wir an einem hübschen Holzschild mit schwarzer Schrift vorbeifahren.
Ich sehe Spence über den Rückspiegel an. Er drückt sich ans Fenster, eine Hand an die Scheibe gelegt, und seine Augen leuchten mit der Lichterkette, die quer über die Hauptstraße gespannt ist, um die Wette.
»Du hast ja noch nichts gesehen«, sage ich betont munter und mehr, um mich selbst davon zu überzeugen, dass es schon nicht so schlimm werden wird. »Es gibt hier einen Weihnachtsmarkt, auf dem es jede Art von heißer Schokolade und Pekannusskuchen gibt. Und Pferdeschlitten. Das volle Programm.«
Spencer strahlt, ohne den Blick vom Fenster abzuwenden.
Haverberry Cove, Massachusetts, ist furchtbar elegant. Es besteht zu drei Vierteln aus dem Charme von Neuengland und zu einem Viertel aus nach Salzwasser duftendem Treibholz. Kurz gesagt: Es ist perfekt, außer dass ich es hasse, hier zu sein. Imposante historische Häuser mit Blick auf den Ozean umgeben einen postkartentauglichen Platz, an dem alles handgemacht, handgeschnitzt und regional ist. Das Städtchen hat die Größe, bei der jeder etwas mehr als nur ein bisschen über den anderen weiß, was unerträglich ist, wenn man wie ich der stadtbekannte Skandal ist, aber ganz nett, wenn dir die Kellnerin ungefragt einen Kaffee bringt oder der Lebensmittelverkäufer dir die letzte reife Cantaloupe-Melone aufhebt, weil er weiß, wie gern du sie magst.
»Sehe ich morgen Dad?«, fragt Spence mich zum hundertsten Mal.
»Jepp«, bestätige ich. Jake – der Samenspender, wie meine Freunde ihn liebevoll getauft haben – verdient einen Titel wie »Dad« nicht wirklich, weil er höchstens einmal pro Monat anruft und daran erinnert werden muss, sich um Geburtstagsgeschenke zu kümmern.
»Glaubst du, er geht mit mir zum Weihnachtsmarkt?«
»Ganz bestimmt«, antworte ich voller Zuversicht. Wenn er es nicht macht, werde ich nämlich seinen Pick-up mit meinem Schlüssel zerkratzen.
Die Ampel springt auf Grün, und ich fahre auf den Platz und die Bäckerei meines Vaters zu. Meine letzte Energie nutze ich, um nicht an Dad und das Backen zu denken, was überhaupt nicht funktioniert. Eine halbe Sekunde später stelle ich mir auch schon meinen unendlich peinlichen Auftritt bei The Ultimate Bake Off vor, wo ich nicht nur meine finanziellen Sorgen ausgeplaudert habe, sondern auch wegen des Todes meines Vaters einen Gefühlsausbruch hatte – beides Dinge, die ich vor laufender Kamera unbedingt vermeiden wollte. Nicht nur, weil meine Mutter solche Shows für eine perverse Erfindung für Minderbemittelte hält, sondern weil ich auch mein Bestes gebe, wegen meines Dads nicht in eine Grübelschleife zu stürzen – seinetwegen, wegen der Bäckerei oder wegen des Streits, den ich mit ihm hatte, als ich ihn zum letzten Mal gesehen habe.
Ich starre nach vorn und umklammere das Lenkrad, um nicht zu seiner Bäckerei There’s Nothing Batter Bakery zu schauen. Ich möchte nicht wissen, ob der Weihnachtsschmuck im Schaufenster steht oder ob die Tür einen neuen Anstrich bräuchte – beides Dinge, um die wir uns so gern zusammen gekümmert haben, als ich noch ein Kind war. Der Laden gehört mir nicht, erinnere ich mich selbst. Mein Vater hat ihn nicht mir vererbt, sondern Mom, einer Frau, die sich für Bäckereien noch weniger interessiert als für Reality-TV.
Und selbst wenn er sie mir vererbt hätte, würde ich sie nicht wollen. Die Erinnerung an alles, was schiefgegangen ist, ist zu schmerzhaft.
»Mom!«, sagt Spence und fällt vor Lachen fast vom Sitz, als er mit dem Finger an die Scheibe klopft. »Schau!«
Ich spähe hinüber zu den neun Rentieren, die über der Grünfläche hängen, und zu der übergroßen Menora.
»Ich hab’s dir doch gesagt«, erwidere ich.
»Aber siehst du Granpas Bäckerei«, ruft Spence und erschreckt mich damit richtig. Ich hätte nicht gedacht, dass er sich erinnern kann, wie die Bäckerei aussieht. Immerhin war er nur einmal da, und damals war er fünf.
»Ist das Schokolade?«
Ich kann nicht anders, als doch hinüber zu There’s Nothing Batter Bakery zu schauen. Die Bäckerei sieht nicht so herzzerreißend heruntergekommen aus wie in meiner Erinnerung. Eine blinkende Lichterkette und Stechpalmenzweige rahmen das Fenster und geben den Blick frei auf eine unglaublich detaillierte winterliche Dorfszene, in deren Hütten das Licht brennt und die von Puderzuckerschnee bedeckt ist. Und genau wie Spence gesagt hat, besteht das Dorf komplett aus Schokolade, was eine ungeheuer komplizierte Aufgabe sein und Mom ein Vermögen gekostet haben muss. Außer natürlich, sie hat einen neuen Geschäftsführer angestellt, der gleichzeitig ein magischer Chocolatier ist.
Ich spüre zwar die Schuldgefühle, die ich erwartet hatte, aber da ist noch etwas anderes – ich fühle mich nicht mehr gebraucht. Weil ich jetzt ohnehin nicht mehr wegschauen kann, lehne ich mich hinüber zum Beifahrerfenster und verlangsame die Fahrt, um einen Blick auf die Person hinter der Ladentheke zu erhaschen. Aber der Mann hat mir den Rücken zugewandt, und so sehe ich nur seinen braunen Haarschopf.
Komm schon, dreh dich um, damit ich dich anschauen und dann dafür hassen kann, dass du mich ersetzt hast.
Als hätte der Mann mich gehört, dreht er sich tatsächlich – doch in diesem Moment bleibt eine Gruppe von Freitagabendbummlern genau vor dem Schaufenster stehen, um ihre Schals und Mützen zurechtzurücken, so dass ich nichts mehr erkennen kann.
»Bewegt euch!«, murmele ich und scheuche sie mit meiner Hand weg.
»MOM!«, brüllt Spencer, und ich richte meinen Blick in dem Augenblick wieder auf die Straße, in dem ein schicker Wagen mir den Weg abschneidet.
So etwas passiert in Massachusetts gerne mal, nicht umsonst nennt man die Fahrer dieses Staats auch gerne Masslöcher. Was mich aber sehr wohl überrascht, ist, dass der Fahrer direkt nach dem Manöver auf die Bremse tritt. Es dauert eine halbe Sekunde, ehe mir klar wird, was passiert, und ich ebenfalls eine Vollbremsung hinlege. Nur reagiert mein alter Prius leider nicht so schnell wie der neue Sportwagen. Stattdessen schlittert er weiter und knallt gegen die silberne Stoßstange.
»Shit«, sage ich und verfluche den silbernen Flitzer, mich und meine abgenutzten Bremsen.
»Mom?«, sagt Spencer wieder und sieht mich im Rückspiegel besorgt an.
»Spence? Geht es dir gut?«, frage ich, und in mir steigt Panik auf. Ich fahre rechts ran und drehe mich hastig zu meinem Sohn um, um herauszufinden, ob er verletzt ist. Es spielt keine Rolle, dass wir in Schrittgeschwindigkeit unterwegs waren. Mein Gehirn schreit mir die ganze Zeit zu, dass mein Kind in einen Autounfall verwickelt war.
»Mir geht’s gut«, meint er achselzuckend. »Es war nicht mal so fest wie beim Autoscooter.«
Meine Lungen entspannen sich, und mein Herzschlag wird wieder langsamer, als ich begreife, dass ihm nichts fehlt. Aber als ich wieder nach vorn sehe, bekomme ich direkt den nächsten Schreck. Auf der Heckklappe des schicken Autos sind zwei kleine Flügel zu sehen – das verräterische Logo eines Aston Martin. Und auf der Stoßstange prangt ein handlanger Kratzer, der vermutlich perfekt mit der Ecke meines Nummernschilds übereinstimmt.
Ich springe aus meinem Auto und laufe auf den anderen Wagen zu, um mir einen besseren Eindruck machen zu können.
»Shit«, murmele ich wieder und streiche mit der Hand über die Rille auf dem kalten Metall. Sofort ist mir klar, dass mich der Schaden mehr kosten wird, als ich in einem Monat verdiene. Nein, verdient habe.
Eine Autotür öffnet sich klickend, und ich richte mich auf. Ich bin wütend auf mich und auf die bloße Existenz dieser verdammten Bäckerei.
Aus dem Wagen steigt eine Frau Ende zwanzig. Ihr langes Haar hängt in einem seidigen Vorhang über ihre Schulter, dazu trägt sie roten Lippenstift, und ihre Kleidung ist makellos – luxuriöse schwarze Handschuhe und glänzende Stiefel mit hohen Absätzen, die den Saum eines langen Mantels mit Fischgrätmuster betonen.
Mein Herz rutscht mir in die Kniekehlen. Liv Buenaventura, Wilders große Schwester, die nicht nur eine international gefeierte Kosmetikserie besitzt, sondern auch das Gesicht der aktuellen Kampagne ist, weil sie so schön ist.
»Madeline DeLuca?«, sagt sie, und ihr verärgerter Gesichtsausdruck wird weicher. »Mein Gott, bist du das wirklich?«
»Jepp«, meine ich und hebe die Hände, ehe ich sie wieder sinken lasse. Meine schäbigen Reiseklamotten stehen in einem krassen Kontrast zu ihrem schicken Outfit. Als Teenagerin war sie mein Idol. Sie war ein Jahr älter als ich und Haverberrys Golden Girl. Ich wollte so gern sein wie sie, dass ich mir am liebsten ein Poster von ihr aufgehängt hätte. Als ich vorzeitig am Vassar College angenommen wurde und in der Stadt alle sagten: »Da haben wir unsere nächste Liv Buenaventura«, war das wahrscheinlich das schönste Kompliment meines Lebens. Allerdings fand ich eine Woche später heraus, dass ich schwanger war, weshalb ich es nie nach Vassar geschafft habe.
»Wie lange ist es her, seit wir uns zuletzt gesehen haben? Zehn Jahre?«, fährt Liv fort.
»Ungefähr, ja«, erwidere ich. Ich war exakt zweimal in der Heimat, seit Spencer auf die Welt gekommen ist. Einmal vor etwa vier Jahren, als er Jake kennenlernen wollte, und einmal gleich nach dem Tod meines Vaters. Beide Besuche habe ich knapp gehalten und Begegnungen mit Bekannten vermieden.
»Hast du Wilder schon getroffen?«, fragt sie fröhlich, und ich überlege, ob ich mich vor ein Auto werfen soll, um die Antwort zu vermeiden.
»Ähm, nein«, sage ich und schlucke herunter, dass er sich von mir aus gern von der nächsten Klippe stürzen kann. »Ich wusste gar nicht, dass er hier ist.«
Meine Eltern haben mir über die Jahre hinweg gegen meinen Willen stets Neuigkeiten von Wilder erzählt.
Dass er Betriebswirtschaft in Oxford studiert und als Chefkonditor im Le Cordon Bleu gearbeitet hat; wie er dann im Ausland geblieben ist und nur ab und zu nach Haverberry zurückkehrte, um die Einheimischen mit seinem europäischen Charme zu betören (von dem meine Eltern sich insgeheim immer gewünscht haben, ich hätte ihn auch).
Liv sieht mich überrascht an. »Oh. Ja, er ist hier.«
»Na«, erwidere ich, »wir sind ja auch eben erst angekommen.« Ich deute auf mein Auto, aus dem Spencer uns über die heruntergelassene Scheibe hinweg anstarrt.
»Ich war noch nicht mal zu Hause.«
Sie mustert mein Outfit, als wäre es ihr zuvor gar nicht aufgefallen.
»Oh, natürlich!«, ruft sie und klatscht in die Hände. »Und ich quatsche dich hier voll, sorry. Du musst ja total erledigt sein.«
Spencer ist mittlerweile aus dem Wagen geklettert und steht jetzt grinsend neben mir.
»Und du musst Maddis Sohn sein.«
»Spence«, stellt er sich vor und streckt ihr die Hand entgegen.
»Ich bin Liv«, erwidert sie und schüttelt seine Hand.
»Wow. Du bist voll schön«, sagt mein Sohn ehrfürchtig und fügt dann hinzu: »Ich meine das nicht objektifizierend. Nur als Tatsache.«
Liv lacht, und ich kann nicht anders, als einzustimmen. Spencer und ich hatten letztens ein langes Gespräch darüber, dass manche Menschen auf ihr Äußeres reduziert werden, und er hat es sich wirklich zu Herzen genommen.
»Na, wenn du nicht mein neuer Lieblingsmensch bist«, meint Liv und zwinkert ihm zu.
Hinter uns auf dem Gehweg höre ich Leute flüstern und spüre ihre Blicke in meinem Rücken, was ich aber demonstrativ ignoriere. Ich will nicht wissen, wer da gerade lästert oder Spencers Aufmerksamkeit darauf lenken.
Stattdessen konzentriere ich mich auf Liv.
»Tut mir leid wegen deiner Stoßstange! Ich fühle mich furchtbar«, komme ich zur Sache, damit wir bald wieder ins Auto steigen können. »Wäre es okay, wenn ich den Schaden direkt bar begleiche?« Die Worte bleiben mir in der Kehle stecken. Ich habe keine Ahnung, wie ich das bezahlen soll. Aber meine Versicherung ist so schlecht, dass ich den Großteil vermutlich ohnehin selbst aufbringen müsste, und meine Beiträge würden für die nächsten drei Jahre in den Himmel schießen.
Liv starrt mich einen Moment lang an und wirft dann einen Blick auf mein geweihgeschmücktes Auto, wobei ihr wahrscheinlich auffällt, dass ich schon als Teenager mit dem alten Kasten herumgefahren bin. Sie winkt ab. »Wegen des Kratzers? Nee. Das lasse ich einfach ausbessern.«
Sofort verwandelt meine Erleichterung sich in Scham. Es ist ein mieses Gefühl, nicht darauf bestehen zu können, die Kosten zu übernehmen.
»Das ist so nett. Kann ich mich irgendwie revanchieren? Mit einer absurden Menge Éclairs zum Beispiel?«
»Sie sind wirklich lecker«, fügt Spencer hinzu. »Deliziös!«
»Das kann ich mir vorstellen, und ich will sie unbedingt probieren. Aber«, sagt sie und verzieht ihre roten Lippen zu einem Lächeln. »Ich habe gerade an die Wohltätigkeitsveranstaltung meiner Familie morgen Abend gedacht. Guter Zweck hin oder her, es wird mit Sicherheit sterbenslangweilig. Warum begleitest du mich nicht, Maddi? Dann sind wir quitt. Du würdest mich immerhin vor einem Tod durch Langeweile retten.«
Mein Herz hämmert wie wild. Die alljährliche Buenaventura-Weihnachtsgala – eine dekadente Veranstaltung, die in all ihrem Gehabe und der Angeberei einem Klassentreffen gleicht und auf der ganz bestimmt Livs Bruder auftauchen wird. Plötzlich erscheint mir die Option, eine Niere auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen, verlockender. Doch nachdem Liv so großzügig war, will ich sie nicht enttäuschen. Ganz zu schweigen davon, dass sie sich immer noch wie meine Ersatzfamilie anfühlt, obwohl ich sie so lange nicht mehr gesehen habe.
»Klar«, bringe ich heraus. »Das kann ich einrichten.«
Wir verabschieden uns, und Spencer und ich steigen wieder ins Auto. Wegen der gerade getroffenen Verabredung für Samstagabend rumort mein Bauch. Die Leute in dieser Stadt sind furchtbar neugierig, und ich kann mir beileibe nicht vorstellen, dass die Gäste der Gala sich mit ihrem Urteil zurückhalten werden, nur weil die Sache zehn Jahre her ist. Wahrscheinlich sind sie sogar noch hartnäckiger, weil sie so lange damit warten mussten, ihre Meinung herauszuposaunen.
Wir lassen den Platz und damit auch die Bäckerei und diese schmerzhafte Nostalgie hinter uns. Zwei Wochen, sage ich zu mir selbst. Zwei Wochen, dann können wir zurück nach Kalifornien.
2
Kuchen mit extra viel Vanille
Mein Auto rollt auf die Einfahrt und kommt vor dem schmalen, zweistöckigen viktorianischen Haus meiner Eltern zum Stehen. Es ist weiß gestrichen, mit blauen Fensterrahmen und einer sauber geschnittenen Hecke davor. Das Anwesen ist klein und wahnsinnig ordentlich, genau wie meine Eltern. Nicht ein Laubblatt liegt auf dem Rasen, und keine Schindel auf dem Dach ist verblasst. Ich winde mich. Es ist nicht mehr das Haus meiner Eltern, sondern das meiner Mom.
Obwohl es jetzt fast ein Jahr her ist, bilden meine Eltern für mich noch immer eine Einheit. Charles und Eleanor, obwohl sie grundverschieden sind. Er, ein stiller Bäckerssohn vom Land, sie eine Persönlichkeit aus einer wohlhabenden Bostoner Familie. Ihre Gemeinsamkeiten lagen in den kleinen Dingen, wie in ihrer Liebe zu überbackenen Ziti und den unerfüllbaren Erwartungen an ihre Tochter.
Ich zögere, lasse mich in den Sitz zurückfallen und atme tief aus, während der Widerstand in mir wächst. Aber Spence ist schon ausgestiegen und hüpft in der Einfahrt auf und ab, ehe er seine Reisetasche aus dem Kofferraum zieht.
»Wir sind da! Juhu!«
Könnte er mir von seiner Begeisterung doch nur etwas abgeben! Nur zu gern würde ich die Angst vor der angespannten Stimmung und der unausweichlichen Enttäuschung gegen etwas weniger Schmerzhaftes eintauschen. Aber selbst zu meinen besten Zeiten als Musterstudentin war die Beziehung zwischen mir und meiner Mutter nicht leicht.
Spence öffnet meine Tür. »Mom«, sagt er vorwurfsvoll, als würde ich den Spaß hinauszögern.
Einen Moment lang erwäge ich, ihn auf meinen Schoß zu ziehen und einfach den Rückwärtsgang einzulegen, um mit dramatisch quietschenden Reifen den Abflug zu machen.
Stattdessen greife ich nach meinem Mantel und meiner Handtasche und trete hinaus in die kalte, salzige Luft, die selbst im Winter den Duft des Ozeans mit sich trägt.
Spence reißt meinen mit Cupcakes bedruckten Koffer mit einem Ruck aus dem Kofferraum und schleift ihn zusammen mit seiner Reisetasche zum Eingang.
Ich entwinde ihn seinem Griff, und er springt die Treppe hinauf, um dann zweimal stürmisch zu läuten. Im Gegensatz zu Jake, der sich mehr als rar gemacht hat, haben meine Eltern in den letzten Jahren jeden Samstag angerufen. Ich habe jeweils eine halbe Minute mit ihnen am Telefon verbracht und irgendetwas vom Wetter erzählt, und dann hat Spencer übernommen. Und obwohl es mich freut, dass er eine enge Beziehung zu meinen Eltern – nein, zu meiner Mutter hat, habe ich keine solche Verbindung zu ihr.
Noch ehe ich mich für das Unausweichliche rüsten kann, öffnet sich die Tür, und meine Mutter erscheint in einem knielangen, burgunderroten Rock. Das Haar hat sie zu duftigen Wellen geföhnt, die ihr Gesicht mit den rougebestäubten elfenbeinfarbenen Wangen rahmen. Um den Hals trägt sie eine einreihige Perlenkette – eine Debütantin, die in ihrem bürgerlichen Umfeld so fehl am Platze wirkt wie ein Kristallglas auf einer Picknickdecke.
Ihr Blick wandert zwischen Spence und mir hin und her. »Ihr tragt keine Jacken!«, sagt sie stirnrunzelnd. »Es ist doch eiskalt!«
Ich überlege, ob ich sie darauf hinweisen soll, dass sie es nun mal nicht geschafft hat, eine echte Lady aus mir zu machen. Aber da ist Spence auch schon ins Haus gesaust und umarmt sie.
»Grandma, hast du die Lichter in der Stadt gesehen? Sie sind überall. Und …« Er bleibt neben der Wohnzimmertür stehen. »Das ist dein Baum? Boah, ist der RIESIG!«
Meine Mutter lächelt, zufrieden mit seiner Reaktion. Der Baum ist perfekt in Rot und Weiß geschmückt – alle nicht passenden Erinnerungsstücke hängen so tief in den Zweigen, dass sie die sonstige Ästhetik nicht stören. Eigentlich ist der Baum gar nicht so groß, wirkt jedoch gigantisch, weil das Wohnzimmer klein ist und das Ding bis an die Decke reicht. Ein Paradebeispiel für das größte Talent meiner Mutter – ihre bescheidenen Mittel nach mehr aussehen zu lassen.
Ich schließe die Haustür hinter mir, hänge die Jacke in den Flurschrank und schlüpfe aus meinen Stiefeln, während meine Mutter Spence den Geschenkestapel zeigt, der für ihn bestimmt ist.
Als ich mich zu ihnen ins Wohnzimmer geselle, sieht sie mit zusammengezogenen Augenbrauen von meinem Cupcake-Koffer zu meinen mit Schlitten und Glöckchen verzierten Socken. Beinahe kann ich ihre Gedanken hören: Das richtige Auftreten ist alles, Madeline.
»Du musst hungrig sein«, meint sie, während Spence durch das Wohnzimmer pirscht und die mit Monogrammen bestickten roten Strümpfe inspiziert, die am Kaminsims hängen.
»Wir haben unterwegs gegessen«, sage ich, weil ich weiß, dass ihre gewöhnliche Essenszeit schon Stunden zurückliegt. Sie und mein Vater haben jeden Tag meines Lebens Punkt halb sieben zu Abend gegessen.
»Ich habe euch was aufgehoben. Dauert nur eine Minute, das aufzuwärmen.«
»Lieb von dir, Mom, aber ich bin immer noch total voll.«
»Ihr habt eine lange Fahrt hinter euch«, sagt sie, und man hört ihr den Unmut darüber an, dass ich mit dem Auto gekommen bin, anstatt zu fliegen. Ich habe so getan, als wollte ich mit Spence ein Abenteuer erleben, weil ich nicht zugeben wollte, dass ich mir die teuren Flugtickets nicht leisten konnte. »Ihr solltet euch wirklich stärken.«
Wir starren einander an und fühlen uns sichtlich unwohl, weil selbst eine solch einfache Unterhaltung einen bitteren Beigeschmack bekommen hat.
»Ich will was futtern«, verkündet Spencer fröhlich, und ich bin seinem kindlichen Bärenhunger richtig dankbar.
»Während ihr zwei esst«, setze ich an, »würde ich gern rasch …«
»Du kannst dich zu uns setzen, Madeline, selbst wenn du keinen Hunger hast«, sagt meine Mutter in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldet.
»Klingt gut«, erwidere ich und widerstehe dem Drang, mich in unser übliches verbales Pingpong verwickeln zu lassen.
Ich rolle meinen Koffer in mein kleines Zimmer, erschöpft von der Fahrt, den Sorgen und dem stundenlangen Dinner mit meiner Mutter. Spence ist immer noch unten und gibt ihr einen detaillierten Bericht unseres Aquariumbesuchs. Ich habe es vorgezogen zu verschwinden, ehe der Teil kommt, in dem wir in dem Geschenkeladen den Weißen Hai so überzeugend nachgespielt haben, dass einer der Mitarbeiter gefragt hat, ob wir einen Arzt brauchen.
Ich werfe mich auf die blau-weiß gestreifte Steppdecke und schiebe mir ein Samtkissen unter den Kopf. Mein Zimmer ist wie eine Zeitkapsel aus meiner Jugend – nach außen hin völlig perfekt und ein Abbild des guten Geschmacks meiner Mutter mit den antiken Möbeln, dem fleckenlosen beigefarbenen Teppich und den gut verborgenen Erinnerungsstücken, die in einer Kiste im Schrank oder einer Schublade ihr Dasein fristen. Die einzige Ausnahme bildet das gerahmte Foto auf meiner Kommode. Es zeigt mich und meinen Vater mehlbedeckt in seiner Backstube. Ich bin elf, und wir lachen so heftig, dass unsere Augen zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen sind. Als ich es anstarre, trifft mich die Erinnerung wie eine zu spät bemerkte nahende Welle, so heftig, dass ich kurz die Orientierung verliere.
Ich stehe auf und gehe wie ferngesteuert auf das Foto zu, hebe den goldenen Rahmen hoch und streiche mit den Fingern über die samtene Rückseite.
So zurückhaltend mein Vater normalerweise war, so lebhaft wurde er in der Backstube.
Eigentlich war er kein Mann der großen Worte. Wenn er etwas zu sagen hatte, dann erledigte er das kurz und bündig – so dass ich mich fragte, ob seine Freunde ihn eigentlich wirklich kannten. Aber wenn er mir erklärte, wie man den perfekten Brandteig herstellte, oder mir das Geheimnis seiner Crème anglaise anvertraute, konnte er stundenlang leidenschaftlich von der Geschichte der Tarte erzählen oder davon, mit welchen Spritztüllen man die schönsten Blumen hinbekam. Das hier ist und war immer mein Lieblingsbild von uns, weil es nicht so gestellt ist wie die anderen Fotos im Haus, sondern echt und chaotisch. Sofort frage ich mich, ob mein Dad es hier gesehen hat und ob er überlegt hat, warum ich es nicht mitgenommen habe. Von dem Gedanken wird mir unwohl.
Ich stelle den Rahmen wieder an seinen Platz und will mich eigentlich schon abwenden. Aber die Nostalgie hat mich fest im Griff, und so starre ich die Kommode weiter an, in der ich damals meine Kostbarkeiten versteckt habe.
Und obwohl ich weiß, dass es albern ist, spüre ich einen erwartungsvollen Schauer. Vorsichtig ziehe ich die Schublade auf, schiebe meine Hand ganz nach hinten und hebe den falschen Boden heraus. Genau da, wo ich es vor zehn Jahren versteckt habe, befindet sich noch immer mein Tagebuch, in dem ich meine Teenagerzeit mit Wilder festgehalten habe – die guten und die schlechten Momente. Der Ledereinband ist ganz abgenutzt, weil ich das Buch so oft an meine Brust gedrückt habe, wenn wieder ein Drama anstand, und zwischen den Seiten klemmen eine Menge Bilder. Als ich gemerkt habe, dass ich das Tagebuch hier zurückgelassen habe, habe ich geheult wie ein Schlosshund. Fast wäre ich mit meinem Prius umgekehrt und noch mal durchs halbe Land gefahren, um das Tagebuch zu holen. Aber nach einer Weile war ich ganz froh, dass es weit weg war. Es in Kalifornien zu lesen hätte mir das Herz gebrochen. Das erste Jahr war auch so schon hart genug.
Aber jetzt? Es fühlt sich ein wenig an, als würde ich einen alten Film ansehen, den jemand an eine Wohnzimmerwand projiziert. Fesselnde Bilder aus einem anderen Lebensabschnitt.
Ich schlage eine Seite auf, die mit Zetteln vollgestopft ist, die früher zu raffinierten Formen gefaltet waren. Ich ziehe einen zerknitterten heraus, dessen Kante rau ist, weil das Blatt aus einem Notizheft gerissen wurde.
Die Seite beginnt mit Wilders vertrauter Handschrift, und der Anblick lässt meine Alarmglocken schrillen.
W: Gehst du mit mir dieses Wochenende in den Apfelgarten?
Ich grinse vor mich hin (und weiß, dass ich das hier später bereuen werde), als mir einfällt, wie ich diese Nachricht als Zehntklässlerin an einem Herbsttag in Mrs. Lemons Matheunterricht bekommen habe – sie war berühmtberüchtigt dafür, solche Zettel immer abzufangen und laut vorzulesen, was es noch aufregender machte, sie an ihr vorbeizuschmuggeln. An jenem Tag haben wir den Zettel so oft hin- und hergeschickt, bis uns der Platz ausgegangen ist, und waren ganz beeindruckt von unserer List.
M: Du hast eine ganze Nachricht an eine Frage verschwendet, deren Antwort du ohnehin kennst? Und das an einem Tag, an dem Mrs. Lemon eindeutig zu wenig Koffein intus hat?
W: Macht es dich etwa nervös, mir zu schreiben?
M: Flirtest du gerade mit mir? Das kannst du dir für deine Fans aufheben!
W: Und willst du behaupten, dass du mich nicht auch anhimmelst? Autsch.
M: Hochmut kommt vor der Peinlichkeit, oder wie sagt man noch mal?
W: Hochmut? Nee. Es ist mir einfach total wichtig. Ohne die Info kann ich nicht weiterleben.
M: Nett, wie du versuchst, es aus mir herauszukitzeln.
W: Keine Sorge. Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Dann frage ich dich eben nicht, was ich eigentlich fragen wollte.
M: Ich werde dir auf jeden Fall dein zartes Herz aus der Brust reißen.
W: Ist wahrscheinlich sowieso besser so. So muss ich die große Ansprache nicht halten, die ich vorbereitet hatte.
M: Mach ruhig weiter so, und ich verpasse dir über den Gang hinweg einen Tritt!
W: Ganz ruhig!
M: Fällt mir schwer, wenn mein bester Freund so gerissen ist.
W: Oh, hat hier jemand gesagt, ich sei im Bett gerissen? Welcher meiner Fans hat dir das denn gesteckt?
M: Übertreib mal nicht. Wir wissen alle, dass du höchstens schon mal geknutscht hast. Zumindest ich weiß das. Mein Gott, wie sehr ich hoffe, dass Mrs. Lemon diesen Zettel findet!
W: Mach doch. Wirf ihn ihr zu. Ist mir kein bisschen peinlich! Ich mache erst mit jemandem rum, wenn die Person mir wirklich was bedeutet.
M: Okay, jetzt machst du also einen auf romantisch? Spürst du, wie ich die Augen verdrehe? Tue ich nämlich.
W: Denkst du etwa, ich sei kein Romantiker?
M: Ich weiß nicht. Vielleicht??! Soll ich vielleicht eins von den Mädels fragen, mit denen du diesen Sommer im Kino warst?
W: Entweder das, oder du gehst mal mit mir ins Kino.
Ich erinnere mich an mein Zögern in diesem Moment. An den leichten Schauer. Unsere Unterhaltungen liefen häufig so ab. Was wir äußerten, war harmlos genug, um als freundschaftliche Alberei durchzugehen, aber gleichzeitig so aufgeladen, dass die Unterhaltung eher einem Flirt glich. Ich spürte, wie Wilder mich beobachtete, weil ich für die Antwort so lange brauchte.
M: Okay, Wilder. Ich lasse mich drauf ein. Dann zeig mal, was du draufhast.
Er gluckste beim Lesen.
W: Mit dem größten Vergnügen, Madeline DeLuca.
Und ein Vergnügen war es ihm wirklich. Er war auch vorher schon ein Gentleman gewesen, aber plötzlich stellte er mich in jeder Hinsicht an die erste Stelle.
Er merkte, wenn es mir nicht gutging und ich dringend ein Eis brauchte. Er kaufte mir kleine Geschenke – nichts Angeberisches wie Blumen, sondern kleinere, viel süßere Aufmerksamkeiten wie meinen Lieblingslippenbalsam an einem kalten Tag oder einen Stift mit einem Geheimfach, in dem er eine Nachricht für mich verstecken konnte. Und es funktionierte. Oh, und wie es funktionierte! Als wir uns drei Wochen später zum ersten Mal küssten, war ich bereits hoffnungslos verliebt.
Ich falte den Zettel zusammen und lege ihn seufzend zurück in mein Tagebuch. So etwas darf mir nicht wieder passieren! Ich will nicht an Wilder Buenaventura denken. Außer wenn ich mir vorstelle, wie ich ihm einen Tritt gegen das Schienbein verpasse. Lange kann ich nicht darüber nachdenken, weil sich in dem Moment meine Tür öffnet.
»Ich habe Spencer gesagt, dass ich ihm die Couch zum Schlafen fertig mache«, sagt meine Mutter, als sie den Raum betritt und ich das Tagebuch wieder in die Schublade stopfe.
Schnell mache ich einen Schritt von der Kommode weg, als käme ich nie auf die Idee, in alten Erinnerungen zu schwelgen. Meine Mutter zieht die Augenbrauen nach oben.
»Er will aber lieber hier bei dir schlafen.«
Spencer drückt sich an ihr vorbei und lässt seine Tasche auf den Boden plumpsen. Er hat Angst vor der Dunkelheit, und zu Hause haben wir eine Routine, die dafür sorgt, dass er sich allein in seinem Zimmer nicht fürchtet. Auf Reisen bleibt er aber lieber bei mir.
Ich fasse ihn an der Hüfte und ziehe ihn auf die weiche Tagesdecke, ehe ich einen Kuss auf seine Wange hauche.
»Solange er noch kuscheln will, muss ich das ausnutzen.«
Er lacht und wischt sich die Wange ab. »Igitt! Du hast mich total vollgeschleimt.«
Meine Mutter sieht uns zu und scheint sich nicht entscheiden zu können, ob sie unser Höhlenmenschverhalten ekelhaft oder irgendwie faszinierend finden soll.
Sie öffnet den Mund, als ich einen nassen Finger in meinem Ohr spüre. Ich keuche auf, was einen Lachkrampf in Spencer auslöst und meine Mutter dazu bringt, die Augen aufzureißen.
»Ich gehe schlafen«, verkündet sie und streicht ihre weiße Bluse glatt. »Die Sache mit dem Testament deines Vaters besprechen wir am Sonntag.«
Und mit einem Schlag vergeht mir das Lachen. Ich weiß ja, dass ich in erster Linie deswegen angereist bin, doch ihre plötzliche Ankündigung stößt mich vor den Kopf.
»Ist es denn etwas Gutes oder etwas Schlechtes?«, frage ich, noch ehe ich mich bremsen kann.
Am Telefon war sie äußerst kryptisch und hat es mir überlassen, meine eigenen Schlüsse zu ziehen. Soweit ich weiß, geht es im Testament meines Vaters hauptsächlich um drei Punkte: das Haus, seine Sammlung ledergebundener, antiker Bücher und die Bäckerei. Sie hat es nach seinem Tod nur einmal erwähnt, und es kam mir so vor, als schmerze es sie, ihre dreißig gemeinsamen Jahre so nüchtern zusammenzufassen.
Meine Mutter kommt aus gutem Hause und hat sich immer entsprechend verhalten, auch wenn sie nicht in Saus und Braus lebt. Nicht, seit sie meinen Vater geheiratet hat und ihre Eltern ihr den Geldhahn zugedreht haben. Deswegen vermute ich, dass es bei dieser Angelegenheit hauptsächlich um die Bäckerei geht. Ein Teil von mir fragt sich, ob meine Mutter bereit ist, sie zu verkaufen. Von diesem Gedanken beschleunigt sich sofort mein Puls, und mein schlechtes Gewissen beginnt sich zu regen.
»Wir besprechen das am Sonntag«, ist alles, was sie erwidert. »Um zehn.«
Hiermit ist es offiziell. Ich bin zurück in Eleanor-Land, einem totalitären Königinnenreich, in dem man für persönliche Gespräche einen Termin vereinbart.
3
Höllisch starke Schokolade für eine intensive Färbung und so teuflisch reichhaltig, dass die Torte garantiert den ganzen Tag wie ein Amboss im Magen liegt
Das Versprechen auf Kaffee lockt mich am nächsten Tag die Treppe hinab. Ich bin angezogen und wappne mich innerlich für den Kommentar, den meine Mutter gleich über mein langes Ausschlafen abgeben wird. Auf dem Weg in die Küche höre ich schon das Klirren einer Tasse auf dem Steintresen. Als ich durch die Tür trete, zieht sie in diesem Moment einen Teebeutel aus einer Dose.
»Guten Morgen«, sagt sie, ohne aufzusehen. »Oder sollte ich lieber sagen: guten Nachmittag?«
Ich muss über die Vorhersehbarkeit dieses Spruchs grinsen.
»Komm schon«, erwidere ich amüsiert. »Es ist gerade mal Viertel nach elf. Früher habe ich bis zwei Uhr geschlafen.«
Humor war in meiner Jugend das einzige Mittel, unsere Beziehung zu überleben. Natürlich kamen meine Witze nicht besonders gut an, aber man kann ja nicht alles haben.
Ich ziehe eine Packung mit Kaffeebohnen aus dem Schrank und schalte die Kaffeemaschine ein.
Mom späht zu mir, den dampfenden Teekessel in der Hand.
»Ich habe nicht versucht, lustig zu sein«, verkündet sie. »Ich weiß einfach nicht, wie du irgendetwas erledigt bekommst, wenn du den halben Tag verschläfst.«
Ihr Ton ist zweckmäßig. Als wäre es ein Fakt, keine Beleidigung.
»Ich schaffe es«, sage ich und kann nur schwer den Drang unterdrücken, mich zu verteidigen – ihr zu erklären, dass ich normalerweise nur sechs Stunden pro Nacht schlafe, um am nächsten Tag entweder im Catering zu arbeiten, auf Jobsuche in einer Patisserie oder einem schicken Restaurant zu gehen und dann noch BWL-Kurse in der Volkshochschule zu besuchen, um eines Tages mein eigenes Café eröffnen zu können. Ganz zu schweigen davon, dass ich meine kümmerlichen Ersparnisse für diese Reise aufbrauchen musste und jetzt einen ordentlichen Jetlag habe. Aber wenn ich das sage, landen wir bei der Diskussion, die ich am meisten hasse: die über mein verschwendetes Potenzial.
»Wahrscheinlich«, erwidert sie und hängt den Teebeutel in die Porzellantasse.
Eine lange Minute schweigen wir, und sie räumt den Küchentresen auf, während ich darauf warte, dass ihre schicke Kaffeemaschine mein schaumiges Getränk ausspuckt. Normalerweise würde ich mir einen doppelten Kaffee brühen, aber ihre Tassen sind winzig. Mom hat kein Regal voller bunt zusammengewürfelter Tassen in den verschiedensten Größen, auf denen Cartoon-Katzen, Witze über schlechten Wein oder Touristenattraktionen abgebildet sind – so wie jeder andere Mensch. Ihre Tassen bilden ein aufeinander abgestimmtes Set, sind zu klein, um Kaffeegelüste zu befriedigen, und zu zerbrechlich, um Kindern darin Kakao zu servieren; im Grunde sind sie also nutzlos.
Mom nimmt an dem kleinen Frühstückstisch vor dem großen Fenster Platz, durch das man auf ihren Garten blicken kann.
»Hast du Pläne für den restlichen Tag?«, erkundigt sie sich.
»Ähm, ja«, antworte ich und öffne den Kühlschrank, um mir einen Eindruck von der Milchsituation zu verschaffen. »Jake holt Spence in ein paar Minuten ab, um mit ihm Mittagessen zu gehen, und ich werde wohl den Nachmittag mit der Jobsuche verbringen.«
»Jake?«, sagt meine Mutter und zieht die Augenbrauen nach oben. »Das ist ja eine Überraschung.«
Ich schließe die Kühlschranktür und überlege, ob ich den Kaffee lieber schwarz trinken soll, als die Milch mit zwei Prozent Fettanteil zu probieren. Zu Hause mache ich mir meine eigene dekadente Mischung aus Milch, Zimt, Vanilleextrakt und Datteln. Und auch wenn ich natürlich nicht davon ausgegangen bin, dass Mom so etwas im Haus hat, hatte ich doch auf die frische Sahne direkt vom Bauernhof gehofft, die mein Vater immer besorgt hat.
»Jepp«, sage ich. »Er ist scheinbar ein bisschen erwachsener geworden.«
Meine Mutter grummelt in ihre Tasse hinein, und auch wenn ich ihr zustimmen muss, dass Jake nicht sehr verantwortungsbewusst ist (zum Beispiel zahlt er keinen Unterhalt für Spencer, obwohl er es versprochen hat), will ich nicht, dass mein Sohn etwas von diesem Gespräch mitbekommt. Er muss die Perspektive meiner Mom nicht kennen, die fest davon überzeugt ist, dass Jake mein Leben zerstört und dann nicht einmal den Anstand gehabt hat, mich zu heiraten.
Wie aufs Stichwort klingelt es an der Tür, und meine Mutter runzelt die Stirn. Mit meiner Kaffeetasse in der Hand gehe ich zur Haustür.
»Ich mach das schon!«, ruft Spence vom oberen Treppenabsatz und stürmt hinunter. Er fliegt zur Tür und reißt sie auf.
»Dad!«, brüllt er und wirft sich in die Arme seines Vaters.
Jakes aschblondes Haar ist ziemlich kurz und im Vergleich zu seinen früheren Zeiten als Surfer sehr ordentlich. Der beinahe goldene Ton seiner Haut kommt dadurch perfekt zur Geltung. Sein Lächeln ist breit und warm – wahrscheinlich das Beste an ihm –, und er drückt Spencer fest an sich.
»Hey, Kleiner.«
»Komm doch rein«, biete ich an.
Er tritt ins Foyer, das eigentlich nur ein etwas breiterer Teil des Flurs ist, von dem auch die Treppe abgeht. Jake zieht die Tür hinter sich zu und blickt dann zwischen Spencer und mir hin und her, wobei sein Grinsen noch breiter wird.
»Hey, Maddi.« Wie er meinen Namen betont, ist so charmant, dass ich mich sofort daran erinnere, wie er als Teenager gebräunt und mit nass glänzender Haut an unserem Stadtstrand in den Wellen stand.
»Willst du einen Kaffee?«, frage ich und hebe meine Tasse.
Aber es ist mein Sohn, der antwortet. »Keine Zeit, Mom. Wir haben zu viel vor.«
Jake und ich müssen lachen, was ein seltsames Gefühl ist. Unser Verhältnis zueinander ist zwar nicht angespannt, so wie das bei vielen getrennten Elternpaaren der Fall ist, doch das liegt hauptsächlich daran, dass wir nie eine besonders intensive Beziehung zueinander hatten. Wir stehen uns nicht sonderlich nah.
Und auch wenn ich unter den gegebenen Umständen nie erwartet hatte, dass Jake wirklich Verantwortung übernehmen würde, war mir auch nicht klar, wie sehr sein mangelndes Engagement mein Kind beeinflussen würde – und mich.
Das ist die Sache am Elternsein: Wenn jemand die Gefühle deines Kindes verletzt, dann ist das für dich noch viel schrecklicher, als würde jemand dir selbst weh tun.
Aus irgendeinem Grund vergöttert Spencer Jake aber vollkommen, was die Situation noch komplizierter macht.
»Du hast ihn gehört, Jake. Kein Kaffee für dich«, sage ich lockerer, als ich mich fühle.
Jake streicht Spence über den Kopf, eine Geste, die er sich wahrscheinlich aus irgendwelchen Filmen abgeschaut hat. »Warum kommst du nicht mit, Maddi? Nach dem Pancakes-Essen wollen wir noch auf den Weihnachtsmarkt.«
Ich schüttle den Kopf, weil ich weiß, dass Spence seinen Dad für sich allein haben will. Außerdem würde ich nie am Samstagnachmittag auf den vollgestopften Weihnachtsmarkt gehen, auch wenn ich ihn als Kind sehr geliebt habe. Ich weiß, dass meine Anwesenheit dort nur für Tratsch sorgen würde.
Wieder antwortet mein Sohn für mich. »Mom hat heute dieses Gala-Dings«, erklärt er und verhindert eilig, dass ich seinen Vater-Sohn-Tag gefährden könnte.
Ich höre, wie meine Mom hinter mir zusammenzuckt, und krümme mich ein wenig. Von der Gala hatte ich ihr noch nicht erzählt, und ich will wirklich nicht, dass sie etwas von meinem Zusammenstoß mit Livs Auto erfährt.
»Jake«, sagt meine Mutter kühl.
»Mrs. DeLuca«, erwidert er. »Sie sehen wie immer blendend aus.«
Typisch Jake, dass er ausgerechnet meine Mutter zu becircen versucht.
»Habt einen schönen Nachmittag«, sagt meine Mutter, ohne darauf einzugehen.
Jake sieht mir in die Augen.
»Vielleicht kommst du ja nächstes Mal mit?«, lässt er nicht locker, und es scheint noch eine andere Frage mitzuschwingen.
Aber welche das ist, finde ich nicht mehr heraus, weil Spence schon in den Startlöchern steht. Er umarmt mich schnell, willigt ein, mir in ein paar Stunden ein Update zu geben, und flitzt dann mit seinem Dad davon.
Als die Tür ins Schloss fällt, spüre ich sofort den Blick meiner Mutter.
»Gala?«, fragt sie, ihr Interesse ist geweckt. »Etwa die von den Buenaventuras?«
Zögernd lächle ich sie an. »Ja, genau.«
»Ich wusste gar nicht, dass du Kontakt mit …«
»Habe ich nicht!«, unterbreche ich sie, ehe sie Wilders Namen aussprechen kann. Während Jake in den Augen meiner Mutter der absolute Nichtsnutz ist, hält sie Wilder für eine Art Gott.
»Ich bin auf dem Weg in die Stadt mit Liv zusammengeprallt.« Kurz überlege ich, ihr von der doppelten Bedeutung dieses Satzes zu erzählen, aber sie soll nicht wissen, wie pleite ich bin.
»Na, das ist doch was!«, entgegnet sie. »Weißt du schon, was du anziehen wirst?«
Ich gehe mit der Kaffeetasse in der Hand zur Treppe. Die Angst vor der Gala, die ich irgendwie verdrängt hatte, kehrt zurück.
»Nein.«
»Vielleicht sollten wir shoppen gehen!«, ruft Mom, und ich seufze. Jetzt wird sie natürlich aufgeregt: Wenn ich auf eine Party gehe, die sie gut findet.
Nicht dass ich überrascht wäre; sie ist schon immer stolz auf ihre Freundschaft mit den Buenaventuras gewesen.
Sie gehören zur High Society, in der meine Mutter ihren Status behaupten will, seit sie sich vor dreißig Jahren bei den einfachen Leuten wiederfand, das erste und einzige Mal, dass sie jemals die »Regeln« gebrochen hat.
Und obwohl Mom meinen Vater immer geliebt hat und ich nie den Eindruck hatte, sie hätte die Entscheidung, ihn zu heiraten, bereut, hat sie es ihren Eltern stets verübelt, dass sie sie enterbt haben. Sie hat seitdem nicht mehr mit ihnen gesprochen und wird es wahrscheinlich auch nie wieder tun.
Ich bleibe am unteren Treppenabsatz stehen und drehe mich zu ihr. »Ich habe sicher was Passendes im Koffer.«
»Es ist ein sehr vornehmer Anlass, Maddi«, sagt sie, als wäre ich gerade auf meinem Pferd ins Haus geritten und hätte Tabak auf den Boden gespuckt.
»Ich weiß, Mom.«
»Und die Buenaventuras sind meine engsten Freunde.« Was sie damit eigentlich meint, ist, dass ich sie nicht vor diesen wichtigen Persönlichkeiten blamieren soll.
Das ist verdammt nochmal zu spät.
»Ich gehe jetzt hoch an meinen Computer«, sage ich, um das Gespräch abzukürzen.
Sie nickt mir flüchtig zu und eilt davon. Einen Moment lang starre ich ihr nach und wünsche mir, eine von uns könnte besser mit solchen Situationen umgehen. Ob es wohl einfacher gewesen wäre, wenn meine Mutter das zweite Kind, das sie sich gewünscht hat, bekommen hätte? Wenn meine Eltern aufgehört hätten, aus mir die perfekte Tochter machen zu wollen, oder einfach jemanden zum Reden gehabt hätten – hätte das etwas geändert, als ich sie damals im Stich gelassen habe?
Liv drückt in der Einfahrt auf die Hupe, und ich hole meine schwarze Jacke aus der Garderobe, ehe ich mir im Spiegel einen prüfenden Blick zuwerfe und hoffe, dass mir mein rotes Lieblingskleid das nötige Selbstbewusstsein für den Abend verleiht.
»Ich bin bald wieder da, Mom!«, rufe ich.
Zwei Sekunden später erscheint meine Mutter in der Wohnzimmertür, weil sie, wie sie mir oft genug erklärt hat, nicht wie eine Barbesitzerin von Raum zu Raum brüllt. Sie mustert mein Kleid. Es ist bodenlang und hat einen Schlitz, der bis hinauf an meinen Oberschenkel reicht, ist davon abgesehen aber recht schlicht. Was dem Kleid an Schnickschnack fehlt, macht es dadurch wett, dass es perfekt sitzt.
Mom zieht eine Augenbraue nach oben und verzichtet auf einen Kommentar. Aus meinen siebzehn Jahren in diesem Haus weiß ich, dass das Anerkennung mit einer kleinen Prise Kritik ist – nur, um sich selbst treu zu bleiben.
»Viel Spaß«, sagt sie. »Und bestell den Buenaventuras Grüße.«
In diesem Moment wird mir klar, dass sie nicht mitkommt. Ich meine, klar, ich wusste es ja, doch mir fällt erst jetzt auf, dass das ungewöhnlich ist. Ich war so mit meinen eigenen Sorgen beschäftigt, dass ich die Position meiner Mutter als eine Art inoffizielle Vorsitzende Haverberrys ganz vergessen hatte.
Und daraus kann ich nur schließen, dass sie nicht hingeht, weil mein Dad nicht hingeht, weil sie diese Dinge früher immer zusammen gemacht haben.
»Mom …«, sage ich und habe ein richtig schlechtes Gewissen, weil ich nicht mit ihr shoppen gegangen bin.
»Vergiss nicht, dich bei Liv für die Einladung zu bedanken«, sagt sie schnell. »Die Gala ist schon seit Wochen ausverkauft, weißt du?«
Ich seufze. Der Abstand zwischen uns ist einfach zu groß.
»Mache ich, Mom.« Ich werfe die Jacke über, lächle ihr kurz zu und schlüpfe aus der Tür.
Die Luft draußen ist frisch, und ich ziehe den Wollkragen meiner Jacke eng um meinen Hals.
Liv lehnt sich über den Schaltknüppel und stößt die Beifahrertür für mich auf.
»Rein mit dir, meine Hübsche! Wir sind spät dran«, sagt sie, während ich mich auf den beheizten Beifahrersitz gleiten lasse.
Ihr dunkles Haar hat sie mit einer antiken Haarspange als Akzent elegant hochgesteckt. Und ihr Kleid, das knöchellang und todschick ist, ist aus mitternachtsblauem Samt. Sie sieht atemberaubend aus.
Ich spähe auf die Uhr – Viertel nach sechs, genau, wie sie es mir geschrieben hat.
»Ich dachte, du hättest gesagt …«
Sie unterbricht mich mit einem verschmitzten Grinsen und wendet so schnell in der Einfahrt, dass ich Angst vor einem Schleudertrauma habe.
»Habe ich, ja. Wir sind absichtlich zu spät. Ich dachte, wir tauchen einfach kurz vor dem Dinner auf, essen und gehen dann an die Bar, während alle schwafeln. Aber scheinbar stimmt was mit der Soundanlage nicht, und Mama Buenaventura ist kurz vorm Durchdrehen.« Liv spricht ihren Nachnamen mit einem leichten Akzent aus, ein Hinweis auf die fließenden Spanisch- und Italienischkenntnisse ihrer Familie.
»Oh«, stoße ich aus und merke, wie leichte Panik in mir ausbricht. Es ist fast zehn Jahre her, dass ich Livs Familie zum letzten Mal gesehen habe, und im Gegensatz zu meiner halten deren Mitglieder mit ihrem Missfallen nicht hinterm Berg. Bei dem Gedanken an eine schlecht gelaunte Mrs. Buenaventura überlege ich, ob ich vielleicht einfach aus dem fahrenden Auto springen soll.
Liv grinst mich an und brettert in schwindelerregendem Tempo die Straße hinab. Und als ich sehe, wie sie sich bewegt und spricht, werde ich schlagartig so nostalgisch, dass ich mich wieder fühle, als wäre ich fünfzehn. Ich muss an ihr erstes Auto denken, ein schnittiger roter BMW, dessen Gaspedal sie auch schon ziemlich hart rangenommen hat. Liv war nicht die große Schwester, die einen an der Hand genommen und Wilder und mich während unserer schwierigen Phase unter ihre Fittiche genommen hat. Für sie galt eher die Devise, dass man aus seinen Fehlern lernt. Doch sie hat uns oft im Auto mit zur Schule genommen. Und an den Tagen, an denen wir vor den älteren Kids geparkt haben und Seite an Seite mit Liv und ihren coolen Freundinnen in die Schule gegangen sind, habe ich mich unbesiegbar gefühlt.
»Also«, sagt sie. »Datest du jemanden?«
»Ähm«, gebe ich von mir und klammere mich an der Tür fest, da sie scharf eine Kurve nimmt. »In letzter Zeit nicht. Ich treffe Männer nicht gern in der Gegenwart von Spence. Und ich habe momentan auch nicht viel Zeit für so was.«
»Wie ist das?«, fragt sie. »Einen neunjährigen Sohn zu haben, wenn man sechsundzwanzig ist? Oder bist du schon siebenundzwanzig?«
Diese Frage hat man mir schon oft gestellt, und oft geht es dabei weniger um die Frage selbst als um den Subtext. Aber Liv fragt ganz direkt, und es schwingt auch kein Urteil mit.
»Ich bin siebenundzwanzig«, antworte ich und beschließe, ihr ehrlich zu antworten. »Und ich will nicht sagen, dass es leicht ist. Ich meine, ich mache mir mehr Sorgen um ihn, als ich es je für möglich gehalten hätte, und oft frage ich mich, ob ich alles richtig mache. Gleichzeitig ist Spence meine allergrößte Freude. Er ist mein bester Freund, und ich schwöre dir, dass ich von ihm mehr lerne als er von mir! Letztens habe ich gesagt, dass er sich das Wort, das er benutzt hat, selbst ausgedacht hat. Da hat er erwidert, dass doch alle Wörter ausgedacht seien.«
Sie lächelt. »Kinder sind schlauer als Erwachsene.«
»Das sind sie wirklich«, stimme ich ihr zu. Ich will sie nach ihrem Leben fragen, aber sie kommt mir zuvor.
»Wie machst du das, Mad?«, fragt sie und achtet nicht so sehr auf die Straße, wie sie es meiner Meinung nach tun sollte. »Wie hast du es geschafft, mit siebzehn schwanger nach L.A. zu ziehen und irgendwie klarzukommen?« Ihr Ton ist zwar genauso direkt wie zuvor, allerdings schwingt auch ein Hauch Ehrfurcht mit.
Ich seufze. »Diese Frage wird man mir heute Abend wahrscheinlich noch oft stellen.«
Ein leises Lachen entweicht ihren in mattem Rot geschminkten Lippen. »Verdammt. Du hast recht. Die Klatschweiber werden ihr Glück kaum fassen können. Vergiss es einfach.«
»Nein«, sage ich. »Ist okay. Du bist Liv, also hast du eine Sonderbefugnis.«
»Genauso ist es. Bitte, danke.«
Einen Augenblick lang denke ich nach. »Mal ganz ehrlich? Ich weiß nicht, wie ich das geschafft habe. Ich war einfach sehr stur und sauer, dass alle mir gesagt haben, was ich tun soll oder was ich falsch gemacht habe. Ich hatte das Sparbuch, das meine Eltern schon zu meiner Geburt für meinen Collegebesuch angelegt hatten …«
»Vassar?«, sagt sie, und den Namen zu hören gibt mir einen Stich.
Die Entscheidung, das Geld für den Einstieg in mein neues Leben anstatt fürs College zu nutzen, war die schwerste meines Lebens.
Nicht, schwanger nach L.A. zu ziehen, nicht, abends und am Wochenende die Kochschule zu besuchen, während ich gleichzeitig in einem Bagelshop gearbeitet habe. Vassar ziehen zu lassen tat weh. Ich habe den Studienstart sogar ein Jahr aufgeschoben, überzeugt, dass ich es irgendwie hinkriegen würde, sobald ich wieder festen Boden unter den Füßen hatte.
Aber als das Jahr um war, konnte ich meine finanziellen Ausgaben, meine Arbeit und mein Kind nicht miteinander vereinbaren. Als Spence acht Monate alt war, kamen meine Eltern einmal kurz vorbei. Doch ihr Besuch glich eher einem Ultimatum – ich sollte entweder nach Hause zurückziehen, oder mein Leben wäre ruiniert. Darauf erwiderte ich, dass ich es vorzöge, im Stillen zu leiden, so wie nur eine echte Neuengländerin es konnte. Das fanden sie nicht besonders lustig.
Ich stoße einen tiefen Seufzer aus.
»Okay, das war’s«, sagt Liv. »Themenwechsel. Ich weiß, das klingt dämlich, aber ich habe nicht damit gerechnet, dass die Stimmung durch meine Frage so ernst wird. Ich hatte wohl erwartet, dass du irgendwas von Mutter-Superheldin erwiderst oder so. Und auch wenn ich stets für Deeptalk zu haben bin, sollte man dazu teuren Whiskey trinken und ihn nicht führen, wenn einem ein deprimierendes langes Dinner mit der Familie bevorsteht.«
Ich lächle sie an, froh über den Ausweg, den sie mir bietet. »Okay, wie sieht es bei dir aus? Datest du jemanden?«
»Na bitte. Das ist genau die Art fluffiger Unterhaltung, auf die ich Lust habe«, erwidert sie strahlend. »Ich date tatsächlich gerade ein Model aus New York. Aber meist sehe ich sie nur am Wochenende, und es ist nicht so ernst.«
Ich lächle. Natürlich datet sie ein Model. »Aber heute ist doch Samstag. Wolltest du sie nicht mitbringen?«
Sie gluckst. »Nicht wenn ich sie weiter treffen möchte! Du weißt ja selbst, dass meine Eltern unter Smalltalk Gespräche über Universitäten und den Immobilienmarkt verstehen.« Sie verdreht die Augen. »Mal ehrlich, wärst du gekommen, wenn ich dich nicht mehr oder weniger gezwungen hätte?«
Ihre Direktheit erwischt mich unvorbereitet, so dass ich halb lachen, halb würgen muss. Und wieder einmal habe ich den Drang, ihr die Wahrheit zu sagen: dass es mich nervös macht, ihre Familie nach all den Jahren wiederzusehen, und dass mir von dem Gedanken an eine Begegnung mit Wilder ganz schlecht wird. Zu gern würde ich sie fragen, ob er da sein wird, aber noch ehe ich allen Mut zusammengenommen habe und fragen kann, hält ihr Auto auch schon vor dem Black-Eyed Susan, einem großen historischen Restaurant am Stadtrand.
Sofort springt Liv aus dem Auto und läuft, anstatt den Eingang anzusteuern, an der Seite des Gebäudes entlang, das lange Kleid mit einer Hand gerafft. Ich folge ihr den Steinpfad entlang, ehe sie durch eine Seitentür das Restaurant betritt. Sie geht, wie sie fährt, schnell und ungeheuer selbstbewusst. Wir treten in eine große Küche, und mir schlägt der Duft eines Kirschpies mit einer Kruste aus gebräunter Butter entgegen. Vielleicht wollte sie sich nicht mit zahlreichen Begrüßungen an der Eingangstür aufhalten?
Liv bleibt stehen und dreht sich zu mir um, während sie aus dem Mantel schlüpft. »Würde es dir was ausmachen, den für mich aufzuhängen? Ich muss Mom finden, ehe sie hyperventiliert.«