Die japanische Freundin - Sylvia M. Hofmann - E-Book

Die japanische Freundin E-Book

Sylvia M. Hofmann

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Beschreibung

Von einem Erdbeben in New York wird man erfahren, wie geöffnete Fenster anfangen zu klappern. Eine scheinbare japanische Freundin führt zu opulenten Spekulationen. Harte Konflikte aus dem Lehreralltag finden sich im Band. Erfahrungen aus der Schweizer Bergwelt halten Tagebuchaufzeichnungen fest. Ein spöttischer Einwurf skizziert, wie man den Gürtel enger schnallen kann. Fische, denen einige Zeit das Wasser fehlte, lassen sich überraschenderweise retten. Ein Pfeil trifft den jungen Widersacher, wie konnte es dazu kommen? Aprilscherze aus der Kindheit werden erinnert, ein Hase aus der Nachbarschaft verschwindet. In die besondere Welt einer Werkstatt kann man sich einweisen lassen, heilige Räume. Ein Gespräch bei einer Kneipentour; leicht hätte es in einer Affäre enden können.

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Inhalt

Petra M. Dobrovolny-Mühlenbach

Auf Goethes Spuren im Wallis

Ein internationales Literaturfestival hautnah erlebt

Ein Gottesdienst auf 2067 Metern Höhe und Kühe als Kurgäste

Michael Matzke

Bodenseeufer

Ulrich Straeter

Die Maßnahme

Margit Schalk Djiango

Bist du es?

Esther Wäcken

Die Begegnung

Nikolaus Luttenfeldner

Ein Anfang

Ein Ende

Frank Joussen

Der Mund der Wahrheit

Günther Mika

Nachbars Hund

Die verlorene Frau

Anette Felber

Lulatsch

Geliebte Nacht

Frank Maria Fischer

Papier essen

Der Zeitpfeil

Grete Ruile

Der heimliche Mitesser

Der schwarze Rabe

Es kam anders als gedacht

Die drei Fischlein

Ein schnittiges Geschenk

Sylvia M. Hofmann

...

Als uns der Erdgeist begegnete

Ein Neubeginn

Das einmalige Haus

Auf der Suche nach einer ruhigen Wohnung in einer fremden Stadt

Karl-Friedrich und die guten Mitarbeiter

Der charmante Mario

Eine offensichtliche Betrüger-Mail

Es kam wie ein Hammer am Sonntag

Unglaublich so etwas

Die beste Freundin

Ein seltsames Angebot

Freunde in der Not

Die Fußpflegerin

Erinnerungen an den Winter auf Teneriffa

Führe mich nicht in Versuchung

Der Geburtstag der Freiheitsstatue

Ein Wunsch an die gute Fee

Der Osterhase lässt sich nicht sehen

Der fünfzigste Geburtstag

Dringender Wunsch: ein Telefon zu Hause

Fremd im eigenen Land

Besser als im Wirtshaus herumsitzen…

Madame möchte keine gute Nachbarschaft

Erwin Macher

Die vermeintliche Affäre mit einer 24-jährigen Japanerin

Emil Kraus bringt Glück ins Haus

Wenn aus Sieben durch sieben wieder Sieben wird

Ein gänzlich unerfüllbarer Wunsch

Wie ich durch ein „Wisch-Handy“ plötzlich alt wurde

Wer dreimal niest

Angeln im Wohnzimmer

Weniger als ein Zufall

Petra M. Dobrovolny-Mühlenbach

Mein Tagebuch 2022: Ein Leben in wachsenden Ringen

René Oberholzer

Das Geheimnis

Wie der Fluss

Das Frühstück danach

Die Nachricht

Othmar Auberger

Im Allerheiligsten

Hans-Jürgen Kuite

Aufrichten

Heidi Axel

Alleinsein bedeutet nicht einsam zu sein!

Älter werde ich mit Anstand und Humor

Peter Nied

Ab ins Arbeitslager

Werner Hetzschold

„Bis jetzt überlebt ...“

Susan Szabo

Acht hungrige Augen

Lisa Wagner

Kälte

Marlies Joepen

Im Götterhimmel

Der Hauch von Lavendel

Ein makabrer Schachzug

Katja Baumgärtner

Der erste April

Autorinnen und Autoren

Petra M. Dobrovolny-Mühlenbach

Auf Goethes Spuren im Wallis

Am 3. Juni 2023 wird der bereits bestehende und jetzt neu beschilderte Kulturweg von Leukerbad an der Dala nach Salgesch an der Raspille im Rhonetal mit einer Wanderung feierlich eingeweiht. Schon Mitte Mai hatte ich mich dazu angemeldet und freute mich sehr auf dieses für mich ungewöhnliche Abenteuer: Mindestens 15 Kilometer Fussweg mit einer Höhendifferenz von 800 Meter in Begleitung von hundert Mitwandernden stehen mir bevor. Die Teilnahme ist dank grosszügigem Sponsoring gratis, eine Spende der Wandernden für den zukünftigen Unterhalt des Kulturwegs ist jedoch willkommen. Der blaue Himmel verspricht den schönsten Tag der Woche, ab elf Uhr sind jedoch Gewitter vorausgesagt. So packe ich Regenjacke und Knirps in meinen Rucksack, auch eine Thermosflasche mit Tee und einen Apfel. Für weiteres Proviant soll unterwegs dreimal gesorgt sein. Um acht Uhr mache ich mich auf den Weg zur Sportarena von Leukerbad. Von hier aus sollen nach einem Café und Gipfeli die hundert Angemeldeten starten. Die Gemeindepräsidenten von Leukerbad und Salgesch sowie der Präsident der «DalaKoop», einer Kooperation für interkommunale Zusammenarbeit der Gemeinden Leukerbad, Inden, Varen und Salgesch, heben in ihren Reden die Bedeutung des Kulturwegs und dieses Events hervor. Der Pfarrer von Leukerbad, Frank Sommerhoff, spricht kurz über das Unterwegssein in Gottes Natur, die die Seele beim Wandern erfreue. Wegen des schlechten Mikrofons sind die Worte der Redner nur schlecht zu verstehen. In freudiger Erwartung begeben wir uns zum ersten neuen Wegweiser hinter der Sportarena und am Anfang des «Römerwegs». Der Pfarrer bittet die Erzengel und die Heiligen um Schutz für alle, die auf diesem Weg wandern werden, segnet das neue Schild mit Weihwasser, und meint sodann, es sei eigentlich wichtiger, die Wandernden zu segnen. So bekommen wir auch noch ein paar geweihte Wasserspritzer ab. Danach werden wir in drei Gruppen mit je einem Führer eingeteilt und machen uns gutgelaunt und erwartungsvoll auf den Weg. Nach ein paar hundert Metern hält unser Wanderleiter Anselmo Loretan kurz an, um uns etwas über die geologischen Verhältnisse des so reichlich fliessenden Thermalwassers von Leukerbad zu erklären. Regen- und Schneewasser sammelt sich oben im Wyss See neben dem Gipfel des Torrent in etwa 2300 Meter Höhe, sickert durch den Kalkstein in den Berg, fliesst bis zu 2500 Meter unter die Erde. Dort zirkuliert es 40 Jahre lang, nimmt verschiedene Mineralien und vor allem auch die Wärme der Erde auf, bis es in Quellen austritt und zu vier Hotels sowie zur «Therme Leukerbad» geleitet wird. Letztere wurde zunächst von zwei Quellen versorgt, bis nach dem Erdbeben im Jahre 1946 eine dritte hinzukam. Letzteres wusste ich bis jetzt nicht.

Weiter geht es in zügigem Tempo an einem grossen Keltenstein vorbei bis zum nächsten Dorf, Inden genannt. Pünktlich treffen wir zur Weisswein-Mehl-Suppe – nicht jedermanns Geschmack – um 10.45 Uhr beim Dorfladen, dem ehemaligen kleinen Bahnhof der Zahnradbahn, die von 1915 bis 1967 von Susten im Tal bis nach Leukerbad fuhr. Damals baute man die Strasse aus und empfand die Bahn als Behinderung für den Autoverkehr. Heute wird die Entscheidung diese Bahn abzuschaffen, sehr bereut. Sie könnte auch heute mit erneuerbarem Strom aus Wasserkraft betrieben werden und wäre eine noch grössere Touristenattraktion als damals. Vielleicht kommt jemand mal auf die Idee eine Seilbahn von Susten nach Leukerbad zu bauen. Damit könnte auch der Transport der riesigen Abfallmenge, die die Tourist*innen hinterlassen, von «der Strasse auf das Seil» verlagert werden und zur Entsorgung ganz einfach ins Tal schweben.

Aus einem riesigen Suppenkessel, der über einem Feuer hängt, wird jedem Gast Suppe in den Teller geschöpft. Auch reichlich Brot und Käse wird angeboten. Die bereitstehenden Holzbänke und -tische sind bald besetzt, nette Einwohnerinnen von Inden – Würde man sie als «Inderinnen» bezeichnen? – schenken emsig Walliser Johannisberg-Wein und Wasser ein. Nach einer dreiviertel Stunde ertönt ein Pfiff aus der Trillerpfeife unseres Wanderleiters Anselmo zum Aufbruch zur zweiten und anstrengendsten etwa 1 ¼ -stündigen Etappe hinunter nach Varen im Rhonetal. Der Weg führt hinter Inden an einem ehemaligen Kalkbrennofen und an weiter an sehr steilen Felswänden entlang. Gemäss Anweisung sollen wir zügig in einer Einerkolonne marschieren und nicht zum Fotografieren stehen bleiben. Steinschläge seien zwar selten, aber nicht auszuschliessen. In einer Kurve, hinter der der Weg die Dala-Schlucht verlässt, hält Anselmo im Schatten der Bäume an, um uns von Goethe zu erzählen, der vor 250 Jahren denselben Weg in Gegenrichtung gewandert war. Hier beim Bildstock mit der kleinen Marienfigur hatte er einen Halt eingelegt, um den Blick nach oben zum malerisch gelegenen Inden zu skizzieren. Eine Kopie dieser sehr gekonnten Skizze reicht Anselmo herum. Alle staunen, denn abgesehen von der Hochspannungsleitung und einem Baukran sieht diese Aussicht heute noch genau gleich aus wie damals. Es soll bekannt sein, dass Goethe die erste Nacht, die er in Leukerbad verbrachte, wegen der vielen Stechmücken kaum schlafen konnte. Heute würde dies nicht passieren, denn es gibt auf dieser Höhe fast keine Stechmücken mehr.

Anselmo verspricht uns einen gemütlichen Abstieg nach Varen, einem Winzerdorf, wo um 13 Uhr das Mittagessen mit Raclette auf uns wartet. Nach «Goethes Kurve», vielleicht wird sie offiziell mal so benannt, Richtung Rhonetal mit Blick auf den Pfynwald, macht sich die Mittagshitze unbarmherzig bemerkbar. Die alpine Flora wechselt zu einer mediterranen. Heute wird es einen ersten Hitzetag mit 30°C geben. Wir verlassen den schattigen Wald, denn unser Abstieg führt uns nun durch die Reben, die die Sicht auf das breiter werdende Tal Richtung Siders und Sitten im Südwesten freigeben. Hier entfaltet das Rhonetal eine besondere Magie, von welcher auch Rainer Maria Rilke so fasziniert war, dass er nach Jahren der Wanderschaft und Suche beschloss sich hier niederzulassen.

Mein linkes Knie meldet sich, wenn auch leise. Es hat bereits 600 MeterAbstieg hinter sich. Ich bereue, dass ich statt meiner Wanderstöcke einen Regenschirm mitgenommen habe. Zum letzten Mal, wie ich mir schwöre. Goethe hatte bestimmt zumindest einen Wanderstock dabei. Besonders auf den Schotterwegen kann man leicht auf den flachen Schiefersteinen ausrutschen. Schliesslich kommen wir bei einer Sporthalle an, neben der auf dem inzwischen vor Hitze glühenden Asphaltplatz Holztische und -bänke auf uns warten. Der Raclettekäse muss von den freundlichen Gastgebern erst gar nicht lange geschmolzen werden. Die Warteschlange kommt zügig voran. Mit einem Kartonteller in der Hand, der mit zwei Pellkartoffeln – in der Schweiz «Gschwellti» genannt, sauren Gurken, «Silberziebeli» und zerlaufenem Käse beladen wurde, sowie einem Glas Walliser Weisswein, suche ich mir einen Schattenplatz unter dem Dachvorsprung der Turnhalle und setze mich einfach auf den Boden. Einige Mitwandernde machen es mir nach und so geniessen wir trotz diesen Umständen gut gelaunt unser wohl verdientes Mittagessen. Inzwischen verbreitert sich der Schatten des Vordachs zusehends, denn die Sonne hat ihren höchsten Punkt überschritten. Kurzerhand verschieben ein paar kräftige Männer die langen Bänke und Tische zur Wand der Turnhalle, so dass niemand mehr beim Essen auf dem Boden sitzen muss. Etwa die Hälfte der Teilnehmenden verlässt nach dem Mittagessen die Gruppe, um sich mit dem Bus nach Leuk und weiter auf den Heimweg zu begeben. Die meisten Mitwandernden wohnen im Rhonetal, in den Kantonen Bern, Luzern oder woanders und waren zum Start der Wanderung mit dem Bus nach Leukerbad gekommen. Einige wohnen auch in Salgesch, wohin die restliche Gruppe um 14.30 Uhr von Varen aus aufbricht. Angekündigt wird uns eine gemütliche Wanderung entlang der Suonen, wie im Wallis die Wasserkanäle aus dem 13. Jahrhundert genannt werden. Auf Madeira heissen sie «Levadas». Sie sorgen auch heute noch für eine gerechte Verteilung des Wassers durch Felder und Rebhänge. In Aussicht gestellt wird uns auch eine riesige Crèmeschnitte vor dem Weinmuseum im Zielort Salgesch. Die folgenden 1 ½ Stunden erscheinen mir ziemlich lang und mühsam. Zunehmend spüre ich meine Müdigkeit und mein linkes Knie. Doch die Schönheit der Landschaft und das kühle Wasser in den Suonen lassen mich durchhalten.

Gewitterwolken türmen sich über den Bergen auf und warten geduldig, bis ich wieder sicher zuhause in Leukerbad angekommen sein werde. Mein Regenschirm wird unbenutzt im Rucksack bleiben. Der Abstieg nach Salgesch, dem grössten Winzerdorf im Wallis – 40 Winzerunternehmen, überwiegend von Familien geführt –, ist sehr steil. Neben uns fliesst ein kleiner Bergbach munter hinunter: die Raspille. Deswegen heisst dieser Kulturweg «von der Dala bis zur Raspille», die die Sprachgrenze zwischen dem Wallisertitsch des Oberwallis und dem Französisch des Unterwallis bildet. Anselmo erzählt uns noch, dass sich Probleme mit dem Nachwuchs auch in Salgesch zeigen. Viele Rebberge werden vermietet oder als teure Grundstücke an eine reiche Kundschaft aus dem Ausland verkauft. Grosse Villen mit nicht hierher passender moderner Architektur verschandeln an einigen Stellen bereits die Landschaft.

Im Namen der Gruppe bedankt sich ein älterer Mitwandernder bei Anselmo für die kompetente und umsichtige Führung. Müde und zufrieden treffen wir beim Weinmuseum, das bereits geschlossen hat, in Salgesch ein. Bis zum nächsten Zug nach Leuk bleibt gerade noch genügend Zeit, um bei den wieder für uns bereitstehenden Bänken und Tischen eine süsse Crèmeschnitte – drei Blätterteigschichten mit Vanillecrème dazwischen – zu vertilgen und dem Team von Leukerbad-Tourismus herzlich für die ausgezeichnete Organisation dieses historischen Tages zu danken.

Beim Bahnhof Leuk hat die kleine Gruppe aus Leukerbad direkten Anschluss an den Bus. Gegen 17.30 Uhr treffen wir im heimatlichen Busterminal ein. Um 21 Uhr entladen sich die ersten Gewitterwolken, die dank dem Segen des Pfarrers und dem Schutz der Heiligen sowie der Erzengel so lange gewartet hatten. Niemand hatte auf dieser Wanderung einen Unfall erlitten, niemand einen Hitzschlag. Zu meinem Erstaunen hatte ich die für mich ungewohnten kulinarischen Ereignisse bestens vertragen. Wegen des Walliser Weissweins oder des Schutzes eines Heiligen? Wer weiss…

Dankbar und erschöpft falle ich ins Bett. Diese Wanderung war ein einmaliges Erlebnis, das ich sicher nie vergessen werde, aber sicher nicht in dieser Form wiederholen werde. Im Prospekt steht: «Der Kulturweg Dala – Raspille beeindruckt durch das Wechselspiel der vielseitigen Natur- und Kulturlandschaft.» Auch wenn dieses Wechselspiel dann nicht so beeindruckend ist, lässt sich dieser Weg wegen der guten Erschliessung durch den öffentlichen Verkehr ohne weiteres in drei oder vier einzelne Etappen aufteilen. Unbedingt mit Wanderstöcken, nicht unbedingt mit Weissweinsuppe, stattdessen lieber mit Besuch eines Weinkellers und des Weinmuseums. Und wegen des Muskelkaters ist ein Besuch der Therme spätestens am darauffolgenden Tag sehr empfehlenswert. Man kann auf Goethes Spuren nicht nur wandern, sondern auch baden. Dies wird bestimmt in der nächsten Auflage des Prospekts erwähnt werden. «Goethes Kurve» vielleicht auch.

Petra M. Dobrovolny-Mühlenbach

Ein internationales Literaturfestival hautnah erlebt

Dieses Jahr findet es zum 27. Mal in Leukerbad statt, vier Tage lang. Zum dritten Mal – ich wohne seit fast drei Jahren hier – möchte ich den angekündigten «literarischen Abend» am Samstag erleben. Die zwei grossen weissen Festzelte wurden wieder aufgestellt. Nach zwei Tagen Nebel und grauen Wolken zeigt sich heute ein strahlend blauer Himmel. Zur Mittagszeit gehe ich in das Bücherzelt am Dorfplatz, um zu fragen, wo ich ein Ticket für den Abend kaufen kann. Die junge Dame sagt mir, hier im Zelt gäbe es nur die Bücher der Autor:innen des Festivals, ich solle im nächsten Zelt neben der Walliser Alpentherme fragen. Dort treffe ich einen jungen Walliser an, der gerade Getränke auspackt. Er wüsste von nichts, er arbeite nicht für das Festival, sondern für die Catering-Firma. Ich solle im Tourismusbüro beim Busbahnhof unten im Dorf fragen. Dann legt er vier pizza-ähnliche blasse Gebilde in die Vitrine und sortiert die Weinflaschen.

Im Tourismusbüro erfahre ich, dass sich der Ticketschalter dieses Jahr in der Skischule beim alten Bahnhof neben dem Zelt befindet, in welchem ich soeben den jungen Weinflaschensortierer gefragt hatte. So mache ich mich wieder auf nach oben zum Bahnhof der ehemaligen Zahnradbahn von Susten nach Leukerbad. Dort teile ich der jungen Dame meinen Wunsch nach einem Einzelticket für den «literarischen Abend» mit. Sie schaut mich durchdringend an und will unbedingt wissen, ob ich denn tatsächlich beabsichtige, bis zum Ende der Veranstaltung um 24 Uhr zu bleiben. Ihr strenger Blick meint ohne Worte, dass es mir nicht in den Sinn kommen solle, jemandem, der unbedingt bis zum Schluss bleiben wolle, bereits um 20 Uhr den Platz wegzunehmen. Ich erwidere mit erstauntem Blick und bejahe ihre Frage mit der Botschaft ohne Worte, dass mir die Zeitdauer der Veranstaltung bekannt sei und ich nicht die geringste Absicht hätte, meinen Platz unrechtmässig frühzeitig zu verlassen. Daraufhin nimmt sie eine grosse dunkelblaue Eintrittskarte, schreibt auf die weisse Rückseite «literarischer Abend» und «45.- bezahlt» ohne ihre Unterschrift. Dazu bekomme ich einen leuchtend gelben Halsbändel überreicht, an dem sich die Karte befestigen lässt. So sei ich für die Eingangskontrolle erkenntlich, meint die Dame, sie selbst sei jedoch am Abend ebenfalls beim Eingang. Im Falle eines Problems mit meiner Karte würde sie höchst persönlich dafür sorgen, dass ich eingelassen würde.

Als ich am Abend zehn Minuten vor Beginn das grosse weisse Zelt betrete, ist diese Dame weit und breit nicht zu sehen und niemand interessiert sich für meine Eintrittskarte. Das Programm bekomme ich in die Hand gedrückt, weiter vorne beim Podium finde ich wie in den beiden Jahren zuvor meinen gewohnten Platz. Das Publikum unterhält sich untereinander angeregt, denn dieses Jahr muss niemand mehr «wegen Corona» eine Maske tragen. Aus Erfahrung weiss ich, dass mit der Zeit die Kälte im gut durchlüfteten Zelt zunimmt und habe ein Sitzkissen und eine kleine Wolldecke mitgenommen. Es bleibt mir gerade noch genügend Zeit, um an der kleinen Bar bei dem jungen Mann, der wahrscheinlich immer noch nicht weiss, wo sich der Ticketschalter des Festivals befindet, ein Glas Walliser Pinot Noir zu besorgen. Letztes Jahr gab es noch Rotweingläser, für die man 5.- Franken Depot zahlen musste, welches man bei der Rückgabe des Glases zurückerhielt. Dieses Jahr gibt es Plastikbecher in spitzer Kelchform, die eigentlich für Sekt bestimmt sind. In diesem Gefäss kann sich mein Pinot Noir nicht richtig entfalten. Dafür muss ich nachher nicht wie die letzten beiden Jahre noch einmal Schlange stehen, um das Glas gegen mein vorher bezahltes Depot zurückzugeben.

Die ersten drei Vorlesenden werden angekündigt. Die Libanesin Chaza Charafeddine, Jahrgang 1964, lebt nach Studiengängen in Deutschland und der Schweiz heute wieder in Beirut und beginnt den Abend mit einem Auszug aus ihrem Buch «Beirut für wilde Mädchen». Zunächst liest sie ein paar Minuten in ihrer arabischen Muttersprache vor. Leider viel zu schnell, so dass sich die Schönheit des Arabischen gar nicht entfalten kann. Das Publikum, welches zu 70 % aus grau- oder weisshaarigen Damen besteht, hört höflich zu, ich auch, kann aber mehr verstehen, als die Autorin auf Deutsch von verbotenen Partys in ihrer Pubertätszeit erzählt, zu denen sie ihre ältere damals 16-jährige Schwester mitnahm. Als Zweiter schildert Karl Rühmann, Jahrgang 1959, der in Jugoslawien und den USA aufwuchs, das Gespräch eines Grossvaters mit seinem Sohn und Enkel darüber, ob er die «Partisanenrente» beantragen solle. Ein Satz ist mir in Erinnerung geblieben: «Wer das System ausnützt, hat es verstanden.» Als Dritte liest Yael Inokai, 1989 in Basel geboren, Tochter einer Deutschen und eines Ungarn, aus ihrem neusten Roman «Ein simpler Eingriff» und stellt ethische Fragen nach dem Nutzen medizinischer Eingriffe. Es folgt eine Viertelstunde Pause, genug Zeit, um sich ein weiteres Getränk in einem unpassenden Glas an der Bar zu holen. Um 21 Uhr beginnt ein weiterer Block mit Magdalena Schrefel. Sie gewährt Einblick in ein Familienleben mit einer alleinerziehenden spielsüchtigen Mutter. Es folgen Raphael Urweider, der sich in Termiten einfühlt, die in ihrem Leben nur wenige Tage fliegen können und danach ihre Flügel verlieren, und der Walliser Rolf Hermann, der von seinem Job als Schafhirte erzählt und dabei mit unterschiedlich begabten und trainierten Hirtenhunden zurechtkommen muss. Zu Beginn der weiteren Pause meldet sich bei mir ein menschliches Bedürfnis. Die Holzhütte mit Toiletten neben dem weissen Zelt übersehe ich in der Dunkelheit. Stattdessen begebe ich mich in das nächste Hotel, von dem ich weiss, dass sich das «Örtchen» im Untergrund befindet. Nach dem WC-Besuch gehe ich die Treppe wieder nach oben und finde die Türe zum Empfang abgeschlossen. Innerhalb von drei Minuten meines unterirdischen Aufenthalts hat sich mir der Rückweg zum Literaturzelt versperrt. Mein Klopfen und Rufen nützt nichts. Ich höre nur die den Hoteleingang beschallende Musik. Die Person mit dem rettenden Schlüssel hat sich mindestens fünf Minuten zu früh den Feierabend gegönnt. Meine Uhr zeigt 21.55 Uhr. Die unangenehme Aussicht, die Nacht im gekachelten und fensterlosen Untergeschoss eines Hotels zu verbringen wird dadurch abgemildert, dass ich jederzeit auf die Toilette gehen oder Wasser trinken könnte.

Mir fällt der Satz ein: «Wenn sich eine Tür schliesst, öffnet sich eine andere.» Also drehe ich mich um, gehe die Treppe wieder hinunter und entdecke mindestens sechs weitere Türen. Und siehe da: Die vierte Türe lässt sich öffnen, und gibt den Weg frei zu einer mit Teppich bespannten Treppe. Oben angekommen befinde ich mich am anderen Ende des Hoteleingangs. Auch hier habe ich Glück: Die Aussentüre lässt sich von innen öffnen. Ein Seufzer der Erleichterung entfährt mir, und ich finde zurück zu meinem Platz im weissen Zelt, wo mein Rucksack, mein Sitzkissen mit der Wolldecke auf mich warten. Etwa die Hälfte des Publikums hat sich inzwischen in die umliegenden Restaurants oder Hotels zurückgezogen. Die Themen des nächsten Blocks sind bei Christoph Geiser männliche Gewalt, bei Ariane von Graffenried ein Sexroboter, dem bei der Arbeit die Batterie ausgeht und bei Martin Bieri Raumsonden, die unterwegs den Kontakt zur Erde verloren haben. Um 22.45 Uhr wird die letzte Pause angekündigt. Ein weiterer Teil des Publikums verlässt das Zelt, in dem es inzwischen ziemlich kühl geworden ist. Niemand möchte mehr etwas von der Bar, wo die pizza-ähnlichen Gebilde immer noch unbeachtet in der Vitrine ausharren. Von 23 bis 23.45 Uhr stehen noch Lesungen von Jennifer Makumbi aus Uganda, Rajesh Parameswaran aus Indien und Arno Camenisch aus Graubünden auf dem Programm. Aber die Aussicht auf einen wärmenden Rotwein in einem richtigen Glas und einen gemütlichen Raum ohne Kacheln ist zu verlockend. So nehme ich den fünfminütigen Weg nach Hause unter die Füsse. Auch wenn mein frühzeitiges Verlassen der Veranstaltung der Dame vom Ticketschalter des Literaturfestivals nicht gefallen hätte. Aber sie wird davon nie etwas erfahren.

Petra M. Dobrovolny-Mühlenbach

Ein Gottesdienst auf 2067 Metern Höhe und Kühe als Kurgäste

In der Umgebung von Leukerbad gibt es zahlreiche Kapellen, in oder bei denen einmal im Sommer ein Gottesdienst abgehalten wird. Am dritten Sonntag im Juli ist die Kapelle «Maria Sieben Schmerzen» an der Reihe. Anschliessend findet ein Fest auf der zehn Minuten entfernt gelegenen und bewirtschafteten Flüealp auf 2039 Metern Höhe statt.

Zufälligerweise verbringen die Kühe einer uns aus Bremgarten bei Bern bekannten Bauernfamilie dort jeden Sommer. Auf über 2000 Meter Höhe finden sie saftige Wiesen mit Bergkräutern, gutes Wasser und saubere Luft. Aus ihrer Milch wird noch auf der Alp Käse hergestellt, der als «Alpkäse von den eigenen Kühen» unten «im Flachland» im Hofladen sehr erfolgreich verkauft wird. Diesen leckeren Käse kennen wir bereits. Doch hat mein Lebenspartner Georg erst vor kurzem von Bauer Martin erfahren, dass sich die Alp, wohin er seine Kühe in Kur schickt, oberhalb von Leukerbad befindet. Zufälligerweise heisst die Pächterin ebenfalls Petra, so wie ich. Georg staunt und erzählt mir diese Neuigkeit sofort per Telefon. Diese Petra habe ich vor zwei Jahren hier in Leukerbad als Chefin der «alten Molkeri» kennengelernt. Sie hat vor ein paar Jahren ihr Düsseldorfer Stadtleben gegen das Walliser Bergleben eingetauscht. Die Liebe hatte wohl kräftig mitgeholfen. Der Käse von der Alp schmeckt wunderbar, besonders derjenige mit Bärlauch. Bei meinem Einkauf im Juni frage ich Petra, wann sie wieder mit den Kühen auf der Alp sei, denn ich wolle endlich mal vorbeikommen. Sie empfiehlt mir das Fest vom 23. Juli, falls das Wetter mitmache. Es gäbe auch ein Alpentaxi.

Die Aussicht auf einen solchen Ausflug gefällt mir. Schliesslich verbringe ich bereits den dritten Sommer in Leukerbad und im hinteren Dala-Tal war ich noch nicht. Im Winter ist der Weg lange Zeit wegen Lawinengefahr gesperrt. Im Pfarrblatt ist bei der Kapelle um elf Uhr ein Gottesdienst angekündigt. Ich finde, das ist die Gelegenheit. Vielleicht kann ich mit dem Alpentaxi oder mit sonst jemandem mitfahren oder mitwandern. Auf dem Weg wäre ich jedenfalls nicht allein, denn dieser Anlass ist sehr begehrt. Ich weiss, dass es gefährlich ist, allein auf einsamen Wegen in den Bergen unterwegs zu sein.

Der Sonntagmorgen verspricht den prächtigsten Tag der Woche. Der Himmel ist wolkenlos, Gewitter werden erst in der folgenden Nacht erwartet. Um 8.40 Uhr nehme ich den Weg unter meine Wanderschuhe und -stöcke. Ich wähle die Forststrasse, die im Winter den vom Torrent kommenden Skifahrenden als Abfahrtspiste dient. Teilweise führt sie durch einen Fichten- und Lärchenwald. Ein Höhenunterschied von 600 Metern liegt vor mir, die Temperatur beträgt etwa 15° C und wird heute kaum über 23°C steigen. Die fast unberührte Natur – wenn da nicht die orangen Sicherheitsnetze aus Plastik für die Skipiste wären – erwacht an diesem Morgen in ihrer ganzen Pracht wie in den ersten Schöpfungstagen. So empfand es Rainer Maria Rilke, der von der Walliser Landschaft so fasziniert war, dass er sich vor etwas mehr als hundert Jahren bei Siders im Château de Muzot niederliess.

Ein sehr schneller Wanderer überholt mich, sonst begegnet mir niemand. Wahrscheinlich bin ich etwas zu spät unterwegs. Meiner Berechnung nach sollte ich um 11.10 Uhr bei der Flüekapelle ankommen. Nach einer Stunde erreiche ich die erste Alp mit vier unbewohnten Hütten: Folljeret genannt, auf 1773 Metern über dem Meer. Oberhalb meines Weges sehe ich plötzlich drei vorbeifahrende PKWs und denke: «Oh, da habe ich jetzt eine Mitfahrgelegenheit verpasst.» Doch es ist noch nicht zehn Uhr, zeit- und kräftemässig habe ich noch einen guten Vorrat. Ich verlasse den Forstweg, um links abzubiegen, und setze meinen Weg auf der asphaltierten Strasse, die in Kurven sanft ansteigend zur Flüealp führt, fort. Ab und zu fährt ein Mountainbiker an mir vorbei. Bald erreiche ich die bewohnte Majingalp auf 1933 Metern Höhe und staune über die im Freien weidenden Schweine und Ziegen. Die Tiere sehen sehr gepflegt aus. So saubere und schlanke Schweine habe ich noch nie gesehen. Eine Tafel informiert über das Angebot: Man kann Fleisch und Käse kaufen, auch Kleinigkeiten essen und etwas trinken. Auf dem Rückweg werde ich dort einkehren. Jetzt muss ich weiter, denn die Zeit drängt. Auf dieser Höhe erscheint die mächtige Felswand mit dem Gemmipass auf der anderen Seite des Tals viel her, viel näher als von Leukerbad auf 1411 ü.d.M. aus. Mein Handy klingelt, Georg meldet sich. Er freut sich, dass ich wohlauf und fit bin. Plötzlich reisst die Verbindung ab, gerade habe ich ein Gebiet ohne Funkverbindung betreten. Hinter mir höre ich das Alpentaxi. Auf mein Zeichen hin hält der Fahrer an. Nein, er könne mich nicht mitnehmen, es gäbe keinen Platz mehr. Pech gehabt! Doch die letzte halbe Stunde werde ich auch noch zu Fuss schaffen.

Ein Wegweiser kündigt mir an, dass die Flüealp nur noch 10 und die Flüekapelle 20 Minuten entfernt sind. Oben am Berghang rechts von mir in etwa hundert Metern Entfernung entdecke ich die gemütlich weidenden einheimischen und Bremgartner Kühe der Rasse «Simmentaler Fleckvieh». Nach einer weiteren Kurve taucht endlich das Dach der Kuhställe auf. Klänge von beschwingter Alpmusik dringen an mein Ohr. Vor drei Alphütten warten Bänke, Tische und Sonnenschirme auf Gäste. Ohne Halt setze ich meinen gemäss Wegweiser noch zehnminütigen Weg zur Kapelle fort. Es ist bereits 11 Uhr, der Gottesdienst hat soeben begonnen. Aber wo? Ich halte Ausschau nach einer freistehenden Kapelle mit einem Türmchen, so wie man sich eben eine klassische Kapelle vorstellt. Von einem solchen Gebäude ist jedoch weit und breit nichts zu sehen. Das Foto der Kapelle im Prospekt ist mir nicht mehr präsent. Sonst hätte ich gewusst, dass sie gar keinen Turm hat, sondern unter einen Felsvorsprung gebaut wurde. Nach fünf Minuten verkündet ein weiterer Wegweiser noch einmal zehn Minuten bis zur Flüekapelle an. Nun bin ich nicht nur jenseits des Internets, sondern auch jenseits der Zeit unterwegs. Vor mir liegen kleine Hügel mit saftigen Alpweiden, weiter oben Schneefelder und nackte Felsen. In weiterer Ferne der Gitzifurka-Pass und die Bergkette mit dem spitzen Majinghorn. Hinter mir ist eine Gruppe Biker wegen des schmalen Weges von ihrem Gefährt abgestiegen. Auch sie scheinen etwas zu suchen. Der Chef wendet sich höflich an mich mit der Frage, ob er mich etwas fragen dürfe. So als sei ich die grösste Expertin für die Wege hier im «hintersten Winkel der Welt». Die Sportler suchen zum Glück nicht auch nach der von mir gesuchten Kapelle, sondern wollen wissen, ob dies der Weg zum Torrent sei. Der Wegweiser zeigt jedoch einen alpinen Wanderweg Richtung Gitzifurka an, also weder einen Bike-Weg noch den Torrent als Ziel. Ich rate von diesem Weg ab. Sie sollten besser umkehren und nach einer Abzweigung nach links mit dem Zeichen für Bikes und der Aufschrift «Torrent» Ausschau halten. Ja, es sei möglich von hier, also aus nördlicher Richtung auf den Torrent zu gelangen. Dankbar für meinen fachlich perfekten Rat – weit und breit ist auch niemand, den sie fragen könnten und Handys haben hier keinen Zugang zum Internet – ziehen sie in die Richtung von dannen, aus der sie gekommen sind.

Der Wind frischt auf, ich gehe weiter und sehe hinter der nächsten Erhöhung plötzlich eine kleine Hängebrücke, auf dem gegenüberliegenden Hügel etwa 80 Leute auf Bänken oder am Boden sitzend und andächtig einem weissgekleideten Mann, der vor einem kleinen Altar steht, zuhörend. Ein Bube reicht mir einen Zettel mit Kirchenliedern, damit ich dem Programm folgen kann. Ich setze mich auf die Wiese, nehme erst mal einen Schluck aus meiner Wasserflasche und eine Handvoll gerösteter salziger Sonnenblumenkerne aus der Ukraine, die mir unsere Nachbarinnen aus Mariupol geschenkt hatten. Erfrischt tauche ich ein in die gemeinsame Andacht und in die Magie des Ortes. Die Worte des Predigers – es ist der Organist Peter Heckel, der sonst an den Messen in und um Leukerbad die Orgel spielt – wechseln sich ab mit den Klängen einer Mundharmonika, bis schliesslich das «Vater unser» und der Segen den Gottesdienst beenden. Auch wenn der Wind Worte und Klänge durchweht, bewirkt dieses Erlebnis in mir einen unvergesslichen Eindruck. Ich spüre, wie alle Anwesenden betend, singend und lauschend zu einer Einheit mit Gott und der Natur verschmelzen. Wir werden zum Felsen, ziehen mit den Wolken vorbei, wiegen uns mit den Gräsern, … Auch wenn Gott allgegenwärtig ist, in den Bergen scheint er noch näher zu sein.

In der kleinen Kapelle «Maria Sieben Schmerzen» unter dem Felsvorsprung etwas unterhalb des für heute im Freien aufgestellten Altars hätten höchstens 20 Besuchende Platz gefunden. Eine Legende erzählt, dass Maria selbst diesen aussergewöhnlichen Ort gewählt habe. In der Broschüre «Kapellenweg» der Tourismusorganisation Leukerbad steht: «Die Legende will wissen, dass die Statue der schmerzhaften Muttergottes in einer Grotte etwas oberhalb der Flüealp gefunden wurde. Die Leute wollten ihr im Stafel der Flüealp einen Bildstock errichten. Nachdem sie zur Alp transportiert worden war, befand sie sich am nächsten Morgen wieder am ursprünglichen Fundort. Daraufhin wurde entschieden, Maria den Platz zuzuweisen, den sie sich selbst auserwählt hatte.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert wurde die Grotte zu einer Kapelle ausgebaut. Das Gnadenbild ist eine Pietà.» Als ich nach dem Gottesdienst die Kapelle besuche, bin ich überrascht über die lebensgrosse Darstellung der Muttergottes, die ihren verstorbenen Sohn in den Armen hält. Der Kerzenständer davor ist bereits vollends mit etwa 80 kleinen Kerzen in roten Plastikbechern gefüllt, sodass ich keine hinzufügen kann. Die drei kleinen Glasfenster zeigen Maria mit dem Jesuskind, einen Kelch und eine Hostie. Die weissen schmucklosen Wände erhellen den Innenraum. Ein schmaler Holzaltar steht vor der Pietà, ein paar wenige schlichte Holzbänke bieten müden Pilgernden einen Platz an. Ich bete für alle Mütter, die ihren Sohn in einem Krieg verloren haben und bitte Maria um Trost und Kraft für die Hinterbliebenen.

Gemeinsam mit den anderen mache ich mich zurück auf den Weg über die kleine Hängebrücke, blicke noch einmal nach hinten und fotografiere den schmalen Weg, der unterhalb der Kapelle an zwei Höhlen vorbei zur Dala führt. Ein mir unbekannter Herr macht mich in Zürcher Dialekt darauf aufmerksam, dass in der untersten Höhle eine Quelle mit heiligem Wasser entspringt, das die Heilung der Augen unterstützen soll. Ich bin sehr dankbar für diesen Hinweis. Woher wusste der Unbekannte von meiner Leidenschaft, Marienquellen ausfindig zu machen? Er fügt hinzu, man bräuchte eine gewisse Standfestigkeit, um das Wasser an dem steilen Abhang schöpfen zu können. Meine Standfestigkeit wird heute jedoch genügend auf die Probe gestellt, sodass ich mich damit begnüge, die Quelle von einer sicheren Entfernung aus zu fotografieren. Als ich später Georg davon erzähle, meint er, das Wasser der Heilquelle sollte doch sicher und ohne Unfallgefahr für alle zugänglich gemacht werden. Dafür könnte zum Beispiel die Thermalquellenzunft, bei der ich Mitglied bin, sorgen. Georgs Idee werde ich weitergeben.

Bald lädt der Duft von Raclette-Käse und Bratwurst uns ein, auf den Holzbänken unter den hellblauen Sonnenschirmen Platz zu nehmen. Ich genehmige mir ein Bier, eine Portion Raclette und «Hörnli-Salat» (Teigwaren mit Tomatenstückchen und sauren Gürkchen an einer Salatsauce). Jemand bittet, die Musik aus den grossen Boxen leiser zu stellen. Feststimmung kommt auf, auch wenn die Gäste lange Schlange stehen müssen, um eine Bratwurst oder ein Raclette zu ergattern. Auch Wandernde, die nicht am Gottesdienst teilgenommen hatten, gesellen sich dazu. Die meisten stammen aus der näheren Umgebung und kennen sich. Der Organist Peter Heckel, mit dem ich im Oktober 2022 gemeinsam eine Messe in der Pfarreikirche Leukerbad musikalisch gestalten durfte, erzählt mir, dass er jedes Jahr diesen Gottesdienst leitet. Er macht dies mit grosser Freude, und ich bin dankbar, dass ich ihn heute dabei erleben durfte.

Ab 13 Uhr ist der Käseverkauf geöffnet. Petra erscheint. Sie staunt darüber, dass ich den Weg geschafft habe. Ich frage sie, ob sie dieselben Käsesorten auch in der «alten Molkeri» in Leukerbad verkaufe. Sie bejaht dies und versteht, dass ich jetzt nicht noch Käse in meinem Rucksack ins Tal transportieren möchte, zumal der Wind sich gelegt hat, die Sonne wieder ihr Bestes gibt und den Käse in meinem Rucksack vielleicht zum Schmelzen bringen könnte. Auch wenn auf dem Programm steht, dass die Kühe um 16.30 Uhr beim Stall eintreffen werden, um gemolken zu werden, mache ich mich bereits um 13.10 Uhr auf den Rückweg. Ich möchte das Erlebte in Ruhe nachwirken lassen, die Stille der Berge geniessen und eine Tasse Tee auf der Majingalp. Dort wird es am 6. August auch ein Alpfest geben. Allerdings ohne Gottesdienst. Auf demselben Weg kehre ich zurück ins Tal. Es gäbe zwar eine Abkürzung durch den Majinggraben bis zum Majingsee, doch dieser Weg ist mir für heute zu steil und zu anstrengend. Vielleicht am 6. August?

Gegen 15.30 Uhr komme ich wieder wohlbehalten zuhause an, natürlich auch zu Georgs Freude. Er hatte schnell verstanden, dass der Mobilfunk hinter all den Bergen und Hügeln bald einmal unterbrochen war und sich keine Sorgen gemacht. Auf seine Frage, was mir dieser Ausflug gebracht habe, antworte ich: Eine Horizonterweiterung. Jetzt weiss ich, wie es im hinteren Dala-Tal oberhalb der Baumgrenze aussieht, wie eindrucksvoll es ist, wenn 80 Menschen gemeinsam unter freiem Himmel im «hintersten Winkel der Welt» das «Vater unser» beten. Wie eine Kapelle auch ohne Kirchturm beeindruckt. Wie die Trauer der Muttergottes trösten kann und dass diese Erfahrung durch einen unbekannten Künstler genau am richtigen Ort möglich gemacht wurde. An einem Ort, an dem heiliges Wasser für die Augen entspringt.

Michael Matzke

Bodenseeufer

Nordwestwind kommt auf. Er schlägt Wellen in rhythmischen Klängen gegen den hölzernen Steg. Der Himmel wechselt seine Farbe. Sein eintöniges Grau zieht sich immer weiter zurück. Es schafft Raum für einen tiefblauen Streifen, der sich über dem Nordufer formiert und wie eine lanzenförmige Schneise über den dunklen See legt. Ich atme tief. Die Luft riecht nach frischer, feuchter Kühle. Eine riesige, weiße Möwe schwirrt über meinen Kopf, über den Steg, gleitet zur Oberfläche des Bodensees hinab. Ihr Schnabel berührt das Wasser, nur einen Augenblick. Dann steigt sie in einem steilen Winkel auf und formt die nächste Flugparabel in den Oktoberabend. Ich sehe durch die Dämmerung auf die Weite des Sees. Ich habe es mir nicht vorstellen können, nicht vorstellen wollen, wie es sich für mich anfühlen würde. Doch ich fühle nichts. Von der Promenade springen Stimmen über, kurzes Gelächter im Wind. Im blaugrauen Dämmerlicht kann ich einen Kinderwagen erkennen. Am Ufer unter mir treiben zwei Schwäne – lautlos. Ihr Weiß leuchtet vor dem dunklen Seegrund. Dahinter paddeln drei kleine Schwänchen. Das bemerke ich erst jetzt. Ihr wolliges Federkleid ist grau, als ob sie Schutz und Geborgenheit suchen in der einsetzenden Dunkelheit. Jäh kommt sie mir in den Sinn, die Verletzlichkeit, der wir alle ausgeliefert sind und der wir uns doch anvertrauen müssen, um unserer Bestimmung zu entsprechen. Wer bestimmt, was unsere Bestimmung ist? Wer entscheidet über Leben und Tod?

Die Uferlaternen gehen an. Sie leuchten gelblich wie ferne Sterne vor dem Horizont, der sich wie ein dunkelblaues Samttuch unaufhaltsam über den See auszubreiten beginnt. Ganz links erkenne ich die Umrisse einer großen schlafenden Kontur im Hafen. Ein Schiff liegt still an der Kaimauer. Die übermannshohen Bullaugenfenster verwaist und dunkel. Sein weißer Schornstein ragt in die Nacht, als wolle er der Finsternis trotzen. Im Näherkommen glaube ich, die Buchstaben im Schein der Hafenlaternen zu erkennen. Ich kneife die Lider zusammen. „Hohen ...“ Der zweite Teil des Schiffsnamens verschwimmt. Ich trete noch näher an den Rand des Ufers: „Hohentwiel“... ein außergewöhnlicher Name für einen alten Raddampfer. Meine Augen gewöhnen sich langsam an das Zwielicht. Über dem Schriftzug erkenne ich nach und nach ein unbekanntes Wappen mit Krone, an dessen Seiten ein Hirsch und ein Löwe vor dunkelrotem Hintergrund thronen, umrankt von astartigen Ornamenten.

Sie hat mir immer wieder von diesem Schiff erzählt, gleich am ersten oder zweiten Abend schon. Ich erkenne es jetzt sehr genau. Sie hat ihn geliebt, den alten Schaufelraddampfer, ihn und seine langsame Eleganz, die ihn stolz und erhaben über den Bodensee getragen hatte, schon seit hundert Jahren. Als sie geboren wurde, musste das Schiff ganz gegen seine innere Bestimmung als schwimmendes Clubheim im Bregenzer Segelhafen dienen, zwanzig Jahre festgezurrt. Erst viel später, als sie größer war, wuchs der Wunsch des Dampfers nach Freiheit immer stärker. Sein Drang, mit den Schaufelrädern wieder durch die Wellen zu pflügen, wurde langsam zur Wirklichkeit. Am Beginn der 90er-Jahre konnte er den Bodensee wieder für sich erobern. Das alles hat sie mir berichtet, und sie hatte immer dieses wache Blitzen in ihren dunkelbraunen Augen, wenn sie von ihrem See sprach.

Ich senke meinen Kopf und blicke über den Uferrand zum Wasser hinab, den schmalen Abgrund entlang, der sich zwischen Schiff und Kaimauer öffnet. Laternenlichter spiegeln sich in der zitternden Wellenoberfläche, als ob sie glitzernde Figuren in den tiefblauen See tanzen wollen. Für einen Augenblick erkenne ich einen Umriss, der sich vor zum nassen Abgrund beugt. Im fahlen Widerschein sehe ich die schemenhafte Gestalt eines Mannes, die mir aus der Wasseroberfläche entgegenblickt: Mein Spiegelbild. Ein Fremder. Ich bin fremd hier. Unwillkürlich muss ich kurz auflachen. Nun bin ich also hier – am Bodensee, das allererste Mal in meinem Leben. Ich fühle, dass ich nur Gast bin in der abendlichen Herbstszenerie am Wasser. Ein Zuschauer nur, an dem das echte, das wirkliche Leben vorbeizieht, völlig unbeeindruckt von meinem Hiersein, wohl auch überhaupt von meiner Existenz. Von weit her höre ich drei Schläge einer Turmuhr. Aus welcher Richtung kann ich nicht sagen. Der Wind hat die Glockentöne herangeweht. Ich richte meinen Blick über den See nach Westen. Über dem verklingenden Blau der Abenddämmerung hat sich das Himmelszelt nun schwarzdunkel gefärbt. Da und dort versuchen erste Sterne, vorerst noch zaghaft ihre Positionslichter zu entzünden. Nur der Abendstern über der Hügelkette, er beginnt wie ein Rohdiamant zu funkeln. Ich bewundere sein Licht, das sich in der glasklaren Luft über dem Wasser voll entfalten kann. Ich weiß, sage ich mir, dass der Abendstern die Venus ist, die Göttin der Liebe. In der Kühle der einsetzenden Nacht blinzelt sie mir ins Gesicht. Unsere Blicke treffen einander für die Dauer eines Wimpernschlags. Ganz kurz umfängt mich ein Gefühl großer Vertrautheit, das Gefühl, eingebettet zu sein in eine größere Ordnung, deren Teil ich immer war und immer sein werde.

Sie und ich, wir haben viel über ihre Heimat, ihr Land, vor allem über ihren See gesprochen, und ich hörte ihrer sanften Stimme gerne zu. „Der See“, hat sie gesagt, „der See ist über all die Jahre meiner Kindheit mein größter Vertrauter geworden. Ich würde sogar meinen, er war mein bester Freund.“ Von klein auf war sie nicht weit vom Bodenseeufer entfernt. Nicht als sie im nahen Fußach geboren wurde. Und nicht, als sie im Alter von drei Jahren mit ihrer Mutter nach Hard gezogen war. In ein kleines Haus in der Sandgasse, nur wenige Schritte vom Hafen entfernt und von der Mündung der Bregenzer Ache. Immer wenn es zu Hause Ärger gab, floh sie als Kind zu ihrem Freund, dem See, und suchte Schutz und Geborgenheit an seinem Ufer. Das Binnenbecken, die Schleienlöcher oder die Dornbirner Ache, sie alle waren Zufluchtsorte, an denen sie ihre eigene wunderbare Welt erträumen konnte, zumindest einige wenige Stunden lang, bevor sie an den Abenden nach Hause zurückkehrte. Die Kraft zu träumen, das war es auch, was ich in ihren Augen erkannt hatte, vielleicht schon bei unserem ersten Blick, den wir zufällig tauschten, vor drei Jahren in der Unibibliothek in Wien. Sie hatte einen Stapel Bücher unter dem Arm und musterte mich mit ihren munteren Augen. Ich stand da und fühlte mich ihr verbunden, als sähe ich durch sie ihr unsichtbares Inneres, dem ich mich in wundersamer Weise verwandt fühlte. Seelenverwandtschaft? Ich hatte so etwas nie für möglich gehalten. Dann stand ich ihr gegenüber und unsere Blicke berührten einander.

Der Wind hat etwas gedreht und bläst mir nun eine eisige Brise ins Gesicht. Ich stelle den Kragen meines Mantels auf und versuche, die vorderen Kragenenden mit der rechten Hand zusammenzuhalten. „Hast du wieder keinen Schal?“ Ich vernehme innerlich ihre Stimme und muss bitter lächeln. Oft habe ich diesen Satz gehört, als ich wieder einmal zu leicht bekleidet das Haus verlassen hatte. Irgendwo rattert ein Zug weit in der Ferne. Dann wird es still, ganz still. Die Nacht hat unausweichlich Besitz ergriffen vom See, vom Ufer, von den Hügeln, ja selbst von den Häusern, vom ganzen Land. Das Schwarz der mondlosen Nacht, es lässt keinen Raum mehr für Nuancen und Schattierungen. Es überdeckt in seiner unbarmherzigen Dunkelheit die Zwischentöne der Dämmerung. Die Nacht hat gesiegt. Ich blicke mich um. Es ist lautlos geworden am Hafen. Dort, wo vor kurzem noch schemenhafte Gestalten im Halbdunkel erkennbar waren, ist jetzt niemand mehr. Keine Möwe segelt vorbei. Auch die Schwäne sind fort. Ich schließe die Augen und lasse die Stille an mich heran. Vor meinem inneren Auge erscheint ein Bild von ihr.

Sie war nach Wien gezogen, um Literatur zu studieren. Denn neben dem See waren auch Bücher zu ihren Freunden geworden. Nach dem Studium hatte sie einen Job angenommen als Lektorin in einem kleinen Wiener Verlag. So konnte sie ihren Freunden immer nah sein. Auch ich wollte ihr nah sein. Ich liebte ihre dunkelbraunen Augen, ich liebte ihre sanfte, gefühlvolle Art zu denken, zu sprechen und vor allem zu lachen. Wenn ich sie so sah, wollte ich ihre Einsamkeit nicht glauben, die sie als Kind am Bodensee empfunden hatte. Nun ruhte sie in sich und strahlte aus ihrer Mitte. Ich empfand einen Gleichklang und eine Harmonie, wie ich sie nie bei einem Menschen wahrgenommen hatte. Ich fühlte ein Vertrauen, eine Vertrautheit, als ob wir einander schon ewig gekannt hätten. Wir mussten nicht viel erzählen. Wir wussten, was der andere denkt und fühlt, ohne dass wir es in Worte fassen hätten müssen.

Ich richte meinen Blick nach Westen. Die Seeoberfläche liegt wie ein riesiges schwarzes Tuch vor mir. Es ist für mich nicht erkennbar, wo der See endet und wo über ihm der tiefschwarze Himmel beginnt. Es riecht nach Herbst. Obwohl der Wind direkt vom See kommt, trägt er den Geruch fallender Blätter mit sich. Ich tauche ein, indem ich tief einatme. Ein kurzes Flackern am Horizont, eine Sekunde lang. Ein Wetterleuchten. Ich warte, ob es wiederkommt und starre in das dunkle Nichts.

Sie war ganz stark und sprach mit leiser, aber fester Stimme, als sie es mir sagte. Es war vor sechs Monaten. Nur ganz kurz stockte sie dabei. Sie war schon länger abgespannt und müde gewesen. Das wusste ich. Von dem Knoten wusste ich nichts. Die Diagnose der Ärzte, sie schlug ein wie ein Meteor: Es sei nicht sicher, ob es Metastasen gebe. Mit der Chemotherapie solle so schnell wie möglich begonnen werden. Ich fühlte einen bleiernen Schlag. Mein Atem setzte kurz aus. Ich spürte eine Trockenheit in meiner Kehle und war zu keiner Antwort fähig. Ich umarmte sie und wir drückten uns fest und lange aneinander. Keiner sagte ein Wort.

Eine Stunde oder zwei, ich weiß nicht, wie lange ich hier schon stehe und hinausblicke in die Bodenseenacht. Der Wind wird schwächer. Der See scheint vor mir zu ruhen wie ein dunkler schlafender Spiegel, und die Stille wird nun noch vollkommener.

Sie hatte mir versprochen, mir ihren See zu zeigen, ihre Wurzeln, ihr Land, ihre Heimat. Und jetzt bin ich da, am Bodenseeufer.

Jetzt bin ich da.

Ulrich Straeter

Die Maßnahme

Da ich ein politisch und am Gemeinwohl unseres Landes interessierter Bürger bin, habe ich beschlossen, zur Gesundung der Staatsfinanzen beizutragen. Anlass ist ein Hiinweis durch die uns politisch Leitenden in den Medien, wir alle, wie es heißt, hätten über unsere Verhältnisse gelebt (wobei ich nicht so genau weiß, was diejenigen, die von ‚unseren’ bzw. meinen Verhältnissen reden, damit meinen). Nun ist es mir gelungen, meinen Gürtel enger zu schnallen, das heißt, ich habe ihn von 105 Zentimeter Länge auf 95 Zentimeter verkürzt. Der Gürtel sitzt jetzt auf dem so genannten letzten Loch, aus dem manche Leute dann noch pfeifen können sollen. Mehr geht aus Alters- und medizinischen Gründen nicht, denn mein Hausarzt hat warnend seinen Finger erhoben und mir versichert, ein weiteres Loch zur Verkürzung zu bohren, sei ernsthaft gesundheitsschädlich. Auch meine Krankenkasse protestierte, denn ich sei verpflichtet, mich um meine Gesundheit zu kümmern, um nicht die Gemeinschaft der Versicherten unnötig zu belasten. Zum ersten Mal habe ich übrigens als junger Mensch vom Gürtel-enger-schnallen gehört, als ein gewisser Ludwig Erhard Bundeskanzler war. Der hatte vorher als Wirtschaftsminister angeblich für das deutsche Wirtschaftswunder gesorgt, aber das Gürtelproblem wohl vergessen.

Was nun?

Ich esse nur noch die Hälfte und kaufe vorwiegend bei ALDI und NETTO, die aber, was die Behandlung ihrer Angestellten und den Bezug ihrer Waren betrifft, keinen allzu guten Ruf haben. Da unsere Gesellschaft in Deutschland dabei ist zu überaltern, wie man fast allen Medien entnehmen kann, möchte ich auch aus diesem Grund mein Scherflein zur Gesundung unserer Staatsfinanzen beitragen (meine eigenen Finanzen habe ich bisher in Ordnung halten können, ich bin nicht überschuldet). Meine Rente ist nicht sehr hoch, sodass ich damit den Sozialsystemen nicht allzu sehr zur Last falle. Da ich – wie empfohlen – privat zusätzlich vorgesorgt habe, wäre möglicherweise alles einigermaßen in Ordnung gewesen. Leider ist durch die Finanz-, Wirtschafts- und Systemkrise so einiges durcheinander geraten, auch das Zinsniveau. Ich bekomme einen Zinssatz für meine Ersparnisse, der erheblich unter der Inflationsrate liegt. Zurzeit beträgt dieser Satz dort 0,01 Prozent. Das kann man wohl gar nicht mehr ausrechnen. Auch haben unsere Regierung und die Vereinigung der Versicherungen ziemlich klammheimlich eine Neuregelung beschlossen, wodurch meine Lebensversicherung mir wesentlich weniger als geplant auszahlen wird. Das bedeutet, der Gürtel wird mir automatisch durch die Verhältnisse enger geschnallt. Rettungsschirme gibt es, wie mir das Bundesamt für Finanzen mitteilte, nicht für Privatpersonen. Wo kämen wir da hin! Einmalige Sonderzahlungen nützen im Prinzip nichts, denn ich brauche jeden Monat eine Summe Geldes, die ausreicht. So aber werde ich automatisch ärmer gemacht und kann leider die Binnennachfrage nicht erhöhen. Deshalb werde ich in manchen Medien als geizig verschrien.

Medikamente und Beiträge für Krankenkassen werden stetig teurer. Genehmigt hat das der so genannte Gesetzgeber, also unsere Vertreter, obwohl zurzeit drei Minderheitsparteien, die ich nicht gewählt habe, zusammen die Regierung bilden. Die Mehrheit des Volkes wollte es so. Man kann von Lemmingen allerdings keinen Verstand erwarten, obwohl die meisten Menschen, im Gegensatz zu den Lemmingen, lesen, hören und denken können sollten. Wie lange ich mir noch ein relativ normales Leben in diesem unseren Staat leisten kann, weiß ich nicht. Hartz IV und das Sozialamt sind keine verlockenden Angebote. Ich habe schon einmal einem Hartz-IV-Empfänger geholfen und kenne mich da ein wenig aus. Ich habe mein Auto abgeschafft, weil das einen unkalkulierbaren Kostenfaktor bedeutet. Allerdings werden die Monatsfahrkarten der öffentlichen Verkehrsmittel stetig teurer, die Leistungen schlechter. Ob wenigstens eine Art Sozialticket zustande kommt, ist noch offen. Die Leistungen der öffentlichen Verkehrsanbieter werden dadurch wohl nicht automatisch besser.

Da ich bei meinem Ableben nicht viel hinterlassen werde, weiß ich nicht, wozu es nötig ist, dass die mir gegen meinen Willen zugeteilte Identifikationsnummer zwanzig Jahre über meinen Tod hinaus ihre Gültigkeit behält. Dass sie auch ab der Geburt gilt, interessiert mich nicht, da es diese Regelung der Erfassung zum Zeitpunkt meiner Geburt in Nazideutschland noch nicht gab. Allerdings hatten die Nazis auch schon raffinierte Möglichkeiten der Erfassung, ihnen ist schon damals kaum jemand entgangen. Allzu weit in die Zukunft schauen möchte ich im Augenblick nicht. Das ist mir zu ungewiss – und wer kann das schon? Selbst die Prognos AG in der Schweiz ist in dieser Hinsicht sehr vorsichtig.

Wie ich gelesen habe, ist die nächste Diätenerhöhung der Bundestagsabgeordneten und eine Gehaltserhöhung der Minister und Ministerinnen nebst Kanzler bereits von diesen selbst beschlossen worden.

Ich wünsche uns allen gut Loch und hoffe, dass die Maßnahmen greifen.

Margit Schalk Djiango

Bist du es?

Er steht etwas hilflos am Bahnsteig. Gleich wird der Zug aus München einfahren. Seine Nervosität steigert sich.

Schon heute Morgen, beim Aufstehen nahm er diese Unruhe in sich wahr. Auch seiner Frau war seine Zerstreutheit aufgefallen. Was er denn habe, fragte sie. Aber er brummte nur eine unverständliche Antwort, mit der sie sich dennoch zufrieden gab. Was sollte er bloß anziehen? Unerfahren in solchen Dingen, schwankte er zwischen „Anzughose mit Hemd“ oder „Jeans mit T-Shirt“. Und seine Frau konnte er schließlich nicht um Rat fragen. Er entschied sich letztendlich für die relativ neuen Jeans und das hellblaue Hemd. Sollte er Blumen besorgen? Wäre das angebracht? Auch hier machte sich eine große Unschlüssigkeit in ihm breit. Wann hatte er seiner Frau das letzte Mal Blumen geschenkt? Er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern. Zum Hochzeitstag? Zum Geburtstag? Und wenn er für den heutigen Anlass Blumen kaufen sollte, welche? Rosen wären wohl nicht geeignet. Vielleicht Tulpen oder einen bunten Strauß? In einem Blumenladen könnte er sich beraten lassen, aber was sollte er sagen? Für wen sollte der Strauß sein? Das fragten sie doch immer. Jedenfalls hatte er das mal in einer Vorabendserie gesehen.

Der Bahnhof lag rund 20 Kilometer von seinem Dorf entfernt. Unterwegs würde es sicherlich eine Gärtnerei geben. Dort konnte er anhalten und vielleicht irgendeinen Strauß mitnehmen. Seiner Frau sagte er, sie brauche mit dem Mittagessen nicht auf ihn zu warten. Er würde sich mit einem früheren Arbeitskollegen treffen und erst am späten Nachmittag zurückkommen. Seine Frau nahm diese Nachricht ohne großes Interesse entgegen. Wahrscheinlich war sie sogar froh, dass sie nichts zu kochen brauchte und ihren Tag so gestalten konnte, wie sie wollte. Auf halber Strecke entdeckte er eine Gärtnerei, die bereits gebundene Sträuße anbot. Er wählte einen Strauß mit verschiedenen Blumen aus. Dieser schien ihm passend.

Er parkte nicht am Bahnhof, sondern in einer kleinen Seitenstraße. Den Blumenstrauß ließ er im Auto, etwas verdeckt, liegen. Man wusste nicht, ob Bekannte auch mit diesem Zug ankamen. Wie hätte er da einen Blumenstrauß in der Hand rechtfertigen können?

„Halte nach einer grauhaarigen Sechzigjährigen Ausschau“, hatte sie ihm lachend am Telefon gesagt. Ihre Stimme klang jung und frisch, so dass es ihm schwerfiel, sie mit einer Sechzigjährigen in Verbindung zu bringen. Weitere Attribute hatte sie nicht preisgegeben.

Die Regionalbahn rollt langsam in T. ein. Sie gesteht sich ein, nervös zu sein.

Warum? Was steht denn auf dem Spiel? Nichts, gar nichts! Nichts, überhaupt nichts. Diese Begegnung wird ihr Leben nicht verändern. Sie wird nach ein paar Wochen zu einer kleinen Anekdote werden, vielleicht einmal in geselliger Runde im Freundeskreis zum Besten gegeben oder bei einer Tasse Kaffee einer Freundin erzählt.

Sie hatte ihm eine kurze Nachricht per Post geschickt, in der sie ihren Anruf ankündigte. Am Telefon hatte sie ihm, nach einer knappen Begrüßung, Tag, Uhrzeit und Ort mitgeteilt und gefragt, ob ihm das recht sei. Es war ihr nicht entgangen, dass er verlegen wirkte. Vielleicht befand sich seine Frau im Raum, und er musste anschließend auf Fragen Auskunft geben, deren Antworten Lügen waren. Vielleicht wünschte er sich auch gar keine Begegnung mehr? Mit einem lachenden „Halte nach einer grauhaarigen Sechzigjährigen Ausschau“ wollte sie dem Ganzen die Spannung nehmen, aber sie spürte, dass auch sie der Situation nicht absolut gewachsen war.

Sie hatte sich im Vorfeld viele Gedanken gemacht und war dann zu dem Entschluss gekommen, dass es gut wäre, ihn nicht spontan anzurufen, sondern den Anruf vorzubereiten. Und wo sollten sie sich treffen? In München? Nein, das wäre zu beschwerlich für ihn. Sicher fuhr er so weite Strecken nicht mehr mit dem Auto, und Bahnfahren kam in seinem Leben wahrscheinlich gar nicht vor. Besser, sie setzte sich in den Zug und sie trafen sich an einer Bahnstation, die nicht die Ein- und Aussteigestation der Pendler seines Dorfes war. Warum eigentlich diese Geheimniskrämerei? Was hatte(n) sie zu verbergen? Nichts, gar nichts. Aber er war ja immerhin verheiratet, und darauf

wollte sie auf jeden Fall Rücksicht nehmen.

„Was zieht man zu so einem Treffen an?“, hatte sie sich gefragt und selbst über sich gelächelt. Sie war nie besonders eitel gewesen. Auch nicht, als ihre berufliche Stellung es verlangt hätte. Sie hatte sich nur selten geschminkt, ihre Fingernägel nie lackiert , und seit kurzem ließ sie auch ihre Haare nicht mehr färben. Sie wählte ein sommerliches „Wohlfühlkleid“ aus, dazu passende, flache Schuhe. Das einzig Extravagante waren die Ohrringe, die in seinem Dorf vielleicht für Gesprächsstoff gesorgt hätten.

Die Regionalbahn hält. Mehrere Fahrgäste steigen aus. Es sieht nicht so aus, als ob sie dabei wäre: Ein junger Mann mit Rucksack, zwei lachende Teenager, ein Paar … und nun doch eine ältere, grauhaarige Frau. Die anderen Fahrgäste verlassen schnell den Bahnsteig, aber sie kommt zielstrebig auf ihn zu.

„Bist du es?

„Margarethe!“

„Schön, dass es geklappt hat.“

„Ja.“

Er gibt ihr die Hand, sie verlassen den Bahnhof, gehen zu seinem Auto und einigen sich, einen Spaziergang in einem nahe gelegenen Wald zu machen. Sie steigt ein, und ein angenehmes Parfüm verbreitet sich im Auto. Er konzentriert sich auf den Weg, hätte aber große Lust sie anzusehen. Ihre schönen Augen strahlen – das ist ihm am Bahnsteig aufgefallen. Er weiß nicht so recht, was er sagen soll. Ihm fehlt die Übung, mit einer Frau zu plaudern. Frauen nimmt er als frühere Kolleginnen wahr, als Nachbarinnen, Mitglieder im Sportverein oder Ehefrauen von Bekannten. Aber ist Margarethe überhaupt als Frau gekommen?

Sie setzt sich ins Auto. Um das Schweigen zu brechen, erzählt sie Belangloses von ihrer Fahrt. Sie spürt, dass er nicht an Smalltalk gewöhnt ist und wahrscheinlich überhaupt wenig spricht. Seine Hände ruhen auf dem Lenkrad. Sie sieht es den Händen an, dass sie viel körperliche Arbeit geleistet haben und sich nun so allmählich davon erholen.

Auf dem Waldweg gehen sie nebeneinander her. Sie erzählen sich die Fakten aus ihrem Leben, die man auch Sitznachbarn im Flieger oder Fremden während einer langen Busfahrt erzählen würde. Er spricht von seiner Lehre, seiner Umschulung, seiner Heirat, seiner Tochter und dem Enkelkind. Er erzählt es so, als ob er über eine dritte Person sprechen würde, ohne Emotionen und Anteilnahme.

Er weiß, dass sie beruflich sehr erfolgreich war. Obwohl sie aus einem kleinen Nachbardorf stammt, hat sie Mitte der 70er-Jahre alle Chancen genutzt, um auf dem zweiten Bildungsweg Abitur zu machen und zu studieren. Dass sie dann irgendwann an einer deutschen Auslandsschule unterrichtet hatte, dort ihren späteren Mann kennengelernt hatte und mit ihm anschließend nach Frankreich, später nach Norddeutschland gezogen war, hatte er noch von ihrer Mutter erfahren. Irgendwann riss jedoch jeglicher Kontakt zu Menschen ihres früheren Umfeldes ab. Und starb damit auch sein Interesse an ihr? Ihrer beider Leben verliefen in ganz ungleichen Bahnen. Wann hat er jemals etwas mit Menschen ihrer Kreise zu tun? Arzt, Zahnärztin, Lehrer – aber das kann man nicht vergleichen. Zu seinem Freundes- und Bekanntenkreis gehören Menschen wie er: Sie haben das Dorf höchstens für eine kurze Zeit für die Ausbildung verlassen, kehren dann zurück, verlieben sich in eine Person aus der näheren Umgebung, heiraten, bauen ein Haus, bekommen Kinder, arbeiten, fliegen in Urlaub, gehen in Rente, werden Großeltern. Ein gleichförmiges Leben, ohne große Höhen und Tiefen. Sie dagegen! Sie berichtet von ihren Auslandsaufenthalten, ihrer beruflichen Karriere, ihren Kindern und kurz auch von ihrem verstorbenen Ehemann. Sie berichtet anschaulich, sodass er sich die deutsche Schule in Accra vorstellen kann, ihr Leben in einer Kleinstadt an der Rhône und ihr Lehrerkollegium in Norddeutschland. Es macht ihm Freude, ihr zuzuhören. Mit keinem Wort hört er Angeberei oder Überheblichkeit heraus. Sie ist erstaunlich einfach geblieben. Auch ihr Äußeres: gepflegt, aber schlicht. Keine Frau, die auf Anhieb Blicke auf sich zieht, aber dennoch! Er gesteht sich ein, dass sie ihm gefällt. Nach wie vor.

Es fängt an zu nieseln. Sie schlägt vor, in ein Café zu gehen. Ja, er wüsste eines, allerdings in der nächsten Kleinstadt. Das Café ist nett eingerichtet, an den wenigen Tischen sitzen vereinzelt Gäste, die meisten mit ihrem Smartphone beschäftigt. Sie suchen sich einen Platz hinter einem großen Papyrus. Nun sitzen sie sich gegenüber. Sie fühlt, wie sein Blick auf ihrem Gesicht ruht. Sucht er darin das Gesicht, in das er sich vor 50 Jahren verliebt hat? Sie schaut ihn an. Vor ihr sitzt ein fast siebzigjähriger Mann, grauhaarig, groß, in sich ruhend. Es geht etwas Angenehmes von ihm aus. Er war ihre große Jugendliebe, eine Liebe wie man sie wahrscheinlich nur mit 16 in den 70er-Jahren erleben konnte. Eine Liebe, die nie über Händchen halten und Küssen hinausging. Worüber hatten sie damals gesprochen? Musik? Sport? Sie erinnert sich beim besten Willen nicht mehr. Als er ihr sagte, dass er keine Lust hatte, weiter zur Schule zu gehen, dass er eine Lehre machen und Geld verdienen wollte, wusste sie, dass ihre Verliebtheit nicht mehr von langer Dauer sein würde. Sie wollte nicht in diesem Dorf bleiben, vielleicht eine Banklehre machen und das Ende ihrer Berufslaufbahn als Filialleiterin einer kleinen Sparkasse beenden. Sie spürte, dass ihr das nicht genug sein würde. Und dass sich mit ihm an ihrer Seite ihr Lebenstraum nicht erfüllen würde. Natürlich konnte sie als Jugendliche nicht klar definieren, wie ihr Leben aussehen sollte, aber sie wusste schon, was sie nicht wollte. Will sie sich mit dem heutigen Treffen beweisen, dass sie damals richtig gehandelt hatte?

Er fragt sich, wie sein Leben verlaufen wäre, wenn aus ihrer Jugendliebe eine Erwachsenenliebe geworden wäre, wenn er sie nach München begleitet hätte, tatsächlich noch eine weiterführende Schule besucht hätte, um ihren Ansprüchen zu genügen. Wäre das sein Leben gewesen? Und wenn die Beziehung trotzdem in die Brüche gegangen wäre? Sie waren ja damals erst 16. Hätte er dann nicht ein falsches Leben geführt? Ist er mit seinem Leben unzufrieden? Er hat darüber nie nachgedacht. Irgendwann schmerzte der Gedanke an Margarethe nicht mehr so sehr. Es gab ein, zwei Freundinnen, bis er seine Frau kennenlernte, die schnell auf Heirat drängte. Er hatte nichts dagegen, aber seine große Liebe blieb Margarethe.

„Ein Kännchen Kaffee und einen Käsekuchen, bitte.“

„Ich nehme eine Apfelschorle.“

Die Bestellung kommt und sie isst mit sichtlichem Genuss ihren Kuchen.

„Du isst immer noch so gern wie früher!“

Sie lacht, stimmt zu und bestellt noch ein zweites Stück Kuchen. Nun ist das Eis zwischen ihnen gebrochen und sie plaudern über das „Früher“. Wie er sie erst immer mit dem Rad besucht hat, später mit dem Moped. Wie er sie verehrte und nicht wusste, wie er ihr das zeigen sollte und Angst vor ihrer Reaktion hatte. Wie sie dann die Initiative ergriff und ihn küsste. An seinen Satz nach diesem ersten Kuss „Ich dachte, mein Herz fliegt mir davon“, erinnern sich noch beide.

Er begleitet sie zum Bahnhof. Sie bedankt sich bei ihm für den schönen Tag und auch für die Zeit, die sie vor 50 Jahren miteinander verbracht haben. Zum Abschied umarmt sie ihn und steigt dann schnell in den Zug. Die Regionalbahn verlässt den Bahnhof, er verschwindet aus ihrem Blick.

Er geht langsam zu seinem Auto zurück und fährt nach Hause.

„Hier, für dich“, sagt er und gibt seiner Frau den Blumenstrauß.

„Für mich?“, fragt sie erstaunt und nimmt die Blumen erfreut entgegen. „Du scheinst ja einen schönen Nachmittag verbracht zu haben“, sagt sie und lächelt.

„Ja, das habe ich“, erwiderte er und schaltet den Fernseher ein.

Esther Wäcken

Die Begegnung

Ein Samstagabend im März. Evelyn macht sich so langsam zum Aufbruch bereit, denn sie ist noch eingeladen. Babsi, eine Kollegin von ihr, ist kürzlich in Rente gegangen, führt jedoch bereits seit 20 Jahren ihre eigene Kneipe. Dorthin hat sie ihre ehemaligen Kolleginnen und Kollegen um 20:00 Uhr zur Abschiedsfeier eingeladen. Evelyns Mann hat ihr angeboten, sie zu fahren und natürlich auch wieder abzuholen, egal, wie spät es wird. Aber das muss ja nicht sein, dieses hin und her fahren. Das Wetter ist durchaus motorradtauglich und mit ihrer Maschine hat Evelyn ja keine Parkplatzprobleme. Dass sie dann irgendwann im Dunkeln nachts zurückfahren muss, macht ihr nichts aus. Und Alkohol muss sie auch nicht unbedingt trinken, es geht auch ohne. Ist so in der Öffentlichkeit vielleicht sogar besser, nicht aus diesem Grund die Kontrolle zu verlieren. So richtig aufbrezeln ist in diesem Fall zwar nicht drin, aber Evelyn zieht eins ihrer Bikerinnen-T-Shirts an. Das mit dem Spruch: Früher hatten Hexen Besen. Heute fahren sie Motorrad.