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Linnea Bergström erhält von Kian Bensson, dem Chef der Redaktion, den Auftrag, über eine Hoteleröffnung der Luxusklasse zu berichten. Ludvig Stolt, der Hotelier, stellt ihr eine Suite zur Verfügung und hofft auf positive Resonanz. Doch die erhofften erholsamen Tage entpuppen sich als Albtraum und kurz darauf wird die Architektin tot aufgefunden. Linnea versucht, die Zusammenhänge herauszufinden und begibt sich dabei mehr als einmal in Lebensgefahr. Erst nach und nach wird offensichtlich, mit welch gefährlichem Gegner sie es tatsächlich zu tun hat. Kriminalroman mit mystischen Elementen.
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Veröffentlichungsjahr: 2019
Anmerkung
Protagonisten
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
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Impressum
Auf das in Schweden übliche Duzen wurde zugunsten der Lesbarkeit verzichtet.
Die Geschichte sowie sämtliche Protagonisten, Institutionen und Handlungen sind in diesem Roman frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Wo tatsächlich existierende Orte erwähnt werden, geschieht das im Rahmen fiktiver Ereignisse. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.
Sina Andersson steckte den Schlüssel in die Jackentasche, setzte sich die Mütze auf und griff nach ihren gefütterten Handschuhen. Über Nacht waren die Temperaturen nochmals gesunken, sehr zu ihrem Ärgernis.
Sie lief zu ihrem Wagen, schwang sich hinters Steuer, um zur Bootsanlegestelle auf der gegenüberliegenden Seite von Norderö zu fahren. Durch den frisch gefallenen Schnee hatten die Reifen noch den nötigen Grip und sie kam gut voran. Immer wieder warf sie einen Blick in den Rückspiegel, aber sie war zu dieser frühen Stunde vollkommen allein unterwegs. Gut so.
Die weiße Pracht knirschte leise unter ihren Füßen, als sie ausstieg und sich dem Bootssteg näherte. Immer wieder schaute sie sich prüfend um, doch niemand folgte ihr. Sie öffnete das Vorhängeschloss des Bootshauses und trat ein. Mit geübten Handgriffen riss sie die Plane vom Deck des Bootes und legte sie auf die Planken.
Das Boot schwankte beim Einsteigen, aber das störte sie kaum. Früher war sie mit ihrem Vater oft Segeln gewesen und mit allem vertraut. Sie steckte den Zündschlüssel ins Schloss und drehte ihn herum. Der Motor gab nur gluckernde Geräusche von sich und Sina fluchte leise. Sie wollte die andere Insel erreichen, bevor jemand ihre Abwesenheit bemerkte. Erneut versuchte sie, den Motor zu starten, und der Rumpf des Motorbootes erzitterte. Gott sei Dank.
Ein Schwarm Krähen flog erschrocken auf, als sie auf den Storsjön hinausfuhr. Es war ein windstiller Tag, dennoch kroch ihr die Kälte innerhalb kürzester Zeit unter die Kleidung. Die Überfahrt würde zum Glück nicht lange dauern. Dichte Nebelschwaden hingen über dem Wasser und schränkten die Sicht ein. Sina fuhr nicht zum ersten Mal nach Verkön und wusste, dass sich der Nebel kurz vor dem Uferbereich wieder lichten würde.
Trotzdem verspürte sie einer Vorahnung gleich die Angst. Sie war so versessen darauf, dieses Geheimnis zu lüften, dass sie sogar billigend in Kauf nahm, damit ihrer Karriere zu schaden. Aber sie war auf Dinge gestoßen, die sie nicht länger auf sich beruhen lassen konnte.
Sie drosselte die Geschwindigkeit, als sie sich dem gegenüberliegenden Ufer näherte. Am Steg vertäute sie routiniert das Boot und ging an Land. Wie ruhig es hier war. Es gab ein Hotel in der Nähe, das im Winter kaum gebucht wurde. In den Sommermonaten, während der Umbauphase, hatte hier der Wahnsinn getobt. Aber jetzt hatte diese Stille etwas Beängstigendes.
Sina straffte die Schultern und schritt zügig voran. Kleine Atemwölkchen stiegen auf und es war ziemlich anstrengend, durch den frisch gefallenen Schnee zu stapfen. Die Sommerhütte, zu der sie wollte, lag versteckt in einem Wäldchen. Während auf Norderö auch Landwirtschaft betrieben wurde, gab es auf Verkön bis auf einen kleinen Bauernhof nur Wald und Wiesen. Ein himmlisches Fleckchen, wie sie fand, nur leider mit einem düsteren Geheimnis. Wenn das Gespräch stimmte, was sie belauscht hatte. Bald würde sie mehr wissen.
Ein Bussard über ihr zog einsam seine Kreise, er war sicher auf Mäusejagd. „Viel Erfolg“, murmelte sie und bog in den Wald. Hier und da rieselte der Schnee von den Bäumen und sie fühlte sich beobachtet. Aber es gab keine frischen Spuren im Schnee, sie war definitiv allein.
Nach nur wenigen Metern hatte sie die Hütte erreicht. Sie schloss die Tür auf und stemmte sich mit dem Schulterblatt kraftvoll dagegen, bis diese aufsprang. Weiße Laken verhüllten das Mobiliar und verliehen dem Wohnraum mit dem großen Kamin etwas Gespenstisches.
Sina zog die Handschuhe aus und stopfte sie in die Jackentasche. Dann klatschte sie energiegeladen in die Hände. „Auf geht’s.“
Zuerst durchsuchte sie die Schränke nach Hinweisen wie Geburts- und Sterbeurkunden, obwohl sie ahnte, dass wichtige Unterlagen in einem Sommerhaus nichts verloren hatten. Auch im Kirchenregister war kein Eintrag vermerkt worden. Aber kein Mensch löste sich einfach so in Luft auf.
Hinter dem Wohnraum gab es einen länglichen Flur, von dem die Schlafkammern abgingen. In den winzigen Räumen standen jeweils zwei Betten mit einem passenden Nachtschränkchen. In ihm befanden sich mehrere Bücher und eine Bibel. Küche und Badezimmer ersparte sich Sina und kraxelte stattdessen auf den Dachboden. Hier oben war es eisig und sie streifte sich hastig die Handschuhe über.
Die Puppe, die in einer Ecke saß, war ihr sofort aufgefallen. Sie trug ein zerschlissenes Rüschenkleid und das struppige hellblonde Kunsthaar, dessen zwei Zöpfe starr herunterhingen, war mit Staub bedeckt. Die glasigen Augen schienen sie mit jedem Blick zu verfolgen. Wie aus einem Horrorfilm, dachte Sina und zog fröstelnd die Schultern hoch.
Sie widmete ihre Aufmerksamkeit wieder dem Inventar und öffnete drei Kisten, in denen gebrauchte Kleidung lagerte. Die Kommode neben dem Schornstein war leer, ebenso der schiefe Kleiderschrank, der mittig unter dem First stand. Enttäuscht drehte sich Sina um, kletterte die Leiter wieder hinunter und schloss die Luke. Jetzt blieb nur noch der Keller übrig.
Im Wohnraum stellte sie sich ans Fenster und musterte aufmerksam die Umgebung. Sie wollte sich gerade abwenden, als ihr Blick an einer dunkel gekleideten Gestalt hängen blieb. Verdammt, wer hatte von ihrer heimlichen Aktion Wind bekommen? Dabei war sie so umsichtig bei der Schlüsselentnahme für das Motorboot vorgegangen.
Zögernd wich sie zurück. Sollte sie sich der Person stellen? Oder lieber die Vordertür sichern?
Vielleicht war es auch nur ein Urlauber, der annahm, dass sie unerlaubt in das Sommerhaus eingedrungen war. Und so unrecht hatte er damit nicht. Sina beschloss, auf Konfrontationskurs zu gehen und die Angelegenheit zu klären. Ihr würde schon eine Ausrede einfallen, wenn es darum ging, das Gemüt ihres Auftraggebers zu besänftigen.
„Hej, hej“, rief sie, nachdem sie sich nach draußen begeben hatte. „Ich habe die Erlaubnis des Eigentümers. Sie müssen sich keine Sorgen machen.“
Ihr Gegenüber rührte sich jedoch nicht von der Stelle.
„Falls Sie noch Fragen haben, dann können Sie sich an Ludvig Stolt wenden. Er hat das Einverständnis der Familie Sjöblad.“
Schulterzuckend drehte sie sich um und ging zum Haus zurück. Von ihrer Seite aus war die Situation geklärt, keine Ahnung, warum der Typ dort stand, als wäre er mit dem Waldboden verwurzelt. Er kam ihr irgendwie bekannt vor, aber sie konnte sein Gesicht nicht einordnen, weil es zur Hälfte von der Kapuze bedeckt war
Sie hatte die Haustür schon fast erreicht, als sie plötzlich herumgerissen wurde.
„Hey, was bilden Sie sich ein!“, rief sie empört.
Genau in diesem Augenblick legte sich eine kräftige, behandschuhte Hand auf Mund und Nase und Sina begann sich zu wehren. Sie trat nach ihrem Gegner, versuchte sich loszureißen, aber sie kam nicht gegen ihn an. Ihre Lungen brannten, schrien nach dem belebenden Sauerstoff.
Sie spürte, wie ihre Kräfte schwanden. Der Fremde hatte sie im Schwitzkasten und presste seine Hand noch fester auf ihr Gesicht. Ein letztes Mal bündelte sie ihre Kräfte, bäumte sich auf und strampelte aus Leibeskräften. Aber es schien, als würde sie diesen ungleichen Kampf verlieren. Ihr Körper gehorchte ihr nicht mehr und sie wurde nur noch von dem drängenden Gedanken beherrscht, atmen zu wollen.
Jetzt hatte der Mann leichtes Spiel, sie war nicht mehr als eine willenlose Marionette. Ihre Beine gaben nach und sie ging langsam zu Boden. Das schmutzige Geheimnis würde nun niemand mehr lüften, diese Chance war unwiederbringlich vertan.
„Frau Bergström, kommen Sie doch bitte in mein Büro“, rief Kian Bensson, der Chefredakteur der örtlichen Zeitung.
Linnea Bergström kam seiner Aufforderung nach und nahm vor seinem Schreibtisch Platz. „Neuer Auftrag?“, fragte sie.
„Ja, dieses Mal ist es ein ganz besonderes Häppchen für Sie nach all den Strapazen der letzten Zeit. Kein Serienmörder, der seinen Opfern die Münder verschließt, sondern ein dreitägiger Entspannungsurlaub in einem Luxushotel mit ein wenig Schreibarbeit nebenbei. Na, wie klingt das für Sie?“
„Fantastisch. Allerdings frage ich mich, wo der Haken bei der Sache ist?“
„Es gibt keinen.“ Bensson lächelte milde. „Der Eigentümer des Hotels spendiert Ihnen den Urlaub und im Gegenzug veröffentlichen wir einen zweiseitigen Bericht.“
„Das klingt wirklich gut. Um welches Objekt handelt es sich?“
„In Norderö wurde ein heruntergekommenes Bauerngehöft in ein Luxushotel für gutbetuchte Gäste gebaut. Nur wenige Zimmer, aber dafür mit einem großzügigen Spa-Bereich und einer ausgezeichneten Küche. Um die Buchungen anzukurbeln, soll die Presse natürlich einen Artikel über die Vorzüge des Hotels verfassen. Sind Sie bereit für diesen Trip?“
„Wann geht es los?“, fragte Linn.
„In zwei Tagen.“
„Wunderbar, ich bin dabei.“
Der Rumpf der Fähre erbebte, als sich die Motoren in Gang setzten. Linn stand am Heck und schaute auf das aufgewühlte Wasser hinunter, das die Schiffsschrauben hinterließen. Hennig war von ihrer dreitägigen Reise wenig begeistert, er ging nicht mehr ganz so locker mit den Risiken ihres Jobs um. Inzwischen war sie bei ihm eingezogen und das Zusammenleben klappte reibungslos. Eigentlich wollte sie sich etwas Eigenes suchen, hatte aber schlussendlich Hennings Drängen nachgegeben.
Der stürmische Wind zerzauste ihr Haar und die feinen Tröpfchen der weißen Gischt legten sich auf ihr Gesicht. Über Nacht hatte es geschneit und die Landschaft in eine märchenhafte Glitzerwelt verwandelt. Der Winter im Norden war um einiges härter als in Malmö, aber in Hennings Wohnzimmer gab es einen großen Kamin.
Das Stampfen der Maschinen wurde langsamer und die Fähre legte im Hafen von Norderö an. Linn setzte sich wieder in ihren Wagen und fuhr an Land. Das Navigationsgerät lotste sie zum Hotel, das versteckt zwischen den Bäumen in Wassernähe lag. Das alte Gehöft hatte wenig von seinem ehemaligen Charme eingebüßt. Hier und da war das Holz der Fassade erneuert worden, aber im Großen und Ganzen wirkte es urig und sehr gemütlich.
Das ansprechende Äußere des Hauses setzte sich auch im Inneren fort. An der Rezeption bekam sie von einer jungen Frau die Schlüsselkarte ausgehändigt.
„Herr Stolt, mein Chef, hat Ihnen ein hübsches Zimmer in der oberen Etage reserviert. Ich hoffe, Sie fühlen sich in unserem Hause wohl. Das Gepäck wird Ihnen gleich aufs Zimmer gebracht.“
„Vielen Dank“, sagte Linn und wandte sich ab, um nach oben zu gehen.
Der Flur wurde von modernen Lampen mit dezentem Licht ausgeleuchtet und ein weicher Teppich dämpfte ihre Schritte. Linn hielt die Schlüsselkarte an das Schloss, das sich mit einem leisen Klicken öffnete. Neugierig stieß sie die Tür auf.
„Wow!“, entfuhr es ihr.
Die Ausstattung war wirklich vom Feinsten. Tapeten, Vorhänge und Mobiliar waren farblich passend aufeinander abgestimmt. Ein großer Bildschirm hing gegenüber vom Bett und die Minibar war gut bestückt. Schon auf den ersten Blick wurde klar, dass sie sich von ihrem Gehalt als Journalistin nie diese Auszeit hätte leisten können.
Mit ausgestreckten Armen ließ sie sich rückwärts auf das King-Size-Doppelbett fallen, das sanft federnd nachgab. Darauf würde sie wie eine Königin schlafen. Schade, dass Henning noch in Göteborg auf einer Messe festsaß, sie hätte die Tage liebend gern mit ihm verbracht.
Nachdem sie sich einen kleinen Drink genehmigt hatte, hängte sie die Kleidungsstücke in den Schrank und verteilte die Kosmetikartikel in dem perfekt ausgestatteten Badezimmer. Was für ein Luxus.
Erst jetzt gönnte sie sich einen Blick aus dem breiten Panoramafenster, das die gesamte Stirnseite einnahm. Der Ausblick auf den See war atemberaubend, kristallklares Wasser, in dem sich der Himmel spiegelte. Dahinter erhoben sich majestätisch die schneebedeckten Berge und sie konnte tatsächlich bis nach Andersön schauen. Sie nahm sich fest vor, ein paar ausgedehnte Spaziergänge zu machen, um das Feeling dieser wunderschönen Insel einzufangen. Mit einer authentischen Beschreibung der näheren Umgebung würde sie sicher beim Leser und auch bei ihrem Auftraggeber punkten.
Zur offiziellen Eröffnung des Hotels war ein Dinner geplant und sie hängte das Abendkleid, das Henning ihr zum Geburtstag geschenkt hatte, auf einen Bügel. Hoffentlich würde sie in diesem edlen Zwirn nicht overdressed sein.
Ludvig Stolt, der Hotelier, hatte sie zum Mittagsbrunch eingeladen, um mit ihr über den Artikel zu sprechen. Er war sehr engagiert und überließ nichts dem Zufall. Besonders die Vorzüge des Spa-Bereiches sollte Linn hervorheben, während sie ihr Augenmerk lieber auf die idyllische Landschaft der Insel gerichtet hätte. Vielleicht konnte man ja einen Kompromiss finden, der beide Seiten zufriedenstellte.
Sie hängte sich die Tasche über ihre Schulter, griff nach dem Diktiergerät und verließ das Zimmer, damit sie sich einen ersten Überblick vom Hotel verschaffen konnte. Das zweite Gebäude war noch nicht ganz fertiggestellt, in der ehemaligen Scheune sollte ein kleiner Poolbereich entstehen. Außerdem fehlte noch die gläserne Überdachung, damit die Gäste trockenen Fußes das Gebäude erreichen konnten.
Zuerst begutachtete Linn den Speisesaal im Erdgeschoss, der seinen Namen eigentlich nicht verdiente. Die rustikalen Holzbalkendecken waren niedrig und engten den Raum ein. Er wirkte dadurch weniger großzügig, aber sehr gemütlich. Tische und Stühle waren auch hier mit geübtem Auge ausgewählt worden, Altes traf auf Moderne. Ein gekonnter Stilmix, wie sie fand.
„Na, auch neugierig unterwegs?“, erklang eine Stimme hinter ihr.
Überrascht drehte sie sich um. „Ja. Mit wem habe ich das Vergnügen?“
„Hendrik Friis, ich bin der Fotograf, den Stolt engagiert hat.“
„Angenehm. Linnea Bergström, Journalistin.“ Sie reichte ihm die Hand.
„Ich weiß.“
„Woher?“
„Das Diktiergerät in Ihrer Hand.“ Er lächelte.
„Sie haben einen wirklich guten Blick.“
„Für einen Fotografen ein absolutes Muss. Ich werde meine Aufmerksamkeit mal wieder den Außenaufnahmen widmen, solange es noch so ruhig ist. Wir sehen uns bestimmt beim Dinner.“
„Mit Sicherheit.“
Linn sah ihm hinterher. Hendrik Friis war ein sympathischer Mann Mitte vierzig, der als typischer Einzelgänger galt, sie kannte einige seiner Arbeiten. Er war ein Künstler seines Faches und hatte die Begabung, den perfekten Moment mit seiner Kamera festzuhalten.
Sie wandte sich wieder der Inneneinrichtung zu, schoss einige Fotos, um anschließend alles genau beschreiben zu können. Im Keller des Hauses befand sich der Spa-Bereich und sie stieg die Treppe hinunter.
Die teils fensterlosen Räume wurden durch die Anordnung der Lampen perfekt ausgeleuchtet. Auch hier machte sich Linn einige Notizen, um den Hotelbesitzer zufriedenzustellen. Die Ausstattung konnte man durchaus als nobel bezeichnen, aber sie war nicht unbedingt außergewöhnlich. Whirlpool, Massageraum, Sauna mit einem kleinen Becken nebenan und ein Fitnessraum, an dessen Stirnseite eine riesige Leinwand hing. Es war heutzutage nicht unüblich, während der sportlichen Aktivitäten Filme zu schauen.
Sie ließ den Spa-Bereich hinter sich und ging wieder nach oben. Es zog sie förmlich nach draußen und sie warf sich im Hotelzimmer hastig den Mantel über. Die frostige Winterluft strömte ihr entgegen, als sie die zweiflüglige Eingangstür öffnete und nach draußen trat. Sie spazierte gemächlich am See entlang und genoss das Alleinsein. Die dunkle, ja fast schwarze Wasseroberfläche lag wie ein Spiegel vor ihr, nur die Wellen plätscherten rhythmisch gegen das Ufer. Im Sommer war der Storsjön an einigen Stellen türkisfarben, aber jetzt wirkte er durchweg bedrohlich, was sicher an der Jahreszeit liegen mochte.
Sie nahm die Eindrücke in sich auf wie ein Schwamm und sprach in das Diktiergerät. Vor einem kleinen Wäldchen stoppte sie ihre Schritte und kehrte um. Ludvig Stolt wäre sicher nicht erfreut, wenn sie zu spät kommen würde.
Für den Mittagsbrunch hatte sich Linn umgezogen. Zu ihrer Rechten saß der Fotograf und der Hotelier zu ihrer Linken.
„Und, wie finden Sie’s?“, fragte Stolt mit glänzenden Augen.
„Die Lage ist fantastisch und die Architektin hat ein Kleinod aus dem ehemaligen Hof erschaffen.“
„Ja, das finde ich auch. Eigentlich sollte uns Sina Andersson Gesellschaft leisten, aber ich habe keine Ahnung, wo sie gerade steckt.“
„Haben Sie noch weitere Umbaumaßnahmen geplant?“, fragte Linn nach.
„Und ob“, erwiderte Stolt. „Auf Verkön steht noch ein Sommerhaus, welches ich von der Familie Sjöblad übernommen habe.“
„Das wusste ich nicht“, erwiderte Linn.
„Während des Winters stoppen die Bauarbeiten, aber im Frühjahr soll dort noch einiges entstehen. Ein Grillplatz ist geplant, zwei größere Terrassen für Tanzabende und vieles mehr. Die Gäste sollen sich auf gar keinen Fall langweilen.“
„Werden wir dieses Grundstück auch zu sehen bekommen?“, fragte Friis.
„Selbstverständlich, allerdings nicht heute.“
Die junge, attraktive Rezeptionistin näherte sich dem Tisch.
„Theodor Syversson ist gerade eingetroffen, falls Sie ihn begrüßen möchten“, sagte sie.
„Danke Ane, ich komme sofort.“ Stolt tupfte sich mit der Serviette die Mundwinkel ab. „Entschuldigen Sie bitte, aber ich will es mir nicht nehmen lassen, unseren hohen Gast persönlich zu empfangen. Wir sehen uns beim Dinner.“ Er stand auf und entfernte sich mit schnellen Schritten.
„Wer ist dieser Syversson?“ Friis sah sie fragend an.
„Ein hochrangiger Abgeordneter vom Stockholmer Parlament.“
„Ach so, mit Politik habe ich nicht viel am Hut. Was will er eigentlich hier?“
„Er ist auf dieser Insel zur Welt gekommen und wahrscheinlich gehört es zum guten Ton, sich ab und zu beim Volk blicken zu lassen“, erklärte sie lachend.
„Ehrlich gesagt, bin ich froh, wenn ich wieder fahren kann. Mich zieht es raus in die Wildnis und ich habe diesen Job nur wegen des großzügigen Honorars angenommen.“
„Tja, Ihr guter Ruf eilt Ihnen voraus.“
„Alles eine Frage der Einstellung, solange man liebt, was man tut.“
„Auch wieder wahr. Ich werde mich mal auf mein Zimmer zurückziehen, um meine Notizen zu ordnen“, sagte Linn und erhob sich. „Bis später.“
Sie zog sich in das Hotelzimmer zurück, setzte sich an den Tisch am Fenster und breitete die Unterlagen vor sich aus. Aber an Arbeit war nicht zu denken. Im Flur klappten Türen auf und zu und es fiel ihr schwer, sich bei dieser Geräuschkulisse auf den Artikel zu konzentrieren. Der Abgeordnete war ohne seine Frau, aber dafür mit seinem Enkelsohn angereist. Der junge Mann wollte in die Fußstapfen seines Großvaters treten und engagierte sich politisch auf lokaler Ebene. Die zwei hatten die Zimmer am Ende des Flures bezogen und gerade wurde ihnen das Gepäck ausgehändigt. Vielleicht konnte sie dem älteren Herrn ja ein Interview für die Zeitung abringen.
Nach zwei Stunden, in denen sie am Artikel geschrieben hatte, klappte sie den Laptop zu und verschwand im Badezimmer, um sich für den Abend herzurichten. Nach einem ausgiebigen Wannenbad stand sie vor dem Spiegel und legte ihr Make-up auf. Erneut bedauerte sie, dass Henning nicht an ihrer Seite war, denn das Kleid stand ihr ausgesprochen gut.
Sie verstaute Diktiergerät und Smartphone in der Clutch und schwebte förmlich nach unten. Im Speisesaal hatte sich bereits eine illustre Gesellschaft eingefunden. Theodor Syversson war der heimliche Star des Abends und die Gäste umschwärmten ihn wie die Motten das Licht.
Linn beschloss, sich erst eine Kleinigkeit vom Büfett zu gönnen. Vor ihr stand ein Mann Anfang dreißig und sie erkannte an seinem Profil sofort, dass es sich um Syverssons Enkelsohn handeln musste. Genau wie sein Großvater hatte er eine charismatische Ausstrahlung. Einige Menschen waren prädestiniert dafür, in der Öffentlichkeit zu stehen.
Sie setzte sich etwas abseits an einen Tisch und suchte in der Menge vergebens nach Friis. Stolt flog wie ein Schmetterling von einem zum anderen und führte sich wie ein gönnerhafter Gastgeber auf, bis ein Angestellter an ihn herantrat, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern. Stolt verließ mit dem jungen Mann den Saal und sein ernster Blick sprach Bände.
Linn erhob sich und folgte beiden unauffällig. Stolt verschwand mit dem Angestellten in seinem Büro, hatte die Tür aber offen gelassen. Sie konnte ungehindert das Gespräch belauschen und sah die Gesichter der beiden, die sich im Fensterglas spiegelten.
„Wir haben Sina gefunden. Ihre Leiche ist im See getrieben.“
„Oh mein Gott.“ Stolt war fassungslos. „Wie ist sie überhaupt auf die Insel gekommen?“
„Sie muss am Morgen die Bootsschlüssel an sich genommen haben.“
„Aber warum ist das niemandem aufgefallen?“, fragte Stolt.
„Sie wissen doch genau, dass wir alle im Stressmodus sind“, raunte der Hotelangestellte. „Was sollen wir diesbezüglich unternehmen? Die Veranstaltung abbrechen?“
„Auf gar keinen Fall“, widersprach Stolt. „Ich kann negative Publicity nicht gebrauchen.“
„Was schlagen Sie vor? Soll ich die Polizei verständigen?“
Stolt schloss für einen Moment gequält die Augen. „Ich werde mich darum kümmern.“
Linn bog schnell um die Ecke, damit sie nicht entdeckt wurde, und riskierte von dort aus einen Blick. Stolt kam allein aus seinem Büro. Anstatt zum Telefon zu greifen, gesellte er sich wieder zu seinen Gästen, als wäre nichts geschehen. Sie beschloss, sich auf die Suche nach dem Angestellten zu machen, um ihn zu befragen. Auf dem Weg durch den Flur wurde sie mit einem festen Griff am Oberarm gepackt und in eine Nische gezogen.
„Friis, was machen Sie da?“, rief sie empört.
„Das wollte ich Sie gerade fragen.“
„Ich bin im Moment völlig durcheinander.“
„Sie wissen demnach über Sina Andersson Bescheid?“
Sie nickte stumm.
„Wo ist Stolt?“
„Wieder bei seinen Gästen“, antwortete sie.
„Ist der Kerl jetzt völlig übergeschnappt? Er muss doch jemanden verständigen, die Polizei, den Rettungsdienst, was weiß ich …“
„Das hat mich auch gewundert.“
„Wissen Sie was? Wir schnappen uns ein Boot und fahren rüber nach Verkön, um die Lage zu checken.“
„Jetzt?“ Linn zog fragend die Brauen hoch.
„Ja sicher. Wann sonst?“
„Ich weiß nicht so recht“, erwiderte sie skeptisch.
„Hallo? Sie sind doch Journalistin.“ Friis ließ nicht locker. „Sie wären die Erste vor Ort und könnten exklusiv darüber berichten. Ich steuere natürlich die Fotos bei.“
„Das fühlt sich wie Leichenschändung an.“
„Wollen Sie nun Ihren Job machen, oder nicht?“
„Sie haben gewonnen, ich ziehe mich um.“
Im Hotelzimmer wechselte sie in Rekordgeschwindigkeit ihre Kleidung, packte hastig alles zusammen und eilte die Treppe hinunter ins Foyer. Friis wartete schon auf sie und sie fuhren los. Kurz darauf stoppte er am Ufer des Storsjön. Linn stieg aus dem Wagen und folgte Friis zur Anlegestelle. Es war komplett verrückt, was sie vorhatten, und sie ärgerte sich, dass sie zugesagt hatte.
„Wie sind Sie so schnell an ein Boot gekommen?“, fragte sie.
„Ich habe mir an der Rezeption den Schlüssel aushändigen lassen. Stolt scheint immer noch keinen Rettungsdienst oder die Polizei verständigt zu haben.“
„Dann müssen wir das übernehmen. Ich habe sowieso kein gutes Gefühl bei dieser Sache.“
Er drehte sich zu ihr um. „Kann das nicht warten, bis wir am anderen Ufer sind?“
„Tut mir leid, aber auf Ihre Sonderwünsche werde ich keine Rücksicht nehmen. Es wäre trotzdem nett, wenn Sie diesen Anruf tätigen könnten. Ich bin bei der Östersunder Polizei nicht gerade beliebt.“
„Ist das Ihr letztes Wort?“ Er musterte sie fragend.
Sie nickte.
„Gut, dann beuge ich mich Ihrem Willen.“ Er zog sein Smartphone aus der Hosentasche und wählte den Notruf.
Linn verfolgte mit Interesse das Gespräch, das gerade in eine völlig andere Richtung driftete. Am Ende musste sich Friis rechtfertigen, warum er vom Ableben der verunglückten Architektin überhaupt wusste.
„Na, vielen Dank auch“, brummte Friis anschließend verstimmt und löste die Taue. „Wahrscheinlich stehe ich jetzt ganz oben auf der Liste der Verdächtigen, weil ich Sina Andersson angeblich ins Wasser geschubst habe.“
„Schon mal etwas von unterlassener Hilfeleistung gehört?“
„Jetzt kommen Sie schon, steigen Sie ein“, drängte Friis und reichte ihr die Hand.
Das Boot schwankte, als sie einstieg, und ihre Angst verstärkte sich.
„Haben Sie überhaupt einen Bootsführerschein?“, fragte sie verunsichert nach.
„Nein, aber Sie kennen doch sicher meine legendäre Alaska-Fotoserie?“
„Selbstverständlich.“
„Zu diesem Zeitpunkt bin ich tagelang mit dem Kanu unterwegs gewesen. Reicht das fürs Erste?“
„Ist ja schon gut.“ Sie machte eine beschwichtigende Geste.
Friis startete den Motor und das Boot setzte sich mit einem Ruck in Bewegung. Linn verkrampfte sich und klammerte sich mit den Händen an der Sitzbank fest. Es war stockdunkel und der eisige Fahrtwind fegte ihnen um die Ohren. Ihr schicker Stadtmantel war für die Überfahrt absolut unpassend und wärmte kaum. Schon nach wenigen Minuten war sie komplett durchgefroren. Als sie endlich auf der linken Seite Land entdeckte, atmete sie erleichtert auf. Aber Friis dachte nicht daran, das Tempo zu drosseln.
„Warum fahren Sie am Ufer vorbei?“
„Weil es sich um eine der zwei unbewohnten Inseln handelt“, antwortete er.
Linn hatte in der stockfinsteren Nacht völlig die Orientierung verloren. Ringsum von den dunklen Fluten umgeben, verblassten allmählich die Lichter von Norderö. Am liebsten hätte sie Friis zur Umkehr gezwungen.
„Es ist nicht mehr weit“, sagte er, als hätte er ihre Gedanken erraten.
„Hoffentlich. Ich friere wie ein junger Hund.“
Die Überfahrt schien ewig zu dauern, bis Linn einen hellen Schimmer vor sich sah.
„Sind wir endlich da?“, fragte sie hoffnungsvoll.
„Ja, das sind die Lichter von Schloss Verkön“, bestätigte Friis.
Mit routinierten Handgriffen legte er an und half Linn auf den Bootssteg.
„Und nun?“
„Wir gehen zum Schloss. Die Leute können uns mit Sicherheit mehr sagen.“
Nach einer relativ kurzen Wegstrecke sahen sie eine kleine Menschentraube, die sich direkt vor dem Eingang versammelt hatte. Der Tod von Sina Andersson musste demnach schon die Runde gemacht haben. Während sich Friis zu den Anwesenden gesellte, stieß Linn die Tür auf, um sich aufzuwärmen. Zitternd zog sie die Handschuhe aus, rieb ihre eiskalten Finger aneinander und sah sich neugierig um.
Das Schloss glich eher einer großen Villa, war aber stilvoll eingerichtet. Zu dieser Jahreszeit schienen kaum Gäste anwesend zu sein, die Lobby war wie leergefegt.
Linn wollte gerade ihren Mantel aufknöpfen, als Friis hereinstürmte.
„Ich weiß, wo wir Sina Andersson finden, die Angestellten wissen bereits Bescheid. Wir müssen ans andere Ufer.“
„Also einmal quer über die Insel?“
„Aus Ihrem Mund klingt das immer nach endlosen Strapazen.“
„Das empfinde ich auch so“, erwiderte sie. „Und wenn ich ehrlich bin, ist mein Bedarf an Toten mehr als gedeckt. Machen Sie Ihre Fotos, ich höre mich lieber unter den Gästen um.“
„Sie sind ein Feigling“, schnaubte Friis. „Gerade von Ihnen hätte ich mehr Biss erwartet.“
Linn zögerte einen Augenblick, bevor sie einwilligte. „In Gottes Namen, ich werde mitkommen.“ Sie stieß einen tiefen Seufzer aus und folgte ihm. Eisige Luft schlug ihr entgegen, als sie mit Friis nach draußen trat. „Wo müssen wir hin?“
„Immer der Nase nach.“
Er schaltete eine Taschenlampe ein und leuchtete den Weg aus.
„Wo haben Sie die denn aufgetrieben?“, fragte sie.
„Sie haben doch selbst gesagt, dass mir mein guter Ruf vorauseilt“, erwiderte er und zog das Tempo an, sodass Linn Mühe hatte, zu ihm aufzuschließen.
Hinter dem Hotel verlor sich der Weg und Friis stapfte einfach querfeldein. Sie umrundeten ein Waldstück. Der Wind fuhr wispernd durch die Wipfel der Bäume, das gesamte Areal wirkte unheimlich. Kein Wunder, wenn man bedachte, dass die Architektin am anderen Ufer tot geborgen worden war.
Plötzlich hörte sie ein leises Geräusch, das der Wind in ihre Richtung trieb. Sie blieb stehen und zupfte Friis am Ärmel.
„Hören Sie das auch?“
„Was denn?“
„Es klingt wie das Weinen eines Kindes“, sagte sie und erschauderte.
„Ach das.“ Er winkte ab. „Dieses Geräusch wird vom Wind erzeugt, kein Grund zur Sorge.“
„Aber es klingt so …“
„… menschlich?“, unterbrach er sie.
„Genau.“
„Ich könnte Ihnen da furchterregendere Dinge erzählen. Da wäre zum Beispiel der Appalachen-Trail in Amerika, den ich mit einem meiner Kollegen …“
„Ist ja schon gut, ich glaube Ihnen. Sie müssen mir nicht noch mehr Angst einjagen.“
„Das hatte ich auch nicht vor. Es ging lediglich darum, Ihnen ein paar dieser Phänomene zu schildern. Eines Nachts habe ich durch die Zeltwand eine hochgewachsene Gestalt bemerkt, die sich an unserer Ausrüstung zu schaffen gemacht hat. Ich zurre also den Reißverschluss auf und stürme nach draußen, als sich die Gestalt direkt vor meinen Augen in Luft aufgelöst hat …“
„Schluss jetzt!“, fuhr sie ihn an, um ihn zum Schweigen zu bringen. „Ich will nichts mehr von diesen Schauergeschichten hören.“
„In Ordnung, ich habe verstanden.“ Er klang beleidigt.
Stumm liefen sie nebeneinanderher. Das Wispern des Windes verstummte, was Linn mit Erleichterung zur Kenntnis nahm. Es war auch so schon beklemmend genug, sich einen Weg durch diese Wildnis zu bahnen.
„Wir sind gleich da.“ Friis deutete nach vorn.
Sie durchquerten das Waldstück mit hohen Kiefern und kurz darauf hatten sie freie Sicht. Zwei Männer standen am Ufer und das Licht ihrer Taschenlampen erhellte das grausige Szenario. Sina Andersson lag auf dem Rücken und starrte mit ausdruckslosem Blick in den wolkenverhangenen Himmel.
„Sind Sie von der Polizei?“, fragte der Jüngere und taxierte Linn und Friis mit einem misstrauischen Blick.
„Nein“, antwortete Friis. „Wir sind von der Presse.“
„Haben Sie nichts Besseres zu tun? Wer hat Sie geschickt? Doch nicht etwa Stolt?“
„Ich habe bereits die Polizei verständigt, wie sich das gehört“, erklärte Friis und Linn schüttelte kaum merklich ihren Kopf.
„Wer hat Sina Andersson aus dem See gezogen?“, wollte sie wissen.
„Ich.“ Der Ältere machte einen Schritt nach vorn.
„Hat sie Verletzungen davongetragen?“, fragte sie weiter.
„Zumindest keine sichtbaren. Aber die Frau wird ja wohl kaum freiwillig bei diesem kalten Wetter schwimmen gegangen sein.“
Linn betrachtete Sina Andersson genauer. Sie war eine junge attraktive Frau, wobei das grelle Licht der Taschenlampe ihre Gesichtszüge unnötig verzerrte. Man sah der Architektin deutlich an, dass sie vor ihrem Tod sehr gelitten haben musste.
„Wie weit war sie vom Ufer entfernt?“
„Nur wenige Meter. Allein wäre ich bei diesen Wetterverhältnissen niemals so weit rausgefahren“, antwortete er.
„Wie sind Sie überhaupt auf sie aufmerksam geworden?“
„Ich gehe kurz vor dem Schlafengehen immer noch eine Runde mit dem Hund. Der hat am Ufer gestanden und wie ein Irrer gekläfft.“
„Sind Sie ein Hotelgast?“, erkundigte sich Linn.
„Nein, mir gehört der Bauernhof ganz in der Nähe“, erklärte er.
„Gibt es noch weitere Bewohner in dieser Gegend?“
„Nein, das Sommerhaus steht zurzeit leer.“
„Danke, dass Sie meine Fragen beantwortet haben“, sagte sie.
Ein lautes Motorengeräusch zerriss die Stille und kurz darauf spiegelten sich helle Scheinwerfer auf der Wasseroberfläche. Friis hatte unbemerkt einige Fotos geschossen und aus Pietätsgründen nur die Füße von Sina Andersson auf seine Kamera gebannt. Jetzt verstaute er das teure Gerät wieder in seiner Tasche.
Das Boot näherte sich ihnen mit hoher Geschwindigkeit und kam etliche Meter vor dem Ufer zum Stehen. Ein motorenbetriebenes Schlauchboot wurde herabgelassen und kurz darauf stiegen fünf Männer aus. Erik Viklund war natürlich auch unter ihnen und Linn bereute sofort, nicht im Schloss geblieben zu sein. Sein fragender Blick streifte sie und sie schaute betreten zur Seite.
Nachdem der Arzt den Tod der Architektin festgestellt hatte, wurde der Bereich großzügig abgesperrt, um erste Spuren zu sichern.
Linn, Friis und die beiden Männer wurden aufgefordert, sich zum Schloss zu begeben, wo bereits weitere Beamte eingetroffen waren, um die Personalien aufzunehmen. Zu viert machten sie sich auf den Weg zurück.
„Hätte Stolt bloß die Finger von diesem Hof gelassen“, ergriff der Jüngere das Wort.
„Warum?“, fragte Linn interessiert.
„Das Unglück zieht sich wie ein roter Faden durch die Familiengeschichte der Sjöblads“, antwortete er.
„Ach ja? Erzählen Sie mir ein wenig darüber.“ Linn lächelte ihn freundlich an.
„Ich halte nichts davon, alte Geschichten vor der Presse breitzutreten“, erwiderte er diesmal schon eine Spur zurückhaltender.
„Keine Sorge, ich werde nichts davon erwähnen“, versprach sie. Es existierten garantiert einige Zeitungsartikel darüber, auf deren Quelle sie sich später berufen konnte. Aber es schadete nicht, zuerst einmal zu erfahren, worum es überhaupt ging.
„Das Gut besteht aus zwei Höfen, wobei einer davon vor 40 Jahren beinahe niedergebrannt wäre.“
„Was war der Grund für das Feuer?“
„Das Heu in der Scheune hatte sich durch die mangelnde Lüftung erhitzt und entzündet, hieß es im abschließenden Bericht der Feuerwehr. Die Sjöblads haben allerdings geschworen, dass es Brandstiftung gewesen sein soll. Jedenfalls hat die Versicherung nicht gezahlt.“
„Wurde jemand verletzt?“, fragte Linn nach.
„Glücklicherweise nicht. Die Schwester vom Sjöblad konnte sich im letzten Moment retten. Helen wurde im Schlaf vom Feuer überrascht, hieß es, als die Funken auf das Wohnhaus übergesprungen waren. Sie war nach dem Verschwinden ihrer Tochter und der gescheiterten Ehe nicht mehr ganz zurechnungsfähig, müssen Sie wissen.“
„Hatte das Ehepaar keine Kinder, die sich um Helen hätten kümmern können?“
„Nein, Helen konnte wohl keine mehr bekommen und da hat sich Harald halt woanders ausgetobt.“
„Gibt es noch weitere dieser Geschichten?“, fragte sie interessiert und schaute sich dabei suchend um, weil sie sich beobachtet fühlte. Aber es war zu dunkel, um mehr zu erkennen. Vielleicht war auch nur diese bizarre Nacht daran schuld, in der ein Mensch sein Leben verloren hatte.
„Zwischen den Geschwistern herrschte oft Zwietracht, weil Helen sich mit dem kleineren der Höfe hatte zufriedengeben müssen. Aber damals war es eben so, dass der männliche Erbe bevorzugt wurde. Heutzutage sorgen allein schon die Gesetze für eine ausgleichende Gerechtigkeit.“
Mittlerweile hatte das Quartett das Schloss erreicht. Linn war komplett durchgefroren und es kribbelte unangenehm, als sie die Wärme auf ihrer Haut spürte. Das polizeiliche Prozedere, das nun gleich folgen würde, war ihr bereits bestens vertraut.
Den Kaffee, der ihr angeboten wurde, nahm sie dankend an und setzte sich im Restaurant zu Friis an den Tisch. Es würde eine sehr lange Nacht werden.
Erik Viklund beobachtete Linn verstohlen, bevor er sich wieder seinen Aufgaben widmete. Diesmal hielt sich sein Ärger über ihre Anwesenheit in Grenzen und er musste insgeheim zugeben, dass er froh war, sie zu sehen. Er konnte ihr Verhalten inzwischen abschätzen, was es um einiges leichter machte.
Momentan hielt er sich im Hintergrund und wartete geduldig ab, bis die Spuren gesichert worden waren. Erst dann betrachtete er die Frau zu seinen Füßen. Das kalte Licht der Scheinwerfer, die seine Kollegen aufgebaut hatten, ließ den Anblick der Toten noch trauriger erscheinen. Sina Andersson hatte die Augen weit aufgerissen und er konnte an den petechialen Blutungen im Gesichtsbereich erkennen, dass sie erstickt worden war.
„Was haben Sie für uns?“, fragte er den anwesenden Arzt.
„Wie bereits von Ihnen vermutet, ist sie erstickt und anschließend in den See geworfen worden.“
„Todeszeitpunkt?“
„Die Kälte wirkt konservierend und ich kann die Uhrzeit nur ungefähr abschätzen. Später Nachmittag bis früher Abend würde ich sagen. Ihr Kollege von der Rechtsmedizin wird sicher genauere Angaben machen können.“
Ein Zinksarg wurde ins Beiboot herabgelassen und zum Ufer transportiert. Es waren nur noch wenige Wochen bis zum Jahreswechsel und Erik hatte auf eine ruhige Vorweihnachtszeit gehofft. Der letzte Fall spukte ihm noch im Kopf herum und er hoffte, dass sie den Täter diesmal schneller würden verhaften können.
Er drehte sich zu den Kollegen, die neben ihm standen. Einer davon war Lasse.
„Habt ihr die Taschenlampen griffbereit?“, fragte er.
Die Männer nickten.
„Dann werden wir die nähere Umgebung nach Spuren absuchen.“
„Alles klar, Chef.“
Die hellen Lichtkegel huschten über den schneebedeckten Boden und die Männer wurden schnell fündig. Die Schleifspuren waren zwar notdürftig mit Zweigen verwischt worden, aber immer noch deutlich zu erkennen. Erik folgte parallel der Spur, die quer durch das schmale Waldstück zu einem Sommerhaus führte.
„Das ging ja diesmal wirklich schnell“, sagte er und betrachtete den aufgewühlten Boden ein paar Meter vom Haus entfernt. „Sieht nach einem Kampf aus.“
Lasse nickte ihm zu. „Da werden die Kriminaltechniker eine Menge zu erledigen haben.“
„Ich denke, wir können jetzt Feierabend machen. Die Kollegen werden das Haus versiegeln und ich werde mir gleich morgen den Besitzer vorknöpfen.“
Das Trio machte kehrt und stapfte zum Boot zurück.
„Was gibt es Neues?“, fragte Erik am nächsten Morgen, als Lasse den Kopf zur Tür hereinsteckte.
„Nicht sehr viel, was zur Lösung dieses Falles beitragen könnte. Aber ein paar wichtige Eckdaten hätte ich schon. Die Architektin hat sich ohne das Wissen des Hotelbesitzers das Boot ausgeliehen, um nach Verkön zu fahren.“
„Wahrscheinlich wollte sie etwas wegen des Umbaus recherchieren“, sagte Erik.
„An diesem Tag sollte das Hotel offiziell eröffnet werden, deswegen war auch die Presse vor Ort. Sogar ein Politiker aus dem Stockholmer Parlament ist extra mit seinem Enkelsohn angereist sowie einige wichtige Investoren, darunter auch Niklas Sundström und Maike Akerlund.“
„Ein bisschen viel Aufwand für so ein kleines Hotel“, antwortete Erik.
„Es sollen nur gutbetuchte Gäste angelockt werden, für einen Normalsterblichen dürfte das Ganze unerschwinglich sein. Dieser Stolt hat sogar Hendrik Friis, den mehrfach preisgekrönten Fotografen engagiert.“
„Was kannst du mir noch sagen?“ Erik sah fragend zu ihm auf.
„Sina Andersson hatte ihre Zelte in Östersund bereits abgebrochen, um nach Stockholm zu ziehen. Das war ihr letzter Auftrag in dieser Gegend. Ihre Beziehung soll wohl aus diesem Grund auch zerbrochen sein, das hat zumindest einer ihrer Nachbarn behauptet.“
„Also eine Beziehungstat?“
„Eher nicht. Die Architektin hat ausnahmslos auf Frauen gestanden.“
„Aber es wäre doch möglich …“
„Chef“, unterbrach Lasse ihn. „Es wurde kein weiteres Boot gesichtet und von den weiblichen Gästen im Schloss kommt niemand dafür infrage.“
„Es wäre auch zu schön gewesen, zur Abwechslung mal einen unkomplizierten Fall aufzuklären.“ Erik seufzte. „Wann geht die Fähre nach Norderö, um die Gäste zu vernehmen?“
„In einer Stunde“, antwortete Lasse.
„Dann sollte ich mich beeilen.“
„Gute Überfahrt, Chef.“
„Danke.“
Lasse verließ das Büro und Erik informierte Greta über die Fahrt nach Verkön. Gemeinsam fuhren sie zum Anleger. Während sich Greta, eingehüllt in ihren dicken Wintermantel, auf dem Deck den Wind um die Ohren blasen ließ, hockte Erik im Wagen mit dem Laptop auf den Knien und schrieb Berichte. Irgendwann musste er ja den ganzen Schreibkram erledigen.
Nachdem sie die Fähre verlassen hatten, fuhren sie zum Hotel. Nur wenig später saßen er und Greta in Stolts Büro. Er hatte ihnen Kaffee und Gebäck angeboten und wirkte sehr nervös.
„Einer Ihrer Angestellten hat erwähnt, dass Sie schon um einundzwanzig Uhr von dem Tod der Architektin erfahren, aber nichts unternommen haben. Warum?“, fragte Erik.
Auf Stolts Gesicht zeichneten sich rote Flecken ab. „Ich habe zwei lange Jahre auf diesen Tag hingearbeitet. Es gab etliche Rückschläge und sehr viel Ärger mit den Baufirmen. Der Abend sollte perfekt werden, mein Kopf war voll und mitten im Trubel habe ich das Unglück wohl einfach ausgeblendet.“
Erik wechselte mit Greta einen Blick. Ihnen war sofort klar, dass Stolt sich herausredete.
„Das ist doch sehr ungewöhnlich, zumal mit dem Umbau des Sommerhauses noch gar nicht begonnen wurde“, sagte Greta.
„Es hat ständig Verzögerungen gegeben“, antwortete Stolt.
„Ich meinte eigentlich den Tod der Architektin. Es scheint Sie nicht zu berühren, dass mit der für Sie wichtigsten Person alles zum Stillstand kommt. Warum sonst hätten Sie diese Nachricht für sich behalten sollen?“
„Ich kann im Moment keine negative Publicity gebrauchen. Außerdem wollte ich den Unfall melden, nur ist mir diese Journalistin zuvorgekommen.“
„Wer ist am Todestag alles angereist?“, erkundigte sich Erik.
„Ich habe die Liste bereits angefertigt und Ihnen per Mail geschickt. Dort sind das Datum und die Uhrzeit der einzelnen Gäste vermerkt, wann diese eingecheckt haben.“
„Gut, das werden wir anschließend prüfen. Jetzt möchte ich allerdings noch wissen, wie die Zusammenarbeit mit Sina Andersson verlaufen ist.“
„Im Großen und Ganzen reibungslos …“
„Soll heißen?“, fragte Erik ungeduldig.
„Es gab einige Meinungsverschiedenheiten, aber letzten Endes habe ich immer eingesehen, wenn der Plan nach ihren Vorstellungen geändert werden musste. Sina Andersson hat großartige Arbeit geleistet, wie Sie sicher bemerkt haben. Für die schwerwiegenden Verzögerungen beim Umbau konnte sie nichts.“
„Was muss ich mir unter den Verzögerungen vorstellen?“, fragte Erik nach.
„Material wurde falsch oder gar nicht geliefert, teilweise stand die Arbeit wochenlang still. Das hat mich nicht nur Zeit und Geld, sondern auch jede Menge Nerven gekostet.“
„Warum?“
„Weil die Listen gefälscht oder gar nicht erst abgeschickt wurden.“
„Wer könnte ein Interesse daran gehabt haben, Ihnen zu schaden?“
„Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht.“ Stolt zuckte ratlos mit den Schultern. „Den Umbau des Sommerhauses wird ein anderer Architekt betreuen.“
„Eine letzte Frage noch. Warum hat sich Frau Andersson ausgerechnet am Tag der Eröffnung das Boot ausgeliehen, um zum Sommerhaus zu fahren?“
„Darüber habe ich mir auch schon den Kopf zerbrochen. Der Umbau liegt während der Wintermonate im wahrsten Sinne des Wortes sowieso auf Eis.“
„Etwas Persönliches vielleicht?“, fragte Greta.
„Sina hat nie Besuch erhalten und sich kopfüber in die Arbeit gestürzt, falls Sie das meinen. Sie war sehr zielstrebig und als das Angebot für Stockholm kam, hat sie sich wahnsinnig darüber gefreut. Allerdings ist während der letzten Tage die Stimmung gekippt. Sina wirkte fahrig und nervös und als ich sie darauf angesprochen habe, hat sie sich in Ausflüchte verstrickt. Aber man kann einem Menschen ja nur vor die Stirn schauen.“
„Vielen Dank, dass Sie uns so bereitwillig Auskunft gegeben haben. Wir werden jetzt mit den einzelnen Gästen sprechen“, sagte Erik.
Er und Greta erhoben sich und verließen das Büro des Hoteliers.
„Was meinst du, wer den Bau des Hotels sabotiert haben könnte? Die Bewohner der Insel vielleicht?“, fragte Greta auf dem Flur.
„Irgendwie will das alles nicht zusammenpassen. Stolt hat bereits Ersatz für Sina Andersson, deshalb erscheint mir ihr Tod in dieser Hinsicht völlig sinnlos. Es muss etwas anderes dahinterstecken.“
„Finden wir es heraus“, erwiderte Greta und klang dabei wieder sehr optimistisch.
Linn streckte sich und schlug die Bettdecke zurück. Nur drei Stunden Schlaf waren ihr vergönnt gewesen, nachdem sie von Verkön zurückgekehrt waren. Sie bestellte sich das Frühstück aufs Zimmer und verschwand im Bad. Nach einer Dusche mit abwechselnd kaltem und warmem Wasser war sie halbwegs wach. Sie kleidete sich an und der anschließende Blick aus dem Fenster hob keineswegs ihre Stimmung. Der Tag war trüb und der Himmel wolkenverhangen.
Es klopfte an die Tür. „Zimmerservice.“
Linn öffnete und nahm das Frühstück entgegen. Kaffee, warme Croissants, Obstsalat und eine feine Auswahl von Käse, Lachs und Wurstdelikatessen.
Frisch gestärkt machte sie sich anschließend auf die Suche nach Friis. Dabei kam sie an Stolts Büro vorbei und vernahm gedämpftes Stimmengemurmel. Sie konnte Erik Viklund heraushören und blieb neugierig stehen. Ob es schon Neuigkeiten gab?
Genau in diesem Augenblick bog eine Frau vom Housekeeping in den Flur und Linn sah sich gezwungen, weiterzugehen. Immerhin hatte sie so viel verstehen können, dass Sina Andersson vor ihrem Tod im Sommerhaus gewesen war. Linn machte sich wieder auf die Suche nach Friis, während in ihrem Kopf ein Plan heranreifte und fand ihn schließlich am Ufer des Sees.
„Leider kein Fotowetter heute“, sagte sie.
„Definitiv nicht. Mit den Innenaufnahmen bin ich fertig und jetzt ist durch die polizeilichen Ermittlungen Stillstand angesagt.“
„Haben Sie noch den Bootsschlüssel?“
Er griff in seine Hosentasche. „Ja. Bei diesem Trubel habe ich ganz vergessen, ihn zurückzugeben.“
„Würden Sie mich nach Verkön bringen?“
Er zog fragend die Brauen hoch. „Was wollen Sie dort?“
„Dem Sommerhaus einen Besuch abstatten.“
„Ausgerechnet heute?“, fragte er erstaunt.
„Genau. Sina Andersson soll sich vor ihrem Tod dort aufgehalten haben.“
„Woher haben Sie diese Information?“
„Ich habe da so meine Quellen“, erwiderte sie mit einem Lächeln. „Sind Sie nun dabei oder nicht?“
Friis zögerte. „Machen wir uns damit nicht verdächtig?“
„Ich möchte meine Recherche fortsetzen. Schließlich sind Sie doch derjenige gewesen, der mich gestern dazu ermutigt hat.“
„Was soll’s“, sagte er schulterzuckend. „Fahren Sie zum Anleger?“
„Aber sicher.“
Nur fünf Minuten später saßen sie im Wagen, fuhren zum Anleger und tauschten den Volvo gegen das Motorboot. Obwohl die Temperaturen gestiegen waren, fegte ein böiger Wind über den See und das Boot schaukelte wie eine Nussschale auf den Wellen. Linn fror erbärmlich, denn sie hatte nur diesen eleganten Mantel im Gepäck, der kaum wärmte. Zitternd schlang sie die Arme um ihren Oberkörper.
Das Boot passierte die zwei kleineren Inseln und Linn konnte es kaum erwarten, das andere Ufer zu erreichen.
„Was für ein Mistwetter“, schimpfte Friis. „Ich muss alle Aufnahmen am Computer nachbearbeiten, was für ein Aufwand.“
„Vielleicht haben wir morgen mehr Glück“, sagte Linn.
„Wohl kaum. Ich reise bereits in den frühen Vormittagsstunden ab, und bis dahin müssen alle Fotos im Kasten sein. Bloß gut, dass ich schon gestern die Aufnahmen vom Außengelände gemacht habe. Bei diesem Aufmarsch von Polizei und Schaulustigen wäre das nicht mehr möglich gewesen.“
„Ja, es ist schon verrückt, dass ausgerechnet zur Eröffnung die Architektin im See ertrinkt“, sagte Linn.
„Wissen Sie vielleicht, ob jemand nachgeholfen hat?“
„Nein, bis jetzt haben die Beamten noch nichts verlauten lassen.“
Friis steuerte das Boot zum Steg, wo er es vertäute. Vom Ufer aus war nur das Schloss zu sehen und Linn spürte die Einsamkeit, die über Verkön lag. Es hing etwas in der Luft, das sie nicht zu benennen vermochte, einer bösen Vorahnung gleich.
„Wissen Sie vielleicht, in welcher Richtung das Sommerhaus liegt?“, fragte sie Friis.
„Wir müssen einmal quer über die Insel, ganz in der Nähe vom Fundort der …“ Er ließ den Satz unvollendet.
„Na dann, worauf warten?“
Genau wie am Abend zuvor folgten sie dem ausgebauten Weg und bogen schließlich ab. Unterwegs begegneten ihnen einige Gäste des Schlosses, die sich auf den Weg gemacht hatten, um ihren Voyeurismus zu befriedigen.
Friis hatte Recht behalten, das Sommerhaus befand sich tatsächlich nur wenige Meter vom Fundort entfernt. Es hatte ein Walmdach, das mit roten Ziegeln eingedeckt war, und die Giebelseiten wiesen Holzverzierungen auf. Hohe Fenster mit weißen Läden verliehen diesem Gebäude einen Hauch von Eleganz.
Zahlreiche Fußspuren führten ringsum das Haus und zu Linns großer Enttäuschung war die Eingangstür versiegelt.
„Tja, das war es dann“, sagte Friis. Er packte seine Kamera aus und schoss ein paar Fotos von der versiegelten Tür. „Die Bilder überlasse ich Ihnen, macht das Ganze ein wenig mysteriöser, ohne reißerisch zu wirken“, sagte er.
„Danke.“ Neugierig sah sie durch die Fenster ins Innere. „Was Sina Andersson wohl hier gewollt hatte?“, fragte sie.
„Wahrscheinlich den Umbau für das kommende Jahr planen“, antwortete er ganz pragmatisch. „Schließlich ist sie eigens dafür von Stolt engagiert worden.“
„Hm, soweit ich weiß, wurde dafür ein anderer Architekt angeworben.“ Linn lief ein paar Schritte in Richtung Wald und blieb dann unvermittelt stehen. „Hören Sie das auch? Ich bin mir sicher, dass nicht weit von hier entfernt ein kleines Kind weint.“
„Das hatten wir doch gestern schon“, antwortete Friis. „Das ist nur der Wind.“
„Das kann nicht sein, denn heute weht er aus der entgegengesetzten Richtung. Physikalisch unmöglich, dass er genau das gleiche Geräusch erzeugt.“
„Ja und?“ Er musterte sie schulterzuckend.
„Wenn wir schon nicht das Sommerhaus untersuchen können, dann will ich wenigstens diesem Kinderweinen auf den Grund gehen.“
„Das ist kein Weinen“, entgegnete Friis inzwischen genervt. „Aber wenn es Sie beruhigt, komme ich mit.“
„Danke, Sie sind mein Held“, erwiderte Linn spöttisch.
Sie lief in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Als sie endlich glaubte, die Stelle erreicht zu haben, versperrten ihr die Bäume die Sicht. Schlagartig verstummte das Weinen, um nach einigen Sekunden erneut zu erklingen. Diesmal war es allerdings direkt hinter ihnen und sie drehte sich erstaunt um die eigene Achse.
„Das gibt es doch nicht, als möchte uns jemand zum Narren halten“, rief sie. „Der Wind kann es jedenfalls nicht gewesen sein.“
„Wahrscheinlich irgendein Phänomen, das sich mit Sicherheit wissenschaftlich erklären lässt. Aber ich bin Fotograf, kein Physiker.“
„Sagte der Mann, der am Appalachen-Trail eine Gestalt gesehen haben will, die sich in Luft aufgelöst hat.“
„Aber das war doch etwas völlig anderes.“ Er klang gekränkt.
„Ganz wie Sie meinen, aber ich möchte trotzdem wissen, was da vor sich geht.“
„Vielleicht eine streunende Katze auf Partnerschaftssuche?“
„Das Liebesgeheul mitten im Winter?“ Linn schüttelte den Kopf. „Wohl eher nicht.“
Sie drehte sich um und lief zurück. Das unheimliche Weinen schien jetzt direkt vom Sommerhaus zu kommen. Aber als sie das Grundstück erreicht hatten, verstummte es endgültig.
„Das war wohl nichts“, sagte Friis. „Dennoch muss ich zugeben, dass es ein wenig seltsam ist.“
„Sage ich doch.“
Sie hörten plötzlich Stimmen und zogen sich in den Wald zurück, um aus sicherer Entfernung das Geschehen beobachten zu können. Es schien sich um einen kleinen Trupp von Kriminaltechnikern zu handeln, die direkt vor dem Eingang in ihre Overalls stiegen.
„Sehen wir zu, dass wir verschwinden“, raunte Friis ihr zu. „Die werden das Sommerhaus garantiert für die nächsten Tage unter Beschlag nehmen.“
„Schade, ich hätte mich im Inneren gern umgesehen“, erwiderte sie. „Ich fühle mich momentan nicht dazu in der Lage, an dem Artikel weiterzuschreiben. Ich kann unmöglich den großzügigen Spa-Bereich und die Vorzüge dieses Hotels anpreisen, während die Architektin tot aus dem Storsjön gefischt wurde.“
„Wir könnten zurückfahren und bei einem Kaffee zumindest die Fotos sichten“, schlug Friis vor.
„Sie haben recht. Es ist kalt und ungemütlich hier draußen, überlassen wir den Beamten das Feld.“
Nach der Überfahrt saßen Linn und Friis an einem der Tische im Speisesaal. Die Stimmung im Hotel war bedrückt und nur wenige Gäste hatten sich zum Mittagessen eingefunden. Ein junger Mann löffelte mit einem mürrischen Gesichtsausdruck seine Suppe und direkt neben ihnen hatte Theodor Syversson mit seinem Enkelsohn Sören Platz genommen.
Linn sah sich derweil die Fotos von Friis auf seinem Laptop an und traf eine erste Auswahl.
„Bei den Außenaufnahmen möchte ich noch die grauen Wolken gegen einen blauen Himmel austauschen, sonst wirkt die Stimmung zu trist“, sagte Friis.
„Stimmt. Können Sie auch die Leute wegretuschieren?“, fragte Linn interessiert. Auf einem der Bilder war der Enkelsohn des Abgeordneten zu sehen. Er spazierte am Ufer entlang in Richtung Bootsanleger.
„Selbstverständlich“, antwortete Friis. „Das hatte ich sowieso vor, weil dieses Foto die Landschaft besonders ausdrucksstark widerspiegelt.“
„Wäre es möglich, mir eine erste Auswahl per Mail zukommen zu lassen? Mit einem Bild vor Augen lässt es sich deutlich besser schreiben.“
„Kein Problem, das werde ich nachher gleich in Angriff nehmen.“
„Haben Sie heute noch etwas vor?“
„Ich will noch ein paar Häuser fotografieren und anschließend meinen Koffer packen. Nach dem Aufstehen geht es sofort los, ein neuer Auftrag wartet.“
„Appalachen-Trail?“, fragte sie.
„Sie können es nicht lassen …“, antwortete er lachend.
„Immerhin, Sie nehmen es mit Humor“, entgegnete sie.
„Was man von Ihnen nicht gerade behaupten kann.“
„Ach ja?“ Sie runzelte die Stirn.
„Ich sage nur Kinderweinen.“
Sie seufzte. „Okay, Sie haben gewonnen. Sehen wir uns morgen noch?“
„Wie wäre es mit einem gemeinsamen Frühstück um acht?“
„Ich bin dabei.“
Sie verabschiedete sich von Friis und zog sich auf ihr Hotelzimmer zurück. Stichpunktartig verfasste sie erste Notizen, war aber weit davon entfernt, einen positiven Artikel über das Hotel fertigzustellen. Stattdessen recherchierte sie im Internet. Es war recht mühsam, etwas über die ehemaligen Besitzer des Bauernhofes herauszufinden. Der Brand wurde nur ein einziges Mal erwähnt. Zwei weitere Artikel fand Linn allerdings interessant, die gesamte Rinderherde des Bruders war vergiftet worden. Zuerst hieß es, die Tiere hätten ungenießbare Pflanzen gefressen, später wurde verunreinigtes Futter erwähnt. Mehr als einmal hatte die Existenz der Höfe auf dem Spiel gestanden, und Linn konnte nicht so recht an einen Zufall glauben. Nachdenklich klopfte sie mit ihrem Kugelschreiber auf die Tischplatte. Eine Entscheidung wurde fällig. Kurzentschlossen wählte sie die Nummer der Redaktion und ließ sich mit ihrem Chef verbinden.
„Lanstidningen Östersund, Kian Bensson am Apparat.“
„Hej, hej, ich muss mit Ihnen dringend über meinen Aufenthalt auf Norderö sprechen“, sagte sie.
„Was ist passiert?“, fragte Bensson intuitiv.
„Die Architektin ist gestern ums Leben gekommen.“
„Und warum sagen Sie mir das erst jetzt?“
„Weil ich mir erst einen groben Überblick verschaffen wollte.“
„Aha. Und was bedeutet das für mich?“
„Ich brauche mehr Zeit für einen anständigen Artikel. Noch besser wäre es allerdings, wenn ich aus einem Artikel gleich zwei machen könnte. In einem die Vorzüge des Hotels anpreisen und im anderen über den mysteriösen Tod der Architektin berichten.“
„Ist dieser Tod denn mysteriös?“
„Ich denke schon. Eine einsame Insel, ein verlassenes Sommerhaus – das bietet viel Stoff für Spekulationen.“
„Ich weiß, dass Sie gut schreiben können, und verlasse mich da voll und ganz auf Ihr Gespür. Drei weitere Tage könnte ich Sie entbehren, aber dafür möchte ich einen ersten Artikel über den Tod der Architektin noch heute Abend auf meinem Schreibtisch.“
„Wird erledigt, Chef.“
Sie legte das Smartphone zur Seite und schrieb alles nieder, was sie bisher herausgefunden hatte. Anschließend gab sie den Namen der Architektin in die Suchmaske ein und wartete gespannt auf die Ergebnisse.
Sina Andersson war eindeutig auf dem besten Weg gewesen, sich einen Namen in der Branche zu machen. Nach dem Auftrag des Hotels hätte ein Großprojekt in Stockholm auf die Architektin gewartet. Sie hatte hervorragende Referenzen und rosige Zukunftsaussichten, nur leider war sie abrupt aus dem Leben gerissen worden.
Konnte es sich um einen bedauerlichen Unfall handeln oder war Sina Andersson jemandem in die Quere gekommen? Fragen über Fragen, die beantwortet werden mussten. Linn hätte sich am liebsten davor gedrückt, die Nähe von Erik Viklund zu suchen. Aber nur so bot sich ihr die Chance, mehr über den Tod der Architektin zu erfahren.
Sie riss sich von ihrer Grübelei los und konzentrierte sich wieder auf den Artikel. Nach eineinhalb Stunden legte sie das Manuskript beiseite und beschloss, zu Abend zu essen. Sie warf einen prüfenden Blick in den Spiegel, durchquerte den Flur und klopfte an die Zimmertür von Friis. Leider öffnete er nicht, er war wohl noch unterwegs. Schade, sie hätte gern mit ihm über den Tod der Architektin gesprochen.
Sie war gerade auf dem Weg in die Lobby, als Stolt ihren Weg kreuzte.
„Schön, dass ich Sie gefunden habe“, sagte er. „Ich müsste dringend etwas mit Ihnen besprechen. Würden Sie mich bitte in mein Büro begleiten?“
„Kein Problem“, antwortete sie und folgte ihm.
„Nehmen Sie doch Platz.“ Er deutete auf die zwei bequemen Sessel vor dem Panoramafenster. „Es geht um den Artikel, den Sie schreiben wollen.“
„Das habe ich mir schon gedacht“, erwiderte sie.
„Es würde mir sehr entgegenkommen, wenn Sie den Mord an Sina Andersson nicht erwähnen würden. Schlechte Presse kann ich im Moment wirklich nicht gebrauchen.“ Er atmete tief durch.
„Haben Sie gerade Mord gesagt?“
„Oh, das ist mir wohl so herausgerutscht.“ Er lächelte entschuldigend.
„Kein Problem. Kennen Sie die Todesursache?“
„Nein. Ich habe es nur zufällig aufgeschnappt und hoffe, dass Sie es nicht in Ihrem Artikel verwenden.“
„Um Sie zu beruhigen: Ich werde den Artikel über das Hotel neutral verfassen und nichts von den Vorkommnissen erwähnen.“
Stolt stieß erleichtert die Luft aus. „Vielen Dank.“
„Allerdings können Sie mir nicht verwehren, über den Tod von Sina Andersson zu berichten. Der Name Ihres Hotels wird nur als Quelle angegeben.“
„Muss das wirklich sein?“, fragte Stolt gequält.
„Aber sicher, schließlich ist das mein Beruf“, antwortete sie mit einem charmanten Lächeln.
„Bitte versprechen Sie mir, dass kein reißerischer Artikel daraus wird.“
„Keine Sorge, ich werde mit dem nötigen Anstand und Respekt an die Sache herangehen.“
Stolt wirkte sehr skeptisch. „Alles, was ich je besessen habe, steckt in diesem Hotel. Wenn die Gäste ausbleiben …“ Er hielt resigniert inne.
„Die Presse wird so oder so darüber berichten, das können Sie nicht verhindern.“
„Das wird das Hotel nicht überleben“, sagte er leise und stand auf. Er begleitete sie bis zur Tür und entfernte sich mit schnellen Schritten.
Linn machte sich erneut auf die Suche nach Friis und klopfte wiederholt an seine Zimmertür, um ihm von den Neuigkeiten zu berichten. Er schien noch immer unterwegs zu sein. Schließlich ging sie zur Rezeption, um dort nachzufragen.
„Entschuldigen Sie bitte, wissen Sie vielleicht, wo sich Hendrik Friis gerade aufhält?“, fragte sie die attraktive Rezeptionistin, die auch heute wieder ihren Dienst versah.
„Ich habe ihn noch nicht gesehen, er müsste sich noch im Haus aufhalten“, antwortete die junge Frau.
„Vielen Dank, ich werde einfach weiter nach ihm suchen.“
Linn drehte sich um und lief nach unten in den Wellnessbereich. Aber auch hier Fehlanzeige. Enttäuscht wandte sie sich ab, um in ihr Zimmer zurückzukehren. Sie war gerade um die Ecke des Flures gebogen, als sie Stolt im Zimmer der Architektin verschwinden sah. Was hatte er vor? War das Hotelzimmer von der Polizei überhaupt freigegeben worden?
Sie warf einen raschen Blick auf das Siegel. Stolt hatte sich demnach unerlaubterweise Zutritt verschafft. Aber warum? Kurzentschlossen verbarg sie sich in einer Nische und wartete darauf, dass er das Zimmer wieder verlassen würde.
Nur wenige Minuten später war es so weit. Stolt betrat den Flur und zog hastig die Tür hinter sich zu. Linn folgte ihm unauffällig. Auf dem Weg nach unten stieß er mit einem Gast zusammen und entschuldigte sich zerstreut. Man merkte ihm deutlich an, dass ihm die angespannte Situation zu schaffen machte.
Erst im letzten Moment bemerkte Linn die Schlüsselkarte, die auf dem Teppich lag. Stolt musste sie beim Zusammenstoß verloren haben. Hastig bückte sie sich und ließ die Karte in ihrer Tasche verschwinden. Sie spürte die Hitze in ihren Wangen, als sie in ihr Zimmer eilte. Mit dem Rücken lehnte sie sich an die geschlossene Tür und atmete tief durch.
Sollte sie es wagen oder lieber lassen? Noch hielt sich die Polizei im Haus auf und die Gefahr war groß, dass sie das zerstörte Siegel entdecken könnten. Nervös schritt sie auf und ab, während sie darüber nachdachte, ob sie die Schlüsselkarte nicht doch besser zurückgeben sollte. Sie beschloss, es dem Schicksal zu überlassen. Falls am Abend ein neues Siegel an der Tür von Sina Anderssons Zimmer angebracht worden war, würde sie die Schlüsselkarte einfach an der Rezeption abgeben.
Sie öffnete den Laptop, um am Artikel weiterzuarbeiten, aber ihre Gedanken drehten sich unaufhörlich um den vermeintlichen Mord an Sina Andersson. Es machte sie fast verrückt, mit niemandem darüber reden zu können. Henning steckte auf der Messe fest und Friis war nicht aufzufinden. Also zog sie sich kurzerhand ihren Mantel über und spazierte am Ufer des Storsjön entlang. Die frische Luft tat ihr gut und half dabei, das Chaos hinter ihrer Stirn zu ordnen.
Die Temperaturen waren noch einmal deutlich in den Minusbereich gesunken und Linn schlug fröstelnd den Mantelkragen hoch. Der Wind fegte ruppig über den See und wirbelte den Schnee am Ufer auf. Trotz des unfreundlichen Wetters kehrte sie erst nach einer Stunde ins Hotel zurück und klopfte wiederholt an die Tür des Fotografen. Vergebens.
Auf dem Weg zu ihrem Zimmer checkte sie nochmals das Siegel. Es war noch nicht ersetzt worden. Jetzt komm schon, riskier es, drängte die Stimme in ihrem Hinterkopf. Linn öffnete die Tür zu ihrem Zimmer und warf den Mantel aufs Bett. Dann zog sie sich frische Kleidung über, band die Haare zu einem Zopf und griff nach der Schlüsselkarte, dem Smartphone und den Lederhandschuhen. Jetzt wurde es ernst.
Vorsichtig spähte sie in den Flur und näherte sich so lautlos wie möglich dem Zimmer von Sina Andersson. Ihre Hände zitterten leicht, als sie mit der Schlüsselkarte die Tür öffnete.
Ruhig, Linn, ganz ruhig.
Suchend schaute sie sich um. Neben etlichen Papprollen, in denen die Architektin die Zeichnungen aufbewahrte, stand auch das Modell eines Einkaufszentrums in detailgetreuer Miniaturausgabe auf dem Tisch. Aber darauf hatte es Linn nicht abgesehen.
Nacheinander öffnete sie die Schubladen der Kommode und widmete den persönlichen Dingen ihre gesamte Aufmerksamkeit. Bingo. Hastig nahm sie den schwarzen Terminkalender heraus und setzte sich an den Schreibtisch. Sie klappte ihn auf und fotografierte die wichtigsten Einträge ab. Der Schweiß stand ihr auf der Stirn und bei jedem noch so kleinen Geräusch auf dem Flur hielt sie den Atem an. Angestrengt lauschte sie den Schritten, die sich meist rasch wieder entfernten.
Sorgsam legte Linn den Terminkalender zurück in die Schublade und durchsuchte die persönlichen Sachen von Sina Andersson. Dabei ließ sie auch den Kosmetikkoffer nicht außer Acht und wurde tatsächlich fündig. In einem etwas schwer zugänglichen Fach entdeckte sie einen Brief, der anonym an Sina Andersson adressiert war. Auch dieses Schriftstück fotografierte sie ab.
Dann hörte sie leises Stimmengemurmel und sie erstarrte in ihren Bewegungen. Mit fliegenden Fingern legte sie den Brief zurück an seinen Platz, löschte das Licht und sah sich suchend nach einer Fluchtmöglichkeit um. Der Balkon!
So lautlos wie möglich schob sie die Glastür auf und schlüpfte nach draußen. Hastig schloss sie die Tür und schaute nach unten. Sie hatte die Höhe deutlich unterschätzt. Trotzdem schwang sie sich über die Brüstung des Geländers. Genau im richtigen Moment, denn nur Sekunden später ging das Licht im Zimmer der Architektin an.
Panisch klammerte sich Linn an der Regenrinne fest, die an einem Holzpfeiler nach unten führte, und mit einem Mal ging alles ganz schnell. Sie verlor den Halt und rutschte nach unten. Der Aufprall war hart und sie unterdrückte einen Schmerzlaut. Dann rappelte sie sich auf und klopfte sich den Schnee von der Hose. Genau in diesem Moment bog Theodor Syversson um die Ecke und musterte sie misstrauisch.
„Sind Sie vom Himmel gefallen?“, fragte er.
„Nein, ich habe meine Kette verloren“, log sie.
„Ausgerechnet unter diesem Balkon?“