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Ein Leben ohne Karte Wer mit vierzehn zu den Coolen gehört, der hat definitiv gewonnen. Ich heiße Johan und gehöre nicht zu den Coolen. Als Johan feststellt, dass sein bester Freund jetzt viel häufiger mit einem anderen Jungen abhängt, scheint ihm die Situation zu entgleiten. Täglich wird er in der Schule und im Bus herumgeschubst und gemobbt. Und er hat keine Idee, wie er das ändern kann. Daher freut er sich total auf den Urlaub in den Bergen. Dort begegnet er Paul, den er aus den letzten Jahren schon kennt, und sieht sich plötzlich auch von ihm mit blöden Sprüchen und anzüglichen Bemerkungen konfrontiert. Dabei wird ihm klar, dass er gar nicht mehr genau weiß, ob er lieber Jungs oder Mädchen küssen will. Dass er nach einem tödlichen Erdrutsch nun auch noch das Zimmer mit Paul teilen muss, macht die Situation nicht besser. Den Paul geht mit seiner Sexualität viel offener um. Außerdem hat Johan die Vermutung, dass der Erdrutsch kein Unfall war. Er hat doch die dunkle Gestalt am Berghang gesehen, bevor die Pension verschüttet und die Journalistin Elsbeth getötet wurde. Was ist da passiert? Johan macht sich auf die Suche nach den Hintergründen des Unglücks uns stößt dabei auf eine dunkle Vergangenheit. Außerdem will er herausfinden, wie das nun mit dem Küssen ist. Jungs oder Mädchen? Verbrechen oder Unglück? Johan muss die Landkarten seines Lebens neu zeichnen und herausfinden, wer er ist und was er will. Das sagen die LeserInnen "Ich habe mitgefiebert, hatte Schiss, hab geweint vor Trauer und Glück, hab gelacht und war ganz ehrfürchtig vor der sexuellen und persönlichen Entdeckungsreise." "Ich habe lange nicht mehr so mitgefiebert bei einem Buch – und das sowohl auf der Krimiplot-Ebene, wo sich nach und nach der Abgrund der Vergangenheit auftut, als auch – und vor allem! – auf der Ebene der persönlichen Entwicklung des Helden, der behutsam herausfindet, wer er ist." "Sehr einfühlsam geschrieben, gar nicht langweilig, realistische Figuren, Sexszenen weder peinlich noch lächerlich." "Eine tolle Geschichte, hätte ich gern damals gelesen. Dafür jetzt und nicht zu spät."
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Freundschaft, Verbrechen und wie man herausfindet, wer man ist
Stephan Martin Meyer
Roman
Die Karte ist nicht das Gebiet
Prolog
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Vierundzwanzigstes Kapitel
Fünfundzwanzigstes Kapitel
Sechsundzwanzigstes Kapitel
Siebenundzwanzigstes Kapitel
Achtundzwanzigstes Kapitel
Neunundzwanzigtes Kapitel
Dreißigstes Kapitel
Einunddreißigstes Kapitel
Zweiunddreißigstes Kapitel
Dreiunddreißigstes Kapitel
Vierunddreißigstes Kapitel
Fünfunddreißigstes Kapitel
Sechsunddreißigstes Kapitel
Siebenunddreißigstes Kapitel
Achtunddreißigstes Kapitel
Neununddreißigstes Kapitel
Vierzigstes Kapitel
Einundvierzigstes Kapitel
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Der Autor
Impressum
Ein dumpfer Knall erschüttert den Berg. Nicht laut, aber deutlich zu spüren. Ein Stoß, gefolgt von einer Druckwelle, die in den Ohren schmerzt. Der Hang löst sich in Zeitlupe. Steine, Erde und Felsen fließen wie zähes Wasser den Berg hinab. Die Masse nimmt alles mit, was ihr in die Quere kommt. Der Boden ist ausgetrocknet. Die Erde zerbröselt bei jeder Berührung, sie wird durch nichts aufgehalten. Die wenigen Bäume bieten keinen Widerstand. Die Abwärtsbewegung wird schneller, die Gewalt reißender. Ein Grollen, das erbarmungslos anschwillt. Der Untergrund bebt. Die gurgelnde Masse aus Geröll, Erde und Baumstämmen wälzt sich den Berg hinab. Sie bewegt sich direkt auf den Hof zu. Einzelne Steine und Felsbrocken treffen bereits das Hausdach. Sie durchschlagen ein Fenster, zwei, drei. Dann prallen die Geröllmassen mit Wucht auf die Gebäude. Sie reißen zuerst die verfallene Hütte nieder. Als Nächstes gibt auch das Hauptgebäude nach. Es rutscht mit einer leichten Linksdrehung den Berg abwärts und stürzt schließlich in sich zusammen. Das Getöse ist inzwischen ohrenbetäubend. Etwa hundert Meter rutschen die Trümmer den Hang hinab. Dann kommt der Strom zum Stehen. Er hat seinen Zweck erfüllt. Wo sich vorher der Hof und ein Parkplatz mit Autos befunden haben, liegen Schutt und Geröll in einer unförmigen Masse. Eine gewaltige Staubwolke schwebt über dem Hang. Unweit der Verwüstung sind drei Gestalten zu reglosen Umrissen erstarrt. Einen unendlichen Moment lang ist es gespenstisch still.
Wer mit vierzehn zu den Coolen gehört, der hat definitiv gewonnen. Ich heiße Johan und gehöre nicht zu den Coolen.
Ich sitze in Bio mit Nils ganz hinten rechts in der Klasse, mit dem Rücken zum milchigen Fenster, das sich nur einen Spalt weit kippen lässt. Über die Hälfte meines Lebens habe ich mit Nils verbracht. Mit ihm habe ich schon im Kindergarten gespielt. Wir waren quasi unzertrennlich, auch wenn Nils bis letzten Sommer einen Jahrgang über mir war. Jetzt spielen wir nicht mehr.
Unsere Schule im Kölner Westen wurde in den Siebzigerjahren gebaut. Die Fassaden bestehen aus grau verfärbtem Beton, die trüben Fensterscheiben sind nie ausgetauscht worden und die Böden mit einem ekeligen Teppich ausgelegt, der sich schon lange nicht mehr vernünftig reinigen lässt. Der Winter ist fast vorbei, der Biologieunterricht bei Mr. Fridge leider noch nicht. Mr. Fridge heißt eigentlich Herr Lau. Aber wenn er den Raum betritt, scheint die Temperatur um zehn Grad zu sinken. Der Kühlschrank-Name ist deshalb einfach an ihm hängen geblieben.
»Bringst du deine Boxen zu meiner Party mit?«, flüstert Nils. Doch Mr. Fridge weiß genau, auf wen er achten muss.
»Nils, was gibt es denn da zu tuscheln? Wenn du dich schon die ganze Zeit mit anderen Dingen beschäftigst, dann halt bitte nicht auch noch Johan vom Unterricht ab. Der macht wenigstens mit.«
Was für eine bescheuerte Bemerkung. Ich starre angestrengt auf den Block vor mir und male den Raumplan unserer Schule darauf. Ist so ein Tick von mir. Pläne zeichnen. Fluchtpläne.
»Ich hab doch gar nichts gemacht! Ich hab Johan nur gefragt, wie die Befruchtung der Eizellen beim Geschlechtsakt funktioniert.«
Ein paar Idioten feixen bei dem Wort Geschlechtsakt natürlich direkt los. Nils grinst.
»Und was hat er dir geantwortet?«
»Die Antwort hab ich noch nicht bekommen, weil Sie uns unterbrochen haben.« Nils merkt gar nicht, wie er mich mit seiner Notlüge mal wieder total reinreitet. Denn natürlich steigt der blöde Mr. Fridge darauf ein.
»Johan, erklär Nils doch bitte, wie die Befruchtung abläuft. Wenigstens auf dich kann ich mich verlassen.«
Mein Gesicht wird heiß. Das bedeutet, dass ich knallrot werde. Am liebsten würde ich im Boden versinken. Befruchtung, na klar. Aber noch schlimmer: Jetzt stehe ich wieder wie der brave Streber da. Ich beschreibe also stammelnd die Vorgänge bei der Befruchtung, während ich aus den Augenwinkeln sehe, wie sich die anderen über mich lustig machen. Vor allem Linus, mein größter Feind, grinst breit hinter Mr. Fridges Rücken und zeigt anzügliche Gesten. Superwitzig.
Als es klingelt, drückt sich Nils gelangweilt von seinem Stuhl hoch. Der Lärmpegel im Flur steigt rasant und ich muss dringend pinkeln.
»Also, was ist mit den Boxen?«, fragt Nils.
»Der Typ ist ein Idiot!«, sage ich und meine Mr. Fridge. »Ich verstehe nicht, warum der uns immer gegeneinander ausspielt.«
»Ach, vergiss es. Kannst ja nichts dafür. Die Boxen?«
»Du musst echt aufpassen. Sonst verpasst er dir eine Fünf und du bleibst im Sommer wieder hängen.«
»Ist doch jetzt egal. Der Sommer ist weit weg. Nur die Party zählt! Die wird echt krass.«
»Klar bringe ich die Boxen mit. Ehrensache.«
»Cool, Mann. Ich geh raus. Bis gleich.«
Weg ist er. Meine Blase erinnert mich gnadenlos daran, dass ich dringend aufs Klo muss. Mist. Ich renne zum Ende des Flurs, hole tief Luft, ziehe die Tür zu den Toiletten auf und tauche in den stinkenden Raum ein. Vier Jungs drehen sich um und atmen erleichtert auf, als sie mich erkennen. Linus ist einer von ihnen. Das passt ja perfekt.
»Ach nee, der kleine Johan.« Ich ignoriere den Kommentar und öffne eine der vollgeschmierten Klokabinen, schlüpfe schnell rein und schließe die Tür hinter mir. Abschließen kann ich logischerweise nicht, die Schlösser sind schon ewig kaputt.
»Hast deinen Nils ja vorhin mal wieder voll abgesägt. Wenn ich Nils wär, dann würd’ ich mir das von so einem kleinen Schleimer nicht gefallen lassen.«
Ich bin fertig, ziehe den Reißverschluss meiner Jeans hoch und drücke die Türklinke runter. Die Tür lässt sich nicht öffnen. Einer der anderen lehnt von außen dagegen. Ich höre Linus lachen.
Wie sehr ich mich nach den Ferien sehne. Zwei Wochen lang Ruhe. Zwei Wochen lang ohne Angst aufs Klo gehen, wann immer ich will.
»Bist du eigentlich in Nils verknallt?«, fragt Linus durch die Tür. »Was macht ihr denn so, wenn ihr euch trefft? Wichst ihr zusammen? Oder will er nicht?«
Die Jungs vor der Tür brechen in schallendes Gelächter aus. Linus hat ja keine Ahnung, was in mir los ist. Seit Weihnachten hängt Nils ständig mit ihm ab. Und seit Nils seine Geburtstagsparty mit Linus zusammen plant, sehen wir uns fast gar nicht mehr. Ich lehne mich an die Klowand. Jeder Zentimeter ist mit Sprüchen und Pimmelbildern vollgeschmiert. Irgendwo habe ich auch mal meinen Namen entdeckt. Ich versuche, mir einzureden, dass mir das egal ist. Ich kann es ja sowieso nicht ändern.
»Was machst du eigentlich da drin?« Die Tür öffnet sich einen Spaltbreit. Ich überlege kurz, ob ich die Gelegenheit nutzen soll, um meinen Fuß in den Zwischenraum zu schieben, lasse es dann aber bleiben.
»Sollen wir dich wieder rauslassen?«
Die Frage ist nicht ernst gemeint. Das nennt man eine rhetorische Frage, auch wenn Linus bestimmt nicht weiß, was das ist. Ich blicke einfach an die gegenüberliegende Wand und zähle die Sekunden. Meditation auf dem Schulklo. Nur noch ein paar Tage, dann fahre ich mit meinen Eltern weg. Nach Südtirol. Die Tür geht noch ein paar Zentimeter weiter auf. Acht Augen sehen mich erwartungsvoll an. Und ehrlich, ich habe keine Ahnung, was genau sie erwarten.
»Der sieht ja aus, als hätt’ er gar keinen Schiss.«
Linus tritt langsam in die enge Kabine. Er riecht unangenehm nach Rauch, Chips und Cola. Mir wird von dem Geruch übel. Während ich mich bemühe, möglichst flach zu atmen, schiebt er mich in die Ecke. Mein Blick verharrt auf einem Punkt zwischen Linus’ Augen.
»Na, Kleiner, machste dich über uns lustig?«
Ich kann nichts tun, außer darauf zu warten, dass die Pausenklingel Mitleid mit mir hat. Von ganz tief unten aus meinem Bauch steigt das Gefühl der Einsamkeit in mir hoch. Linus nimmt mir nicht nur meinen besten Freund weg, er quält mich auch bei jeder Gelegenheit, die sich ihm bietet. Ich konzentriere mich auf meinen Atem, damit ich nicht anfange zu heulen. Linus presst seine nach Zigaretten stinkende Hand an meine Wange. Meinen Kopf drückt er dabei an die dreckige Klowand. Unter mir befindet sich die Kloschüssel und ich schaffe es gerade so, aufrecht stehen zu bleiben. Die Übelkeit steigt mir den Hals hoch. Ich bemühe mich, nicht zu kotzen.
»Du solltest eigentlich ein bisschen mehr Angst vor mir haben. Ich kann nämlich auch ganz anders.« Linus verstärkt den Druck. Mit der anderen Hand greift er mir in die Eier und drückt zu. »Kleiner Schisser.«
Ein stechender Schmerz durchzuckt mich. Ich kämpfe gegen die Tränen. Bloß nicht heulen! Das macht alles nur noch jämmerlicher. Ich habe keine Angst vor Linus, sondern bin einfach unfassbar wütend. Wütend auf mich selbst, weil ich mich nicht gegen dieses Arschloch wehre. Doch das würde es nur schlimmer machen. Ich schlucke meine Wut runter. Hinter Linus sehe ich verschwommen die Gesichter der anderen, die mich hämisch angrinsen.
Zum Glück öffnet sich in diesem Moment die Tür zum Flur und jemand kommt rein. Abrupt lässt Linus mich los und zieht sich ein wenig zurück. Zum ersten Mal gucke ich ihm jetzt direkt in die Augen und konzentriere mich auf die Pupillen. Sie wirken wie bei einem Raubtier, zumindest bilde ich mir das ein. Noch einmal schnellt Linus’ Hand vor und stoppt kurz vor meinem Magen. Ich zucke zusammen, was Linus mit einem zufriedenen Lachen quittiert. Dann verziehen sie sich endlich. Ich lehne an der Klowand und warte, bis ich sicher bin, dass sie weg sind.
Erst dann wage ich es wieder, richtig durchzuatmen. Ich kann nicht verhindern, dass ich dabei klinge, wie jemand, der ertrinkt. Die Übelkeit verzieht sich nur langsam. Ich stemme mich mühsam von der Wand ab, streiche meine Klamotten glatt und verlasse die enge, stinkende Kabine. Vor mir steht ein Schüler aus der Zehnten. Schnell dränge ich mich an ihm vorbei und lasse kaltes Wasser über meine Handgelenke laufen. Vielleicht sollte ich heute einfach nicht mehr in den Unterricht zurückgehen. Der Zehntklässler lehnt sich neben dem Waschbecken an die Wand. Er soll mich bloß in Ruhe lassen. Wie heißt er noch? Tom oder Tim oder so? Einer der Loser. So wie ich.
»Ist alles in Ordnung?«, fragt er.
»Alles bestens.«
»Haben die dich in die Zange genommen?«
»Was geht’s dich an?«
»Bleib mal cool. Ich tue dir nichts. Ich heiße übrigens Tim.«
Tim also. Er lächelt.
»Das war nicht das erste Mal, oder?«
Ich schüttele den Kopf und merke, wie mir die Tränen kommen. Jetzt bitte nicht heulen, denke ich und reiße mich irgendwie zusammen.
»Passiert ständig.«
»Irgendwann musst du dich wehren.«
»Wozu?«
»Um denen klarzumachen, dass sie Idioten sind.«
»Ja, sicher. Als würden sie das jemals kapieren.«
Tim nickt nachdenklich und sagt: »Dann eben, um dir selbst klarzumachen, dass du besser bist.«
»Ich bin nicht besser.«
»Gehst du mit anderen so um, wie die dich behandeln?«
Ich schüttele wieder den Kopf.
»Siehst du: Dann bist du schon besser als die.«
»Und was genau soll ich deiner Meinung nach tun? Zuschlagen?«
Tim lacht. »Nein. Du bist ja nicht Karate Kid, oder? Hör mal, ich habe den ganzen Mist auch schon erlebt. Ich erzähle dir vielleicht demnächst mal, wie ich das gemacht habe. Okay?«
Ich nicke unsicher. Was soll mir das bringen? Ein Gespräch von Loser zu Loser. Er gibt mir seine Handynummer und ich gehe zurück in die Klasse.
Ein paar Tage später ist es so weit: Nils’ Party steht unvermeidlich vor der Tür. Seit meinem vierten Lebensjahr war ich bei jedem seiner Geburtstage. Bisher habe ich mich immer darauf gefreut. Heute habe ich zum ersten Mal keine Lust dazu. Ich könnte einfach zu Hause bleiben. Aber ich habe Nils ja versprochen, die Boxen für die Musik mitzubringen. Ich stecke sie vorsichtig in meinen Rucksack und hoffe, dass Papa das nicht sieht. Der stellt sich mit solchen Sachen manchmal total an und würde mir einen Vortrag darüber halten, dass die Boxen zu wertvoll für die Party sind. Ich verabschiede mich schnell und fahre los. Mit dem Fahrrad sind es nur ein paar Minuten.
Bei Nils treffe ich als Erstes auf Linus, als ich den Partykeller durch die Tür im Hinterhof betrete. Na toll. Er schöpft Wackelpudding aus einer großen Schüssel in kleine Plastikschälchen und feixt, als er mich sieht. Nils verteilt Chips auf kleine Teller.
»Ah, endlich, die Boxen!«, ruft er. »Stell sie am besten hinter der Theke ab. Da kommt am wenigsten dran.«
Ich lege die Boxen ins Regal und schiebe meine Tasche unter die Theke. Linus drängelt sich an mir vorbei, holt drei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank und reicht mir eine. Ich schüttele den Kopf.
»Ich nehme mir gleich ‘ne Cola.«
»Stell dich nicht so an. Nils hat heute Geburtstag.« Er macht die Flasche auf und hält sie mir unter die Nase. »Nur ein Bier, komm schon.«
»Ich trinke keinen Alkohol.«
»Och, haben deine Eltern das verboten?«
»Ich will einfach nicht.«
»Ich vergesse immer wieder, dass du’n Weichei bist.« Kopfschüttelnd stellt er eine Flasche zurück. »Was findet Nils bloß an dir?«, raunt er mir zu.
Ich gieße mir eine Cola ein. Linus wirft Nils eine der Flaschen zu und beide zücken ihre Feuerzeuge, um die Flaschen mit einem satten Zischen zu öffnen. Sie stoßen an und trinken. Ich schließe die Boxen an den Laptop an, fahre ihn hoch und kurz darauf dröhnt die Musik durch den Raum.
Die meisten Gäste von Nils, die einer nach dem anderen hereinkommen, sind aus unserer Klasse und dem Viertel. Aber es sind auch ein paar Jungs vom Fußball da, die ich nur vom Sehen kenne.
Nach einer Stunde verteilt Linus die erste Runde Wackelpudding. Als er zu mir kommt, stockt er kurz, dann drückt er mir grinsend ein Schälchen in die Hand. Ich rieche den hochprozentigen Alkohol darin sofort und stelle den Pudding neben mich auf die Theke.
Unter lautem Jubel wird der Pudding verschlungen. Der Raum ist nicht besonders groß. Eine Seitenwand wird von der Theke eingenommen, hinter der sich fünf Mädchen kreischend über die Musik streiten. Zwei Jungs aus Nils’ Fußballverein sitzen auf Barhockern davor und versuchen, sie auf sich aufmerksam zu machen. Jeder zieht hier eine Show für die anderen ab – so kommt mir der Abend vor. Auf der Theke drängen sich mittlerweile leere Bierflaschen. Ganz am Ende, direkt an der Wand, sitze ich auf einem Hocker, langweile mich zu Tode und versuche zu lächeln, wenn ich spüre, dass mich jemand ansieht.
Ich trinke keinen Alkohol. Ich rauche auch nicht. Und ich habe noch nie ein Mädchen geküsst. In den Augen der anderen macht mich das wohl zum größten Langweiler der Schule. Und so fühle ich mich auch. Ich könnte einfach abhauen, aber irgendjemand wird das bestimmt mitkriegen. Ich will nicht mehr ausgelacht werden. Ich greife nach dem Schälchen neben mir. Vielleicht muss ich mich einfach nur zwingen, so zu sein wie die anderen Jungs. Ich rieche an dem Pudding und schüttle mich. Ekelig. Ich stelle ihn schnell zurück.
Der graue Estrich im Partyraum hat im Laufe vieler Feiern ein fleckiges Muster angenommen. Gegenüber der Theke führt eine Tür zum Flur hinaus. Rechts kommt man direkt auf den kleinen Hof. Nach links führt der Flur tiefer ins Haus hinein. Im Kopf zeichne ich einen Plan bis in Nils’ altes Kinderzimmer. Bis zum Klo am Ende des Flurs dürfen wir gehen, nicht weiter. Dort hängt auch das Schild Pizza legen 10 Euro. Warum das alle ermutigt, noch mehr zu trinken, verstehe ich nicht. Was ist so toll daran, zu kotzen?
Linus torkelt über die Tanzfläche und erzählt lautstark, dass er gerade einem Mädchen an die Brüste gefasst hat. Seine Freunde lachen und das Mädchen, um das es geht, läuft heulend nach draußen.
Nils wird immer betrunkener. Er ist scheinbar der perfekte Gastgeber. Mich allerdings ignoriert er komplett. Hin und wieder wird die Tanzfläche mit lautem Geschrei gestürmt. Heimlich linse ich auf mein Handy, aber es ist noch viel zu früh. Erst zehn Uhr. Um zehn Uhr geht noch keiner nach Hause. Also bleibe ich auch. Erst zwei Stunden später beschließe ich, dass es reicht.
Ich schnappe mir meine Jacke und schlendere betont gelassen nach draußen. Es interessiert keinen, ob ich gehe oder bleibe. Im Hinterhof kotzt sich Nils gerade die Seele aus dem Leib. Er lehnt mit blassem Gesicht an der Hauswand und würgt in regelmäßigen Abständen eine Mischung aus Bier und Magensäure raus. Ich ziehe meine Jacke an und verschwinde um die Ecke.
Meine Eltern sitzen noch im Wohnzimmer, als ich leise die Wohnungstür hinter mir ins Schloss ziehe. Mein Vater fragt, wie es war. Meine Mutter rückt ein wenig zur Seite, damit Platz für mich auf dem Sofa ist. Aber ich will nicht mit meinen Eltern reden. Ich will nicht erzählen, dass die Party scheiße war. Ich will nicht darüber nachdenken, dass ich anders bin als die anderen. Und vor allem will ich nicht darüber reden, dass ich gerade meinen besten Freund verliere und nicht weiß, was ich dagegen tun kann. Ich will einfach nur ins Bett und mir die Decke über den Kopf ziehen. Ich will diesen Abend vergessen, an dem ich mir mal wieder selbst bewiesen habe, nicht dazuzugehören.
Natürlich schlafe ich nicht, sondern liege wach und starre an die Zimmerdecke. Irgendwie verstehe ich die Welt um mich herum nicht mehr. Was findet Nils bloß an Linus? Der Typ ist doch ein Angeber. Ein Idiot. Sieht Nils das nicht? Aber Nils sieht vieles nicht mehr. Nils brauchte mich heute nur, damit ich die Boxen mitbringe. Für die Party war ich egal. Kein Wort hat er mit mir gesprochen. Und das ist schlimmer als das Saufen und Kotzen. Er lässt mich einfach komplett im Stich.
Ferien. Endlich. Nach der Schule habe ich mich in der Bibliothek mit Büchern für den Urlaub eingedeckt. Morgen fahre ich mit meinen Eltern wie immer in den Osterferien in diese kleine Pension oben am Berg, weit weg von allem. Tagsüber werden wir wandern. Letztes Jahr hat Nils noch gefragt, ob er nicht mal mitkommen kann. In diesem Jahr findet er Wandern plötzlich zum Gähnen langweilig.
Schwer beladen mit der Büchertasche, meinem Rucksack und dem Zeichenblock steige ich in den Bus, gehe nach hinten durch und setze mich auf eine Bank direkt ans Fenster. Meine Taschen stelle ich neben mir auf den Sitz, meine Jacke knülle ich daneben. Dann starre ich nach draußen und denke über die kommenden zwei Wochen nach. Durch die Wolken blitzen ein paar verirrte Sonnenstrahlen.
Zu spät bemerke ich, dass Linus mit einem Freund den Bus entert und zielsicher auf mich zukommt. Bevor ich irgendetwas tun kann, schmeißt er schon meine Taschen auf den Boden und setzt sich neben mich.
»Ist hier noch frei?«, fragt er scheinheilig. »Das ist Johan, das Schoßhündchen von Nils«, sagt er zu seinem Kumpel, der noch im Gang steht, und bellt mir ein paarmal direkt ins Ohr.
Zwei Frauen schauen sich kurz um, wenden dann aber schnell wieder die Köpfe ab.
»Gib mir meine Taschen«, fordere ich Linus auf.
»Oh, er will seine Taschen haben. Dann hol sie dir selbst. Ich bin doch nicht dein Sklave.«
Ich versuche aufzustehen, werde aber sofort von Linus zurückgestoßen. Dann rutscht er noch näher an mich heran und sagt zu seinem Freund: »Setz dich, hier ist genug Platz.«
Zu dritt auf der schmalen Bank. Die beiden quetschen mich ans Fenster. Wieder taucht die Wut in mir nach oben. Wenn Nils dabei wäre, würde Linus mich nicht so quälen. Oder würde er mitmachen? Allein dieser Gedanke macht mich total fertig. Ich könnte losheulen, aber das wäre mein Tod.
Ich wende den Kopf ab und blicke aus dem Fenster nach draußen auf die Straße. Der Himmel hat sich mittlerweile komplett schwarz verfärbt, erste Windböen rütteln an den Bäumen. Staub wirbelt an einer Straßenecke auf. Ich stelle mir vor, wie ich mich eines Tages an Linus räche. Qualvoll wird es sein. Linus zieht meine Jacke von meinem Schoß. Sie rutscht auf den Boden. Der Zeichenblock liegt schon irgendwo unter unseren Füßen. Ich will das alles nicht mehr. Warum lässt mich dieser Idiot nicht einfach in Ruhe? Die ersten Regentropfen schlagen gegen die Fensterscheibe. In langen Streifen laufen sie schräg an der Scheibe hinab, bevor sie sich am unteren Rand zu einem kleinen Bach sammeln, der durch den Fahrtwind nach hinten getrieben wird. Der Bus fährt in eine scharfe Kurve und drückt uns auf die rechte Seite. Rechts, das ist die Seite, auf der ich sitze. Ich resigniere. Ich kenne das schon. Alles, was ich jetzt tue, ist falsch. Also mache ich einfach nichts. Die beiden Vollidioten werden in der Kurve gegen mich gedrückt. Und sie machen sich einen Spaß daraus, mich noch mehr ans Fenster zu pressen. Ich klemme fest. Ich kann nichts tun. Nichts. Irgendwann werden die beiden aussteigen. Irgendwann werde ich ihnen langweilig. Linus verstärkt den Druck weiter und wird dabei von seinem Freund unterstützt. Die beiden prusten vor Lachen. Am liebsten würde ich schreien. Aber ich traue mich nicht. Linus zieht sein Kaugummi aus dem Mund und klebt es auf meine Jeans.
»Du bist da ganz schmutzig«, meint er verächtlich. Er sagt zu seinem Freund: »Du musst wissen, dass Johan ein ganz Ordentlicher ist. Er macht immer alles richtig.« Er wendet sich wieder mir zu. Ich spüre die Tränen in meinen Augen. Scheiße. »Ach, gleich heult der Kleine. Biste traurig?« Er streicht mir über den Kopf. Es ist zum Ausrasten, aber ich raste nicht aus. Ich zeichne im Kopf einen Plan der Straßen bis zu meiner Haltestelle.
Dann kommt die lange Rechtskurve, die am Friedhof und der kleinen Kapelle vorbeiführt. Der Regen ist stärker geworden. Als sich der Druck durch die Kurve nach links verlagert und sich die beiden festhalten müssen, damit sie nicht aus der Bank fallen, sehe ich meine Chance. Eine Stimme in meinem Kopf brüllt laut Jetzt! Ich schiebe Linus von mir weg. Doch er hält dagegen. Obwohl ihn die Fliehkraft aus der Bank drückt, weicht er nicht einen Millimeter zur Seite. Und auch sein Freund presst mich mit einem fetten Grinsen auf dem Gesicht weiter an die Scheibe des Busses. Eine Frau vor uns dreht sich um, schüttelt genervt den Kopf und wendet sich wieder ab. Ich fühle mich so einsam wie noch nie in meinem Leben.
Der Bus hält. Der Regen prasselt laut auf das Dach, strömt herab, sammelt sich in Pfützen und überschwemmt die Straßen. Der Staub der letzten Wochen staut sich an den Gullys, doch der Dreck verhindert, dass das Wasser abfließen kann.
Linus schiebt seinen Freund gelassen aus der Bank, boxt mir noch einmal in die Seite und dann steigen sie aus dem Bus.
Erschöpft sehe ich den beiden nach. Noch immer kauere ich dicht am Fenster. Die beiden krümmen sich übertrieben laut lachend an der Haltestelle. Die Türen schließen sich und der Bus fährt an.
Eine ältere Dame dreht sich noch einmal entrüstet zu mir um und die Frau vor mir betrachtet mich abschätzig. Kriegt denn keiner mit, was hier passiert? Ich sammele meine Sachen ein, streiche den Zeichenblock glatt und wische den Dreck von meiner Jacke. Danach sitze ich in der Bank und starre nach draußen. Mir steigen Tränen in die Augen. Jetzt halte ich sie nicht mehr zurück. Mir ist alles egal.
Irgendwann werde ich es Linus zurückzahlen. Ich werde ihn quälen und vor der ganzen Klasse demütigen. Oder ich decke ein Verbrechen auf, in das er verwickelt ist. Eines, das so schlimm ist, dass niemand mehr etwas mit ihm zu tun haben will und er die Schule verlassen muss.
Der Bus rumpelt unruhig die Straße entlang, als wäre nichts passiert. Er stoppt, eine ältere Frau braucht eine Ewigkeit, bis sie den Weg von ihrem Platz zur Tür bewältigt. Ein Kind beginnt zu quengeln und seine Mutter blafft es überfordert an. Der Regen lässt allmählich nach. Die Straßen sind überschwemmt und das Wasser findet keinen Abfluss.
Zu Hause erwartet mich die übliche Hektik vor dem Urlaub. Meine Eltern haben versucht, die letzten Arbeitstage gut zu überstehen. Die Wohnung sieht aus wie ein Schlachtfeld. Alles, was mit in den Urlaub soll, stapelt sich auf dem Flur. Ich stapfe mit meinen verdreckten Taschen und mit nassen Schuhen bis in mein Zimmer, obwohl ich weiß, dass meine Mutter das hasst. Auch das ist mir heute egal.
»Herrgott, zieh doch die Schuhe aus bei dem Mistwetter«, schimpft sie. Ich schmeiße meine Taschen auf den Boden meines Zimmers und schleudere die Schuhe von mir. »Ich habe gerade erst gesaugt. Wozu mache ich das eigentlich?«
»Was ist denn schon wieder los?« Mein Vater steht in der Zimmertür und blickt auf den Haufen dreckiger Sachen mitten in meinem Zimmer. »Ist das dein Zeichenblock? Was hast du denn damit gemacht? Kannst du nicht mal ein bisschen auf deine Sachen achten?«
Genau, das sind meine Sachen. Können die sich nicht mal ausnahmsweise um ihren Kram kümmern? Was interessiert mich mein Zeichenblock?
Genervt zieht mein Vater ab. Als Erstes hole ich die ausgeliehenen Bücher aus der Tasche und stelle erleichtert fest, dass keins davon kaputt ist. Immerhin.
»Bist du durch den Dreck gewatet oder was hast du gemacht?« Meine Mutter betrachtet den Berg versauter Taschen.