Die Kinder der Seerosenvilla - Gisela B. Schmidt - E-Book
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Die Kinder der Seerosenvilla E-Book

Gisela B. Schmidt

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Beschreibung

Welches Geheimnis hüten die Kinder der alten Seerosenvilla?
Das Familiengeheimnis um eine bewegte Vergangenheit geht spannend weiter!

1950: Nach dem Tod ihrer Mutter ringen die Geschwister Hanna, Lea und Heinz um ihre Identität. Unter der strengen Hand des nationalsozialistisch geprägten Vaters kämpfen sie um ihre Träume, eine deutsch-jüdische Liebe, das Recht auf Selbstverwirklichung und schließlich sogar ums Überleben. Dabei verstricken sie sich in ein Netz aus Lügen und Geheimnissen, das bis in die Gegenwart hineinreicht …

2023: Emilia lebt mit ihrer kleinen Familie glücklich in der Seerosenvilla. Als sie bei der Renovierung aber alte Briefe und Fotos findet, will sie unbedingt mehr über das vergangene Leben der Gleißner-Geschwister erfahren. Doch genau das will jemand um jeden Preis verhindern und je näher Emilia den Antworten kommt, desto gefährlicher wird es für sie und ihre Familie. Aber immer wieder taucht eine Frage auf: Welche Geheimnisse hüteten die Kinder der Seerosenvilla?

Weitere Titel in der Reihe
Das Geheimnis der Seerosenvilla (ISBN: 9783986372064)

Erste Leser:innenstimmen
„Die Verwebung der Zeitebenen ist hier besonders gut gelungen, absolut fesselndes Familiengeheimnis!“
„Ich war sofort gefangen und habe durchweg mitgefühlt – Schreibstil, Handlung und Charaktere waren allesamt in den Bann ziehend.“
„Spannende historische Familien- und Liebesgeschichte, klare Empfehlung!“
„Die Vergangenheit lebt in der Seerosenvilla! Eine ergreifende Geschichte über Verlust, Identität und die Kraft der Vergebung.“

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Seitenzahl: 435

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Über dieses E-Book

1950: Nach dem Tod ihrer Mutter ringen die Geschwister Hanna, Lea und Heinz um ihre Identität. Unter der strengen Hand des nationalsozialistisch geprägten Vaters kämpfen sie um ihre Träume, eine deutsch-jüdische Liebe, das Recht auf Selbstverwirklichung und schließlich sogar ums Überleben. Dabei verstricken sie sich in ein Netz aus Lügen und Geheimnissen, das bis in die Gegenwart hineinreicht …

2023: Emilia lebt mit ihrer kleinen Familie glücklich in der Seerosenvilla. Als sie bei der Renovierung aber alte Briefe und Fotos findet, will sie unbedingt mehr über das vergangene Leben der Gleißner-Geschwister erfahren. Doch genau das will jemand um jeden Preis verhindern und je näher Emilia den Antworten kommt, desto gefährlicher wird es für sie und ihre Familie. Aber immer wieder taucht eine Frage auf: Welche Geheimnisse hüteten die Kinder der Seerosenvilla?

Impressum

Erstausgabe Juni 2024

Copyright © 2024 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-98778-621-1 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98778-813-0

Covergestaltung: Anne Gebhardt unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © Jasper HYPERLINK, © T.Den_Team, © Tatiana53, © JuliusKielaitis, © beluHYPERLINK stock.adobe.com: © HildaWeges, © edb3_16 Lektorat: Astrid Rahlfs

E-Book-Version 02.07.2024, 11:30:29.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Die Kinder der Seerosenvilla

Für Johanna und Georg, Rosalie und Viola

Geschwister sind dafür da, dass sie füreinander da sind.

Ich liebe euch.

Prolog

Seerosenvilla, September 2023

Wie ein schwarzes Tuch breitete sich die Nacht über dem Grundstück der Villa Gleißner aus. Das Geräusch des Streichholzes, das grob angerissen wurde, durchbrach die Stille für einen Moment, bevor der kleine Feuerschein einen Lichtkegel in die Dunkelheit brannte. In derselben Sekunde wurde künstliches Licht in der Villa angeknipst und erhellte ein Fenster im ersten Stock. Erschrocken ließ die Gestalt das eben entzündete Streichholz ins Gras fallen und trat die Flamme aus. Wie konnte das sein? Warum brannte Licht in der Villa? Hanna Gleißner war tot. Wer trieb in diesem verfluchten Haus sein Unwesen?

Hinter der Fensterscheibe zeichnete sich der Schatten einer jungen Frau ab, die mit langsamen Schritten ans Fenster trat. Hastig verbarg sich der Eindringling in den Büschen.

Das Fenster wurde aufgerissen. „Hallo? Ist da jemand?“, rief die junge Frau aus dem Fenster. Durch das dichte Gestrüpp war sie nur ansatzweise zu erkennen: klein, blond und jung. Der Geist von Hanna?

„Tom, bist du das?“, durchbrach der Ruf der Fremden erneut die Stille.

Eine männliche Gestalt wurde sichtbar und umarmte die Rufende von hinten. „Nein, mein Schatz, ich bin hier. Bestimmt nur eine Katze in den Büschen. Komm, mach das Fenster zu, es wird kalt.“

Kalt. Es war kalt. Und es würde kalt bleiben. Die dunkle Gestalt drückte sich tiefer ins Gebüsch. Das Feuer, das sie hatte legen wollen, musste warten. Die Villa Gleißner sollte brennen. Aber nicht heute. Einige Minuten wartete sie, bis sie sicher war, dass das junge Paar seine unruhigen Blicke nicht mehr suchend durch den Garten schweifen ließ. Dann holte sie tief Luft und rannte durch die Dunkelheit davon.

1

Seerosenvilla, September 2023

Behaglich kuschelte sich Emilia an ihren Ehemann und sah den Flammen des Kaminfeuers bei ihrem flackernden Tanz zu. Tom fühlte sich gut an: groß, stark und unfassbar gemütlich. Schon zu Beginn ihrer Beziehung hatten sie darüber gefeixt, dass Emilias Kopf perfekt in die Kuhle unterhalb seines Schlüsselbeins passte. Seither war dies ihr Lieblingsplatz zum Entspannen. Besonders in Situationen wie dieser, wenn sie gemeinsam im Schein des Kaminfeuers auf dem Sofa saßen und die Villa in nächtliche Ruhe gehüllt lag. Emilias Mutter Erika saß im Schaukelstuhl, in ihren Armen döste Ellis, die erst vor zwei Monaten das Licht der Welt erblickt hatte. Die frisch gebackene Großmutter konnte gar nicht genug von dem kleinen Würmchen bekommen. Emilia schmunzelte. Ihr Leben hatte eine neue Form der Gemütlichkeit erreicht.

Das laute Knacken eines Holzscheits ließ sie jäh zusammenzucken. Funken stoben in die Luft, verglühten dort und schwebten sachte als Ascheflöckchen herab.

Tom lachte kurz auf, zog sie näher an sich und küsste sie aufs Haar. „Du bist aber auch schreckhaft.“

Beeindruckt deutete Emilia auf die kleine Ellis, die unbekümmert weiterschlummerte. „Unsere Tochter hat diese Eigenschaft jedenfalls nicht geerbt. Sie hat nicht einmal gezuckt.“

Auch Erika betrachtete den schlafenden Säugling auf ihrem Schoß und strich ihm zärtlich über das Köpfchen. „Ach, unsere kleine Prinzessin ist ja erst acht Wochen alt. Die weiß noch nichts vom Ärger der Welt.“

Das stimmte allerdings. Das Einzige, wofür Ellis sich interessierte, war die Brust der Mutter, eine trockene Windel und die Wärme eines menschlichen Körpers, wenn sie einschlafen wollte. Wohlig seufzend kuschelte sich Emilia noch etwas enger an Tom und betrachtete das niedliche Großmutter-Enkelin-Duo. Wärme breitete sich in ihrem Inneren aus und verschmolz mit der des Kaminfeuers zu einem fast unwirklichen Gemisch aus Liebe. Das Bewusstsein, dass man Glück nicht festhalten konnte, war in Momenten, in denen sich alles so richtig anfühlte, seltsam schmerzlich.

In Tom hatte Emilia die Liebe ihres Lebens gefunden. Von Anfang an hatte zwischen ihnen alles gepasst. Auf den ersten Blick hatte er ihr gefallen, damals, 2019, als sie unverhofft in Edelsbrunn und in seinem Gasthaus aufgetaucht war. Er hatte sie für eine verrückte Geisterjägerin gehalten, die in der Villa Gleißner nach übersinnlichen Phänomenen suchen wollte. Wie oft hatten sie inzwischen über den Irrtum gelacht. Und nun, vier Jahre später, war sie nicht nur mit ihm verheiratet und Mutter der kleinen Ellis, sondern auch stolze Besitzerin der Villa. Keine Sekunde bereuten sie, hier eingezogen zu sein, auch wenn dem Haus bei den Menschen im Dorf noch immer der Ruf einer Spukvilla anhaftete. Wer wollte es den Edelsbrunnern verdenken? Fast ein Jahrhundert lang hatten sie in dem Glauben gelebt, dass sich in der Villa grausame Dinge zugetragen hatten, und das stimmte ja auch. Zwar nicht vollständig den Gerüchten entsprechend, aber das machte die Taten der Familie nicht weniger schrecklich. Kein Wunder, dass sich die Gleißners aus dem Dorfleben vollständig zurückgezogen hatten. Lediglich um die Kinder der Seerosenvilla tat es Emilia leid. Ihnen hätte sie ein schöneres Leben gewünscht. Die älteste Tochter, Hanna, hatte ein einsames Dasein in dieser Villa gefristet und das Haus mangels Erben bei ihrem Tod vor vier Jahren der Stadt Edelsbrunn vermacht. Traurig, dass manche Leben einfach so vergingen ‒ in Einsamkeit, Traurigkeit und ohne etwas zu hinterlassen. Nein, das stimmte so nicht. Immerhin hatte Hanna Gleißner der Welt diese wundervolle Villa hinterlassen, die trotz aller Spukgeschichten ein zauberhaftes Zuhause bot und optisch einem kleinen Schloss ähnelte. Emilia und Tom hatten sich fest vorgenommen, dem Haus eine zweite Chance zu geben. Es mit Leben zu erfüllen, mit Kinderlachen und Familienglück. Und mit der kleinen Ellis hatte die Einlösung dieses Versprechens bereits begonnen. Dass nun auch Emilias Mutter Erika mit in die Villa eingezogen war, war ein zusätzlicher Bonus. Nicht nur, weil die Fünfundsechzigjährige die kleine Familie mit ihrer tatkräftigen Art wunderbar ergänzte, sondern auch, weil sie außer ihnen keine weitere Familie mehr hatte. Einsamkeit ‒ freiwillige oder unfreiwillige ‒ konnte ganze Menschenleben auffressen.

Emilia hob den Blick und betrachtete Toms Gesicht, der sie noch immer fest im Arm hielt. Seine Augen bewegten sich beim Lesen hin und her. Als spürte er ihren Blick, ließ er das Buch in seiner Hand sinken und wandte sich ihr zu. „Was ist?“

„Ach nichts.“ Leicht neigte sie den Kopf und seufzte. „Ich bin nur glücklich.“

Sein Lächeln bewies, dass sie mit diesem Gefühl nicht allein war. Im darauffolgenden Kuss lag all jene Innigkeit, die ihre Beziehung von Anfang an geprägt hatte.

Erika grinste. „Soll ich euch allein lassen, ihr zwei Turteltäubchen? Ich kann Ellis auch in ihr Bett bringen. Es ist ohnehin schon spät.“ Vorsichtig wand sie das Handgelenk mit der Armbanduhr unter dem Baby hervor und warf einen Blick darauf. „O nein, viel zu spät!“, korrigierte sie sich. „Schon nach Mitternacht. Ich muss dringend ins Bett. Warum habt ihr auch so einen behaglichen Kamin, das gehört doch verboten.“

„Du kannst gern davor einschlafen“, schlug Emilia vor.

Erika wehrte sofort ab. „Und dann fällt mir das Kind vom Schoß! So weit kommt es noch, nein, nein. Ich gehe in mein Bett. Soll ich die Kleine in ihr eigenes Bettchen legen oder dir geben?“

„Du kannst sie mir geben, sie will demnächst eh wieder gestillt werden.“ Emilia streckte die Arme aus, damit Erika ihr die Kleine hineinlegen konnte.

Die übergab das Enkelkind an seine Mutter. Dann hielt sie inne und betrachtete die junge Familie. „Ich bin stolz auf euch. Stolz und wahnsinnig froh, dass ihr euer Glück gefunden habt, habe ich euch das schon mal gesagt?“

Emilia und Tom grinsten gleichermaßen. „Jeden Tag“, sagte Emilia zärtlich. „Gute Nacht, Mama. Wir gehen auch gleich schlafen.“

Kaum dass sie zur Tür hinaus war, fing Ellis an zu quäken. Vorsichtig legte Emilia den Winzling an ihre Brust, woraufhin nur noch ein zufriedenes Schmatzen zu hören war.

„Ich sollte mich auch hinlegen“, sagte Tom leise, klappte sein Buch zu und erhob sich.

„Du hast doch morgen frei.“

„Schon, aber ich wollte eigentlich früh aufstehen und im Haus noch ein paar Reparaturen vornehmen. Nichts Schlimmes, keine Angst, nur ein paar Kleinigkeiten, die in den vergangenen Monaten liegengeblieben sind. Soll ich noch auf dich warten?“

„Nein, geh ruhig schon hoch. Hierbei kannst du mir eh nicht helfen.“ Sie deutete auf die saugende Ellis. „Wir kommen gleich nach. Vielleicht sind vier Stunden Schlaf drin, bevor sie wieder Hunger hat.“

„Ganz schön anstrengend, so ein kleines Baby.“ Tom hob die Hand, um Ellis zu streicheln, zog sie aber dann zurück, um sie nicht beim Trinken zu stören.

„Anstrengend schon, aber so süß. Ich will noch ganz viele davon, Tom.“

„Dein Wunsch ist mir Befehl, mein Schatz.“ Vorsichtig küsste er Emilia auf die Wange und verließ dann ebenfalls den Raum.

Mit der nuckelnden Ellis und einem inneren Glücksgefühl blieb Emilia zurück. Was für ein Geschenk, so ein Leben führen zu dürfen. Andere Menschen hatten so viel Pech und mussten so vieles erleiden und erdulden in ihrem Leben, dass sie sich manchmal für ihr Glück fast schämte. Dabei war ihr durchaus bewusst, dass es anderen im Umkehrschluss nicht besser ginge, wenn sie darauf verzichtete. Das Unglück anderer Menschen war nicht von ihrem Glück abhängig. Trotzdem war es zeitweise eigenartig, so viel davon zu haben.

Von der einen auf die andere Sekunde wich dieses Gefühl einem beklemmenden. Die Temperatur im Raum schien drastisch zu sinken, obwohl das Feuer im Kamin nach wie vor loderte. Gänsehaut breitete sich auf Emilias Armen aus. Noch während sie fröstelte, beschleunigte sich ihr Herzschlag. Ellis gab unzufriedene Geräusche von sich. Spürte sie es auch? Dieses Gefühl einer unbestimmten Bedrohung, die einen mit tausend Augen aus allen Richtungen beobachtete?

Langsam atmete Emilia ein und aus. Die Einsamkeit, es war bestimmt nur die Einsamkeit, die sie so seltsam empfinden ließ. Es spukte nicht in diesem Haus, es spukte überhaupt nirgends. Geister gab es nicht, das war Unsinn. Es war nur die plötzliche Stille, die unheimlich war, Einsamkeit und Hormone. Sie musste sich beruhigen.

Das Gefühl ließ sich nicht weg argumentieren. Der Raum wurde immer enger und die Luft immer dünner. Kohlenmonoxid, zwang sich Emilia zu einem logischen Gedankengang. Vielleicht stimmte etwas mit dem Feuer nicht. Doch, alles bestens. Es loderte gleichmäßig und behaglich weiter. Ihr Blick wanderte durch den Raum und blieb am Fenster hängen. Da! Ein Schatten! Da war was. Augen?

„Tom?“ Hoffentlich war er noch in Hörweite. „Tom! Komm schnell, bitte!“

Sie hörte hastige Schritte die Treppe herabstürmen. Dann erschien er, die Zahnbürste noch in der Hand. Mit einem schnellen Blick auf die trinkende Ellis vergewisserte er sich, dass mit dem Kind alles in Ordnung war.

„Was ist los?“, fragte er alarmiert.

„Da! Am Fenster!“ Ihre Stimme klang dünn. „Da war jemand.“

Mit einem Satz war Tom dort und riss es auf. Gefährlich weit beugte er sich hinaus, während Emilias Herz schneller und schneller schlug.

„Und?“, flüsterte sie.

„Ich kann niemanden erkennen. Es ist aber auch stockduster. Ich geh schnell hinaus und sehe nach.“ Schon setzte er sich mit schnellen Schritten in Bewegung.

„Nein, bleib hier!“

Abrupt hielt er in der Bewegung inne. „Schatz, wenn da jemand auf unserem Grundstück herumrennt, will ich wissen, wer das ist und was er hier zu suchen hat.“

„Und ich will, dass mein Mann nicht mitten in der Nacht den Helden spielt und sich in Gefahr bringt. Du bist jetzt Vater, Tom. Es ist deine Verantwortung, darauf zu achten, dass dir nichts passiert.“

„Ach komm, da passiert doch nichts. Ich nehme eine Taschenlampe mit und von mir aus ein Messer.“

„Tom, du hast keine Ahnung, wie man sich mit einem Messer verteidigt. Wenn das ein Verbrecher ist, nimmt er es dir ab und ersticht dich. Bleib bitte einfach hier drin und schließ alle Türen und Fenster ab. In jedem billigen Horrorfilm lernt man, dass man nicht allein in die Dunkelheit rennt.“

„Das ist unser Garten, kein Horrorfilm.“

„Dann lass nicht zu, dass es einer wird. Schließ einfach die dämlichen Türen ab, sei so gut.“

„Die Türen sind abgeschlossen.“

„Na also. Dann lass uns ins Bett gehen und morgen früh nachsehen. Bitte. In der Dunkelheit ist mir das echt zu gefährlich.“

Mit einem widerwilligen Brummen gab Tom nach, ließ es sich aber nicht nehmen, mit der Taschenlampe aus jedem einzelnen Fenster zu leuchten. Zu ihrer beider Erleichterung war auch weiterhin niemand zu sehen.

Vorläufig beruhigt legten sie sich schlafen, doch schon nach wenigen Minuten nahm Emilia die kleine Ellis aus ihrem Beistellbettchen und legte sie zwischen sich und Tom ins Ehebett.

2

Villa Gleißner, 1947

„Ich mag nicht“, murrte Lea und drehte immer wieder den Kopf zur Seite, sodass es der dreizehnjährigen Hanna nahezu unmöglich war, die strengen Zöpfe zu Ende zu flechten.

„Bitte halt doch endlich still“, wies sie die kleine Schwester zurecht.

„Ich will aber nicht diese doofen Zöpfe. Die tun mir am Kopf weh.“

„Das ist doch Unsinn, Lea.“

„Außerdem sehen sie total blöd aus. Ich will meine Haare offen tragen.“

„Was du willst, zählt hier leider nicht“, tröstete Hanna und nahm zum wiederholten Mal das Flechtwerk auf. „Bitte, Lea. Du weißt genau, dass Papa nur diese Zöpfe duldet. Möchtest du eine Tracht Prügel riskieren?“

Endlich hielt Lea still. Die Erinnerung an die Schläge von vergangener Woche war noch zu frisch. Da hatte sie sich geweigert, den vom Vater so geliebten Hitlergruß vor dem Essen zu erwidern. Der Krieg war seit zwei Jahren vorbei, Hitler war tot, und längst waren neue Zeiten in Deutschland angebrochen. In Deutschland, nicht hier in der Villa. Hier war nichts von Bedeutung außer dem Willen des Hausherrn, Heinrich Gleißner, ihrem Vater, und dieser führte, ungeachtet jeglicher Realität, seine glühende Verehrung für Hitler und alles, was mit dem nationalsozialistischen Gedankengut zusammenhing, weiter ‒ im Verborgenen, versteht sich. Nach Kriegsende hatte eine für die kleinen Kinder nicht immer einfach zu verstehende Umkehrung der Verhältnisse stattgefunden. Was zuvor als vorbildlich gegolten hatte, war nun verboten, was gut gewesen war, war nun böse, was böse war, gut. Die Nationalsozialisten, die zuvor als Helden hatten verehrt werden müssen, sollten nun verachtet werden und aus dem Leben und Alltag verschwinden. Gedankengut, das ihnen regelrecht eingeprügelt worden war, musste aus den Köpfen gelöscht werden, da es plötzlich falsch war. Hanna seufzte. Natürlich war es das. Es war schon immer falsch gewesen. Auch wenn es ihr lange Zeit normal erschienen war, dass sie die Ermordung von Menschen gutheißen sollte, nur weil sie anderen Glaubens waren, eine Behinderung hatten oder auf irgendeine sonstige Art nicht ins System passten. Im Nachhinein war das nicht mehr zu rechtfertigen. Die Hanna, die sich dem System gehorsam und eifrig gefügt hatte, war ihr heute zuwider, obwohl sie sie niemals vollständig vergessen konnte. Wie eine unsichtbare Hülle aus Vorwürfen klebten die alten Überzeugungen an ihr, moderten und gammelten und waren doch nicht abzustreifen. Zwar hatte sie begriffen, was für ein Irrsinn der Nationalsozialismus mit seinen Ideen gewesen war, doch der Gehorsam, mit dem sie zwangsweise aufgewachsen war, haftete unwiderruflich an ihrer Persönlichkeit. Umso schlimmer, dass der Vater weiterhin an diesem schrecklichen Gedankengut festhielt, wo doch der Rest der Welt längst zur Vernunft gekommen war. Hanna hatte keine Wahl. Mit ihren dreizehn Jahren hatte sie ausgiebig erfahren und erlebt, wozu ihr Vater fähig war. Die einzige Möglichkeit, die ihr und ihren Geschwistern blieb, wenn sie ein einigermaßen passables Leben führen wollten, bestand darin, sich seiner Herrschaft zu beugen und seinen Willen zu befolgen. Alles andere war gefährlich. Selbstverständlich funktionierte dieses Leben nur innerhalb der Villa. Außerhalb fand ein ganz anderes statt, von dem die siebenjährige Lea und ihr nur ein Jahr jüngerer Bruder Heinz bisher nichts mitbekommen hatten. Jahrelang waren sie vom echten Leben abgeschirmt worden, zuerst durch die Mutter, dann durch Hanna. Lea und Heinz hatten ihre Kindheit bisher in der Villa verbracht wie in einer Festung. Jetzt jedoch war er da, der Tag, vor dem sich Hanna so sehr gefürchtet hatte: Leas erster Schultag. Nun konnte sie noch so sehr große Schwester, Beschützerin und Aufpasserin sein, sie vermochte nicht länger zu verhindern, dass die unschuldige Lea mit der realen Welt in Berührung kommen würde. Hoffentlich ging das alles gut.

Hanna befestigte das letzte Zopfgummi und beendete ihr Flechtwerk mit einem tiefen Seufzer. Liebevoll drehte sie die kleine Schwester an den Schultern zu sich um, lächelte sie an und sah ihr tief in die Augen. „Na siehst du, mein Schatz, war doch gar nicht schlimm. Du siehst zauberhaft aus. Auch mit den Zöpfen.“

Lea bemühte sich sichtlich, zurückzulächeln, konnte aber ihren Unmut nicht verbergen und produzierte infolgedessen eine seltsame Grimasse. Hanna musste lachen, gab der Schwester einen Kuss auf die Stirn und nahm sie fest in den Arm. „Und denk daran, mein Schatz: Nichts, was in der Villa geschieht, darf in die Außenwelt dringen. Und nichts, was in der Außenwelt geschieht, darf umgekehrt in die Villa gelangen. Draußen und hier, das sind zwei verschiedene Welten. Es ist ein Spiel, verstehst du? Du musst die Spielregeln einhalten, sonst verlierst du. Die Welten müssen immer getrennt bleiben, sonst bricht alles zusammen. Dann haben wir vielleicht kein Zuhause mehr, oder Papa wird uns sehr wehtun, das willst du doch nicht, oder?“

Lea schüttelte den Kopf.

„Du wirst dich an die Spielregeln halten, oder mein Schatz?“, bohrte Hanna nach. Die Sache war zu wichtig, um sich mit einer einfachen Geste zufriedenzugeben.

„Ich versuche es.“

„Versuchen reicht nicht, mein Liebes.“ Erneut küsste sie die Siebenjährige auf die Stirn. Dann schob sie sie eine Armeslänge von sich und sah sie eindringlich an. „Du musst es versprechen, Lea. Sonst habe ich keine ruhige Minute mehr.“

„Ich versuche ja, es zu versprechen, aber ich bin mir nicht sicher, dass ich es kann.“

„Du kannst es. Du kannst alles, was du willst. Du bist so ein starkes Kind. Du kannst es, Lea.“

Ihre Schwester nickte. Hanna wusste, dass es keinen Sinn hatte, weiter zu drängen oder sie zu einer Lüge zu zwingen. Sie konnte nur hoffen, dass Leas Bemühen ausreichen würde, um das Schlimmste zu verhindern.

Noch einmal umarmte sie das kleine Mädchen und drückte es fest an sich. Wie absurd das Leben in der Villa war, fiel nur ihr als Ältester auf, weil die Geschwister damals zu klein gewesen waren, als die Mutter noch gelebt hatte. Als draußen die Nationalsozialisten an der Macht gewesen waren, Krieg geherrscht hatte und die Villa schon einmal wie eine Parallelwelt gewesen war. Damals hatte die Mutter verboten, dass irgendetwas von Politik oder Krieg in das Gebäude drang. Sie hatte darauf bestanden, dass das Leben hier weiterging wie vor der Machtergreifung Hitlers. Und nun? Nun gestaltete sich das Leben draußen wie vor diesem Zeitpunkt, aber ihr Vater hielt krampfhaft an den Zuständen fest, die im Dritten Reich geherrscht hatten. Es war grotesk. Beide Eltern waren realitätsfremd und lebten in ihrer eigenen Welt, nur dass diese gegensätzlicher nicht hätte sein können. Es tat weh, diese Ironie zu begreifen.

Noch immer steckte die Erinnerung wie ein Stachel in Hannas Herz. Zum Glück war es ihr nach dem Tod der Mutter vor zwei Jahren überraschend leichtgefallen, die Mutterrolle für die beiden kleineren Geschwister zu übernehmen. Wobei Lea und Heinz es ihr auch ziemlich einfach gemacht hatten. Heute wusste Hanna, dass sie schon immer mehr eine Art zweite Mutter als eine große Schwester für die Kinder gewesen war. Im ersten Moment hatte der Gedanke sie erschreckt, inzwischen war sie froh darum, denn auf diese Weise konnte sie ihnen die fehlende Mutter zumindest notdürftig ersetzen. Wie gern hätte auch sie selbst jemanden gehabt, der sich um sie kümmerte. Doch das Schicksal hatte viele Menschen noch viel mehr gebeutelt als sie. Es stand ihr nicht zu, darüber zu klagen. Sie hatte zwei Geschwister, einen Vater und ein Zuhause. Auch wenn das Leben nicht leicht war, so war es doch eines in Sicherheit und Gesundheit, was nicht alle Menschen von sich behaupten konnten. Manchen hatte der Krieg alles genommen. Man musste dankbar sein.

Sie zwang sich zu einem Lächeln und klatschte in die Hände. „So, und nun lass uns frühstücken, mein Schulkind.“

Leas Lächeln zeigte ihr, dass auch ihre Schwester stolz auf den nächsten Lebensabschnitt war.

Wenig später standen sie in Reih und Glied vor dem Frühstückstisch, als der Vater mit großen Schritten den Raum betrat. Bei jedem Schritt gaben seine Militärstiefel einen dumpfen Schlag von sich.

„Heil Hitler!“, rief Heinrich und reckte die Hand mit entsprechender Geste in die Luft.

„Heil Hitler“, antworteten die Kinder gehorsam. Erleichtert atmete Hanna auf. Diesmal hatte Lea den Gruß nicht verweigert.

3

Seerosenvilla, September 2023

Die Morgensonne strahlte durch die Fensterfront und tauchte die Küche in gleißend goldenes Licht. Während die Arbeitsflächen wie eh und je umlaufend an drei Wänden angebracht waren, hatten Tom und Emilia schon vor drei Jahren die große Kücheninsel aus der Mitte des Raumes entfernt und statt ihrer einen Esstisch mit Stühlen platziert. Das Frühstücken direkt in der Küche war unkomplizierter und auch gemütlicher als in dem überdimensionierten Essbereich der Seerosenvilla.

Die Seerosenvilla. Sie selbst hatten den Namen für das alte Haus gewählt, in der Hoffnung, dass er im Dorf die ursprüngliche Bezeichnung als Geistervilla ablösen würde. Der neue Name war auf den alten Seerosenteich zurückzuführen, der zu Zeiten der Familie Gleißner im hinteren Bereich des Gartens gelegen hatte. Die Erinnerung daran, dass in ihm ein Mensch sein Leben gelassen hatte, sollte wachgehalten werden. Dennoch hatten Tom und Emilia den Teich aus emotionalen Gründen zuschütten lassen, nach dem Kauf der Villa aber einen ganz ähnlichen auf der Ostseite des Hauses angelegt. Von den Küchenfenstern aus war er wunderbar zu sehen. Gedankenversunken ließ Emilia ihren Blick über die Wasseroberfläche gleiten. Die Seerosen, die sie darin angesiedelt hatten, gediehen prächtig. Kein Name hätte besser zu diesem Haus passen können als Seerosenvilla. Das Wachsen, Gedeihen und Vergehen und erst recht die Tatsache, dass die Wurzeln der Rosen bis tief hinab auf einen nicht sichtbaren Grund reichten, schienen geradezu symbolisch für das Leben der Familie Gleißner zu stehen, die vor ihnen hier gewohnt hatte. Immer hatten die Menschen nur die Oberfläche des Lebens mitbekommen, das hier stattfand. Die Villa lag abgelegen, und die Gleißners hatten sich nahezu vollständig aus dem Dorfleben zurückgezogen. Welche Tragödien sich im Inneren dieser Wände abgespielt hatten, hatte Emilia erst vor vier Jahren aus zufällig gefundenen Dokumenten der letzten Besitzerin Hanna Gleißner erfahren. Sie machte sich nichts vor: Viele Menschen aus dem Dorf vertraten noch immer die Meinung, dass die Villa abgerissen werden sollte, um die Erinnerung an die Familie vollständig aus der Geschichte Edelsbrunns zu tilgen. Emilia war da anderer Ansicht. Erinnerung war nicht an Mauersteine gebunden. Der Abriss dieser wunderschönen Villa würde nicht das Geringste an der Vergangenheit ändern. Darüber hinaus war sie als Urenkelin von Elfie Gleißner selbst deren Nachfahrin und fühlte sich verpflichtet, die Vergangenheit der Familie zu bewahren.

Die Seerosenvilla war architektonisch ein außergewöhnliches Gebäude. Als Immobilienmaklerin konnte sie das einschätzen. Nun lag es an ihr, die Edelsbrunner davon zu überzeugen, dass es in der Villa weder spukte noch ein Fluch auf ihr lastete. Der Anfang hierfür war gemacht. Tom und sie hatten sogar schon Gäste in der Villa empfangen, die sich bei einem gemeinsamen Abendessen von der Harmlosigkeit des Anwesens hatten überzeugen können und ihnen nun dabei halfen, die Meinung der Dorfbewohner zum Positiven zu beeinflussen. Gut, dass Tom in Edelsbrunn so beliebt und noch dazu Besitzer des Gasthauses Krone war, einem beliebten Umschlagplatz für Klatsch und Tratsch aller Art. Wenn sich eine Meinung alteingesessener Bürger überhaupt ändern ließ, dann am ehesten in diesem Gasthaus.

„Der Teich ist wunderschön geworden“, sagte Erika, als sie Emilias Blick in den Garten bemerkte. „Möchtest du noch Tee?“

„Ja, danke.“ Mit der freien Hand streckte Emilia ihrer Mutter die leere Tasse entgegen, im anderen Arm hielt sie Ellis. „Ich bin sehr glücklich hier.“

Erika bestrich ein Brot mit Butter und Erdbeermarmelade und legte es auf Emilias Teller. Die grinste. So sehr Erika sich auch Mühe gab, ihre Tochter als erwachsene Frau wahrzunehmen ‒ beim Frühstück hörte der Spaß auf. Da konnte sie vom traditionellen Erdbeerbrot nicht ablassen. Von Kindesbeinen an war es Emilias Lieblingsfrühstück. Herzhaft biss sie hinein.

In diesem Moment betrat Tom die Küche. Sich den Schlaf aus den Augen reibend, hielt er in der Bewegung inne. „Meine Güte, da denkt man, man sei der Erste, der sich aus dem Bett quält, und dann seid ihr schon fast mit dem Frühstück fertig. Ihr schleicht ja durchs Haus wie Gespenster.“ In seinem von der Sommersonne gebräunten Gesicht leuchteten seine blauen Augen noch intensiver als sonst.

Während er erst Emilia, dann Ellis einen Kuss gab und sich danach an den Tisch setzte, schenkte Erika ihm eine Tasse Kaffee ein. Er nickte ihr dankbar zu. „Seit wann seid ihr denn auf den Beinen?“

Emilia zuckte mit den Achseln. „Seit einer Stunde, schätze ich. Ellis hat mich wach gequengelt.“

Toms Blick wanderte fragend zu seiner Schwiegermutter.

Diese nickte zustimmend. „Mich auch. Ich bin zwar jetzt Oma, aber wenn man einmal Mutter war, dann hat man wohl ein so feines Gehör für Babynöte, dass jeglicher Schlaf dahinter zurückstehen muss.“

„Verrückt“, antwortete Tom. „Ich habe geschlafen, als wäre ich selbst das Baby.“

Emilia legte das Brot auf dem Teller ab. „Du bist ein Phänomen. Seit diesem unheimlichen Vorfall gestern Abend schrecke ich bei jedem Geräusch hoch. Von Tiefschlaf wage ich nicht mal zu träumen.“

Erika runzelte die Stirn. „Welcher unheimliche Vorfall denn?“

„Meine Frau meint, gestern Abend sei jemand ums Haus geschlichen.“

„Das meine ich nicht nur, da war jemand“, protestierte Emilia. Möglichst präzise schilderte sie die Ereignisse des vergangenen Abends, dessen bedrückende Atmosphäre ihr noch immer in den Gliedern steckte.

Mit fortschreitender Erzählung wurde Erika blasser. „Der Geist von Elfie Gleißner …“, hauchte sie. „Vielleicht treibt er hier noch immer sein Unwesen. Ich habe euch gleich gesagt, dass die Atmosphäre in diesem Haus unheimlich ist. Ich habe es euch gesagt.“

Tom schüttelte den Kopf. „Ach Unsinn, Erika, hier spukt es ganz sicher nicht. Es ist ein altes Gebäude, umgeben von viel Natur, selbstverständlich gibt es hier manchmal Geräusche und Bewegungen draußen und auch hier drin knackt und knirscht es manchmal, das ist doch normal. Vielleicht war das gestern Abend ein Tier. Eine Fledermaus, die vorübergeflogen ist.“

„Eine Fledermaus, echt jetzt?“ Grinsend verschränkte Emilia die Arme vor der Brust. „Ich muss zugeben, ich bin gerade ziemlich hormongesteuert, und meine Gefühle entsprechen nicht immer den objektiven Fakten, aber ich verwechsle doch keine Fledermaus mit einem Menschen, ich bitte dich.“

„Das ist gar nicht so absurd, wie du denkst“, wandte Tom ein. „In der Nacht wirken Größenverhältnisse oft verfälscht. Im entsprechenden Licht kann eine Fledermaus Schatten werfen, die um ein Vielfaches größer sind als ihr realer Körper. Was glaubst du denn, wie diese ganzen Vampirmythen entstanden sind? Außerdem hast du die Bewegung doch nur aus dem Augenwinkel gesehen, oder?“

„Das schon“, gab Emilia zu. „Trotzdem bin ich mir sicher, dass der Schatten für ein Tier viel zu groß war.“

„Es würde mich sehr wundern“, erwiderte Tom. „Wer soll denn nachts auf unserem Grundstück herumschleichen? Noch dazu, wo die meisten Menschen immer noch Angst vor der Villa und ihrem angeblichen Fluch haben. Aber…“, als er Emilias empörten Gesichtsausdruck sah, hob er ergeben die Hände, „… natürlich werde ich sofort nachsehen, ob ich etwas finden kann. Willst du mitkommen?“

„Auf jeden Fall.“

„Dann gib her die kleine Maus.“ Erika streckte die Arme aus. Ellis ließ sich problemlos übergeben und kuschelte sich friedlich in die Arme der stolzen Großmutter.

Als sie aus der Villa traten, war Emilias Angst bereits ihrem Entdeckungsdrang gewichen. Sofort widmete sie ihre Aufmerksamkeit der Stelle unter dem Wohnzimmerfenster, wo sie gestern den Schatten wahrgenommen zu haben glaubte. Der Rasen war noch feucht von der Nacht, die Regentropfen glitzerten an den Grashalmen.

„Hier, sieh mal.“ Sie wies auf den Boden. „Hier ist doch alles total plattgedrückt, oder täusche ich mich?“

„Hm, könnte von einer Katze oder einem Marder sein, der herumgeschlichen ist.“

Emilia bückte sich und durchkämmte mit ihren Fingern den Rasen. Dann stoppte sie und hielt die Grashalme mit beiden Händen auseinander. Vom Regen des vergangenen Tages war der Untergrund matschig.

„Der Marder müsste verdammt große Füße haben. Ist das nicht eher deine Schuhgröße?“, fragte sie schnippisch.

Durch die grünen Halme zeichnete sich brauner Schlamm ab und in diesem, ganz fein und mit dem bloßen Auge kaum erkennbar, der zarte Abdruck eines Profils.

Tom schüttelte den Kopf. „Von mir stammt der nicht. Ich war dort hinten beim Ahorn zugange. An dieser Stelle hier zuletzt vergangene Woche, zum Rasen mähen. Seltsam. Zeig mal her.“ Er ging in die Hocke und begutachtete den Abdruck genauer.

„Ich war auch nicht hier in letzter Zeit“, fügte Emilia hinzu. „Und Mama sicherlich auch nicht. Also … wem gehört dieser Schuhabdruck?“

Mit spitzen Fingern zog Tom einen kleinen Gegenstand aus dem Gras und hob ihn in die Luft. „Ergänzungsfrage: Wem gehört dieser Zigarettenstummel?“

„Igitt, fass das nicht an.“

„Ich wasche mir nachher die Hände. Aber den nehmen wir mit. Beweismittel.“

„Sie glauben mir also endlich, dass da jemand war und mich beobachtet hat, Herr Kommissar?“

„Ich denke, die Hinweise sind eindeutig. Aber wer? Wer sollte abends auf unserem Grundstück …“ Nachdenklich zog Tom die Augenbrauen zusammen.

„Wir rufen die Polizei. Die sollen die Spurensicherung schicken“, schlug Emilia vor.

„Die Spurensicherung?“ Tom lachte und erhob sich aus seiner hockenden Position, den Stummel noch immer in der Hand. „Also Schatz, manchmal bist du echt zum Schießen. Die Polizei schickt doch keine Spurensicherung wegen eines Fußabdrucks und eines Zigarettenstummels.“

„Müssen sie aber. Schließlich war jemand auf unserem Grundstück und hat mich beobachtet. Ich möchte das gerne anzeigen.“

„Schatz, die lachen sich kaputt. Theoretisch hätte das jeder sein können.“

Trotzig stemmte Emilia die Hände in die Hüften. „Von uns raucht doch gar keiner.“

„Der Postbote schon. Wer sagt, dass Abdruck und Stummel nicht von ihm stammen?“

„Unter dem Wohnzimmerfenster?“

Tom hob die Schultern. „Ich halte es auch für unwahrscheinlich, aber die Polizei kann nur von Fakten ausgehen. Glaub mir, die würden nur ermitteln, wenn jemand eingebrochen hätte oder jemand angegriffen worden wäre. Ich habe eine bessere Idee.“

„Und die wäre?“

„Ich informiere mich gleich heute über Sicherheitssysteme. Vielleicht sollten wir ohnehin Kameras und eine Alarmanlage installieren. Ich kann mir schon vorstellen, dass die Villa anziehend auf Diebe und Einbrecher wirkt. Nicht auf Edelsbrunner, aber offensichtlich auf irgendjemanden, der versucht, die Lage auszuspähen. Wir sichern uns ab. Da haben wir mehr davon und das auch noch auf Dauer.“

Emilia seufzte. „Grundsätzlich finde ich die Idee gut.“

„Aber?“

„Aber irgendwie möchte ich nicht, dass der Anblick dieser wunderschönen Villa von Kameras und Alarmlichtern verschandelt wird. Das sieht doch bescheuert aus.“

„Ist doch egal, wie es aussieht. Hauptsache sicher.“

Missmutig brummte Emilia. Im Grundsatz hatte Tom recht, aber die Villa optisch verschandelt zu wissen, war keine schöne Vorstellung.

„Ach komm schon, es gibt inzwischen bestimmt auch ganz winzige Geräte. Ich mache mich heute schlau und zeige dir dann eine Auswahl, bevor ich bestelle, okay?“

„Na gut. Danke.“

Sie küssten sich und gingen dann Hand in Hand zurück in die Villa.

„Und?“, fragte Erika, die gerade mit dem Abwasch beschäftigt war.

„Keine Gespenster“, erklärte Emilia trocken. „Dafür ein Fußabdruck und der Zigarettenstummel, den Tom gerade in das Tütchen packt. Da war wirklich jemand.“

„Ach du lieber Himmel!“ Erika war aufrichtig entsetzt. „Wir müssen die Polizei rufen.“

Lässiger als sie sich fühlte, winkte Emilia ab. „Haben wir schon geklärt. Tom baut die Villa in einen Hochsicherheitstrakt um.“ Sie ignorierte den skeptischen Blick ihrer Mutter und erwiderte den Kuss, den Tom ihr auf die Lippen drückte. „Ach … und apropos Umbau. In meiner vergangenen schlaflosen Nacht habe ich mir was überlegt. Ich würde gern ein Kinderzimmer für Ellis im ersten Stock umbauen. Am liebsten das erste rechts, das ohnehin schon aussieht wie ein Mädchenzimmer. Ich glaube, das könnte man superhübsch herrichten, und es wäre nicht so weit vom Wohnzimmer entfernt.“

Erika legte den Kopf schief. „Findest du wirklich, dass du dich schon handwerklich betätigen solltest? Du hast vor acht Wochen ein Kind geboren. Vielleicht solltest du deinen Körper lieber noch ein wenig schonen.“

„Und vielleicht solltest du deinen mütterlichen Beschützerinstinkt lieber etwas zurückschrauben.“ Emilia lachte. „Keine Angst, ich habe nicht vor, Möbel zu schleppen oder Bretter zu sägen. Ich dachte eher daran, mich mit der Planung zu beschäftigen und meinem herzallerliebsten Ehemann dann mitzuteilen, was er umbauen darf.“ Sie grinste. „Vielleicht ein neuer Fußboden und ein paar hübsche Prinzessinnenmöbel. Ich muss den Raum mal eine Weile auf mich wirken lassen.“

In gespielter Empörung fuchtelte Tom theatralisch durch die Luft. „Ach, jetzt darf ich doch wieder hier herumwerkeln?“

Emilia gab ihm ein spitzes Küsschen auf die Wange. „Ja.“ Und ein weiteres. „Weil du der beste Ehemann und Papa bist.“ Und noch eins. „Und so talentiert und so hübsch und so begabt und so …“

Tom lachte. „Und so leicht mit Küssen rumzukriegen“, ergänzte er fröhlich.

„Genau“, bestätigte Emilia.

„Na dann los.“ Lachend deutete er auf die Tür. „Verkünstele du dich im Kinderzimmer, derweil beschäftige ich mich mit unserem Sicherheitssystem.“

„Und ich mache einen hübschen Herbstspaziergang mit unserem Prinzesschen hier?“, fragte Erika.

„Wenn du magst, gern“, gab Emilia zurück.

Ihre Mutter nickte und hängte das Geschirrtuch an den Haken. Mit dem Abwasch war sie ohnehin fertig.

Bevor sie die Küche verließ, bedachte Emilia ihre drei Herzensmenschen mit kurzen, dankbaren Blicken, und sofort breitete sich in ihrem Inneren wieder das Gefühl aus, das sie immer wieder hatte, seit sie im Ort Edelsbrunn angekommen war: Glück.

Das Gefühl blieb bei ihr, als sie den hellen Raum betrat, der zu Zeiten der Familie Gleißner wohl auch ein Kinderzimmer gewesen war. Bisher hatten sie dem ungefähr achtzehn Quadratmeter großen Raum kaum Beachtung geschenkt, da sie der Renovierung des Wohnbereichs und der Küche den Vorrang gegeben hatten. Die Substanz der Villa war gut, sonst hätten sie den Kauf erst gar nicht getätigt, aber es war doch einiges an Aufwand nötig, um das alte Gemäuer auf den neuesten Stand der Technik und der energetischen Sanierung zu bringen. Seit Ellis ihre Familie bereicherte, geisterte zudem die Vorstellung von einem gemütlichen Kinderzimmer durch ihre Gedanken. Zwar würde die Kleine noch einige Monate im Elternschlafzimmer bleiben, aber so ein Umbau dauerte ja auch ein Weilchen, und anschließend brauchten die neuen Materialien noch Zeit, um ihre Schadstoffe auszudünsten, bevor man ein Baby darin schlafen lassen konnte. Wozu also warten?

Emilia ließ ihren Blick durch den hellen Raum wandern. Die Wände konnten einen neuen Anstrich vertragen. Sie ging zum Fenster und betastete die Vorhänge. Hübsch waren sie, weiß und wallend, und irgendjemand hatte damit begonnen, kleine rosarote Blümchen in den Stoff zu sticken. Ungleichmäßig verteilten sie sich über das Gewebe, waren also ganz sicher Handarbeit. Vielleicht hatte sogar eines der Gleißner-Kinder die Vorhänge auf diese einzigartige Weise verziert. Sie passten in dieses Zimmer und sollten hier bleiben, lediglich ein Waschgang wäre vonnöten. Bei den Dielen genügten wohl ein Schliff und eine neue Lasur, vorausgesetzt dass das Holz materialtechnisch noch intakt war.

Prüfend beging Emilia den Fußboden. Es gab nichts zu beanstanden. Lediglich an einer Stelle knarzte es entsetzlich. Unpraktisch für einen Raum, in dem ein Baby schlafen sollte, aber bestimmt konnte man die Stelle erneuern, sofern die Ursache für das Geräusch kein Holzwurm war. Emilia kniete sich auf den Boden, ballte die Hand zu einer Faust und klopfte das verdächtige Dielenbrett ab. Sie kannte sich mit Geräuschen am Bau nicht besonders gut aus, da normalerweise Tom der handwerklich Begabte war, aber als ihre Fingerknöchel auf das Holz trafen, empfand sie den entstehenden Klang intuitiv als hohl. Ihr Herz pochte. War es möglich …

Angespannt klopfte sie auf die Dielen, die rings an der knarzenden angrenzten. Der Klang war dumpfer. Wieder klopfte sie auf die hohle Stelle. Konnte das sein? Ein Hohlraum? Hier, mitten im Kinderzimmer? Ihr Chef von Immobilien-Plaschke hatte damals von Geld gesprochen, das noch irgendwo in der Villa Gleißner versteckt sein sollte, aber bis jetzt hatten sie nichts dergleichen gefunden. Was, wenn zumindest dieses Gerücht über das alte Haus der Wahrheit entsprach?

„Tom!“, brüllte Emilia. Das Adrenalin des Abenteuers hatte längst von ihr Besitz ergriffen.

Mit beunruhigtem Gesichtsausdruck erschien er im Türrahmen. „Was ist passiert? Hast du dich verletzt?“

„Ganz im Gegenteil, ich würde gern jemanden verletzen. Besser gesagt etwas. Könntest du mir vielleicht helfen, diese Diele hier aus dem Fußboden zu stemmen?“

4

Villa Gleißner, 1950

Mitten in der Bewegung hielt Hanna inne. Zu laut. Lea sang viel zu laut. Und dazu noch ein Lied mit englischem Text! Sie musste bei ihr sein, bevor der Vater es hörte.

Schnell ließ Hanna Tasse und Lappen ins Spülbecken fallen und wischte sich bereits im Lauf die schaumbeschmierten Hände an der Küchenschürze ab. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, sprang sie die Treppe hinauf. Dass Lea sich aber auch nicht zusammenreißen konnte. Mit ihren gerade mal zehn Jahren benahm sie sich, als steckte sie schon mitten in der Pubertät. Dabei hätte ein solch provokantes Verhalten eher Hanna zugestanden, die gestern immerhin ihren sechzehnten Geburtstag gefeiert hatte. Sie hatte nie pubertiert. Provokationen jeglicher Art waren ihr fremd, sie war von klein auf daran gewöhnt, gehorsam zu sein. Damit war sie in den vergangenen sechzehn Jahren gut durchs Leben gekommen, aber die kleine Schwester stellte sie mit ihrer wilden Art immer wieder vor Herausforderungen.

Hanna riss die Tür des gemeinsamen Kinderzimmers auf. Im Kopf hatte sie bereits die ersten Worte für eine Standpauke zurechtgelegt, da blieb ihr die Luft weg. Ihre Augen mussten ihr einen Streich spielen. Das konnte nicht sein! Und selbst wenn es sein konnte, dann durfte es nicht sein. Mehrfach blinzelte sie, in der Hoffnung, das Bild vor ihren Augen erwies sich als Täuschung, doch letztendlich begriff sie entsetzt die Realität der Szene. Hastig schloss sie die Tür hinter sich und stürzte zu Leas Bett. Ihre Arme waren gerade lang genug, um das Bild an der Wand dahinter zu erreichen und abzureißen. Sofort verstummte der Gesang.

„Hey, spinnst du? Was soll denn das? Das ist meins!“ Mit einem Ruck setzte sich Lea in ihrem Bett auf und streckte den Arm aus, um ihrer Schwester das Diebesgut wieder zu entreißen.

Die zog schnell die Hand weg und presste das Bild an sich. „Spinnst du?“, gab sie atemlos zurück. Die kalte Angst hatte sie mehr Atem gekostet als ein Dauerlauf. „Was soll denn das? Was ist das, wo hast du das her? Bist du verrückt geworden?“

„Es ist äußerst unhöflich, mehrere Fragen auf einmal zu stellen, ohne dem anderen eine Möglichkeit zu geben, sie zu beantworten“, gab Lea trotzig zurück.

„Okay.“ Hanna holte tief Luft, atmete langsam aus und dann wieder ein. Sie musste ruhig bleiben. Mit Schimpfen würde sie bei ihrer Schwester nichts erreichen. „Was ist das, Lea?“

„Ein Foto von Marylin Monroe.“

„Woher hast du das?“

„Von Sue, sie ist eine neue Mitschülerin. Ihr Vater ist amerikanischer Soldat und hat es mitgebracht. Sie hat es mir geschenkt. Es gehört mir, gib es sofort zurück.“ Lea ließ den Arm nach vorn schnellen, aber die große Schwester drehte sich so schnell weg, dass sie nur Luft erhaschte.

Hanna löste das Bild, das sie noch immer an ihren Körper gepresst hielt, von sich und betrachtete es. Eine blonde Frau war darauf zu sehen. Sie war hübsch, zugegeben. Vermutlich ein Filmstar oder etwas in der Art. Entsprechend waren auch Aufmachung und Pose, mit der sie sich auf dem Foto präsentierte. Eine Darstellung von Weiblichkeit, die den Vater zweifellos zur Weißglut bringen würde. Was hatte Lea sich nur dabei gedacht, dieses Foto an die Wand zu kleben? War sie verrückt geworden? Niemals würde der Vater ein Bild solcher Art in seinem Haus dulden, schon gar nicht, wenn es vom Feind stammte, als den er die Amerikaner noch immer betrachtete. Eines Tages, so predigte Heinrich Gleißner beharrlich, würden die Nationalsozialisten wieder an die Macht kommen. Und dann würden sie all jene bestrafen, die sich von ihnen abgewandt hätten und all jene belohnen, die die Ideale der NSDAP weiter in Ehren hielten, auch wenn das nur im Verborgenen gelang. Bis dahin würde er die Werte und Gedanken in der Villa Gleißner aufrechterhalten und sie würden sehen, es werde sich auszahlen.

Niemand außer ihm glaubte daran. Nicht Lea, nicht Hanna, ja noch nicht einmal Vaters Liebling, der kleine Heinz. Trotzdem bestand Heinrich darauf, und solange sie alle mit ihm in der Villa lebten, war es besser, ihm keinen Grund zu geben, an ihrer Loyalität zu zweifeln. Was sonst geschah, hatten sie alle in den vergangenen fünf Jahren seit Kriegsende zu spüren bekommen. Manche weniger, Lea mehr. Dieses Foto hätte lediglich zu einer neuen Eskalation geführt, so viel war sicher.

Hanna seufzte tief, setzte sich auf Leas Bettkante und gab ihr das Foto zurück.

„Lea, mein Schatz“, sagte sie dann zärtlich. „Du weißt genau, dass du ein solches Bild hier nicht aufhängen kannst.“

Die kleine Schwester schmollte. „Sue hat mir das Foto geschenkt. Ich bin die Erste in unserer Klasse, die ein Bild von Marylin Monroe hat. Außer ihr natürlich. Weißt du eigentlich, wie interessant mich das macht?“

„Du brauchst keinen Gegenstand, um dich interessant zu machen, Lea. Du bist ein tolles Mädchen. Weil du klug bist und ein großes Herz hast. Und außerdem bist du viel hübscher als diese Marileen.“

„Marylin.“

„Meinetwegen. Marilyn.“

Mit verträumtem Ausdruck betrachtete Lea das Foto in ihrer Hand. „Wenn ich erwachsen bin, will ich auch mal ein Fotomodel werden. Oder noch besser, ein Filmstar. Ich will nach Amerika gehen und furchtbar berühmt werden. Und alle Menschen wollen dann Fotos von mir machen und jubeln mir zu, wenn sie mich irgendwo sehen. Glaubst du, ich schaffe das, Hanna?“

„Natürlich, mein Schatz. Du schaffst alles, was du willst.“ Zärtlich strich sie über das weiche blonde Haar, das Lea in ihrem Zimmer wieder offen trug.

„Das sagst du immer.“

„Weil es stimmt.“

„Und glaubst du auch, dass ich hübsch genug dafür bin?“

„Aber natürlich. Du bist das hübscheste Mädchen, das ich kenne.“

„Das sagst du nur, weil du meine große Schwester bist.“

„Nein, mein Schatz, das sage ich, weil es stimmt. Du warst schon als Baby wunderschön. Ich habe noch nie so ein bezauberndes Kind gesehen wie dich.“

Lea strahlte zufrieden. „Dann schaffe ich es. Dann werde ich Model und Schauspielerin und ganz bestimmt berühmter als Marylin Monroe.“

„Ganz bestimmt, mein Schatz. Wenn du erwachsen bist. Aber bis dahin wirst du dich schön den Regeln dieses Hauses fügen, nicht wahr? Wir wollen doch nicht wieder Ärger mit Papa riskieren.“

„Wer will keinen Ärger mit mir riskieren?“

Mit einem Ruck wandten beide Mädchen den Kopf zur Tür, da war der Vater auch schon auf dem Weg zu ihnen. Hanna sprang auf und versuchte, den Blick auf Lea zu verdecken, während diese panisch versuchte, das Marylin-Foto unter ihr Kopfkissen zu schieben, doch es war zu spät. Der Vater hatte es bemerkt. Bedrohlich langsam trat er zum Bett, schob Hanna grob zur Seite und blieb genau vor Lea stehen. Wortlos streckte er die Hand aus. Sie sah ihn an, bewegte sich aber nicht.

„Das Foto!“, donnerte Heinrich.

Lea bewegte sich noch immer nicht. Auch Hanna war wie erstarrt vor Angst. Da wandte sich der Vater an sie.

„Das Foto“, wiederholte er mit bedrohlicher Stimme und streckte Hanna die geöffnete Handfläche entgegen.

Diese zögerte nicht. Mit rascher Geste griff sie unter das Kopfkissen und zog das Objekt des Anstoßes hervor. Ihre Hände zitterten, und das Blut rauschte in ihren Ohren, als sie es in des Vaters ausgestreckte Hand übergab. Er warf einen stummen Blick darauf. Anschließend riss er es kommentarlos in Fetzen und ließ diese achtlos zu Boden rieseln.

„Hinaus!“, schrie er Hanna an, bevor er den Gürtel aus seiner Hose zog.

Während Hanna auf dem Flur kauerte und sich die Faust in den Mund presste, hallten Leas Schreie durch die Gänge der Villa. Tränen strömten über Hannas Gesicht. Sie hatte ihre Schwester nicht beschützt. Wie sie Valentina nicht beschützt hatte. Sie war eine Versagerin. Die schlechteste Schwester der Welt. Sie selbst hätte die Schläge verdient, nicht Lea.

Eine gefühlte Ewigkeit später öffnete sich die Tür und Heinrich Gleißner trat heraus. Sein Gesicht war rot vor Wut, auf seiner Stirn glänzte der Schweiß.

Schnell sprang Hanna auf die Füße und wischte sich notdürftig die Tränen aus dem Gesicht, da spürte sie auch schon die schallende Ohrfeige auf ihrer Wange. Sie widerstand dem Drang, nach der brennenden Haut zu tasten und stand still, aufrecht, mit geradem Blick, wie der Vater es erwartete.

„Sieh zu, dass du dieses Balg in den Griff bekommst“, befahl er. Dann ging er an ihr vorbei, als sei nichts gewesen.

So schnell sie konnte, stürmte Hanna zurück ins Zimmer. Auf dem Bett lag Lea bäuchlings. Sie weinte nicht mehr, aber ihr Gesicht war tränennass und in ihren Augen funkelte der Hass. „Ich werde keinen Tag länger hierbleiben!“, fauchte sie, während sie versuchte, sich aufzurichten, doch ihre Beine gehorchten nicht. „Dieser Mann ist vollkommen irre.“

Hanna ergriff ihren Arm und half ihr aus dem Bett. „Dieser Mann ist unser Vater, Lea.“

„Dieser Mann ist gar nichts! Er ist ein verrückter Tyrann, der an irgendwelchen idiotischen Parolen festhält und keine Ahnung vom Leben hat. Ich hasse ihn!“

„Psst!“ Schnell hielt Hanna ihrer kleinen Schwester den Mund zu. Für eine Zehnjährige hatte sie die Sache erstaunlich gut auf den Punkt gebracht. „Pass auf, dass er dich nicht hört, sonst bekommst du gleich die nächste Tracht Prügel“, warnte sie.

„Wenigstens hat er noch nie mein Gesicht erwischt.“ Lea deutete auf Hannas Wange, die sich deutlich gerötet hatte. „Tut es sehr weh?“

Die Ältere schüttelte den Kopf. „Bestimmt nicht so sehr wie dein Hintern.“

„Ich hasse ihn! Dieser Mann gehört hinter Gitter. Und ich lasse das auch nicht länger mit mir machen.“

„Da haben wir leider keine andere Wahl, mein Schatz. Ihm gehört das Haus, er hat das Sagen. Bis du erwachsen bist, wirst du mit ihm zurechtkommen müssen.“

„Muss ich gar nicht.“ Trotzig verschränkte Lea die Arme vor der Brust. „Ich lasse mir das nicht mehr gefallen. Ich ziehe aus.“ Mit wenigen Schritten war sie bei der kleinen Kommode und begann damit, einzelne Kleidungsstücke herauszureißen und in ihrer Schultasche zu verstauen.

„Aber Schatz, wo willst du denn hin?“

„Keine Ahnung. Zu irgendeiner Verwandten. Einer Tante, einem Onkel, Großeltern … Hauptsache weg von hier.“

„Wir haben gar keine Verwandten.“

Abrupt hielt Lea im Packen inne und sah ihre Schwester aus großen Augen an. „Wie meinst du das? Wir müssen doch irgendwelche Tanten und Onkel haben?“

„Nicht dass ich wüsste.“

„Und Großeltern?“

Hanna zuckte mit den Achseln.

Wie eine Marionette, der man die Fäden durchtrennt, fiel Lea in sich zusammen und kniete als Häufchen Elend vor der kleinen Kommode, in der Hand noch einen Pullover haltend.

Beim Anblick der Verzweiflung in ihren Augen krampfte sich Hannas Herz zusammen.

„Dann meinst du, ich muss hierbleiben?“

„Zumindest bis du einundzwanzig bist.“

„Du bist in fünf Jahren schon erwachsen. Gehst du dann fort?“

„Das werden wir sehen.“ Hanna trat zu ihr und nahm die kleine Schwester vorsichtig in den Arm.

„Bitte geh nicht. Lass mich nicht hier allein zurück, Hanna, bitte, das überlebe ich nicht.“

Hanna schluckte trocken. „Ich werde dich niemals allein lassen, mein Schatz. Ich bleibe bei dir. Und ich passe auf dich auf. Das verspreche ich dir.“

5

Seerosenvilla, September 2023

Emilia knetete aufgeregt ihre Finger, als Tom das Stemmeisen an der Diele ansetzte.

„Soll ich wirklich?“, fragte er und hielt in der Bewegung inne.

Genau dieselbe Frage hatte Emilia sich gestellt, während Tom das Werkzeug geholt hatte. Ganz wohl war ihr nicht bei der Sache. Wenn etwas unter den Dielen versteckt war, dann hatte jemand Gründe dafür gehabt, es verschwinden zu lassen. Nach dem, was sie bisher vom Leben der Familie Gleißner enthüllt hatten, mussten sie auf alles gefasst sein. Andererseits kannte sie sich gut genug, um zu wissen, dass die Geheimnisse ihr keine Ruhe lassen würden, wenn sie ihnen nicht auf den Grund ging.

Mit einem hastigen Nicken bestätigte sie das Vorhaben. Das Geheimnis des Hohlraums musste gelüftet werden. Jetzt sofort. Was mochte darunter versteckt sein? Das Geld der Familie Gleißner? Alte Briefe? Schmuck? Es musste etwas Besonderes sein. Schließlich hatten sie alte Fotos und sogar das Tagebuch der jungen Hanna Gleißner in einem schlichten Karton im Keller gefunden. Was immer hier verborgen lag, es musste eine Sensation wert sein. Bitte nur keine Leiche, betete sie inständig, wissend, dass man eine solche bestimmt riechen würde.

Es knarzte und knackte, als Tom die Diele hochstemmte. Dann hielt er mitten in der Bewegung inne, sah Emilia an und lachte. „Du zappelst herum wie ein kleines Kind.“

„Und gleich werde ich heulen, wie ein solches, wenn du nicht sofort aufmachst. Los jetzt!“ Mit einer scheuchenden Handbewegung trieb sie ihn zum Weitermachen an.

„Ich mach ja schon.“ Er feixte, konnte aber nicht verbergen, dass er ebenso neugierig geworden war. Mit einem letzten Ruck hebelte er die Diele aus der ebenen Fläche. Sie löste sich so leicht, dass das Stemmeisen etwas zu hoch in die Luft schnellte und Tom durch den unerwarteten Ruck rückwärts taumelte. Zum Glück fand er sein Gleichgewicht rasch wieder.

Mit einem Satz stürmte Emilia zu der entstandenen Öffnung und kniete sich davor. Mit einem Gemisch aus Triumph und Rührung stellte sie fest, dass sie mit ihrer Vermutung voll ins Schwarze getroffen hatte. In der Bodenvertiefung vor ihr lagen ein Stapel Zeichnungen, gefaltete Blätter und ein paar Fotos. Vorsichtig nahm sie den Stapel mit den Fotos heraus. Wie bei einem Geschenk war ein breites rotes Stoffband darum gebunden. Die Frau auf dem obersten Foto erkannte Emilia sofort.

„Schau mal, Tom“, sagte sie andächtig. „Vielleicht ist das eine der ersten Autogrammkarten von Marilyn Monroe.“

Er kniete sich ihr gegenüber und nahm das Bild, das sie ihm reichte. „Schade nur, dass es so kaputt ist. Sonst wäre es vielleicht sogar wertvoll.“

„Für den Besitzer war es anscheinend wertvoll. Sieh mal, die vielen feinen Risskanten. Es muss komplett zerfetzt gewesen sein. Aber irgendwer hat sich die Mühe gemacht, die einzelnen Teile wieder zusammenzukleben. Wahnsinn. Eine echte Präzisionsarbeit.“ So wie er war, legte Emilia den Stapel neben sich und nahm einen weißen Umschlag aus dem Bodenversteck.

„Das versteckte Geld der Gleißners“, spottete Tom, während Emilia ein weißes Blatt Papier aus dem Umschlag zog und entfaltete.

Mein Stern,

der Gedanke an dich tut weh. So schrecklich weh. Warum willst du nicht mit mir zusammen sein? Ich kann und werde das nicht akzeptieren, mein Stern. Ich bin mir sicher, ich habe nicht überlebt, um mein Leben lang unglücklich zu sein. Ich habe mein Glück verdient. Und mein Glück bist nun einmal du. Das musst du doch verstehen. Ohne dich kann ich niemals glücklich werden. Es ist mir vollkommen egal, wie wir leben. Und wo wir leben. Hauptsache, wir können zusammen sein. Lass uns zusammen verschwinden. Ich bitte dich. Nein, ich flehe dich an. Ohne dich hat mein Leben keinen Sinn. Zieh dich nicht zurück. Verlass mich nicht. Verstoße mich nicht. Ich weiß, dass du mich auch liebst, ich weiß es einfach. Mach uns nicht unglücklich, bitte nicht. Triff dich noch einmal mit mir. Sieh mir in die Augen und sag mir, dass du mich nicht liebst. Dann werde ich es akzeptieren und dich in Ruhe lassen. Aber ich bin mir sicher, dass du das nicht kannst. Weil du mich liebst. Und das weißt du genauso gut wie ich. Triff dich mit mir. Ein letztes Mal. Bitte.

In ewiger Liebe und für immer Dein.