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Die Frau eines Serienkillers zu sein, ist mörderisch.
Carrie Miller ist die meistgehasste Frau Amerikas. Ihr Mann Daniel hat vierzehn Menschen ermordet, bevor er verschwand. Nun steht Carrie als Komplizin des »Sandmanns« vor Gericht. FBI, Staatsanwaltschaft und Medien sind überzeugt, dass sie von den Taten wusste und Daniel gedeckt hat. Für ihren Anwalt Eddie Flynn wird es schwer, allen das Gegenteil zu beweisen. Doch er glaubt Carrie, dass sie keine Ahnung von der dunklen Seite ihres Mannes hatte. Erst im Laufe des Prozesses kommt ihm der Verdacht, dass sie ihm nicht die ganze Wahrheit gesagt hat. Unterdessen verlässt Daniel sein Versteck, um seine Frau vor einer lebenslangen Haftstrafe zu bewahren. Und jeder, der mit dem Fall zu tun hat, wird zur Zielscheibe...
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Seitenzahl: 517
Veröffentlichungsjahr: 2025
Carrie Miller ist die meistgehasste Frau Amerikas – und Eddie Flynns Klientin …
Nach einer spektakulären Serie von grausamen Morden kann das FBI endlich die Identität des Killers aufdecken, der sich selbst der »Sandmann« nennt: Es ist der reiche Hedgefonds-Manager Daniel Miller. Die schrecklichen Details seiner Taten waren von den Medien genüsslich ausgeschlachtet worden, die Angst in der Bevölkerung wuchs mit jeder Tat. Nun endlich ist der »Sandmann« dank eines blutigen Fingerabdrucks überführt. Doch Daniel kann sich der Verhaftung entziehen. Er taucht unter, von ihm fehlt jede Spur. Daher konzentriert sich die Justiz nun auf die Person, die ihm am nächsten stand: seine Frau Carrie. Sie wird beschuldigt, Daniels Komplizin gewesen zu sein und seine Taten gedeckt zu haben. Davon gehen die Ermittler, die Staatsanwaltschaft und das ganze Land aus. Nur Eddie Flynn und sein Team glauben Carries Beteuerungen, nichts von den Verbrechen ihres Mannes gewusst zu haben …
Weitere Informationen zu Steve Cavanagh sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.
Steve Cavanagh
Die Komplizin
Der siebte Fall für Eddie Flynn
Thriller
Aus dem Englischenvon Jörn Ingwersen
Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel »The Accomplice« bei Orion Fiction, an imprint of The Orion Publishing Group Ltd., London.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Deutsche Erstveröffentlichung Februar 2025
Copyright © der Originalausgabe
2022 by Steve Cavanagh
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2025
by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 Mü[email protected]
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur GmbH, München, nach einer Vorlage von Roald Tiebels unter Verwendung eines Bildes von gettyimages/tmeks
Umschlagmotiv: © gettyimages/tmeks
Redaktion: Regina Carstensen
AB · Herstellung: ik
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-30546-8V004
www.goldmann-verlag.de
Für Tracy
So gegen Abend hin, wenn die Kinder noch so nett am Tische oder auf ihrem Schemel sitzen, kommt Ole Luk-Oie. Er kommt sachte die Treppe herauf, denn er geht auf Socken; er macht ganz leise die Thüren auf, und husch! da spritzt er den Kindern Sand in die Augen hinein, und der so fein, so fein, aber doch immer genug, sodaß sie die Augen nicht aufhalten und ihn deshalb auch nicht sehen können. Er schleicht sich gerade hinter sie, bläst ihnen sachte in den Nacken, und davon werden sie schwer im Kopf … Ich will Dir meinen Bruder zeigen. Er heißt auch Ole Luk-Oie, aber er kommt zu Niemand öfter, als einmal, und zu wem er kommt, den nimmt er mit auf seinem Pferde und erzählt ihm Geschichten. Sie nennen ihn auch den Tod.
Aus: »Ole Luk-Oie«. Hans Christian Andersen: Sämmtliche Märchen, 1862.
Eine Geschichte vom Sandmann
Der SWAT-Leader zählte runter.
Zehn Sekunden.
Sobald er bei null angekommen war, lagen bis zur Hintertür hundert Meter englischer Rasen vor ihnen. Paige Delaney richtete sich im feuchten Laub auf, drückte einen dünnen Kiefernzweig herunter, um das Haus besser im Blick zu haben. Kalkweiß stand der Mond über der Silhouette des alten Anwesens in Old Westbury, New York.
Delaney atmete tief ein und langsam wieder aus. Lauschte dem Countdown im Funk.
Zehn …
Sie mochte Zahlen. In ihrer Zeit als FBI-Agentin in der Abteilung für Verhaltensforschung hatte sie gelernt, eher auf Zahlen als auf Menschen zu bauen. Und die Zahlen in diesem Fall waren außergewöhnlich.
Neun …
Seit vierzehn Monaten und zwölf Tagen jagte sie nun diesen Mann, den die Zeitungen »Coney Island Killer« nannten. Er selbst hatte sich einen anderen Namen gegeben. In einem seiner Briefe ans FBI, den er auch der Washington Post schickte, hatte er ihn erwähnt. Er nannte sich derSandmann.
Acht …
Im Schnitt arbeitete Delaney fünfzehn Stunden am Tag. Die Taskforce, die sie zusammen mit dem leitenden Special Agent Bill Seong führte, bestand aus zweihundert Polizisten und FBI-Agenten. Die Taskforce hatte mehr als tausend potenzielle Zeugen befragt. Einundsiebzig Verdächtige verhört. Und dreiundsechzig Kisten voller Akten angesammelt, die sich in den beiden Räumen der kleinen New Yorker FBI-Wohnung stapelten.
Sieben …
Und dann waren da die großen Zahlen. Die die Schlagzeilen bestimmten.
Siebzehn Opfer. Männer und Frauen.
Die ersten Toten hatte man, halb im Sand begraben, am Strand von Coney Island gefunden. Sie waren erschossen worden, erstochen und verstümmelt. Durch die verstärkte Polizeipräsenz am Strand hatte sich das Verhaltensmuster des Mörders verändert. Die späteren Opfer waren alle in ihren Häusern ermordet worden. Meist handelte es sich um einzelne Personen. Hin und wieder tötete er auch mehr als einen Menschen.
Sechs …
Delaneys Profil des Sandmanns hob zwei sich wiederholende Tatmuster hervor. Das eine kannten alle. Und die Medien griffen die blutigen Details nur allzu gern auf. Nachdem die Opfer umgebracht worden waren, hatte der Mörder ihre Wunden, die Münder und die leeren Augenhöhlen mit Sand gefüllt. Die Augen hatte er mitgenommen. Ganz New York schien bei Nacht den Atem anzuhalten und auf den nächsten Toten zu warten.
Fünf …
Nur Delaney und einige wenige, die zur Kommandoebene der Taskforce gehörten, wussten um das zweite Tatmuster. Dieses durfte nicht an die Presse durchdringen. Es konnte dazu beitragen, ihn eines Tages zu fassen, und blieb deshalb ein streng gehütetes Geheimnis. Dabei ging es um Schmuck.
Vier …
Irgendwann kam der Moment, in dem die Zahlen gegen den Sandmann arbeiteten. Kein Mensch kann immer wieder ein perfektes Verbrechen begehen. Früher oder später musste ihm ein Fehler unterlaufen. Da war Delaney ganz sicher gewesen, und sie sollte recht behalten. Vor drei Tagen hatten sie seine jüngsten Opfer gefunden. Die Familie Nielsen. Mann und Frau. Die Kinder wurden betäubt. Sie meinten, in der Nacht hätte es sich angefühlt, als hätte ihnen jemand an den Hals gepustet, dann ein kurzer Stich, und schon waren sie eingeschlafen.
Am Oberkörper der Frau war ein blutiger Fingerabdruck gefunden worden, gleich unter ihrem rechten Arm.
Drei …
Innerhalb von zwei Tagen hatten sie einen Treffer, was den Fingerabdruck anging, wenn auch nicht aus irgendeiner Datenbank der Strafverfolgungsbehörden. Daniel Miller, fünfundvierzig Jahre alt, hatte seinen Ausweis und die Fingerabdrücke hinterlassen müssen, um eine Handelslizenz beantragen zu können. Die folgenden fünfzehn Stunden waren wie im Flug vergangen, während Delaney sich ein Bild von Millers Leben machte, seinen Beteiligungsgesellschaften, seinem Umfeld, vor allem aber von seinem aktuellen Wohnort. Er stand nicht auf der Liste der Verdächtigen, die man aus Tausenden von möglichen Tätern zusammengestrichen hatte.
Zwei …
Es ging auf zweiundzwanzig Uhr zu. Im Erdgeschoss von Millers Anwesen brannte Licht. Küche, Wohnzimmer und Flur.
Delaney zückte ihre Glock 19. Beugte sich vor. Spannte die Muskeln. Die Handflächen schweißnass. Sie war bereit, sich aus dem Dunst von Kiefern und fauligem Laub zu befreien. Bereit, aus der Reihe von Bäumen hervorzubrechen. Bereit, sich den Mann zu schnappen. Sie gingen davon aus, dass sich zwei Personen im Haus aufhielten – Daniel Miller und seine Frau Carrie.
Eins …
Sie wartete nicht bis null.
Irgendwo in der Ferne brüllte ein Ford Crown Victoria auf. Der Motorenlärm war wie ein Startschuss. Als der SWAT-Leader LOS rief, waren alle längst auf den Beinen, stampften mit ihren Stiefeln über den Rasen, stürzten auf die Hauseingänge zu. Ein gutes Dutzend von FBI und NYPD war Delaney voraus, trotz schwerer Kampfausrüstung, mitsamt Schutzhelmen und Kevlar. Heute Nacht würde sie kein Wettrennen gewinnen, aber das machte ihr nichts aus. Andere würden vor ihr im Haus sein. Cops und Feds, die dafür ausgebildet waren, Türen einzutreten.
Als Delaney auf die Terrasse trat und am Swimmingpool vorbeikam, war das SWAT schon drinnen, und die Hintertür hing in den Angeln. Sie hörte eine Stimme. Einen Schrei. Weiblich.
Delaney wartete an der Tür mit gezogener Waffe. Fünf weitere FBI-Agenten waren bei ihr, die das Haus durchsuchen sollten. An den Bändern um ihre Hälse baumelten laminierte Karten, auf denen gesuchte Gegenstände abgebildet waren – Schmuckstücke, von denen man wusste, dass sie Opfern gehört hatten. Manche davon wären leicht zu identifizieren, weil sie so außergewöhnlich waren. Wie etwa die tahitianische schwarze Perlenkette, die man Stacy Nielsen vor drei Tagen abgenommen hatte.
Dann eine Stimme im Funk.
»Er ist nicht hier. Haus, Grund und Garage durchsucht. Die Frau ist in der Küche. Gelände gesichert.«
Delaney fluchte, trat durch die Hintertür ins Haus. Eine große Waschküche führte in eine noch viel größere Küche. Die drei Meter hohe, gläserne Decke würde den Raum tagsüber mit Licht fluten. Jetzt schien sie nur Finsternis hereinzulassen. Ein Weinglas lag umgekippt auf dem marmornen Küchentresen. Der Rotwein hatte eine Lache gebildet und tropfte langsam auf den weiß gefliesten Boden.
Eine Frau mit kurzen, dunklen Haaren saß auf einer Couch am anderen Ende des Raums. Carrie Miller schüttelte den Kopf, weinte, blickte zu den beiden NYPD-SWAT-Beamten auf, die über ihr aufragten und sie mit Fragen bombardierten. Sie trug ein weißes T-Shirt, graue Sweatpants und cremefarbene Haussocken. Als Delaney auf sie zuging, fiel ihr das perfekte ovale Gesicht der Frau auf, die reine Haut und die leuchtend grünen Augen, in denen Tränen glänzten.
»Ich weiß nicht, wo er ist. E-er war seit Tagen nicht zu Hause. E-er meinte, er müsste auf Geschäftsreise. B-bitte, ich verstehe überhaupt nicht, was hier los ist …«
»Mrs Miller, ich bin Special Agent Paige Delaney. Ich kann mir vorstellen, wie verängstigt Sie jetzt sein müssen. Tut mir leid, dass wir hier so eindringen. Wir haben eine richterliche Anordnung, Ihr Haus zu durchsuchen, und einen Haftbefehl gegen Ihren Mann – Daniel Miller.«
Es ist nicht einfach, die Reaktion eines Menschen auf eine solche Nachricht einzuschätzen. In diesem Moment war Delaney nicht sicher, ob sie zu Carrie durchdrang.
»Mrs Miller, was ich Ihnen jetzt sagen werde, wird Sie schockieren, aber für Ihre Sicherheit ist es unerlässlich, dass Sie die Wahrheit kennen.«
Bevor sie Carrie Miller die schlechte Nachricht überbrachte, nahm sie sich den Moment, der Frau tief in die Augen zu blicken. Carrie sah jetzt schon aus, als hätte die Trauer sie aus der Bahn geworfen – wie traumatisiert. Die Tränen wuschen ihr das Make-up aus dem Gesicht. Sie schniefte, wischte sich die Wangen, schmierte Lippenstift auf ihre weißen Zähne. Traumatisiert sind alle Menschen gleich. Delaney hatte schon mit vielen Frauen auf dem Sofa gesessen und ihnen schlechte Nachrichten gebracht.
Carrie sah aus wie diese Frauen.
Ihre Ehe hatte sie reich gemacht. Delaney wusste, dass Carrie aus einer armen Familie im Mittleren Westen stammte, nach New York gekommen war, um Schauspielerin zu werden, und irgendwann auf ihrem Weg Daniel Miller kennengelernt hatte. Machte es einen Unterschied, ob diese Frauen, die Delaney in all den Jahren in die Arme genommen und getröstet hatte, ihre verschmierten Münder mit Zehn-Dollar-Lippenstiften von Maybelline oder einem für neunundneunzig Dollar von Christian Louboutin nachzogen? Carries Handtasche stand offen auf dem gläsernen Kaffeetisch, und Delaney war froh, einen billigen Lippenstift zu sehen. Es machte nicht den Eindruck, als hätte das Geld aus Carrie einen anderen Menschen gemacht. Es bewies Charakter. Und davon würde Carrie viel brauchen, wenn sie das nächste Kapitel ihres Lebens überstehen wollte.
Es war nicht ungewöhnlich, dass Serienmörder ihre Verbrechen begingen, während sie gleichzeitig ein relativ normales Leben führten. Der BTK-Killer, Gacy, der Green River Killer und viele andere waren verheiratet. Sobald Schock und Fassungslosigkeit nachließen, begann eine ganz andere Art von innerem Kampf. Wie alle diese Frauen würde auch Carrie sich immer und immer wieder dieselbe Frage stellen. Wieso hatten sie nicht gemerkt, dass sie mit einem Ungeheuer verheiratet waren? Und dann kamen die Schuldgefühle. Unbegründete Schuldgefühle, und doch würden sie sich real anfühlen und ganz genauso wehtun. Nicht nur würde den Frauen plötzlich bewusst werden, dass sie keine Zukunft mehr hatten und sich alles Glück, das sie in der Vergangenheit erlebt hatten, in Luft auflöste. Jeder Kuss, jede Umarmung, jeder gemeinsame Moment wäre vergiftet. Und dann kam der eigentliche Schmerz – was hatten sie an sich, dass sich ein so böser Mensch zu ihnen hingezogen fühlte? Wenn dieser Schmerz Carrie nicht in den nächsten zwei Jahren aus der Bahn warf, dann konnte sie es vielleicht schaffen. Delaney hoffte es zumindest. Bei einem weiteren Blick auf den billigen Lippenstift in Carries Handtasche dachte sie, dass diese Frau vielleicht eine bessere Chance hatte als die meisten anderen.
»Darf ich Sie Carrie nennen?«, fragte Delaney.
Carrie nickte, und ihre Lippen teilten sich, als wollten sie die Flut von Angst und Grauen hereinlassen, sodass sie sich schütteln musste.
»Carrie, wir glauben, Ihr Mann ist der Mörder, den man den Sandmann nennt.«
Was antwortet man darauf? Wie reagiert man? Für Delaney wäre jede Reaktion okay. So etwas ließ sich nicht leicht verarbeiten. Aber sie wusste auch, dass es ein berechenbarer Prozess der Verarbeitung war. Und der erste Schritt war Leugnung: Sie haben den Falschen. Ich kenne meinen Mann – das ist doch absurd – er ist kein gewalttätiger Mensch – er ist ein so guter Vater, er sorgt für uns, er ist immer für uns da. Tut mir leid, aber das muss ein Irrtum sein …
Carrie Millers offener Mund bebte, und sie suchte in Delaneys Gesicht.
Aber sie sagte nichts. Sie trat nicht für die Unschuld ihres Mannes ein. Delaney musste an ihren zehnten Geburtstag denken. Den Tag, an dem ihr Vater gestorben war. Er lag damals schon einen Monat mit einem unheilbaren Hirntumor im Krankenhaus. Er lag im Koma, und sie war am Morgen bei ihm gewesen. Am Nachmittag bekam sie Besuch von drei ihrer besten Freundinnen. Als alle gegangen waren, wollte sich ihre Mutter gerade den Mantel überziehen, um noch mal ins Krankenhaus zu gehen, als das Telefon klingelte. Delaney würde das Gesicht ihrer Mutter nie vergessen. Es sah aus, als hätten die Tränen ihre Mimik eingefroren. Carrie hatte denselben Gesichtsausdruck. Eine Frau, die gewusst hatte, dass etwas Schlimmes passieren würde, die sogar Zeit gehabt hatte, sich darauf vorzubereiten. Aber als es dann passierte, war der Schmerz doch heftiger als erwartet.
»Können wir Carrie vielleicht ein Glas Wasser besorgen?«, sagte Delaney zu einem der SWAT-Leute, und der Mann trat an den Küchenschrank, fand die Gläser, füllte eines davon mit Leitungswasser und reichte es Carrie.
Sie hielt das Glas mit beiden Händen, führte es zitternd an den Mund.
»Falls Sie wissen, wo er sich aufhält, müssen Sie es uns sagen«, meinte Delaney.
»Ich weiß nicht, wo er ist«, sagte Carrie. »Und es ist mir auch egal. Ich will ihn nie wiedersehen.«
Delaney drückte auf den Funk an ihrer Schutzweste. »Schon irgendwas gefunden, Bill?«
Ihre Frage wurde sofort vom leitenden FBI-Agenten Bill Seong beantwortet. »Komm rauf. Elternschlafzimmer.«
Auf ihrem Weg die große Treppe hinauf nahm sie immer zwei Stufen auf einmal. Fand das Schlafzimmer am Ende des Flurs zu ihrer Linken. Darin gab es zwei große Sessel, einen Spiegel, ein großes Doppelbett mitten im Raum und einen Flachbildschirm an der Wand.
»Hier, im Schrank«, sagte Bill.
Zwei Türen führten in Nebenräume. Ein Bad und ein begehbarer Kleiderschrank, etwa so groß wie Delaneys Wohnung in Manhattan. Der Schrank war auf beiden Seiten mit Regalen, Schubladen und Fächern aus Mahagoni ausgestattet. Für sie und ihn. Bill leuchtete mit seiner Taschenlampe auf eine Reihe von weißen Hemden, dicht gedrängt.
»Sieh dir den Ärmel von dem hier an«, sagte er.
Da war ein Fleck. Sah aus wie der Spritzer von einer dunklen Flüssigkeit. Obwohl es sich um ein frisch gewaschenes Hemd handelte, war der rostfarbene Fleck noch immer da. Delaney hatte oft genug blutverschmierte Kleidung gesehen, um diesen Fleck verdächtig zu finden.
»Nimm es mit«, sagte Delaney.
Bill schnippte mit den Fingern nach einem Techniker, der hinter ihm stand und einen Beweismittelbeutel bereithielt.
»Das ist noch nicht alles«, sagte Bill und deutete mit der Taschenlampe auf eine offene Schublade.
Delaney sah sich die Schublade näher an. Diverse Schmuckstücke auf einem schwarzen Tuch. Einige der Stücke kamen ihr bekannt vor. Eins vor allem.
Stacy Nielsens schwarze Perlenkette.
»Jackpot«, sagte Bill grinsend.
»Ist dieses hier das richtige Hemd?«, fragte der Techniker.
Delaney drehte sich um. Es war das richtige. Weiß mit einem Fleck am …
Da erst fiel ihr auf, dass es kein Herrenhemd war.
Es war eine Damenbluse.
Sie wandte sich wieder der Schmuckschublade zu. Diese befand sich auf »ihrer« Seite des Schranks.
Bill nahm sein Funkgerät und sagte: »Irgendeine Spur von seinem Van auf dem Gelände?«
»Nicht in der Garage«, kam die Antwort.
»Dreck«, sagt Bill.
»Wir haben den Schmuck und seine DNA«, bemerkte Delaney. »Den Van brauchen wir nicht unbedingt.«
»Ich will alles«, erklärte Bill.
Einige der Zeugen, die zur Zeit der Morde in der Nähe der Tatorte gewesen waren, hatten ausgesagt, sie hätten einen dunklen Van gesehen. Das FBI hatte etwa elftausend registrierte Besitzer von dunklen Vans in New York identifiziert. Zum Glück hatten sie keinen weißen Van beobachtet, denn von denen waren fünfundfünfzigtausend unterwegs. Gemeinsam mit lokalen Polizeibeamten waren sie von Haus zu Haus gegangen, um – einer Liste von Kriterien folgend – Namen von der Liste zu streichen.
Der Wagen stand nicht vor Daniel Millers Büro. Und auch nicht am Haus.
Bills Handy klingelte. Er registrierte den Namen des Anrufers und reichte das Telefon an Delaney weiter, die raus auf den Flur ging, um dort zu telefonieren.
»Delaney hier«, sagte sie.
»Wo ist Bill?«, fragte Drew White, der für den Sandmann-Fall zuständige stellvertretende Bezirksstaatsanwalt.
»Der hat zu tun. Wir sind hier mitten in einer Hausdurchsuchung, Drew.«
»Sagen Sie mir, dass Sie den Van gefunden haben.«
»Wir haben was Besseres. Wir haben den Schmuck«, sagte Delaney.
»Na, das ist eine gute Nachricht. Ich fürchte, ich bringe schlechte. Wollen Sie wissen, warum Daniel Miller bei der Suche nach dem Van sich nicht auf unserer Liste der potenziellen Täter befand?«
Delaney hielt sich das andere Ohr zu, konzentrierte sich auf White.
»Er hat ihn gebraucht gekauft und nicht umgemeldet?«
»Nein. Er hat auf unserer Liste gestanden, verdammt. Wir hätten ihn schon vor zwei Monaten schnappen können.«
»Das kann nicht wahr sein. Wieso wurde er gestrichen?«
Überall um Delaney herum wurden Türen und Schränke geöffnet und deren Inhalt auf dem Boden ausgebreitet, schwere Stiefel stampften, Männer redeten durcheinander, aber bei alledem hörte sie doch nur Whites Stimme.
Als er fertig war, legte er auf. Delaney wurde übel.
Sie ging nach unten. Bill folgte ihr.
»Was wollte White?«, fragte er.
Delaney sagte nichts, also fragte er noch mal. Wortlos stieg sie weiter die Treppe hinunter. Lief durch den Flur direkt ins Wohnzimmer und blieb vor der zitternden Carrie stehen.
»Carrie Miller«, sagte sie. »Ich verhafte Sie wegen des Verdachts auf mehrfachen Mord …«
BREAKING NEWS – IDENTITÄT DES SANDMANNS GEKLÄRT
Neue Entwicklungen im New Yorker Sandmann-Fall. Die vom FBI geleitete Taskforce bestätigt, den Serienmörder identifiziert zu haben, der die Stadt seit über einem Jahr in Angst und Schrecken versetzt. Taskforce-Leiter William Seong erklärte auf einer Pressekonferenz, man verfüge über forensische Beweise, die darauf hindeuten, dass es sich bei dem Sandmann um einen fünfundvierzigjährigen New Yorker Hedgefonds-Manager namens Daniel Miller handele. Landesweit wird an sämtlichen Bahn- und Busbahnhöfen, Fähranlegern und Flughäfen nach ihm gefahndet. Die Bevölkerung ist aufgefordert, die Augen nach Miller offen zu halten, der nach Aussage von Special Agent Seong bewaffnet und extrem gefährlich ist. Für weitere Informationen zu diesem Fall schalten wir nun live zu unserem Gerichtsreporter Shimon Prokupecz, der für uns auf der Federal Plaza steht …
CNNNEWSHOUR
ANKLAGE IM SANDMANN-FALL
Das Büro der für den südlichen Bezirk New Yorks zuständigen Bezirksstaatsanwaltschaft hat bestätigt, dass Carrie Miller, Ehefrau des mutmaßlichen Serienmörders Daniel Miller, von einer Grand Jury des sechsfachen Mordes angeklagt wurde. Der mit dem Fall beauftragte stellvertretende Bezirksstaatsanwalt Drew White erklärte vor der Presse, Carrie Miller habe nicht nur gewusst, dass ihr Mann der Sandmann war, sondern in mindestens sechs Fällen außerdem als seine Komplizin gehandelt. White hob hervor, diese Vorwürfe würden sich auf Hinweise stützen, die einen direkten Zusammenhang zwischen Carrie Miller und der Ermordung dieser sechs Opfer herstellen. Auf jeden einzelnen Anklagepunkt steht eine lebenslange Strafe …
The New York Times
IST SIE AMERIKAS KÄLTESTES MONSTER?
Ihr Mann ist der meistgesuchte Verbrecher des Landes. Sie ist die Frau des mutmaßlichen Serienkillers Daniel Miller, besser bekannt als »der Sandmann«. Nächsten Monat steht sie wegen sechsfachen Mordes vor Gericht. Die für den südlichen Bezirk New Yorks zuständige Bezirksstaatsanwaltschaft erklärt, sie sei seine Komplizin gewesen, habe gewusst, dass ihr Mann ein Serienkiller war, und ihm aktiv bei seinen Taten geholfen. Und sie habe es ihm sogar ermöglicht, seiner Verhaftung zu entgehen. Sie bestreitet sämtliche Vorwürfe, doch die Spekulationen darüber, was sie über die Verbrechen ihres Mannes wusste oder nicht wusste, reißen nicht ab. Es heißt, die Frau sei eiskalt.
The National Enquirer
Killer Carrie - jetzt packen Nachbarn und Freunde aus
Der Prozess gegen Carrie Miller, bekannt als die Frau des Sandmanns, beginnt in der nächsten Woche, und während noch Mutmaßungen wuchern, was sie von den mörderischen Aktivitäten ihres Mannes wusste, sprachen wir mit ihren Nachbarn und Highschool-Freunden und fragten sie, wie sie sich fühlen, jemanden zu kennen, der mehrere Morde auf dem Gewissen hat, und ob es frühe Anzeichen dafür gab, dass Carrie Miller gemeinsame Sache mit einem Serienmörder machte. Sämtliche Befragten möchten anonym bleiben.
»Ich fand sie schon immer merkwürdig. So still, wissen Sie«, sagte eine Nachbarin.
»Ich kenne Carrie seit fünfzehn Jahren. Auf der Highschool waren wir beste Freundinnen. Ich war ihre Brautjungfer. Mein Gott, wenn ich nur daran denke, läuft es mir eiskalt über den Rücken. Wenn Sie mich fragen, ob sie jemanden ermorden könnte, muss ich sagen, ich weiß es nicht …«
»Ich traue ihr nicht. Hab ich noch nie. Schon seit sie hergezogen ist. Sie hat so was an sich, wissen Sie, einfach nur böse. Ich kann nicht mal mehr an ihrem Haus vorbeigehen.«
Es gibt keine Spur vom Sandmann, seit er auf der Flucht vor der Polizei ist. In jüngster Zeit wurden jedoch Vermutungen angestellt, es läge ein Deal für seine Frau auf dem Tisch. Im Tausch gegen Informationen, die zur Verhaftung des Sandmanns führen, könnte Carrie Miller auf freien Fuß kommen. Wir fragten den leitenden Ankläger Drew White, ob an diesem Gerücht etwas dran sei. »Die Opfer verlangen Gerechtigkeit. Einen Deal wird es nicht geben.« Der Prozess beginnt wie geplant in der nächsten Woche …
The Washington Post
Es begann mit einem Fremden.
Tut es immer.
Der Fremde, der auf einem braunen Lederstuhl im Empfangsbereich meiner Kanzlei saß, sah nicht aus wie alle anderen. Zumindest anfangs nicht. Seine langen Beine steckten in einer blau gestreiften Hose, passend zum Rest seines Anzugs. Das weiße Hemd war eine Mischung aus Seide und Baumwolle. Eine dicke dunkelblaue Krawatte vervollständigte seinen Auftritt. Die braunen Locken waren zurückgestrichen und sein Bart sauber getrimmt. Er wirkte wie ein Model aus dem Katalog. Und das hätte er auch sein können, wäre da nicht diese gewisse Ähnlichkeit mit allen anderen gewesen, die in meinem Empfangsbereich sitzen. Er war auf seinem Stuhl in sich zusammengesunken. Die langen Beine hatte er vor sich ausgestreckt, als wäre er eben fünfzig Blocks in brandneuen Schuhen gelaufen. Neben der Erschöpfung war es der Ausdruck in seinen Augen, der mir bekannt war.
Sein Blick wanderte durch den Raum, aber seine Augen sahen nichts. Sie suchten etwas. Der Mann machte den Eindruck, als hätte er eine schwere Bürde zu tragen.
Ich lebe von den Problemen anderer. Und zu mir findet nur, wer große Probleme hat. In letzter Zeit hatte der Geldfluss unserer Kanzlei durch den Corona-Lockdown etwas gelitten. New York war auf dem Weg der Besserung, die Impfungen hatten geholfen, und langsam entspannte sich die Lage. Ich sah mir den Mann in seinem schicken Anzug kurz an. Irgendwie kam er mir bekannt vor. Denise, unsere Sekretärin, ging an ihm vorbei, schenkte ihm dabei ein Lächeln, öffnete die Glastür zu meinem Büro und schloss sie hinter sich.
Ich trank meinen ersten Kaffee des Tages aus und stand auf, um mir in der Küche einen neuen zu holen.
»Bleib sitzen«, meinte Denise lächelnd.
Sie hielt einen heißen Becher in der Hand, aber mir fiel auf, dass es nicht ihr eigener war. Sie stellte den Becher vor mir auf dem Schreibtisch ab und sagte: »Hier ist dein zweiter Kaffee.«
Denise war eine erfahrene Rechtsanwaltssekretärin. Cleverer als die meisten Anwälte, aber beklemmend gut organisiert und mit brauchbarem Geschäftssinn ausgestattet. Ein Arbeitstier mit einem Herzen so groß wie der Lake Michigan. Denises Aufgaben bestanden darin, hundert Worte in der Minute zu tippen und den Kahn meiner Kanzlei durch den Sturm des Alltagsgeschäfts zu lenken. Allerdings gingen ihre Pflichten nicht so weit, dass sie mir meinen Kaffee brachte. Ich mochte es nicht, wenn man mir Kaffee oder was zu essen vorsetzte. Ich konnte für mich selbst sorgen. Denise hatte mir noch nie auch nur ein Glas Wasser auf den Schreibtisch gestellt.
Lächelnd stand sie da.
»Brauchst du eine Gehaltserhöhung?«, fragte ich.
»Nein, alles gut. Aber du hast mal gesagt, dass du morgens nicht so ganz bei dir bist, wenn du nicht zwei Becher Kaffee hattest.«
Das stimmte, wenn ich mich auch nicht daran erinnern konnte, wann ich es zu Denise gesagt haben sollte.
Als Nächstes tauchte Harry Ford mit einem dicken Bündel von Papieren im Arm in meinem Büro auf. Der ehemalige Richter, mein alter Förderer und jetziger Berater, der mir bei den verzwickteren Problemen unserer Fälle half. Harry knallte die Akten auf meinen Schreibtisch und setzte sich mit seinem Hintern auf einen der Mandantenstühle.
Bloch, unsere Ermittlerin, folgte Harry. Sie rollte zwei Stühle in mein Büro, setzte sich auf den einen und ließ den anderen frei. Kate Brooks, meine Partnerin bei Flynn & Brooks, kam mit ihrem eigenen Stuhl herein, setzte sich und kreuzte die Beine darunter. Bloch und Kate waren schon als kleine Mädchen miteinander befreundet gewesen und verstanden sich blind, durch Blicke, Gesten und ein kleines Lächeln. Bloch holte ihr Handy aus ihrer Jeans und stellte es auf lautlos. Kate zog ihr Handy aus der Jacke ihres geschäftsmäßigen Kostüms und stellte es auf lautlos.
Alle starrten mich an.
»Ist das hier eine Intervention?«, fragte ich. »Ich trinke nicht, fragt Harry …«, sagte ich, doch Denise fiel mir ins Wort.
»Trink aus«, befahl sie.
»Was soll das werden? Und wieso werde ich den Eindruck nicht los, dass es mit dem bunten Anzug im Eingangsbereich zu tun hat?«
Bloch spitzte die Lippen und warf Kate einen Blick zu, der offenbar das Stichwort war.
»Wir nehmen einen neuen Fall an«, sagte Kate.
»Wir?«, fragte ich.
Sie nickte. »Wir werden all unsere Kräfte brauchen. Bloch und ich haben die Akte übers Wochenende durchgearbeitet, und Harry hat sie gestern gelesen. Das ist ein Riesending, Eddie.«
Reglos saß ich da.
Ich arbeitete gern. Menschen zu helfen, war mein Job, und der war meistens gut. Wenn wir einen großen Fall übernahmen, hätte ich erwartet, dass Harry oder Kate mir schon vorher davon erzählen würden. Bloch sagte nie viel, obwohl wir befreundet waren. Sie sagte zu niemandem viel.
»Wenn wir einen großen Fall an Land gezogen haben, wieso komme ich mir vor, als wäre ich in einen Hinterhalt geraten? Und wieso bringt Denise mir einen Kaffee?«
»Weil ich dir gern einen Kaffee bringe«, sagte Denise.
»Nein, tust du nicht. Wer ist der bunte Anzug da draußen? Ist das der Mandant?«
»Nein«, sagte Harry. »Er ist der Anwalt des Mandanten.«
Ich machte einen langen Hals und sah mir den Mann abermals an. Daher kannte ich ihn – aus dem Fernsehen.
»Ist das Otto Peltier?«, fragte ich.
Harry nickte.
Das erklärte den Anzug, die Frisur. Er sah zu mir herüber und wischte sich mit manikürten Fingern über die Lippen. Bis zum letzten Jahr hatte noch kaum ein Anwalt in Manhattan von Otto Peltier gehört. Seine Mandanten wohnten in den wohlhabenderen Gegenden von New York, und Otto praktizierte in den wohlhabenderen Sphären des Gesetzes. Immobilien, Steuern, Vermögensmanagement, Scheidungen und Erbschaftsangelegenheiten. Mit anderen Worten: Er sparte seinen Mandanten so viel Steuern, dass sie sich ein Boot kaufen konnten oder ein Haus, und dann sorgte er dafür, dass sie es trotz Scheidung behalten konnten. Und am Ende stellte er sicher, dass die Regierung nicht einen Riesenbatzen von ihrem Besitz einkassierte, wenn sie starben. Daher staunte die Anwaltschaft New Yorks nicht schlecht, als Otto Peltier den größten Strafprozess in der Geschichte der Stadt an Land gezogen hatte. Der Druck war ihm anzusehen. Er hatte dunkle Schatten um die Augen.
Otto vertrat Carrie Miller – die Frau des Sandmanns. Im letzten Jahr war ihr Haus von Cops und FBI gestürmt worden, nachdem man Daniel Miller durch seine Fingerabdrücke und DNA-Spuren identifiziert hatte, die an einem der Tatorte gefunden worden waren. Ein Jahr später suchte man den Sandmann noch immer. Mancher war der Ansicht, Carrie Miller sei ein guter Ersatz, wenn man den wahren Mörder schon nicht fassen konnte. Es sähe so aus, als hätten die Behörden irgendwas erreicht. Und sie brauchten einen Erfolg, weil die Stadt und der halbe Staat nun schon seit Langem in Angst und Schrecken vor diesem Mann lebten. Einen Mörder wegzusperren, war in jedem Fall die richtige politische Entscheidung.
»Moment mal. Er möchte, dass wir in diesem Fall seine Wasserträger werden? Ich spiele nicht die zweite Geige«, sagte ich.
»Er bittet uns nicht, seine Drecksarbeit zu erledigen oder seine Hand zu halten«, sagte Kate. »Er möchte, dass wir die gesamte Verteidigung übernehmen.«
»Was? Wieso?«
»Er hatte auf einen Deal gebaut, aber die Staatsanwaltschaft spielt nicht mit. Otto Peltier ist kein Strafverteidiger. Er braucht ein Team mit Prozesserfahrung«, sagte Harry.
»Das ist ja sehr großzügig von ihm und bestimmt das Beste für seine Mandantin, aber das Problem ist, dass wir keine Schuldigen vertreten. Die Staatsanwaltschaft sagt, dass Carrie in sechs Fällen Komplizin des Sandmanns war. Ich werde nicht dazu beitragen, dass eine Mörderin auf freien Fuß kommt …«
»Sie meint, sie ist unschuldig«, warf Kate ein.
»Das behaupten sie alle«, knurrte ich.
»Ich glaube, sie sagt die Wahrheit«, entgegnete Kate.
Von allen Anwälten, die mir je begegnet sind, war vermutlich keiner smarter als Kate. Wenn sie Carrie Miller glaubte, musste da etwas sein, wofür sich der Einsatz lohnte. Langsam wuchs mein Interesse. Dann stutzte ich.
»Moment, fängt dieser Prozess nicht in ein paar Tagen an? Warum gibt er den Fall ausgerechnet jetzt auf? Vielleicht hat er die Verteidigung gegen die Wand gefahren, und wir haben gleich eine Klage der Mandantin am Hals, sobald wir den Fall übernehmen.«
»Das denke ich nicht«, sagte Harry. »Es fehlt ihm einfach an der nötigen Erfahrung für einen Mordprozess. Aber ich habe die Unterlagen des Falls durchgesehen, und er hat bei den Prozessvorbereitungen alles richtig gemacht. Alle entsprechenden Anträge eingereicht. Ich weiß nicht, mit was für einer Jury wir es zu tun bekommen, aber wie schlimm kann es wirklich werden? Prozessbeginn ist übermorgen. Bis dahin sind wir bereit. Wir sind schon öfter verspätet in Fälle eingestiegen. Und es ist nicht so, als gäbe es keine Argumente für Carrie Millers Verteidigung. Wir könnten da was bewegen, Eddie.«
Ich schlug die Hände vors Gesicht. Ich brauchte die Dunkelheit, etwas Stille und noch so eine verdammte Tasse …
»Trink deinen Kaffee«, sagte Denise.
Ich wischte mit den Fingern über meine Wangen, schlug die Augen auf und sah, dass mich alle anstarrten. Es gab einen weiteren Grund, wieso ich diesen Fall nicht wollte.
»Der Sandmann ist noch immer da draußen unterwegs. Wenn wir darin verwickelt werden, kommen wir einem Irren in die Quere. Das ist riskant und …«
Kate fiel mir ins Wort. Ich sah die Leidenschaft in ihren Augen. Sie wollte diesen Fall. Seit wir Partner waren, hatte sich Kate darauf konzentriert, Frauen zu vertreten, die Diskriminierung und sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erfahren hatten. In ihrer letzten Kanzlei war sie Opfer unerwünschter Annäherungsversuche eines Partners geworden und hatte seitdem frauenfeindlichen Arbeitgebern das Leben schwer gemacht. Diese Fälle waren ihr ein persönliches Anliegen. Mit jeder Frau, der Kate half, rettete sie nicht nur diese Person, sondern auch einen Teil von Kate, der verletzt worden war und nie ganz heilen konnte.
»Wir alle wissen um die Risiken, aber ich wüsste nicht, wieso er uns ins Visier nehmen sollte«, sagte sie. »Wir retten seine Frau. Das größte Risiko besteht darin, dass die Medien uns niedermachen, falls wir ihre Unschuld nicht beweisen können. Und wenn wir es doch können, gibt es ein weiteres weibliches Opfer, dem mit unserer Hilfe Gerechtigkeit widerfahren ist. Du weißt, wie viel mir das bedeutet.«
Ich nickte.
»Hören wir uns den Mann an«, sagte Kate.
»Okay, holt ihn rein.«
Denise bat den Mann hereinzukommen. Mein Büro war nicht sonderlich groß, sodass es etwas eng wurde. Noch immer hatte er diesen Ausdruck im Gesicht – ein Mensch, der Probleme hatte und unsere Hilfe brauchte. Ich griff mir an die Brust und betastete die kleine Christophorus-Medaille, die ich unter meinem Hemd trug.
Sobald er saß, zwang sich Peltier zu einem Lächeln. Obwohl er uns brauchte, hatte er das Gefühl, er müsste uns den Fall verkaufen. Er stellte sich vor, dann sagte er: »Glückwunsch, Mr Flynn. Jetzt haben Sie den medienwirksamsten Fall in Amerika.«
»Ich möchte nicht unhöflich klingen«, erwiderte ich, »aber das alles ist mir völlig neu. Irgendwie scheint mir, meine Kollegen haben schon geahnt, dass es von meiner Seite einen gewissen Widerstand geben würde. Erstens übernehme ich nur Fälle, wenn ich meinen Mandanten für unschuldig halte. Ich habe mir oft genug die Finger verbrannt, und noch mehr Dämonen in meinem Kopf kann ich nicht brauchen. Zweitens bin ich ein misstrauischer Mensch. Nach wie vor bin ich mir nicht sicher, warum Sie diesen Fall einer anderen Kanzlei übergeben wollen. Ich kenne Anwälte, die für so einen Fall ihre Großmutter verkaufen würden.«
Peltier schlug die langen Beine übereinander, und auf seinem Gesicht machte sich ein Lächeln breit. »Ich kann Ihnen mehr als einen Grund nennen, Ja zu sagen. Meine Mandantin, Ihre Mandantin, ist bereit, Ihrer Kanzlei zwei Millionen Gründe zu nennen. Das vereinbarte Honorar für diesen Fall beträgt drei Millionen. Ich beanspruche ein Drittel davon für meine vorbereitende Arbeit. Der Rest gehört Ihnen. Also, sind wir uns einig?«
Bei der Zahl bekam Kate feuchte Augen. Das war die ganz große Nummer. Es war der heißeste Fall im ganzen Land. Mit einem Honorar, von dem die meisten Anwälte nur träumen konnten. Ein Fall, wie er einem nur einmal im Leben angeboten wird. Der Fall, hinter dem wir alle her sind. Der unsere Karriere bestimmen wird. Was meine Kanzlei anging, hatten wir gerade in der Lotterie gewonnen. Nur ein Schwachkopf würde ablehnen.
Genau deshalb sagte ich: »Nein.«
»Hören Sie, nichts gegen Sie oder Ihre Mandantin, aber das Ganze kommt mir irgendwie komisch vor«, fuhr ich fort.
»Ich verstehe. Vielleicht habe ich mich Ihren Kollegen gegenüber nicht klar genug ausgedrückt«, sagte Peltier. »Ich hatte gehofft, ich könnte mit der Staatsanwaltschaft einen Deal aushandeln. Im Tausch gegen die Kooperation meiner Mandantin im Sandmann-Fall wollte ich, dass die Anklage gegen sie fallen gelassen wird. Anfangs dachte ich, die wollten nur den starken Mann markieren. Unglücklicherweise blufften sie nicht. Der Prozess beginnt übermorgen. Und so begabt ich als Anwalt und Vermittler auch sein mag, verfüge ich nicht über Ihre Prozesserfahrung. Carrie ist unschuldig, und ich bin entschlossen, dafür zu sorgen, dass sie ein faires Verfahren bekommt. Und damit das passiert, braucht sie die allerbeste Vertretung, die sie kriegen kann.«
Er sprach deutlich, energisch. Offener Blickkontakt, normale Handbewegungen. Nichts Verräterisches. Kein Hinweis darauf, dass er log. Abgesehen davon, dass er mir nicht die ganze Geschichte erzählte.
Irgendwas hatte für einen Wandel in Peltiers Taktik für Carrie Millers Verteidigung gesorgt. Es hatte sich etwas ergeben, aufgrund dessen er den Fall nicht weiterführen konnte. Da war ich mir sicher. Kein Anwalt würde so einen Fall freiwillig weiterreichen.
»Was war der letzte Antrag vor Prozessbeginn?«, fragte ich und ließ Peltier nicht aus den Augen.
Die Frage hatte zur Folge, dass sich die Haut um seine Augen herum spannte.
»Ein Antrag der Anklage auf Einsicht und Beschlagnahme einer Reihe von Akten aus Peltiers Büro«, sagte Kate. »Alles Akten und Papiere aus der Zeit vor Mrs Millers Verhaftung, stimmt’s?«
Peltier nickte langsam.
Ich trank meinen Kaffee aus. Denise, die hinter den anderen stand, verschränkte die Arme. Sie kannte mich gut genug, um zu wissen, wann mein Hirn zum Leben erwachte.
»Wir haben hier nicht den allerbesten Einstieg, Mr Peltier. Sie haben nicht gelogen, aber Sie haben auch nicht die ganze Wahrheit gesagt. Das hört auf. Jetzt gleich. Ich werde Ihnen ein paar Fragen stellen. Wenn Sie lügen, ist dieses Gespräch beendet, und Sie können Ihren Fall und Ihren teuren Anzug gleich mit raus auf die Straße nehmen.«
»Ich hatte die Absicht, alles preiszugeben, sobald Sie zugesagt haben, den Fall zu übernehmen. Dann würde unser Gespräch unter die anwaltliche Schweigepflicht fallen«, sagte er mit einem Lächeln.
Er hatte sich zurückgehalten, und seine Erklärung war nachvollziehbar. Die anwaltliche Schweigepflicht ist die Grundlage unseres Berufs. Alles, was man von einem Mandanten direkt oder über Dritte erfährt, ist vertraulich. Man verrät es niemandem, und niemand darf einen danach fragen oder sich Notizen oder irgendwelche Dokumente der Mandanten ansehen. Wenn die Staatsanwaltschaft Zugang zu Peltiers Akten bekam, musste es dafür einen verdammt guten Grund geben.
»Was hat den Staatsanwalt zu Ihren alten Akten geführt?«, fragte ich.
»In Bankunterlagen aufgeführte Zahlungen von Carrie Miller an meine Kanzlei für juristische Beratung«, sagte er.
Das war die Wahrheit. Keine Frage.
»Was stand in den Unterlagen?«
»Wenn ich Ihnen diese Information gebe, breche ich meine anwaltliche Schweigepflicht …«, setzte er an.
»Die ist schon gebrochen, wenn die Staatsanwaltschaft die Akten hat. Was haben die gesucht?«
»Sie waren auf der Suche nach Informationen in meinem Besitz, die darauf hinwiesen, dass Carrie Miller an sechs der Morde des Sandmanns beteiligt war.«
Wieder eine ehrliche Antwort. Und etwas, das ich schon erwartet hatte.
»Und was haben sie gefunden?«, fragte ich.
Er antwortete direkt. Ohne zu zögern.
»Sie haben Notizen gefunden, die ich mir zu einigen Treffen mit Mrs Miller gemacht hatte. Und ihre Tagebücher, die sie mir treuhänderisch überlassen hat. Und bevor Sie fragen – diese Beratungen betrafen mögliche Scheidungsabläufe aufgrund von psychischer Grausamkeit. Mrs Miller hat mir damals anvertraut, sie hätte den Verdacht, ihr Mann sei ein Serienkiller.«
»Sie wusste es?«, fragte Kate.
»Sie wusste es nicht. Sie hatte einen Verdacht«, sagte Peltier sanft.
»Aber sie hat deswegen nichts unternommen, oder? Sie ist nicht zur Polizei gegangen?«, fragte Harry.
»Nein, ist sie nicht. Der Ehevertrag enthält diverse Klauseln, die durch einen Polizeibericht akut geworden wären, falls sich die Anschuldigung als falsch erwiesen hätte. Sollte der Vorwurf erhoben werden und sich als falsch herausstellen, hätte Mrs Miller sämtliche Rechte an ihrem Anteil des ehelichen Besitzes und Vermögens verloren. Mit anderen Worten, sie hätte mit einem einzigen Telefonat acht Millionen Dollar weggeworfen.«
»Acht Millionen. Das hätte sie nach der Scheidung bekommen?«, fragte Kate.
Peltier nickte.
»Das ändert den Fall«, sagte Harry. »Die Staatsanwaltschaft kann den Geschworenen acht Millionen Gründe nennen, wieso Carrie den Mund hält und ihrem Mann dabei hilft, der Polizei zu entkommen.«
Harry hatte recht. Carrie Miller konnte unmöglich behaupten, sie hätte von den Verbrechen ihres Mannes nichts gewusst. Sie konnte nur sagen, dass sie sich nicht sicher gewesen sei. Es würde ihr schwerfallen, eine Jury davon zu überzeugen.
Viele Serienmörder begingen ihre Taten, während sie glücklich verheiratet waren. Soweit ich mich erinnern konnte, wusste keine der Ehefrauen davon oder ahnte auch nur etwas. Keiner wurde je Komplizenschaft vorgeworfen. Auf jedem Fernsehkanal wurde der Sandmann-Fall lang und breit behandelt. Oprah brachte ein Special dazu, auch wenn Carrie Miller sich weigerte, in der Sendung aufzutreten. Die Frage, die jeder auf den Lippen hatte, lautete: Wie kann es sein, dass Sie nichts davon gemerkt haben, dass Sie mit einem Mörder verheiratet waren? Im Grunde interessieren wir uns für solche Geschichten, weil wir Gewissheit suchen. Dass es irgendeinen deutlichen Hinweis darauf gab, dass diese Männer Mörder waren und die Frauen diesen ignoriert hatten. Die Leute möchten glauben, dass sie den Hinweis erkannt hätten, dass sie nicht so leicht hinters Licht zu führen wären. In Wahrheit ahnen Ehefrauen von Mördern nie etwas.
Das ist in vielerlei Hinsicht beunruhigend.
Erstens bestätigt es die unglaubliche Fähigkeit dieser Mörder, ihr wahres Wesen vor allen anderen zu verbergen, einschließlich derer, die ihnen am nächsten stehen. Zweitens flößt es den Menschen Angst ein. Wenn es diesen Frauen passieren konnte, kann es dann auch jedem anderen passieren? Wie gut kennt man seinen Partner, seinen Bruder oder seinen Vater? Aber die Leute denken immer, es läge an der Frau. Dass sie die Wahrheit nicht sehen wollte.
Dass man in derselben Lage etwas gemerkt hätte.
Psychologische Barrieren der Jury sind oft unmöglich zu überwinden. Der Staatsanwalt musste in diesem Fall nur die vorgefertigte Meinung der Geschworenen stützen, dass Carrie Miller ihren Mann gedeckt hatte. Und Carries leiser Verdacht half der Anklage dabei nur. Ein leichter Sieg für einen mittelmäßigen Staatsanwalt.
Wenn die Anklage gegen Carrie Miller auch auf erheblich festeren Beinen stand, wenn man beweisen konnte, dass sie von den Taten ihres Mannes gewusst hatte, war das doch nicht der eigentliche Grund, warum Peltier jemand anderen finden musste, der sie vor Gericht vertrat.
»Mr Peltier, Sie hätten uns eine Menge Zeit gespart, wenn Sie einfach ehrlich gewesen wären. Früher oder später hätten wir es sowieso rausgefunden.«
»Selbstverständlich, aber dann wäre es zu spät gewesen. Sie hätten inzwischen zugesagt, den Fall zu übernehmen, und stünden in den Gerichtsakten als Vertretung der Angeklagten.«
»Ich kann nicht folgen«, sagte Denise. »Nur weil der Staatsanwalt Ihre alten Unterlagen hat, heißt das doch nicht, dass Sie Carrie Miller nicht vertreten können.«
»Der Umstand, dass die Staatsanwaltschaft über meine Akten verfügt, hat gewisse Folgen«, sagte Peltier.
Ich wusste sofort, was es war.
»Sie können nicht mehr ihr Anwalt sein. Sie können in diesem Prozess überhaupt nicht als Anwalt auftreten.«
Peltier gab einen langen Seufzer von sich.
Ich sagte: »Carrie Miller hat Ihnen erzählt, dass sie ihren Mann für einen Serienkiller hält. Das macht Sie zum wichtigsten Zeugen der Anklage.«
Gefolgt von Peltier in seinem Mercedes fuhr Bloch uns in ihrem cremefarbenen Grand-Cherokee-Jeep aus Manhattan hinaus. Mittags herrschte nicht so viel Verkehr, und so rollte der große SUV mit gleichmäßiger Geschwindigkeit über den Asphalt. Harry saß vorn, damit Kate und ich hinten reden konnten. Eine Dreiviertelstunde Fahrt brachte uns zum Ende des Grand Central Parkway, wo dieser in den Long Island Expressway übergeht. Ein stahlgrauer Himmel verbarg die tief stehende Novembersonne. Langsam wurde es kalt, wenn auch nicht so kalt, dass ich meinen Mantel rausgeholt hätte.
Kate sagte: »Ich glaube, Carrie ist auch nur ein Opfer des Sandmanns. Es ist mir wichtig, dass die Welt die Wahrheit erfährt. Dass wir dieser Frau Gehör verschaffen. Ich glaube ihr. Und ich denke, das wirst du auch bald.«
»Ich bin bereit, mit ihr zu reden, aber wenn ich nicht überzeugt bin, gehen wir. Abgemacht?«
»Du weißt, dass normale Anwälte so nicht vorgehen, oder?«
»Wenn jemand gesteht, was er getan hat, dann habe ich kein Problem damit, ihn zu vertreten. Ich erzähle dem Gericht seine Geschichte und bitte um die entsprechende Strafe. Manchmal kriegen sie Bewährung, manchmal wünsche ich ihnen alles Gute auf ihrem Weg hinter Gittern. Jeder macht mal einen Fehler, und es ist gut, wenn man ihn zugibt. Aber eins habe ich schon vor langer Zeit beschlossen: Ich will nicht dafür verantwortlich sein, dass ein gefährlicher Mensch wieder auf freien Fuß kommt.«
»Aber das liegt doch gar nicht in deiner Hand. Die Geschworenen entscheiden. Jeder hat ein Recht auf Verteidigung. So funktioniert das System nun mal …«
Kate war jetzt schon eine verdammt gute Anwältin, obwohl sie noch gar nicht lange als solche arbeitete. In ein paar Jahren würde sie die beste sein, aber noch hatte ihr das Gesetz nicht in den Magen getreten.
»Das System lässt sich manipulieren. Üblicherweise durch uns. Hör zu, ich habe gesagt, ich rede mit Carrie Miller. Wenn ich denke, dass sie die Wahrheit sagt, übernehmen wir den Fall.«
»Manchmal verstehe ich dich einfach nicht«, sagte Kate und wandte sich ab, um aus dem Fenster zu sehen. Ich hoffte, es würde nie so weit kommen, dass sie meine Gründe verstand. Bei der Suche nach Gerechtigkeit haben in Wahrheit die Anwälte verbundene Augen, nicht die Statue der Göttin Justitia, die oben auf den Gerichtsgebäuden steht, mit einem Schwert in der einen Hand und einer Waage in der anderen. Strafverteidiger fragen ihre Mandanten nicht, ob sie schuldig sind. Sie sagen ihren Mandanten, wann sie aufgeben und gestehen oder wann sie kämpfen sollen. Aber wenn man für einen Schuldigen den Prozess gewinnt, fordert dieser Sieg seinen Preis, und damit meine ich nicht die Prozesskosten. Etwas in diesem Anwalt stirbt. Macht man es oft genug, wird man zum Zombie. Und eines Tages haut man einen Mandanten raus, und der marschiert auf geradem Weg aus dem Gerichtssaal und bringt jemanden um – und da kriegt man dann den Tritt in den Magen.
Vor fünf Jahren etwa war ich in derselben Situation gewesen. Zum Glück vermochte ich den Kerl aufzuhalten, bevor er sein Opfer umbringen konnte. Ich hatte dafür gesorgt, dass er auf freien Fuß kam. Es war meine Schuld. Für diesen Fehler bezahle ich jeden Tag. Ich hatte gelernt, mit dem Schmerz zu leben, ohne mir die Last mit einer Flasche Jack Daniel’s zu erleichtern.
Ich wandte mich von Kate ab, betrachtete die Bäume, die draußen auf beiden Seiten des Expressways vorüberflogen. Bloch nahm eine Ausfahrt, die uns bald in eine gediegene Wohngegend von Old Westbury führte. Ich war vielleicht zweimal in meinem Leben durch diesen Teil von Nassau County gefahren. Hatte nie angehalten, um mich umzusehen. Jedes Mal waren Filmteams unterwegs gewesen. Wenn man einen Film dreht und eine hübsche Villa braucht, landet man früher oder später in Old Westbury. Neben dem Silicon Valley im kalifornischen Atherton dürfte es eine der wohlhabendsten Gegenden im ganzen Land sein. Von Bäumen gesäumte Straßen mit weit zurückliegenden Anwesen.
Carrie Miller wohnte in einer abgeschlossenen Wohnanlage an der Meadow Road. Etwa zwanzig Leute standen draußen vor dem Tor. Die Vans diverser Fernsehsender reihten sich auf dem Bürgersteig aneinander, aber nicht nur Reporter trieben sich dort herum. Fünf oder sechs Leute hielten Schilder hoch. Sie riefen irgendwas. Ich ließ mein Fenster einen Spaltbreit herunter, um es zu verstehen.
MÖR-DER-SCHLAM-PE!
MÖR-DER-SCHLAM-PE!
MÖR-DER-SCHLAM-PE!
Die Schilder waren nicht viel besser. Bloch drückte auf die Hupe, woraufhin die Reporter und Demonstranten sich umdrehten und uns musterten. Ich verbarg mein Gesicht mit der Hand. Die Menge trat beiseite. Ottos Mercedes hielt hinter uns, und das Tor ging auf.
Sobald sie Ottos Wagen sahen, blinkten die Lichter an den Fernsehkameras, und die Rufe wurden lauter. Er war bei den Vorbereitungen zum Prozess gefilmt und fotografiert worden, und es war allgemein bekannt, wen er vertrat. Man sammelte sich um seinen Mercedes. Eine Demonstrantin, eine Frau mit dickem pinkfarbenem Schal um den Hals, spuckte auf Ottos Windschutzscheibe. Er stellte den Wischer an und folgte uns durchs Tor, ganz langsam, um sicherzugehen, dass er nicht aus Versehen einen Demonstranten oder einen Reporter über den Haufen fuhr.
»Meine Güte. Damit zu leben, ist hart«, sagte ich.
»Otto hat mir erzählt, dass Carrie es kaum noch aushalten kann. Sie hat Hunderte Morddrohungen erhalten, und letzten Monat kam ein Brief von ihren Nachbarn, in dem man sie auffordert wegzuziehen.«
Die Wohnanlage bestand aus Häusern unterschiedlicher Größe, die in meinen Augen dennoch allesamt Herrenhäuser waren. Harry betrachtete eine Villa mit Pool im Garten und stieß einen bewundernden Pfiff aus. Und doch war es für manche Bewohner die ärmere Seite von Old Westbury. Das alte New Yorker Geld, das ein Herrenhaus mit Parkanlage brauchte, zog nach hier draußen. Die Vanderbilts, die Phipps, die Whitneys, Du Ponts, die mehr Geld als Verstand hatten. Und sie bauten pompöse Paläste, die aussahen, als hätte man sie direkt aus dem ländlichen England hierhergeschafft, möglicherweise noch mit einem leicht angetrunkenen Lord darin, und liebevoll in Old Westbury abgesetzt. Die Häuser auf dieser Seite waren im Vergleich bescheiden, wenn ich mir selbst auch nie eines leisten könnte – nicht einmal, wenn meine Lottozahlen gezogen wurden.
Bloch hielt vor einem Haus im Kolonialstil. Die Eingangstür war dunkelrot. Wir stiegen aus, als Otto seinen Mercedes hinter dem Jeep parkte. Ich nahm mir einen Moment Zeit, die Nachbarschaft zu bewundern. Die Anwesen standen weit auseinander, wobei auch die fußballfeldgroßen Rasenflächen zum allgemeinen Gefühl von Entfernung beitrugen. Carrie Millers Haus grenzte hinten an eine Gruppe von Eichen und Blutbuchen.
Otto beugte sich über seinen Wagen und begutachtete den Lack.
Da war ein tiefer Kratzer, der sich über die ganze Seite zog.
»Das sieht nicht gut aus«, sagte ich.
»Halb so wild. Ist das dritte Mal in diesem Monat. Nichts gegen das, was Carrie ertragen muss. Sie lebt hier wie eine Gefangene. Die Reporter und Demonstranten gehen normalerweise erst so gegen zehn Uhr abends nach Hause, wenn es richtig kalt wird. Ich lege meine Termine üblicherweise auf sechs Uhr morgens oder nach zweiundzwanzig Uhr, wenn keiner mehr draußen vor dem Tor steht.«
»Wie ist Carrie bisher damit zurechtgekommen?«, fragte ich.
Otto ließ kurz den Kopf hängen. Als er mich wieder ansah, stand ihm die Antwort ins Gesicht geschrieben.
»In den ersten zwei Wochen hat sie kaum gesprochen. Sie hat ununterbrochen geweint. Hat ihre Stimme verloren. Ich habe einen Arzt gerufen, und der hat ihr Tabletten gegeben, die sie für ein paar Tage lahmgelegt haben. Danach konnte sie zumindest wieder sprechen. Die Medikamente haben die Probleme aber nur eine Weile gedämpft. Sie ist einfach am Boden zerstört, Eddie, in jeder denkbaren Hinsicht. Sie ist verraten worden, mutterseelenallein, das ganze Land hasst sie, und sie sieht sich einer Anklage wegen mehrfachen Mordes ausgesetzt. Zwischendurch dachte ich mal, sie wollte nur noch aussteigen. Ich musste ihr die Medikamente jeden Tag bringen. Ich hatte Angst, ihr die ganze Packung dazulassen. Wissen Sie, was ich meine?«
Ich nickte.
»Aber sie ist immer noch präsent. Sie ist stark, und sie hat einen Grund weiterzumachen. Die Menschen sollen wissen, dass sie unschuldig ist. In gewisser Weise ist der Prozess das, was sie am Leben hält. Sie will sich wehren. Aber langsam gehen ihr die Kräfte aus. Der Druck ist wieder da, weil der Prozess bevorsteht. Sie werden es sehen.«
»Und was halten Sie von ihr? Ganz ehrlich?«
»Ich muss oft an meinen ersten Monat im Jurastudium denken. Man liest Fallakten und weiß, dass das Recht Wunder bewirken kann, aber ebenso leicht kann es unschuldige Menschen vernichten. Der Kampf um Gerechtigkeit ist ein grausames Spiel. Daran musste ich denken. Und deshalb sind Sie hier. Sie sind ein erheblich besserer Strafverteidiger als ich, und ich möchte nicht, dass Jurastudenten in zwanzig Jahren alle meine Fehler analysieren.« Trotz seines teuren Anzugs und der Luxuskarosse und all der Macht und des Reichtums, den Otto ausstrahlte, hatte er in diesem Moment doch Angst. Er hatte Angst, Carrie im Stich zu lassen. So kann es einem als Strafverteidiger gehen. Und man sollte auch Angst haben. Das ist ein gutes Zeichen. Es zeigt, dass es einem etwas bedeutet, was wiederum beweist, dass man seine Arbeit tut und kämpft. Anwälte sorgen sich um die unschuldigen Mandanten. Um diejenigen, die darauf angewiesen sind, dass das System funktioniert. Das sind die Fälle, die uns nachts wach halten, schweißgebadet. Es war Ottos erster Kontakt mit diesem Teil seiner Arbeit.
»Ich weiß, dass Sie Carrie nicht hängen lassen, Eddie«, sagte er.
Er ging voraus, den marmornen Weg entlang zum Haus. Wir folgten ihm, und als wir den Eingang erreichten, stand schon eine Frau in der Tür, die ich als Carrie Miller erkannte. Als ich sie zum ersten Mal in den Nachrichten gesehen hatte, kam sie gerade unter einem Hagel von Reporterfragen und Kamerablitzen aus dem Gerichtsgebäude an der 100 Centre Street. Es war ein vertrauter Anblick, aber dieses Bild war anders. Oft genug habe ich Mandanten unter ähnlichen Umständen aus ebendiesem Gebäude begleitet. Normalerweise tragen Mandanten dann einen Hut, oder sie ziehen sich den Mantel über den Kopf, um zu verhindern, dass man sie in diesem verletzlichen Augenblick ablichtet.
Carrie Miller war in ihrem dunkelblauen Kostüm erhobenen Hauptes durch die Phalanx der Reporter geschritten. Mit einem Ausdruck der Entschlossenheit. Vielleicht lag es an ihrem Selbstvertrauen, dass die Reporter ihr Platz machten, um sie zu ihrem wartenden Wagen durchzulassen. Ihre Bewegungen zeugten von Haltung – fast würdevoll.
Als sie dort nun in der Tür stand, war nichts von alledem mehr da. Man mochte ihr geraten haben, vor den Medien ein bestimmtes Image von sich hochzuhalten, aber die Realität sah völlig anders aus.
Sie trug lila Jeans und ein schwarzes T-Shirt. Sie war kaum in der Lage, den Kopf zu heben, um Otto anzugucken. Sie ließ die Schultern hängen, schlang die Arme um ihren zierlichen Leib und hielt die Augen starr auf den Boden gerichtet, blickte nur hin und wieder auf, unter größter Mühe. Die Haut um ihren Hals war fleckig und rot gekratzt, und sie zog die Mundwinkel herunter. Es schien, als würde eine Urgewalt sie immer weiter zu Boden ziehen. Selbst ihre dunklen Haare waren dünner geworden und von grauen Strähnen durchzogen.
»Carrie, das sind die Anwälte, von denen ich Ihnen erzählt habe, und das ist ihr Team. Miss Kate Brooks, Harry Ford, ihre Ermittlerin Miss Bloch, und das ist …«
»Eddie Flynn«, sagte sie und wandte sich mir zu.
Ich sah die Anspannung und den verlorenen Ausdruck in diesen blutunterlaufenen grünen Augen.
»Bitte, kommen Sie rein«, sagte sie und führte uns ins Haus.
Eine geschwungene Treppe mit Messinggeländer prägte die Eingangshalle, und ich folgte meinem Team in einen Raum rechts von uns. Ein Wohnzimmer mit zwei Sofas, die einander gegenüberstanden. Der Raum wirkte minimalistisch, mit nur einem Marmortisch zwischen den Sofas und einem Kamin weiter hinten. An der einen Wand hing ein Gemälde von einem goldenen Bullen, die andere Wand bestand aus einem riesigen Fenster mit Blick auf den Rasen vor dem Haus. Es war ein maskuliner Raum. Hätte ich nicht gewusst, dass Carrie Miller in dem Anwesen wohnte, wäre ich davon ausgegangen, dass hier ein Junggeselle lebte.
Es gab ein flaches Bord für einen großen Fernseher, auf dem aber kein Gerät stand. Ich fragte nicht, wo er geblieben war. Wenn ich mein Gesicht jeden Abend in den Nachrichten sehen und mir anhören müsste, wie mich Leute, die nichts von mir wussten, des Mordes beschuldigten, würde ich das Ding auch auf den Müll werfen.
Carrie und Otto nahmen das eine Sofa, Harry, Kate und Bloch das andere.
Ich blieb stehen.
»Wir haben ein paar Fragen, bevor wir den Fall übernehmen, Mrs Miller«, sagte Kate. »Ehe wir hier einsteigen, müssen wir sicher sein, dass wir andere von Ihrer Unschuld überzeugen können.«
»Ich habe niemandem etwas getan. Und ich wusste nicht, dass ich mit dem Teufel verheiratet bin, falls Sie das meinen, Miss Brooks«, entgegnete sie. Ihre Stimme klang angestrengt, tief und gebrochen, als hätte sie stundenlang geweint, was vermutlich auch der Fall war.
»Soweit wir informiert sind, haben Sie Ihren Verdacht hinsichtlich Ihres Mannes mit Mr Peltier besprochen. Können Sie mir sagen, was den Verdacht gegen Ihren Mann geweckt hat?«, fragte Kate.
»Na, das ist es ja gerade«, erwiderte Carrie. »Wenn ich es mir überlege, gab es da wohl seltsame Vorkommnisse, aber Danny hatte immer eine Erklärung. Und nachdem ich sie angesprochen hatte, schienen sie mir jedes Mal harmlos zu sein. Es war eher so ein Gefühl. Ich bin nicht paranoid, auch wenn ich es hätte sein sollen. Aber ich musste einfach mit jemandem darüber sprechen und ihm erzählen, was mir durch den Kopf ging.«
»Sie haben also nie wirklich geglaubt, dass Sie mit dem Sandmann verheiratet waren?«, fragte Kate.
»Ich bin mir nicht sicher. Eine Weile dachte ich es. Ich kann es selbst jetzt noch kaum glauben.«
Kate sah mich an. Ich spürte ihren Blick. Carrie sprach freiheraus. Aber da sprach noch etwas anderes aus ihrer Stimme, und das war nicht ihre wunde Kehle. Als würde sie etwas verbergen. Es war nur so eine Ahnung. Ein Bauchgefühl.
»Mrs Miller«, sagte ich, »haben Sie gemeinsam mit Ihrem Mann irgendjemanden verletzt oder getötet?«
Zuerst gab sie keine Antwort. Sie schloss die Augen, zog die Brauen zusammen, als kämpfte sie plötzlich mit Schmerzen. Als wäre die Frage wie Gift in ihren Wunden, das sie abwehren musste.
»Nein, habe ich nicht«, sagte sie schließlich mit einem langen Seufzer.
»Wussten Sie, dass Ihr Mann ein Mörder war?«
Tränen ließen ihre Augen glänzen. Sie blinzelte, und aus beiden Augen trat je eine Träne, und sie rollten um die Wette über ihre Wangen, am Unterkiefer entlang bis zum Kinn, wo sie sich trafen, eins wurden und auf den Boden tropften.
»Ich war mir nicht sicher. Ich hatte ihn in Verdacht. Ich ging aber davon aus, dass ich wohl ziemlich verrückt sei, so zu denken.«
»In den Momenten, in denen Sie den Verdacht hegten, haben Sie da irgendetwas getan, das ihm dabei geholfen haben könnte, einer polizeilichen Untersuchung zu entgehen?«
Sie antwortete sofort. »Nicht wissentlich. Nicht absichtlich. Wenn ich auch nur eine Sekunde lang sicher gewesen wäre, dass er ein Mörder sein könnte, hätte ich die Polizei gerufen.«
»Der Schmuck, der in Ihrer Schublade gefunden wurde und der einem der Opfer des Sandmanns gehört hat, woher haben Sie den?«
»Danny hat ihn mir geschenkt.«
»Der Blutfleck an Ihrem Ärmel. Wissen Sie, wie der dorthin gekommen ist?«
»Ich habe erst durch die Polizei davon erfahren. Ich kann nur annehmen, dass er von Danny stammt.«
»Hatte der Umstand, dass Sie acht Millionen Dollar verlieren könnten, wenn Sie die Polizei rufen, irgendeinen Einfluss auf Ihre Entscheidung, sie nicht zu rufen?«
Sie beugte sich vor, wischte sich mit zarten, zitternden Fingern eine Träne weg und öffnete ihr Herz.
»Kein bisschen. Otto meinte, es sei unklug, einen Vorwurf zu äußern, den ich nicht beweisen könnte, aber das wäre mir egal gewesen. Wäre ich mir sicher gewesen, hätte ich ganz bestimmt die Polizei gerufen. Glauben Sie mir, ich habe immer und immer wieder darüber nachgedacht. Ich war dumm. Ich habe auf Danny gehört. Sind Sie schon mal hintergangen worden, Mr Flynn?«
Ich nickte.
»Es tut weh. Aber nichts tut so weh wie das hier. Ich meine nicht das, was man in den Zeitungen und im Fernsehen über mich sagt, und auch nicht diese Leute draußen vor dem Tor oder die tausend Mord- und Vergewaltigungsdrohungen, die ich in den sozialen Medien bekommen habe. All das ist ein unvorstellbarer Albtraum, aber etwas in mir denkt, dass ich es verdient habe.«
Ich schüttelte den Kopf. »Das haben Sie nicht verdient, Carrie.«
»Vielleicht doch. Ich habe Danny geglaubt und meinem Bauchgefühl misstraut. Und deswegen, meinetwegen, sind Menschen gestorben. Und das werfe ich mir vor, jeden Tag. Denn wenn ich klüger, mutiger gewesen wäre, hätte ich einige dieser Menschen retten können. Sie sind tot, weil ich mich nicht zu Wort gemeldet habe. Und das ist etwas, das mich für den Rest meines Lebens belasten wird.«
Da sah ich in ihren Augen, was sie verbarg.
Schmerz und Schuld.
Carrie Miller war von einem bösen Menschen belogen und manipuliert worden. Einem Mann, dem sie vertraut, den sie geliebt hatte. Ich mochte mir den emotionalen Preis gar nicht vorstellen, den eine junge Frau dafür bezahlte. Und zu allem Überfluss hatten die Untaten ihres Mannes irgendwie auf sie abgefärbt. Sie befand sich mitten in einem Sturm aus Hass, Vorwürfen und seelischen Verletzungen. Selbst wenn sie nur auf ihrem Sofa saß, spürte ich diese Winde, die sie umwehten und sie zu zerreißen drohten. Da gab es kein Entrinnen. In jeder Sekunde ihres Lebens, in jedem wachen Moment war sie den Qualen ausgesetzt. Diese Frau war gefangen in einer psychischen Folterkammer. Die Medien der ganzen Welt, ihre Freunde, ihre Nachbarn und auch Carrie selbst drehten langsam die Schrauben immer fester, die ihr heiße Nadeln ins Hirn bohrten.
Mit Schmerz und Verlust kannte ich mich aus. Ich kannte Menschen, die im Schraubstock der Trauer erdrückt worden waren. Sie brachte einen um, und wenn mich die Trauer überkam, was oft genug passierte, kämpfte ich mich durch. Denn ich wusste, wenn ich es nicht tat, würde ich darin ertrinken.
Carrie Miller litt wie kein anderer Mensch, dem ich je begegnet war.
Ich hatte ihr aufmerksam zugehört.
Die Wahrheit ist nicht einfach zu beschreiben. Sie hat Gewicht. Und Dichte. Sie gibt einen Laut von sich, wenn sie durch deinen Brustkorb hereinschwebt, auf deine Seele trifft und dann in deinen Bauch fällt. Man spürt sie. Sie liegt in der Luft und ist so unbestreitbar, dass man fast das Gefühl hat, man könnte ein Stück herausbeißen. Meistens weiß man es einfach in dem Moment, in dem man sie hört.
Sie sagte die Wahrheit. Und da wusste ich, dass ich für sie kämpfen würde.
Weil niemand sonst es tun würde.