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Die verschwundenen Kinder Rolands
Der Planet Roland liegt am äußersten Ende der besiedelten Galaxis. Es ist eine raue Grenzwelt, die scheinbar kein intelligentes Leben hervorgebracht hat. Doch immer wieder verschwinden Kinder der Kolonisten offenbar spurlos im Hinterland. Eric Sherrinford ist Privatdetektiv und wird von einer der Mütter beauftragt, ihren Sohn zu finden. Was ihm im wilden, unzivilisierten Outback begegnet, ist schier unglaublich …
Für „Die Königin der Luft und der Dunkelheit“ wurde Poul Anderson 1972 mit dem Hugo, dem Nebula und dem Locus Award ausgezeichnet. Die Erzählung erscheint als exklusives E-Only bei Heyne und umfasst ca. 51 Seiten.
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Seitenzahl: 142
POUL ANDERSON
DIE KÖNIGIN DER LUFT UND DUNKELHEIT
Erzählung
Der Planet Roland liegt am äußersten Ende der besiedelten Galaxis. Es ist eine raue Grenzwelt, die scheinbar kein intelligentes Leben hervorgebracht hat. Doch immer wieder verschwinden Kinder der Kolonisten offenbar spurlos im Hinterland. Eric Sherrinford ist Privatdetektiv und wird von einer der Mütter beauftragt, ihren Sohn zu finden. Was ihm im wilden, unzivilisierten Outback begegnet, ist schier unglaublich …
Für »Die Königin der Luft und Dunkelheit« wurde Poul Anderson 1972 mit dem Hugo, dem Nebula und dem Locus Award ausgezeichnet. Die Erzählung erscheint als exklusives E-Only bei Heyne und umfasst ca. 51 Seiten.
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Titel der Originalausgabe
THE QUEEN OF AIR AND DARKNESS
Aus dem Amerikanischen von Leni Sobez
Überarbeitete Neuausgabe
Copyright © 1971 by Mercury Press, Inc.
Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Covergestaltung: Stardust
Das letzte Nachglühen des Sonnenuntergangs würde fast bis Mitternacht anhalten. Einen weiteren Tag würde es jedoch nicht mehr geben, und die Nordlande konnten sich freuen. Blüten öffneten sich, strahlende Pracht an Feuerdornbäumen, Stahlblüten erhoben sich blau aus dem Sumpf, und Regenpflanzen, die alle Hügel bedeckten, das scheue Weiß einer wilden Stiefmütterchenart, die »Küss-mich-nicht« hieß, drunten in den Senken und Tälern. Flatterwesen schossen auf schimmernden Flügeln zwischen ihnen herum, ein Kronenbock schüttelte sein Gehörn und brüllte. Zwischen den Horizonten vertiefte sich des Himmels Farbe von Purpur zu Dunkelgoldbraun. Beide Monde standen nahezu voll am Himmel und schienen frostig auf die Blätter herab; wie geschmolzen lag ihr Licht auf dem Wasser. Die Schatten, die sie warfen, wurden von einer Aurora verwischt. Die Aurora war ein riesiger, wehender Vorhang aus Licht, der über den halben Himmel reichte. Dahinter waren die ersten Sterne herausgekommen.
Ein Junge und ein Mädchen saßen bei Wolund's Barrow unter den Dolmen. Ihre offenen Haare fielen ihnen den halben Rücken entlang. Der Sommer hatte sie gebleicht, deshalb erschienen sie erstaunlich hell. Ihre Körper waren noch tief gebräunt von der warmen, hellen Jahreszeit und verschmolzen mit Erde und Busch und Fels, denn sie trugen außer Kränzen nichts. Er spielte auf einer Knochenflöte, und sie sang. Vor kurzem waren sie ein Liebespaar geworden. Beide mochten etwa sechzehn Jahre alt sein, doch das wussten sie nicht, denn sie hielten sich selbst für »Auslinge«. Ihnen war die Zeit gleichgültig, und sie wussten wenig oder nichts darüber, wie und dass sie einmal in den Menschenlanden gelebt hatten.
Seine Flötentöne hüpften kalt um ihre Stimme:
»Wirf einen Zauberbann,
Verweb ihn gut mit Staub und Tau,
Mit dir und mit der Nacht.«
Eine Quelle am Fuß des Grabens trug Mondlicht hinab zu einem vom Hügel versteckten Fluss, der mit dem Rauschen von Stromschnellen und Wasserfällen antwortete. Unter der Aurora flog dunkel ein Schwarm Teufelsflattern über ihnen weg.
Über Cloudmoor kam hüpfend eine Gestalt mit zwei Armen und zwei Beinen, aber die Beine waren lang und mit Klauenfüßen versehen, und Federn bedeckten sie bis zum Ende eines Schwanzes und breiter Schwingen. Das Gesicht war halb menschlich und wurde von den Augen beherrscht. Hätte Ayoch ganz aufrecht stehen können, wäre er dem Jungen bis zur Schulter gegangen.
Das Mädchen stand auf. »Er trägt eine Last«, sagte sie. Ihre Sehkraft war nicht für das Zwielicht geschaffen wie die einer im Nordland geborenen Kreatur, doch sie hatte gelernt, jedes Zeichen zu deuten, das ihre Sinne ihr gaben. Außer der Tatsache, dass sie wusste, wie ein gewöhnlicher Pook fliegt, stellte sie bei aller Eile eine gewisse Schwere fest.
»Und er kommt aus dem Süden.« Der Junge war aufgeregt und bewegte sich wie eine grüne Flamme, die über die Konstellation Lyrth zuckt. Er rannte den Hügel hinab. »Ohoi, Ayoch!«, rief er. »Bin da! Ich bin's, Nebelheim!«
»Und Traumschatten«, sagte das Mädchen und folgte lachend.
Der Pook hielt an. Er atmete lauter als das Seufzen der Gewächse ringsum. Dort, wo er stand, duftete es nach zerquetschten Kräutern.
»Gute Begegnung zur Wintergeburt«, keuchte er pfeifend. »Ihr könnt mir helfen, dies nach Carheddin zu bringen.«
Er zeigte ihnen, was er trug. Seine Augen waren gelbe Laternen darüber. Es bewegte sich und wimmerte.
»Ah, ein Kind«, sagte Nebelheim.
»Ja, so wie du warst, mein Sohn, genauso wie du. Ho, ho, welch ein Fang!«, prahlte Ayoch. »Da waren ein paar in dem Lager bei Fallowood, bewaffnet, und außer ihren Wachmaschinen hatten sie große hässliche Hunde, die herumliefen, während sie schliefen. Aber ich kam von oben, denn ich hatte sie ausgespäht, bis ich wusste, dass eine Handvoll Schlummerstaub …«
»Das arme Ding.« Traumschatten nahm den Jungen und drückte ihn an ihre junge Brust. »Noch ganz verschlafen, was?« Blind suchte er nach einem Nippel. Sie lachte durch den Schleier ihrer Haare das Kind an. »Nein, nein, ich bin noch zu jung, und du bist schon zu alt dafür. Aber komm, wenn du in Carheddin unter dem Berg aufwachst, wirst du genug zu essen bekommen.«
»Yo-ah!«, sagte Ayoch sehr leise. »Sie ist wach und hat gesehen und gehört. Sie kommt.« Er duckte sich mit gefalteten Schwingen zusammen. Nach kurzer Zeit kniete Nebelheim nieder, dann auch Traumschatten, doch das Kind ließ sie nicht los.
Die hohe Gestalt der Königin verdeckte die Monde. Eine Weile musterte sie die drei und ihre Beute. Die Geräusche von Hügel und Moor zogen sich aus ihrem Bewusstsein zurück, und ihnen schien, als könnten sie das Zischen des Nordlichtes hören.
Dann wisperte Ayoch: »Hab' ich das gut gemacht, Sternenmutter?«
»Wenn du ein Baby aus einem Lager voller Maschinen stehlen konntest, dann müssen das Leute aus dem fernen Süden sein«, sagte sie mit ihrer schönen Stimme. »Und die lassen sich das nicht so gefallen wie die schwachen Freisassen.«
»Aber was können sie tun, Schneemacherin?«, fragte der Pook. »Wie können sie unsere Spur finden?«
Nebelheim hob den Kopf und sagte voll Stolz: »Und jetzt müssen auch sie Ehrfurcht vor uns haben.«
»Er ist ein süßes Knuddelding«, flüsterte Traumschatten liebevoll. »Himmelsdame, solche wie ihn brauchen wir doch noch viel mehr, nicht wahr?«
»Es musste im Zwielicht geschehen«, antwortete die hohe Gestalt. »Nimm ihn mit und sorge für ihn. Mit diesem Zeichen …« – sie machte ihr heiliges Zeichen –, »wird er für die Bewohner beansprucht.«
Sie gaben ihrer Freude Ausdruck. Ayoch schlug Räder über dem Boden, bis er ein Zitterlaub erreichte. Dort lief er den Stamm hoch und hinaus auf einen Ast, wo er unter dem unruhigen Laub halb versteckt aufbäumte und krähte.
Junge und Mädchen trugen das Kind nach Carheddin; sie machten lange, mühelose Sprünge, damit er pfeifen und sie singen konnte:
»Wahai, wahai!
Wayala lai!
Schwingen im Wind
Hoch in den Himmeln.
Schrille Schreie
Reisen mit den Regenspeeren,
Taumeln durch Aufruhr,
Treiben durch die Mondhaarbäume
Und die traumschweren Schatten darunter,
Sie wiegen dich, damit du eins wirst
Mit den schwatzenden Wellchen des Sees,
Wo die Sternstrahlen ertrinken.«
Als sie eintrat, fühlte sich Barbro Cullen trotz Kummer und Zorn angewidert. Der Raum sah schlimm aus. Zeitschriften, Tonbänder, Spulen, Handschriften, Ablagekörbe und bekritzelte Papiere waren auf jedem Tisch aufgehäuft. Auf Regalen und in den Ecken hatte sich Staub angesammelt. An einer Wand stand eine Laboreinrichtung mit Mikroskopen und Analysegeräten. Sie wusste, dass sie auf engstem Raum alles Nötige bot, doch in einem Büro war sie nicht zu erwarten, und es roch auch schwach nach Chemie. Der Teppich war abgetreten, die Einrichtung schäbig.
War das ihre letzte Chance?
Dann näherte sich Eric Sherrinford. »Guten Tag, Mrs. Cullen«, sagte er. Sein Ton war bestimmt, sein Händedruck fest. Sie störte es nicht, dass sein Arbeitsanzug ausgeblichen war. Auch um ihre eigene Erscheinung kümmerte sie sich nur bei ganz besonderen Anlässen. Ob sich je wieder ein solcher ergäbe, außer sie bekam Jimmy zurück? Was sie sah, war die persönliche Sauberkeit einer Katze.
Von den Krähenfüßen um seine Augen breitete sich ein Lächeln aus. »Verzeihen Sie meine Junggesellenwirtschaft. Auf Beowulf haben wir – hatten wir jedenfalls – Maschinen dafür, so dass ich niemals selbst die Gewohnheit des Aufräumens annahm. Und ich mag es nicht, dass Dienstboten mein Werkzeug durcheinanderbringen. Mir passt es besser, in der Wohnung zu arbeiten, als ein eigenes Büro zu unterhalten. Wollen Sie sich nicht setzen?«
»Nein, danke, ich könnte gar nicht«, sagte sie leise.
»Das verstehe ich sehr gut. Aber wenn Sie entschuldigen wollen – ich funktioniere am besten in entspannter Lage.«
Er ließ sich in einen Lehnsessel fallen. Ein langes Bein legte sich über das andere Knie. Er nahm eine Pfeife heraus und stopfte sie aus einem Beutel. Barbro wunderte sich, weshalb er den Tabak auf so uralte Art nahm. Konnte man denn nicht annehmen, dass man auf Beowulf überall die neuesten Geräte hatte, die man sich auf Roland noch lange nicht leisten konnte? Natürlich überlebten alte Sitten immer irgendwo und irgendwie, meistens in Kolonien, wie sie gelesen hatte. Die Menschen waren zu den Sternen gereist in der Hoffnung, so altmodische Dinge wie ihre Muttersprache, demokratische Regierungen oder eine rational-technologische Zivilisation zu erhalten.
Sherrinford holte sie heraus aus der Verwirrung ihrer Müdigkeit. »Sie müssen mir alle Einzelheiten Ihres Falles geben, Mrs. Cullen. Sie haben mir bisher nur erzählt, dass man Ihren Sohn entführt hat, und Ihre örtliche Polizei tat nichts. Sonst weiß ich nur ein paar allgemein bekannte Tatsachen, etwa dass Sie eher verwitwet als geschieden sind; dass Sie von Abweichlern im Olga Iwanoff Land abstammen, die trotz allem in enger Telekommunikation mit Christmas Landing stehen. Sie haben einen biologischen Beruf und einige Jahre Pause in der Feldarbeit hinter sich, bis Sie kürzlich wieder damit begannen.«
Sie staunte diesen Mann mit den hohen Wangenknochen, der ausgeprägten Hakennase, den schwarzen Haaren und grauen Augen an. Sein Feuerzeug machte skritt, und eine Flamme schien den Raum zu füllen. Um sein Heim hoch über der Stadt herrschte Stille, und die Winterdämmerung sickerte durch die Fenster. »Wie, beim Kosmos, können Sie das alles wissen?«, hörte sie sich selbst fragen.
Er zuckte die Achseln und fiel wieder zurück in seine dozierende Art, für die er berüchtigt war. »Meine Arbeit besteht wesentlich darin, dass ich kleinste Einzelheiten sehe und zusammenfüge. In mehr als hundert Jahren auf Roland haben die Menschen, da sie sich ihrer Abkunft gemäß und ihren Denkgewohnheiten entsprechend zusammenfinden, gewisse Regionalakzente entwickelt. Sie haben etwas vom Nuscheln Olgas, aber die Vokale nasalieren Sie im Stil dieses Gebietes, obwohl Sie in Portolondon leben. Das deutet an, dass Sie in Ihrer Kindheit dem Metropolitan-Akzent ausgesetzt waren. Sie sagten mir, Sie gehörten der Matsuyama-Expedition an und hätten Ihren Jungen mitgenommen. Einer ganz gewöhnlichen Technikerin hätte man das nicht gestattet; deshalb mussten Sie so wertvoll sein, dass man beide Augen zudrückte. Die Gruppe beschäftigt sich mit ökologischen Forschungen, also müssen Sie den biologischen Wissenschaften angehören. Aus dem gleichen Grund müssen Sie vorhergehende Felderfahrungen haben. Aber Ihre Haut ist hell und zeigt nicht die Ledrigkeit, die sie annimmt, wenn sie länger dieser Sonne ausgesetzt ist. Also müssen Sie größtenteils im Haus gelebt haben, ehe Sie auf diese unglückselige Reise gingen. Und dass Sie Witwe sind – Sie haben Ihren Ehemann niemals erwähnt, aber Sie hatten einen Mann, den Sie so hoch schätzten, dass Sie noch beide Ringe tragen – den Ehe- und den Verlobungsring, den er Ihnen gab.«
Tränen brannten in ihren Augen und verschleierten ihren Blick. Diese letzten Worte hatten Tim zurückgebracht, den riesigen, derben, lachenden und sanften Tim. Sie musste sich abwenden und schaute zum Fenster hinaus. »Ja«, konnte sie endlich sagen, »Sie haben recht.«
Das Haus stand auf einer Hügelkuppe über Christmas Landing. Darunter fiel die Stadt ab in Mauern, Dächern, archaistischen Kaminen und von Laternen erhellten Straßen; Zwerglichter waren da von den Fahrzeugen, die von Menschenhand gelenkt wurden; der Hafen, der weite Schwung der Venture Bay; Schiffe, die von den Sunward Islands kamen und dorthin fuhren oder noch viel weiter zu den Regionen des Boreal Meeres, das wie Quecksilber im Nachglühen von Charlemagne schimmerte. Oliver schwang sich sehr schnell höher, eine fleckige orangenfarbene Scheibe von der ganzen Breite eines vollen Grades; näher dem Zenit, den er niemals erreichen konnte, würde er in der Farbe des Eises scheinen. Alde schien nur von halber Größe zu sein und war eine dünne, sich langsam bewegende Sichel in der Nähe des Sirius, der, wie sie sich erinnerte, nicht sehr weit von der Sonne Sol entfernt war. Sol konnte man aber ohne Teleskop nicht sehen.
»Ja«, sagte sie, und der Schmerz in ihrem Herzen stieg ihr in die Kehle. »Mein Mann ist seit ungefähr vier Jahren tot. Ich ging gerade mit unserem ersten Kind, als er von einem rennenden Monozerus zu Tode getrampelt wurde. Vorher waren wir drei Jahre verheiratet. Wir lernten uns kennen, als wir beide an der Universität waren. Wissen Sie, die Zentralschule kann ja nur eine Grundbildung vermitteln. Wir bildeten unser eigenes Team, um ökologische Studien unter Kontrakt durchzuführen. Sie wissen ja, neue Gebiete, die besiedelt werden sollen, müssen ein bestimmtes Gleichgewicht der Natur behalten, man muss erforschen, welche Ernten gedeihen könnten, welche hinderlichen Zwischenfälle möglich wären und dergleichen. Danach tat ich Laborarbeit für eine Fischer-Kooperation in Portolondon. Aber die Eintönigkeit, das Eingeschlossensein … Nein, das alles fraß mich auf. Professor Matsuyama bot mir dann eine Position in seinem Team an, das er zusammenstellte, um das Commissioner Hauch Land zu erforschen. Ich dachte mir, Gott möge mir helfen, dass Jimmy – Tim wollte, dass er James heißen sollte, als die Tests erwiesen, dass es ein Junge sein würde, denn sein eigener Vater hatte so geheißen; und Timmy und Jimmy … Oh, ich dachte, ich könnte Jimmy gut mitnehmen, denn ich hätte es nicht ertragen, ihn gerade in diesem Alter für Monate zurückzulassen. Wir konnten mit Sicherheit dafür sorgen, dass er nie aus dem Lager hinauslief. Was konnte ihm dann im Lager selbst schon zustoßen? Ich habe die Geschichten nie geglaubt, dass die Auslinge menschliche Kinder stehlen. Ich nahm eher an, dass die Eltern vor sich selbst eine gewisse Nachlässigkeit verbergen wollten, weil sie es zuließen, dass sich ein Kind in den Wäldern verirrte oder von einem Satanspack angegriffen wurde … Nun, jetzt weiß ich es besser, Mr. Sherrinford. Die Robotwächter waren umgangen worden, die Hunde waren betäubt, und als ich aufwachte, war Jimmy verschwunden.«
Er musterte sie durch den Rauch seiner Pfeife. Barbro Engdahl war eine große Frau von etwa dreißig Jahren (rolandischen Jahren, erinnerte er sich selbst, die etwa fünfundneunzig Prozent der terrestrischen betrugen, nicht die gleichen wie die Jahre auf Beowulf), breitschultrig, langbeinig, mit vollen Brüsten und ausgreifendem Schritt. Ihr Gesicht war breit, die Nase gerade, die haselnussbraunen Augen wirkten aufrichtig und direkt, der Mund war voll, aber sehr beweglich. Ihr Haar war von rötlichem Braun und unter den Ohren abgeschnitten, die Stimme klang etwas verschleiert, gekleidet war sie einfach. Um sie von ihren unruhigen Fingern abzulenken, fragte er sie: »Glauben Sie jetzt an die Auslinge?«
»Nein, ich bin nur nicht mehr ganz so sicher wie zuvor.« Sie schwang sich halb herum, damit sie ihn ansehen konnte. »Und wir haben Spuren gefunden.«
»Fossilkrümel.« Er nickte. »Ein paar neolithische Artefakte. Offensichtlich sehr alt, als seien ihre Hersteller schon vor uralten Zeiten gestorben. Intensive Suche hat keine schlüssigen Beweise für ihr Überleben zutage gebracht.«
»Wie intensiv kann eine Suche sein in einer Wildnis um den Nordpol, die im Sommer von Stürmen durchtobt und im Winter von ewiger Düsterkeit ist?«, fragte sie. »Wie viele Menschen sind wir auf einem ganzen Planeten? Eine Million? Und die Hälfte davon sind in eine einzige Stadt gepfercht.«
»Und der Rest drängt sich auf diesem einzigen bewohnbaren Kontinent zusammen«, fügte er hinzu.
»Arctica bedeckt fünf Millionen Quadratkilometer«, erinnerte sie ihn. »Die eigentliche arktische Zone bedeckt davon vier Fünftel. Wir haben keine industrielle Basis für die Errichtung von Satelliten-Überwachungsstationen, wir können keine Flugzeuge und Schiffe bauen für diese Zonen, wir können keine Straßen durch diese verdammten Dunkelländer bauen, um dauerhafte Stützpunkte zu errichten, sie kennenzulernen und zu zähmen. Guter Gott, Generationen einsamer Randsiedler erzählten Geschichten über Graumantel, und das Biest konnte bis zum vergangenen Jahr von keinem einzigen Wissenschaftler gesehen werden.«
»Und doch bezweifeln Sie noch immer die Wirklichkeit der Auslinge?«