Die kopflose Braut (eBook) - Jan Beinßen - E-Book

Die kopflose Braut (eBook) E-Book

Jan Beinßen

5,0

Beschreibung

Der beliebteste Ermittler der Region in seinem 15. Fall: ein spannender Krimi um den berüchtigtsten Henker der Nürnberger Stadtgeschichte Ein junges Paar hat sich gerade auf der Nürnberger Kaiserburg das Ja-Wort gegeben, und für das anschließende Fotoshooting in den romantischen Burggärten wurde Paul Flemming engagiert. Braut und Brautjungfer gehen voraus, um die schönsten Plätze auszuwählen, doch als der Bräutigam an der Seite von Paul wenig später folgt, liegt die Braut enthauptet neben ihrer bewusstlosen Freundin. Oberkommissarin Jasmin Stahl übernimmt die Ermittlungen, denn der Fall ähnelt einem anderen Verbrechen, das sie gerade bearbeitet. Zudem stößt sie auf eine weitere Parallele: Im Kleid der Leiche steckt eine altertümlich anmutende Visitenkarte: "Hochachtungsvoll, Ihr ergebener Franz Schmidt". Im frühen 17. Jahrhundert trug der städtische Henkermeister diesen Namen – Schmidt brachte es in seiner Laufbahn auf 361 Exekutionen, darunter zahlreiche Enthauptungen. Die Polizei befürchtet, es mit einem Serientäter zu tun zu haben, der sich den Henker als Vorbild für seine Morde gewählt hat. Ein Umstand, den auch Paul Flemming höchst bemerkenswert findet und seinen detektivischen Spürsinn wachruft …

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Seitenzahl: 205

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Jan Beinßen

 

Die kopflose Braut

 

Paul Flemmings fünfzehnter Fall

Frankenkrimi

 

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (Erste Auflage August 2020)

 

© 2020 by © 2014 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Umschlaggestaltung: FYFF, Nürnberg

Motivauswahl: ars vivendi

Coverfoto: © mauritius images / imageBROKER / BAO

 

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-7472-0215-9

 

Inhalt

1

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Epilog

Rezept für Jan-Patricks Original Baggers aus dem Goldenen Ritter

Danke an …

Der Autor

 

Also aber rate ich euch, meine Freunde: mißtraut allen, in welchen der Trieb, zu strafen, mächtig ist!

 

Friedrich Nietzsche

 

1

Weiß getünchte Wände, dunkle Holzdecke, großzügige, mit Rundbögen versehene Sprossenfenster und über allem die angenehm kühle Luft eines alten Gemäuers. Sämtliche Stühle waren besetzt, und die Blicke auf den großen Tisch an der Front des Saals gerichtet, auf dessen mahagoniroter Platte ein festlicher Kranz und eine Ledermappe mit goldenem Stadtwappen lagen.

Trotz der vielen Menschen herrschte im Trauzimmer der Kaiserburg andächtige Stille. Ein jeder wartete auf den Beginn der Zeremonie. Die einzigen Geräusche verursachte Paul Flemming, dessen Schritte in dem hohen Raum widerhallten, während er die geeignete Position für seine Fotos suchte. Dafür fing er sich einen nicht sehr freundlichen Blick der Standesbeamtin ein. Sie nahm gegenüber dem Brautpaar Platz, das Paul als Fotograf engagiert hatte. Um nicht aus dem Rahmen zu fallen, trug Paul – was selten vorkam – dem Anlass entsprechend einen dunklen Anzug, darunter ein frisch gebügeltes weißes Hemd und sogar eine Krawatte.

Nach dem nächsten mahnenden Blick der Standesbeamtin entschied er sich schließlich für einen Standort und ging leicht in die Hocke, um das Objektiv auf Augenhöhe mit den angehenden Eheleuten zu bringen. Ein wirklich hübsches Paar! Er schlank und rank mit vollem, dunklem Haar und markanten Gesichtszügen. Sie eine wahre Augenweide im schneeweißen, elegant geschnittenen Kleid, das platinblonde Haar hochgesteckt und mit Blümchen geschmückt, in den Händen der Brautstrauß.

Die Wolken gaben die Sonne frei und setzten glamouröse Spitzlichter auf das Gesicht der Braut. Ideal!, dachte Paul und betätigte den Auslöser. Dabei hätte es diesen Effekt gar nicht gebraucht: Ihre großen, ausdrucksvollen blauen Augen strahlten vor Freude, und ein zartes Lächeln umspielte ihre Lippen. Paul hoffte, dass dem Bräutigam klar war, was er an ihr hatte.

Ja, gewiss, denn er wirkte absolut verliebt und war wirklich herzlich und charmant, wie Paul schon bei der Auftragsvergabe festgestellt hatte. Was das Paar in seinen Augen noch sympathischer machte, war die erfreuliche Tatsache, dass die beiden seine Preisgestaltung ohne Wenn und Aber akzeptiert hatten, anstatt zu versuchen, ihn herunterzuhandeln, wie es die meisten Kunden taten.

Joana und Marc hießen die zwei. Wie Paul vom Vorgespräch wusste, lag ein Altersunterschied von fünf Jahren zwischen ihnen. Marc, der Ältere der beiden, hatte die Dreißig knapp überschritten. Beim Blick durch den Sucher seiner Kamera erinnerte sich Paul an seine eigene Eheschließung mit Katinka, die ähnlich gestrahlt hatte wie Joana. Auch der Rahmen hatte diesem entsprochen: Ihre standesamtliche Trauung hatte damals im Fischbacher Pellerschloss stattgefunden. Einige Nummern kleiner als die Kaiserburg, aber ebenso würdevoll erhaben und von höfischer Eleganz. Im Gegensatz zu heute hatte es bei Pauls Trauung allerdings den lieben langen Tag geregnet.

Die Standesbeamtin erhob das Wort. Durch die Kamera verfolgte Paul, wie die Braut nach der Hand des Bräutigams griff und sie fest drückte. Auch im Publikum rührte sich etwas. Aus den Augenwinkeln nahm Paul wahr, wie die ersten Taschentücher gezückt und Tränen der Rührung von den Wangen getupft wurden. Eine junge Frau in der ersten Reihe kam mit dem Trocknen gar nicht nach, so ergreifend empfand sie diesen besonderen Moment.

Nach der Ansprache der Standesbeamtin und dem Verlesen der Heiratsurkunde folgte der Höhepunkt der Zeremonie, für den Paul doch noch einmal die Position änderte. So konnte er auch die Trauzeugen ins rechte Bild setzen, bei denen sich feuchte Filme über die Augen legten. Dann konzentrierte er sich wieder auf das Paar. Für die Übergabe des Rings ging er sogar noch ein Stück näher heran, um die Emotionalität besser einfangen zu können. Und das gelang ihm, denn die Porträts der überglücklichen Eheleute drückten tiefste Zufriedenheit aus. Das Lächeln der Braut war so hinreißend, dass Paul gleich dreimal den Auslöser betätigte. Ein letztes Mal tauschte er seinen Platz, um sich zwischen Standesbeamtin und Brautpaar zu platzieren, denn so konnte er den feierlichen Augenblick des Kusses aus nächster Nähe im Bild festhalten. Dieser fiel innig und hingebungsvoll aus, als sollte er ein Leben lang vorhalten.

Für den Sektempfang verlagerte sich die Gesellschaft auf den Burghof, wo Kellner eines Cateringservices bereits mit Tabletts bereitstanden und neben Perlwein auch schmackhaft aussehende Kanapees reichten. Der rötliche Sandstein der Burganlage bot einen besonders reizvollen Hintergrund. Auch das Wetter meinte es gut mit den Jungvermählten: Die Septembersonne heizte die Luft an diesem Vormittag noch einmal bis über die Zwanzig-Grad-Marke auf.

Paul machte weitere Aufnahmen, unter anderem von den Eltern und Schwiegereltern sowie Kindern aus der Verwandtschaft, die Luftballons in Herzform hielten, bevor er sich selbst ein Glas Sekt und zwei Häppchen gönnte. Eine willkommene Stärkung, denn die eigentliche Arbeit lag noch vor ihm: Während sich die Gäste auf den Weg zum Mittagessen in einem Restaurant in der Altstadt aufmachen sollten, wollten Joana und Marc die einzigartige Kulisse der Kaiserburg nutzen, um sich von Paul für die Hochzeitsfotos in Szene setzen zu lassen. Dafür hatten sie sich die Burggärten ausgesucht, die zu dieser Jahreszeit noch in vollem Grün standen.

Für Paul waren die Gärten kein unbekanntes Terrain, weil er dort schon etliche Fotoshootings realisiert hatte. Wie er wusste, waren um 1540 an Nord- und Westseite der Burganlage Bastionen errichtet worden, auf denen später der Burggarten angelegt wurde. Auf der großen Bastion lockte ein Rosenquartier mit seiner Blütenpracht, umrahmt von einer schön gepflegten Baumzeile. Von dort aus führte ein Weg zum Südteil des Gartens, der von einem akkurat geschnittenen Baumrondell aus Feldahorn umspannt wurde. Außerdem gab es den Maria-Sibylla-Merian-Garten in unmittelbarer Nachbarschaft zum Heidenturm, der mit seiner Pflanzenvielfalt an die bedeutende Nürnberger Künstlerin und Naturforscherin erinnerte.

Welches Hintergrundmotiv es am Ende sein sollte, wollte die Braut spontan entscheiden. Nach einem weiteren ausgiebigen Kuss ließ Joana ihren Mann mit einer ausgelassenen Gesprächsrunde allein, fasste die Frau, die vorhin so hemmungslos geweint hatte, an der Hand und kam mit trippelnden Schritten auf Paul zu.

»Marie und ich gehen schon mal vor«, rief Joana ihm fröhlich zu. »Wir schauen, wo es am schönsten ist.«

»Augenblick«, sagte Paul und wollte das Sektglas abstellen. »Ich komme mit.«

»Nein, nein, trinken Sie in Ruhe aus. Meine Brautjungfer und ich wollen uns erst mal allein umsehen.« Schon hatte sie sich abgewandt. Fünf Meter weiter drehte sie sich noch einmal um: »Bringen Sie meinen Mann mit, wenn Sie nachkommen!«

»Geht klar!«, rief Paul ihr nach, nippte an seinem Glas und bediente sich noch einmal bei den Kellnern. Er ergatterte ein dünn geschnittenes Baguettescheibchen mit köstlichem Flusskrebsmousse und eines mit einer würzigen Kräuterkäsemischung. Während er aß, gesellte sich ein älteres Ehepaar zu ihm. Die beiden erkundigten sich, ob er Interesse hätte, auf ihrer Silberhochzeit zu fotografieren – es lief beruflich gerade wirklich gut für ihn.

Einen weiteren Sekt und drei Zusatzhäppchen später löste sich die Hochzeitsgesellschaft allmählich auf. Nachdem sich Bräutigam Marc aus einer Gruppe von Arbeitskollegen gelöst hatte, nahm Paul seine Kameratasche und ging auf ihn zu: »Dann wollen wir mal!«

Marc stimmte zu. Auf dem recht steil ansteigenden Weg über holpriges Kopfsteinpflaster spürte Paul die Wirkung des Alkohols bei sich selbst ebenso wie bei seinem Begleiter, der leicht torkelte.

Der Burggarten, in dem sich um diese Zeit außer ihnen niemand aufhielt, begrüßte sie mit dem Duft spätblühender Blumen und dem Konzert einiger Singvögel. Nachdem sie den Rosengarten menschenleer vorfanden, schlenderten sie weiter zur zweiten Bastion, wo sie Braut und Brautjungfer anzutreffen hofften. Doch auch dort waren weder Joana noch Marie zu sehen.

»Dann sind sie wohl gleich in den Merian-Garten gegangen«, vermutete Marc. »Joanas Lieblingsort.«

So wird es sein, dachte sich Paul und folgte ihm in den nächsten Gartenabschnitt.

Ihre Stimmung war noch immer arglos und entspannt. Paul spürte nicht die geringste Sorge. Auch die Gartenanlage wirkte absolut friedlich und strahlte eine erholsame Ruhe aus.

Paul ging vor, während Marc immer wieder stehen blieb, sich um die eigene Achse drehte und Joanas Namen rief. Kurz kam es Paul in den Sinn, dass Braut und Brautjungfer ihnen vielleicht einen Streich spielen wollten und sich irgendwo versteckt hatten. Wahrscheinlich würden die zwei jeden Augenblick hinter einem Busch hervorkommen und laut »Buh!« rufen. Zuzutrauen wäre es der lebenslustigen Joana, glaubte Paul und musste unwillkürlich lächeln. Kein Grund zur Sorge, dachte er und schritt gemütlich weiter.

Umso heftiger fiel die Wirkung des Anblicks aus, der sich ihm inmitten der bunten Parzellen bot.

»O mein Gott!«, entfuhr es Marc, der nach Pauls Arm griff und fest zudrückte.

Paul starrte auf den gekiesten Weg zu seinen Füßen und konnte kaum fassen, was er sah: Bäuchlings hingestreckt lag Brautjungfer Marie flach auf dem Boden. Regungslos und wie tot.

Nach dem ersten Schreck löste sich Marc von Paul und ging neben ihr in die Hocke. Er fasste nach ihrem Handgelenk, dann rüttelte er an ihr, bis sie Lebenszeichen zu erkennen gab und leise zu husten begann.

Paul dagegen ließ seine Blicke weitergleiten. Mit einem Mal hatte er ein ganz mieses Gefühl. Was war hier vorgefallen? Und wo steckte Joana?

Hinter einer Rabatte lugte ein weißer Zipfel Stoff hervor. Ohne zu zögern ging er darauf zu. Als er die Rabatte erreicht hatte, fand er Joana. Sie lag inmitten eines Beetes lilafarbener Astern. Das Kleid schien unversehrt, in den Händen hielt sie noch den Brautstrauß. Aber jedes Leben war aus ihrem Körper gewichen.

Paul trat entsetzt einen Schritt zurück und konnte kaum fassen, was er sah: Die Braut hatte keinen Kopf mehr. Dort, wo ihr Hals endete, hatte sich eine tiefrote Lache gebildet.

 

2

Diesmal fiel es Paul alles andere als leicht, wieder auf »Normalbetrieb« umzuschalten. Auch für ihn, der sich selbst als ziemlich hartgesotten bezeichnet hätte, war ein enthaupteter Leichnam ein verstörender Anblick. Zumal in einer solchen Umgebung und im Zusammenhang mit einem freudigen Ereignis wie einer Hochzeit. Ihm war hundeelend.

Trotzdem musste es ihm gelingen, seine aufgewühlte Gefühlswelt zu beruhigen und schnell zur Routine zurückzufinden, denn er wollte sich Jasmin gegenüber keine Blöße geben.

Jasmin Stahl trug zivil: helle Bluejeans, tailliertes, quittengelbes T-Shirt und Sneakers. Dazu passte ihre sportliche Kurzhaarfrisur, fand Paul, der sofort die Oberkommissarin alarmiert hatte.

Sie beide hielten gebührenden Abstand zu der Toten am Tatort. Die Detailuntersuchung überließ Jasmin zunächst den Kollegen der Spurensicherung, die in ihren weißen Einmalanzügen umsichtig das nähere Umfeld in Augenschein nahmen.

»Danke, dass du selbst gekommen bist«, sagte Paul zu seiner langjährigen Bekannten. »Da weiß ich, dass dieser Fall in guten Händen liegt.«

Jasmin schnippte ein Strähnchen ihres rosskastanien­roten Haares aus der Stirn. »Bilde dir darauf bloß nichts ein. Mit dir hat es herzlich wenig zu tun, dass ich hier bin.«

»Ach, nicht?« Paul sah sie etwas enttäuscht an.

»Nein. Ich habe die Ermittlungen an mich gezogen, weil das mein Fall ist.«

»Ähm …«

»Auf den ersten Blick ähnelt dieser Fall stark einem anderen, an dem ich momentan arbeite. Deswegen kümmert sich meine SoKo jetzt darum.« Mit einem etwas gezwungen wirkenden Lächeln fügte sie hinzu: »Aber nichts für ungut. Ist nett, dass du gleich an mich gedacht hast und mir Vertrauen entgegenbringst.«

»Ich hoffe, das Vertrauen beruht auf Gegenseitigkeit«, sagte Paul. »Es wäre schön, wenn du mich in die Ermittlungen einbeziehst. Immerhin habe ich die Tote entdeckt.«

Jasmin blickte ihn zunächst ablehnend an, aber dann sagte sie in doch recht freundlichem Ton: »Abgemacht. Ich kann diesmal wirklich etwas Unterstützung gebrauchen.« Sie tippte auf Pauls Fotoapparat, der noch immer um seine Schulter baumelte. »Angefangen bei deinen Bildern. Ich nehme an, du hast die gesamte Hochzeitsgesellschaft abgelichtet? Die Auswertung dieser Fotos dürfte interessant sein, zumal sich dadurch ja vielleicht schon gewisse Schlussfolgerungen ziehen lassen, wer mit wem wie gut auskam.«

»Du vermutest den Täter unter den Gästen, womöglich innerhalb der Familie?«

»Zunächst gehe ich einfach nur nach Schema F vor, und da die Erfahrung sagt, dass Mörder ausgesprochen häufig aus dem Familienkreis kommen und so eine Hochzeit ein nicht zu unterschätzendes emotionales Potenzial aufbietet, ist das meine erste Spur. Wobei ich mit der Befragung des Bräutigams wohl eine Weile warten muss …«

»Ja«, sagte Paul und dachte an den armen Marc, der vor Joanas leblosem Körper zusammengebrochen war und gerade im Krankenhaus Hallerwiese versorgt wurde. Dass er etwas mit dem Tod seiner Angetrauten zu tun haben könnte, schloss Paul von vornherein aus. Er erkannte keinen Sinn darin, außerdem war Marc ja die ganze Zeit über an seiner Seite gewesen. »So ganz überzeugt vom Schuldigen aus dem Familienkreis bist du selbst nicht«, mutmaßte Paul, der Jasmin lange genug kannte, um ihren Gesichtsausdruck zu deuten. »Da es einen zweiten, ähnlichen Fall gibt, hast du den Zusammenhang mit der Trauung eigentlich schon wieder verworfen, nicht? Apropos: Was hat es mit diesem anderen Fall auf sich?«

Jasmin streckte die Hand aus und ließ sich von Paul die Speicherkarte mit den Fotos geben. Anschließend hob sie zu einer Antwort auf seine Frage an, als sich eine Frau, deren stämmige Proportionen in dem unvorteilhaften Mond­anzug groteske Formen annahmen, aus der Gruppe der Spurensicherer löste und auf sie zukam.

»Frau Stahl«, rief sie. »Wir haben ein Problem.«

Paul wich Jasmin nicht von der Seite, als sie ihr entgegenging und sich erkundigte: »Was gibt es denn?«

»Der Kopf«, sagte die Beamtin und schüttelte dabei ihren eigenen. »Wir können ihn nirgends finden.«

»Haben Sie überall in den Beeten nachgesehen?«

»Ja, haben wir.«

»Auch zwischen den Hecken und Büschen?«

»Selbstverständlich. In einem Umkreis von zehn Metern haben wir alles systematisch abgesucht.«

»Dann erweitern Sie den Umkreis«, ordnete Jasmin an.

»Machen wir. Aber da ist noch etwas anderes.« Die Kriminaltechnikerin hob ihre Hand, in der sie einen Klarsichtbeutel von der Größe eines DIN-A-5-Heftes hielt. Darin steckte so etwas wie eine Karte oder ein Brief. »Das hier haben wir in ihrem Kleid gefunden. Der Täter könnte es ihr untergeschoben haben.«

Jasmin nahm die Schutzhülle vorsichtig entgegen und betrachtete den Inhalt.

Paul schaute ihr dabei über die Schultern und erkannte einen etwas antiquiert anmutenden Papierbogen. Er sah aus wie Bütten, handgeschöpft. Die Schrift darauf fügte sich ins Bild: große, geschwungene Buchstaben aus schwarzer Tinte.

Paul reichte ein kurzer Blick, um den Text zu lesen, denn er bestand bloß aus einigen wenigen Worten: »Hochachtungsvoll, Ihr ergebener Franz Schmidt«.

Da Jasmin auffällig lange auf die Grußbotschaft starrte, fasste Paul nach: »Was hat das zu bedeuten? Sagt dir dieser Name etwas?«

Bevor Jasmin antwortete, schickte sie die Kollegin zurück an die Arbeit – mit der Aufforderung, nach weiteren Hinweisen dieser Art Ausschau zu halten. Dann wandte sie sich wieder Paul zu und erklärte: »Ja, dieser Name sagt mir etwas. Nach ihm wurde meine Sonderkommission benannt: die SoKo Schmidt.«

Paul hob fragend die Brauen. »Dann kennt ihr den Täter also schon?«

»Wenn es nur so leicht wäre«, entgegnete Jasmin mit verbissenem Ton. Zusammen mit Paul verließ sie die pralle Sonne und stellte sich an die schattenspendende Burgmauer. »Bei dem anderen Tötungsdelikt, das ich erwähnt habe, wurde die gleiche Nachricht hinterlassen. Auch das Papier gleicht diesem hier wie ein Ei dem anderen.«

»Ein Serientäter, der seine Visitenkarte abgibt? Klingt ziemlich schräg«, fand Paul, den diese Vorstellung leicht frösteln ließ. »Trotzdem: Wenn euch der Name bekannt ist, warum habt ihr den Mann nicht schon nach der ersten Tat verhaftet?«

Jasmin belächelte diese Frage, die sie offensichtlich für recht naiv hielt. »Beim Meldeamt ist dieser Name tatsächlich registriert, zweimal sogar. Doch bei den betreffenden Personen handelt es sich um unbescholtene Bürger mit Alibis, wir haben das überprüft.«

»Dann kommt dieser Schmidt vielleicht nicht aus Nürnberg, sondern zum Beispiel aus Fürth oder Schwabach. Habt ihr euch auch dort erkundigt?«

Wieder ein Lächeln, das verriet, wie wenig Jasmin von Pauls Eingaben hielt. »Natürlich ist das nicht der wirkliche Name des Täters«, belehrte sie ihn. »Andererseits glauben wir nicht, dass er willkürlich gewählt wurde. Wir gehen davon aus, dass hinter diesem Namen die eigentliche Botschaft steckt, die uns der Täter zukommen lassen wollte.«

Paul rieb sich das Kinn. »Welche Botschaft sollte hinter einem so belanglosen Namen wie Schmidt stecken?«

»Jetzt enttäuschst du mich, Paul. Ich dachte immer, du wärst geschichtsinteressiert und würdest dich mit der Historie deiner Stadt auskennen.«

Das kratzte an Pauls Ego. Er rief sich bekannte Persönlichkeiten aus der Nürnberger Vergangenheit ins Gedächtnis. Alle möglichen Namen kamen ihm dabei in den Sinn, angefangen bei Albrecht Dürer über Peter Henlein und Veit Stoß bis hin zu Hans Sachs. Aber ein Schmidt war nicht darunter.

Jasmin ließ ihn eine Weile zappeln, bevor sie ihn erlöste: »Franz Schmidt – der Henker von Nürnberg. Im frühen siebzehnten Jahrhundert trug der städtische Henkermeister diesen Namen. Ich habe mich schlaugemacht und einiges über den Herrn erfahren. Ein ziemlich eifriger Mensch, der es in seiner Laufbahn auf dreihunderteinundsechzig Exekutionen gebracht hat, darunter zahlreiche Enthauptungen.«

Paul zeigte sich beeindruckt. »Dann ist die Parallele klar. Da man nicht von einer Wiederauferstehung ausgehen kann, haben wir es mit einem Trittbrettfahrer zu tun.«

»Diese Definition trifft es nicht ganz. Trittbrettfahrer orientieren sich meist am aktuellen kriminellen Geschehen. Nennen wir ihn lieber einen Nachahmer. Jemand, der Schmidts Handwerk als Henkermeister zu imitieren versucht, was ihm rein anatomisch leider überaus gut gelingt.«

Paul ließ ihre Worte auf sich wirken, dann kamen ihm erste Zweifel: »Es kann ja nicht sein, dass einer am helllichten Tag mit einem Henkersbeil durch die Gegend läuft und Leute köpft. Das würde doch auffallen, schließlich kann man eine solche Axt nicht einfach in der Hosentasche verschwinden lassen.«

»In der Hosentasche sicher nicht. Aber unter einem weit fallenden Trenchcoat sehr wohl. Der Täter könnte die Tatwaffe auch in einer Sporttasche verstaut haben, die er bei sich trug. Es gibt diverse Möglichkeiten. Vielleicht haben wir Glück und werden es bald erfahren. Denn diesmal gibt es eine Zeugin.« Damit verließ sie den Schattenplatz und strebte auf eine Sitzbank zu, auf der zwei Sanitäter Brautjungfer Marie versorgten.

»Ist sie vernehmungsfähig?«, erkundigte sich Jasmin bei einem Notarzt, der unweit der Bank stand und ein Protokoll ausfüllte. Dieser nickte, woraufhin sie sich an die junge Frau wandte, die zusammengekrümmt mit roten Augen und verschmierter Schminke dasaß.

Paul hielt etwas Abstand – doch nur so weit, dass er immer noch jedes Wort hören konnte.

»Mein Name ist Stahl«, stellte sich Jasmin vor. »Ich leite hier die Ermittlungen. Wie ich höre, geht es Ihnen wieder etwas besser?«

»Äh ... ja ... Ich ... Passt schon«, gab Marie schluchzend von sich und rieb sich die tränennassen Hände an ihrem Kleid trocken. Paul fiel auf, wie verschmutzt es war.

»Können Sie bitte beschreiben, was sich ereignet hat, nachdem Sie sich gemeinsam mit der Braut von der Hochzeitsgesellschaft entfernt hatten?« Jasmin legte sich einen kleinen Notizblock bereit.

»Joana und ich sind vorgelaufen, um einen hübschen Hintergrund für die Hochzeitsfotos auszusuchen«, antwortete Marie mit erstickter Stimme. »Sie hatte da ihre ganz speziellen Vorstellungen. Idyllisch sollte es aussehen, märchenhaft.«

»Ist Ihnen auf dem Weg in die Gärten jemand begegnet? Haben Sie einen Mann oder eine Frau beobachtet, die Sie beschreiben können?«

Marie ging kurz in sich, um dann den Kopf zu schütteln. »Nein, da war niemand. Ausgenommen eine alte Frau mit Hund, aber die verließ die Burggärten gerade, als wir kamen. Außerdem hatten wir für so was ja gar keine Augen. Joana ist hin und her geflitzt, weil sie sich nicht entscheiden konnte. Kein Wunder bei der Euphorie und Aufregung, die so ein Tag mit sich bringt. Sie war richtig kopflos.« Kaum hatte sie das letzte Wort ausgesprochen, presste sie entsetzt die Hand vor den Mund. »O Gott«, sagte sie dann. »Was rede ich da bloß?«

Jasmin ging darüber hinweg und fragte: »Was ist dann passiert?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Marie und wurde von einem Weinkrampf heimgesucht.

Jasmin wartete, bis sie sich beruhigt hatte, und stellte ihre Frage noch einmal.

Marie schloss die Augen. »Ich weiß es wirklich nicht. Joana hatte eine Stelle gefunden, an der sie sich fotografieren lassen wollte. Sie rannte ein Stück vor, um sie mir zu zeigen. Ich wollte hinterher, doch dann …«

»Was geschah dann?«, fragte Jasmin nun sehr eindringlich.

»Nichts«, sagte Marie gequält. »Plötzlich war alles schwarz.«

»Es spricht einiges dafür, dass die Patientin betäubt wurde«, merkte einer der beiden Sanitäter an, die sich noch immer in der Nähe bereithielten. »Chloroform, würde ich sagen.«

Jasmin warf ihm einen unfreundlichen Blick zu. »Die medizinische Expertise besorge ich mir später selbst, danke.« Wieder an Marie gerichtet, fragte sie: »Haben Sie kurz vor Ihrem Blackout etwas wahrgenommen? Geräusche vielleicht, Schritte oder sogar eine Stimme?«

Wieder musste Marie nachdenken. »Nein, keine Stimme.« Dann fasste sie sich an die Schläfen. »Au, mein Kopf. Ich habe solche Kopfschmerzen.«

»Vermutlich eine Folge des Chloroforms«, meldete sich der Sanitäter erneut zu Wort.

»Behalten Sie Ihre Meinung bitte für sich und lassen Sie mich meine Befragung zu Ende führen«, wies Jasmin ihn zurecht. »Also, Marie: Sie haben keine Stimme gehört. Aber etwas anderes?«

»Nein, nein, ich habe gar nichts gehört. Außer vielleicht …« Sie unterbrach sich selbst, wirkte unschlüssig.

»Außer was?«, fasste Jasmin behutsam nach. »Etwa doch Schritte, die sich von hinten näherten?«

»Keine Schritte, nein. Es war mehr ein …« Wieder zögerte sie weiterzusprechen. »Es war eine Art … eine Art Singen.«

Jasmin tauschte einen sekundenschnellen Blick mit Paul. »Sie meinen, es hat jemand gesungen? Hörte es sich an wie eine Frau oder wie ein Mann?«

Marie war anzusehen, wie sehr sie das Nachdenken anstrengte. »Weder noch, glaube ich. Eher ein künstliches Singen. Eine Art metallisches Flirren.«

Damit konnte Paul überhaupt nichts anfangen. Was sollte das sein, ein metallisches Flirren?

Jasmin ging es wohl ebenso, denn sie übersprang diesen Punkt und stellte die nächste Frage: »Haben Sie etwas gesehen? Vielleicht einen Schatten, der plötzlich auf Sie zukam? Groß, klein? Dick, dünn?«

»Nein, ich sagte ja schon, dass ich nichts gesehen habe. Da war auch kein Schatten.« Ein erneutes Schluchzen. »Ich habe doch nur auf Joana geachtet. Sie war so happy und lachte die ganze Zeit. Ich habe mich mit ihr gefreut, doch auf einmal …« Sie unterbrach sich abermals selbst und fasste sich wieder an die Schläfen. »Joanas Gesichtsausdruck – er hat sich plötzlich verändert. Als hätte sie sich über irgendetwas fürchterlich erschrocken.«

»Haben Sie eine Ahnung, was diesen Schrecken ausgelöst haben könnte?«

Marie zuckte die Schultern.

»Ist es möglich, dass Ihre Freundin die Person gesehen hat, die sich Ihnen von hinten näherte, um Sie zu überwältigen?«

»Das kann ich nicht sagen. Ich habe nur ihren veränderten Blick gesehen, und im nächsten Moment war alles vorbei. Wie bei einem Filmriss. Jede weitere Erinnerung ist einfach weg.«

»Ein charakteristisches Symptom für dieses einfache Narkosemittel«, redete der Sanitäter wieder dazwischen.

Diesmal platzte Jasmin der Kragen: »Ich komme hier allein zurecht, meine Herren. Sollten wir medizinische Hilfe brauchen, mache ich mich bemerkbar.«

Der übereifrige Sanitäter trat zwei schnelle Schritte zurück, ebenso wie sein weiter hinten wartender Kollege. »Geht klar, Frau Kommissarin«, sagte er eingeschüchtert und stieß seinen Partner an den Arm. »Wir sind dann mal weg.«

»Für dich gilt übrigens das Gleiche!«, rief Jasmin.

Paul fühlte sich davon nicht angesprochen. Erst als sie die Augen aufriss und mit beiden Händen winkte, begriff er, dass auch er unerwünscht war.

»Ich melde mich bei dir«, sagte sie noch und unterbrach die Zeugenbefragung so lange, bis sich Paul weit genug entfernt hatte.

Ärgerlich, dachte er. Da ist man mal bei einem Kriminalfall von Anfang an dabei, gibt wertvolle Hinweise und stellt Bildmaterial zur Verfügung – und dann so was! Wie undankbar von Jasmin. Aber das kannte er ja mittlerweile von ihr.

Für den Fall, dass sie es sich anders überlegen und ihn doch noch zurückrufen sollte, drückte er sich im hinteren Teil des Gartens herum und sah den Spurensicherern bei ihrer kleinteiligen Tätigkeit zu. Ihr Vorgehen, überwiegend in gebückter Haltung oder gar auf Knien, sowie ihre Instrumente – winzige Schaufeln, Pinzetten, Pinsel – ließen ihn an Archäologen denken. Eine wahre Sisyphusarbeit.

Leider machte Jasmin keinerlei Anstalten, ihren Platzverweis zurückzunehmen. Schließlich sah Paul ein, dass es wenig Zweck hatte, länger zu warten und sich die Beine in den Bauch zu stehen. Also akzeptierte er die Tatsache, dass die Polizei auch ohne ihn zurechtkam, und verließ etwas frustriert und mit gesenktem Kopf seinen Posten.