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Die Jagd auf die Krone der Drachen ist eröffnet! Zina lebt als Dienstmädchen im Palast des Sonnenkaisers und führt ein sklavenähnliches Dasein. Um sich aus diesem Leben befreien zu können, will sie sich auf die Suche nach der legendären Dracheninsel machen. Denn wer den König der Drachen besiegt, gewinnt dessen Macht. Nun ist die Gelegenheit so günstig wie nie zuvor: Der Sonnenkaiser hat seinen Sohn ausgeschickt, um den Drachenkönig zu töten, doch dieser konnte ihn lediglich verwunden. Auf ihrer Reise lernt Zina nicht nur sich selbst kennen, sondern taucht außerhalb der Palastmauern in eine Welt voller Magie und Geheimnisse ein ...
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Originalausgabe
© ivi, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2021
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Cover & Impressum
Widmung
Prolog
Die Heimkehr des Prinzen
Der verbotene Garten
Feuerprobe
Keine Angst
Verbündete
Besser als nichts
Ein bisschen dankbar
Keine Sonne
Drachenduft
Wunden
Was möglich ist
Eine Ahnung von Licht
Atemlos
Der Handlose
Ausgestoßene
Frage und Antwort
Die Entscheidung
Hoffnung
In der Dämmerung
Der geborene Luftfahrer
Himmelwärts
So schön und wild
Hinter dem Wasserfall
Die Quelle
Angekommen
Der Verlorene
Immer nur fliegen
Bei vollem Verstand
Drache und Prinz
Am seidenen Faden
König der Drachen
Kein Mörder
Keine Königin
Freunde
für Anna-Katharina
In der Nacht seines Aufbruchs blieb Navid stumm.
Die Feste hatten ein Ende gefunden. Drei Tage und drei Nächte hatte es gedauert, den Abschied des Prinzen gebührend zu feiern. In der vierten Nacht war die Musik verklungen.
Kaum ein Laut war zu hören, als Navid sich auf den Weg in den Thronsaal machte. Alle wussten, dass es heute passieren würde. Doch niemand durfte ein Wort an ihn richten, so kurz bevor er sich auf die Reise begab. Es würde ihn ablenken. Seine Gedanken wären nicht frei genug, nicht nach vorne gerichtet, auf seinen Weg. Es sollte Unglück bringen, in der Nacht seines Aufbruchs mit einem Prinzen zu sprechen – es hieß, wenn man sie ansprach, kehrten sie niemals zurück.
Navid hatte vor zurückzukehren. Er hatte viel mehr vor als das.
Vor den Türen des Thronsaals hatten sich Schaulustige versammelt. Ihre Stimmen wehten Navid entgegen, als er den letzten Korridor betrat. Sie unterhielten sich nur gedämpft, doch das Flüstern hallte von Wänden und Decken wider und mischte sich mit dem leisen Knistern der Fackeln. Navid spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Doch seine Miene blieb reglos. Er hatte gelernt, im Angesicht von Gefahr keine Schwäche zu zeigen. Er konnte Schmerzen ertragen, ohne zu schreien. Als er nun auf die Flügeltüren zusteuerte, waren seine Schritte sicher und schwer. Das Geflüster legte sich rasch. Augen hefteten sich auf ihn, glitten über seine Erscheinung, suchten begierig nach Zeichen von Angst. Aber sie konnten seinen Herzschlag weder sehen noch hören und sein Atem ging langsam und ruhig. Eine Gruppe von Dienerinnen stand direkt neben der Tür, gerade so nah an den Wachposten, wie sie es wagten. Navid achtete darauf, seinen Blick nicht zu hastig auf sie zu richten. Wie beiläufig musterte er die Gesichter der Frauen. Eine oder zwei kamen ihm vage bekannt vor, ihre Namen wusste er nicht. Keine wirkte sonderlich besorgt um ihn und keine sah ihm in die Augen. Die Flügeltüren setzten sich langsam in Bewegung, noch bevor Navid sie erreicht hatte. Erschrocken wichen die Dienerinnen zurück, eine drängte sich sogar gegen die Wand. Kurz hatte er Lust, vor ihr stehen zu bleiben. Navid konnte Feigheit nicht ausstehen. Er wollte ihr Kinn packen und sie zwingen, ihm in die Augen zu sehen. Er wollte die Angst unter ihrer Haut fühlen, wollte hören, wie ihr Atem stockte. Er wollte sehen, ob sie Tränen unter ihren langen Wimpern verbarg. Die Vorstellung gefiel ihm. Navid wurde langsamer, ein wenig nur. Die Dienerinnen wichen weiter zurück, nur die eine stand mit dem Rücken zur Wand.
»Navid.«
Sein Kopf fuhr herum. Jemand war über die Schwelle des Thronsaals getreten und sah ihn an. Sarina trug eines der kostbaren Seidenkleider, die den Frauen des Kaisers vorbehalten waren. Hin und wieder durfte sie das, dabei hatte sie dem Kaiser schon lange keine Söhne mehr geschenkt. Es war ihr Glück, dass sie schön war. Navid hatte nicht erwartet, dass seine Mutter den Thronsaal betreten durfte. Vielleicht hatte sie den Kaiser darum gebeten und in seiner Großmut hatte er es erlaubt. Navid konnte nicht bestreiten, dass es guttat, sie zu sehen.
Sarina machte einen Schritt nach vorn, was die purpurne Seide rascheln ließ. Erst im nächsten Moment begriff Navid, was sie getan hatte.
Sie hatte seinen Namen gesagt.
Ihre Augen weiteten sich, eine Spur nur. Wieder öffnete sie den Mund, doch diesmal blieb sie stumm.
Schritte ertönten, schwerer noch als Navids. Der Kaiser trat hinter ihr an die Schwelle, wie Sarina in purpurrote Seide gekleidet. Seine schwarzen Augen wanderten über Navids Gestalt. Wer den Prinzen in der Nacht seines Aufbruchs ansprach, wurde mit dem Tode bestraft.
Seine Hand legte sich auf Sarinas schmale Schulter. Finger gruben sich tief in ihr Fleisch. Ihr ebenmäßiges Gesicht blieb ohne Regung.
Ruckartig drehte der Kaiser sich um und führte sie vor sich her, zurück in den Thronsaal. Bis auf den hämmernden Puls in Navids Ohren war es still.
Er folgte ihnen ohne ein Wort.
Zina erlebte nicht zum ersten Mal die Rückkehr eines Helden. Im Palast des Sonnenkaisers kam das häufig vor. Hatte der Held gesiegt, erklangen die Hörner. War der Held gefallen, schlug man die Trommeln. So oder so gab es in der folgenden Nacht ein rauschendes Fest.
Als der älteste Sohn des Kaisers von der Dracheninsel zurückkehrte, wurde Zina von den Trommeln geweckt.
»Hörst du das?«
»Ist das …?«
»Das sind sie.«
»Ist er zurück?«
»Ist er tot?«
»Bei der Feuermutter, er ist tot.«
Das ferne Geräusch der Trommeln wurde vom Getuschel im Schlafsaal übertönt. Zina richtete sich auf, warf einen Blick aus den schmalen Fenstern. Draußen war es stockdunkel und die Trommler kamen näher.
»Der Prinz ist tot!« Der Aufschrei kam von einem Bett neben der Tür. Eine der Köchinnen hatte eine Öllampe entzündet, die gefährlich in ihren Händen zitterte. »Ist das wahr? Kann das wahr sein?«
»Du hörst es doch!«
Für einen Moment herrschte Stille, nur von den sich nähernden Trommlern gestört. Und dann, als Zina es zu glauben begann, hörte sie noch etwas. Die Hörner wurden geblasen.
Im Schlafsaal brach ein Tumult aus. Alle stürzten auf die Fenster zu, rissen die Vorhänge zurück, riefen durcheinander. Die Trommeln kamen noch näher, die Hörner wurden lauter und schließlich rief eines der Dienstmädchen: »Er lebt! Dahinten kommt der Prinz, er lebt!«
Zina bückte sich und zog ihre Schuhe unter der Matratze hervor. Sie hatte auf die Rückkehr des Prinzen gewartet, doch nicht, um ihn zu feiern. Seit seinem Aufbruch war keine Nacht vergangen, in der sie nicht für seinen Tod gebetet hatte. Aber in Wahrheit hatte sie geahnt, dass er ihr diesen Gefallen nicht tun würde. Also hatte Zina sich etwas geschworen. In all dem Trubel unbemerkt warf sie sich einen Umhang über, schlüpfte in die Sandalen und stahl sich an der aufgelösten Köchin vorbei aus dem Saal.
Die Hörner erklangen direkt vor seinem Fenster. Azad hatte noch nicht fest geschlafen und war innerhalb einer Sekunde hellwach. Er stand auf, trat auf den Balkon hinaus und beugte sich über die Brüstung. Auf den golden schimmernden Dächern des Palastes standen die Bläser und verkündeten die Heimkehr des ältesten Prinzen. Fackelschein glitt über das Wasser und erst nach ein paar Sekunden hörte Azad die Trommler auf dem Fluss.
»Azad!«
Die Flügeltüren zu Azads Schlafzimmer schwangen auf und krachten gegen die bemalten Wände. Rayan stürzte über die Schwelle, eine Hand am Gürtel seines Morgenmantels, die Seidenpantoffeln falsch herum an den Füßen. Sein unrasiertes Gesicht war schweißnass.
»Was ist los?«, fragte Azad sofort. »Was sollen die Trommeln?«
Rayan, der Drittgeborene, warf einen raschen Blick auf den Fluss. »Er wurde verwundet.«
Azad starrte ihn an. »Navid?«
Rayan legte ihm eine Hand auf die Schulter und schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er so leise, dass man ihn über die schallenden Töne der Hörner kaum verstand. »Der Drachenkönig. Navid hat den Drachenkönig verwundet.«
Azad spürte, dass Rayans Finger zitterten. Er streifte seine Hand ab. »Und Navid?«
Vor dem Nachthimmel bewegte sich etwas. Ein Schatten erschien über den Dächern der Stadt, stieg höher, schob sich vor den goldgelben Mond. Zwei gewaltige Schwingen spannten sich auf und dann ertönte das Brüllen.
Der Drache war leuchtend rot. Er flog schnell und geschmeidig, glitt über den Fluss hinweg und das Rauschen seiner Flügel übertönte die Trommeln. Als der Drache die Palastmauern erreichte, erkannte Azad seinen ältesten Bruder zwischen den Schulterblättern des Tiers. Siegestrunken hob Navid seinen Säbel. Die Klinge glänzte in der Farbe des wilden Drachen, den der Prinz auf der Insel gefangen hatte.
»Der Säbel«, murmelte Azad. »Denkst du, es ist wahr?«
Rayan beobachtete, wie der blutrote Drache im Palmenhain landete. Navid sprang ab und wurde rasch von den Schatten der Bäume verschluckt. »Ja«, sagte er. »Ich denke, es ist wahr.« Er drehte sich um. »Komm mit. Wir empfangen ihn im Hof.«
Im Palast des Sonnenkaisers war es niemals völlig ruhig. Fast immer feierte jemand irgendwo ein Fest, wenn nicht der Kaiser persönlich, dann einer seiner hochrangigen Gäste. Azad hatte sich längst an den ständigen Klang von Musik und Gelächter gewöhnt, und wenn die Gesänge und Rasseln doch einmal verstummten, kam es ihm viel zu still vor. Trotzdem war der übliche Trubel nichts im Vergleich zu dem Ansturm, der nun auf dem Palmenhain herrschte. Der ganze Palast schien auf den Beinen zu sein, um Navid zu empfangen. Aus allen Richtungen strömten Neugierige heran, schlossen sich zu Gruppen zusammen und hasteten weiter, ohne die beiden Prinzen auch nur zu bemerken. Getuschel hallte von den mit Blattgold und Schmuckkacheln verzierten Wänden wider und Aufregung vibrierte in der Luft.
»Rayan«, murmelte Azad, als sie die Halle des Goldenen Flusses erreichten. Der Del Lungh floss träge durch den Saal und unter der hohen Goldkuppel wurden die Stimmen ohrenbetäubend. Schon legten die ersten Flöße mit Tänzerinnen und Trommlern an den Palaststegen an und Fässer mit Honigwein und Dshan wurden ans Ufer gerollt. Feuer wurden geschürt, Öl zischte und der Duft von Zuckerbrot und Feuerbonbons stieg Azad in die Nase. »Rayan, denkst du, der Drachenkönig ist tot?«
Rayan wurde nicht langsamer auf seinem Weg durch den Hafensaal. Er griff nach Azads Arm und zog ihn vorwärts zur kaiserlichen Brücke. Es war einer von vielen Wegen über den breiten Fluss, der gemächlich durch den Kaiserpalast floss, doch im Gegensatz zur breiten Lieferbrücke waren die vergoldeten Stufen der Kaiserfamilie vorbehalten. Auf einen Schlag lichtete sich die Menge, kaum dass sie einen Fuß auf die Brücke gesetzt hatten. Azad hörte plötzlich, wie schnell Rayan atmete. »Natürlich nicht«, gab er knapp zurück. »Niemand kann den Drachenkönig töten.«
»Aber Vater hat gesagt …«
»Ich weiß, was Vater gesagt hat.«
»Er wird ihn doch nicht bestrafen?«
Rayan warf ihm einen raschen Seitenblick zu und das trübe Licht, das vom Goldenen Fluss aufstieg, ließ seine dunklen Augen schimmern. Er antwortete nicht.
Draußen war es taghell. Die Palmwedel waren schwer von bunten Laternen und zwischen ihren schlanken Stämmen tanzten die Fackelträger. Sobald Azad den staubigen Boden betrat, eilte ein in Seidenbahnen gekleidetes Mädchen heran und reichte ihm einen Becher mit Wein. »Trinkt auf den Prinzen!«, zwitscherte sie, drückte auch Rayan einen Kelch in die Hand und verschwand.
»Sie hat uns nicht mal erkannt«, stellte Azad fest.
Rayan hörte ihm kaum zu. Vor ihnen wirbelten Feuerräder durch die Luft und die Trommler wurden lauter. »Er ist gleich da. Schnell jetzt.«
Seite an Seite hasteten sie durch den Hain, dem Zentrum des Geschehens entgegen. Vor ihnen lichteten sich die Palmen, zwischen denen Azad nun die handverlesenen Dienerinnen seines Vaters erkannte. Die, die keine Aufgabe hatten, standen schweigend zwischen den Stämmen. Azad ließ den Blick wandern und entdeckte schließlich das Gesicht, das er gesucht hatte.
»Azad!«, zischte Rayan, aber er achtete nicht auf ihn. Statt sich zu seinem Vater durchzukämpfen, wich er einem seiner Hoflehrer aus und mischte sich rasch unter die Frauen. Die meisten schlugen die Augen nieder, als sie ihn sahen, und wichen hastig zurück. Eine von ihnen bemerkte ihn erst, als er direkt vor ihr stehen blieb.
»Mutter«, flüsterte er.
Thamara Meena sah zu ihm auf und ihr Gesicht begann zu leuchten. »Azad!« Sie zog ihn zu sich, um seine Wangen zu küssen, und er ließ es geschehen.
»Geht es dir gut?«, fragte er leise. »Bist du gesund?«
Sie gluckste nur und winkte ab. »Ah, mir geht es wie immer. Was ist mit dir? Gut siehst du aus. Behandelt er dich anständig, hm?« Ihre runden Finger tasteten über seine Schultern, als suchte sie ihn nach verborgenen Lasten ab.
»Er behandelt mich … gut. Rayan auch. Du musst dir keine Sorgen machen.«
»Meine beiden schönen Söhne.« Thamara tätschelte seine Wange. »Pass auf dich auf, hörst du? Sieh zu, dass er dir keinen Unsinn befiehlt. Die arme Sarina hat so geweint, als ihr Navid aufgebrochen ist.«
Azad reckte den Kopf und sah Sarina in der ersten Reihe der Dienerinnen stehen. Sie war älter als Thamara, aber immer noch sehr schön, und hin und wieder wollte der Kaiser sie noch sehen. »Keine Angst«, murmelte er. »Vater befiehlt mir gar nichts.«
Ganz in der Nähe ertönten die Hörner.
»Da kommt er!«, flüsterte Thamara.
Die Trommler und Fackeltänzer traten zur Seite. Das kleine Grüppchen im Zentrum der Versammlung geriet in Bewegung und zum ersten Mal in dieser Nacht erhaschte Azad einen Blick auf den Kaiser. Er stand mit dem Rücken zu ihm, seine beiden mittleren Söhne und seine Lieblingsdienerinnen an seiner Seite. Anders als die meisten Schaulustigen hatte er sich nicht nur rasch eine Weste übergeworfen, sondern war in golden bestickte Roben gekleidet, und an seinen Ohrläppchen hingen schwere Opale.
Ein letzter Hörnerklang erfüllte die Luft, dann herrschte Stille.
Navid trat in den Schein der Laternen.
Aus der Nähe sah er fürchterlich aus. Er war immer der stärkste von Azads Brüdern gewesen und vermutlich hatte ihm das das Leben gerettet. Die kostbare Rüstung, mit der ihn sein Vater vor der Reise beschenkt hatte, war kaum noch als solche zu erkennen. Etwas hatte das Metall zerrissen wie Seide und nicht alle Flecken stammten von Drachenblut. Sein rechtes Auge war stark geschwollen, und als er sich bewegte, tat er es unter sichtbarer Qual.
Navid hob seinen Säbel und lächelte. »Ich bin zurückgekehrt«, stieß er hervor.
Jubelrufe wurden laut. Musik setzte ein, die schon im nächsten Moment wieder verstummte. Der Kaiser hatte sich in Bewegung gesetzt und trat langsam auf seinen Ältesten zu.
»Navid.«
»Vater.«
Navid neigte mühsam den Kopf.
Dshihan von Uyneia war ein eindrucksvoller Mann und er war sich seiner Wirkung bewusst. Er war noch ein wenig größer als sein gut gebauter Sohn und unter seinem scharfen Blick schien der sonst so selbstsichere Navid zu schrumpfen. »Das bist du«, sagte Dshihan gedehnt. »Du bist zurückgekehrt. Siegreich, könnte man meinen.«
Navid blieb stumm.
Der Kaiser hob eine Hand, die bis auf einen einzelnen Goldring schmucklos war. Der Anblick der harten Kanten trieb Azads Puls in die Höhe. Er sah, wie Navids Lider zuckten. Es war offensichtlich, dass er gerne zurückgewichen wäre, aber zu Azads Erleichterung tat er es nicht. Der Kaiser mochte es nicht, wenn man Angst zeigte. Es machte ihn rasend. Navid blieb wie angewurzelt stehen, als Dshihan die Hand an sein Gesicht führte und über sein geschwollenes Auge fuhr. Schweiß glitzerte auf seiner düsterrot verfärbten Haut. Die Finger des Kaisers gruben sich tief in die Schwellung und Azad zuckte zusammen. Navids Fäuste zitterten, doch er wich nicht zurück.
Abrupt löste der Kaiser seine Hände von Navids geschwollenem Gesicht. »Yamal«, sagte er knapp.
Prompt trat Azads zweitältester Bruder vor. Er war kleiner und schlaksiger als Navid, aber sein Blick war hart wie der seines Vaters. Yamal sagte kein Wort, starrte Navid nur entgegen.
»Rayan.«
Rayan folgte der Aufforderung seines Vaters so schnell wie Yamal. Er stellte sich auf die andere Seite des Kaisers und sah stumm in Navids bleiches Gesicht.
Die Dienerinnen wichen zurück, noch bevor der nächste Name fiel.
»Azad.«
Er schluckte und trat in den Schein der Fackeln. Rayan machte eine kleine Handbewegung und Azad stellte sich gehorsam neben ihn. Sein Herz hämmerte bis in den Hals, doch es war nichts im Vergleich zu der Angst, die er in Navids blutunterlaufenen Augen entdeckte.
Sein ältester Bruder begegnete seinem Blick nur kurz und sah gleich wieder zu seinem Vater.
»Ich habe dir einen Auftrag erteilt, Navid«, sagte Dshihan mit seiner ruhigen, tiefen Stimme. »Wie lautete dieser Auftrag?«
Navid räusperte sich. »Ich sollte … den Drachenkönig töten und mit seinem abgeschlagenen Kopf zurückkehren.«
Getuschel brach aus. Diese Information war den meisten Zuschauern neu, denn für gewöhnlich zogen die Prinzen aus, um einen Drachen zu fangen. Es war ein schrecklicher Auftrag, und wäre er bekannt gewesen, hätte wohl kaum jemand auf Navids Rückkehr gehofft.
»Und was hast du getan?«, fragte der Kaiser sanft.
»Ich habe ihn verwundet.«
»Das hast du. Und jetzt bist du zurück.« Dshihan trat einen Schritt nach vorn und starrte seinem Sohn ins Gesicht. »Hast du meinen Auftrag erfüllt?«
Dort, wo Navids Haut unversehrt war, lief sie feuerrot an. »Nein.«
»Nein«, stimmte Dshihan leise zu. »Das hast du nicht.«
»I…ich habe mit ihm gekämpft. Ich habe ihn verletzt. Sein Blut hat meinen Säbel benetzt, die Klinge ist unzerstörbar. I…ich habe das Blut des Drachenkönigs getrunken und bin stärker als zuvor, ich …«
»Genug.« Die Hände des Kaisers gruben sich in Navids Arm, dort, wo der Stoff seines Hemds blutgetränkt war. Navid verstummte abrupt.
»Du hast überlebt«, sagte Dshihan. »Geh und lass dich feiern.« Er wandte sich ab. Navids Blut klebte an seinen Fingern. »Aber vergiss nicht, dass du mich enttäuscht hast. Yamal.« Er winkte nach seinem zweitältesten Sohn und verschwand mit ihm zwischen den Tänzern, ohne Navid noch einmal anzusehen.
Azad sah, dass Navid zu wanken begonnen hatte. Hinter sich hörte er Sarina leise wimmern, aber Navid tat, als bemerkte er es nicht. Azad wünschte, Rayan würde etwas sagen. Der starrte Navid immer noch stumm ins Gesicht, obwohl seine Hände zitterten.
»Bist du … schwer verletzt?«, brachte Azad schließlich hervor.
Navids Augen flackerten in seine Richtung. »Nein«, blaffte er ihn an. »Ich bin stärker denn je. Erst recht stärker als du. Spar dir das verdammte Mitleid. Ich habe mehr erreicht, als du dir vorstellen kannst.«
Azad biss die Zähne zusammen. »Ich weiß.«
Navid lachte hohl auf. »Du? Du weißt gar nichts. Nicht das Geringste. Niemanden interessiert, was du tust.« Er machte eine rasche Bewegung, als wollte er Azad einen Schlag verpassen. Schmerz zuckte durch sein Gesicht und sein Arm fiel schlaff zurück an seine Seite.
Azad trat einen Schritt zurück. »Ich weiß, dass er … ungerecht sein kann …«
»Rayan«, knurrte Navid, »schaff ihn mir aus den Augen. Ich ertrage sein Gerede nicht.«
Wortlos wandte Azad sich ab.
Ein Schweißtropfen löste sich aus Yamals Haaransatz und rann quälend langsam über seine Schläfe. Flammen loderten in einer der Feuerschalen, die man zwischen den Palmen aufgestellt hatte. Eine Tänzerin wirbelte vorbei und entzündete mit einer geschmeidigen Bewegung ihre Fackel. Der Kaiser hatte Abstand zwischen sich und die Feier gebracht. Yamal war ihm zwischen die Bäume gefolgt, bis die Musik und die Stimmen zu einem fernen Summen verklungen waren, und bis auf die Tänzerin waren sie nun allein. Sie war hübsch und kam ihm flüchtig bekannt vor, vielleicht hatte er sich schon hin und wieder die Zeit mit ihr vertrieben. Das Mädchen schwang seine Fackel, warf einen Blick in das Gesicht des Kaisers und verschwand eilig in Richtung der Gäste.
Yamal hob den Becher mit Honigwein an seine Lippen. Scharfer Dampf stieg ihm in die Nase und verriet ihm, dass jemand sein Getränk mit einem großzügigen Schuss Dshan versehen hatte. Der Dattelschnaps war im Kaiserpalast sehr beliebt, weniger wegen seines Aromas als vielmehr wegen seiner beeindruckenden Stärke. Kurz war der Gedanke verlockend, aber Yamal wusste aus Erfahrung, dass man im Umgang mit dem Kaiser besser einen klaren Kopf behielt. Langsam ließ er seinen Becher sinken, ohne dass die klebrige Flüssigkeit seine Lippen berührt hatte.
»Deine Brüder waren immer schwächer als du«, sagte der Kaiser mit samtwarmer Stimme. Er hatte den Kopf leicht zu den Sternen erhoben, als schiene nur für ihn eine Sonne vom nachtschwarzen Himmel. »Schon in eurer Kindheit habe ich das geahnt. Ich hatte gehofft, dass Navid mich nicht enttäuschen würde, aber tief in meinem Herzen habe ich es immer gespürt.« Langsam senkte Dshihan den Blick, bis Yamal seinen dunklen Augen begegnete. Die Haut schimmerte an seinen Schläfen, dort, wo der Kaiser sich mit duftenden Ölen massieren ließ. »Der Drachenkönig ist nicht unser einziger Feind, Yamal. Er ist nicht einmal unser schlimmster. Solange wir den Weg zu seiner Insel schützen, wird er uns nicht angreifen. Und weil wir die Wächter der Drachen sind, haben wir ein Privileg.«
Yamal kannte die Geschichte. Sie gehörte zu denen, die Navid ihm früher im Dunkeln erzählt hatte. Bis zum Alter von sechs Jahren hatte er sich ein Zimmer mit seinem Bruder geteilt und Navids Erzählungen von mutigen Prinzen und uralten Kriegen hatten ihn bis in seine Träume verfolgt. Dann war die Zeit gekommen, in der ihr Vater sich auf die Suche nach einer Königin gemacht hatte, und Navid war in die Privaträume des Kaisers gezogen. Damals hatte Yamal den Grund nicht verstanden, aber inzwischen nahm er an, dass sein Vater seine potenzielle Gemahlin im Umgang mit dem Thronfolger hatte testen wollen. Yamal hatte kaum Erinnerungen an die fremde Frau, aber nachdem sie verschwunden war, war Navid nicht in sein altes Schlafzimmer zurückgekehrt. Als Yamal ihm wenige Wochen später vor den Räumen ihres Vaters begegnet war, hatte Navid ihm den Arm verdreht, bis Yamal seine Lippe zerbiss, um nicht zu schreien.
»Bevor ein Prinz Kaiser wird, muss er die Reise zur Insel machen«, fuhr Dshihan fort, die Augen ins Leere gerichtet, als spräche er für ein unsichtbares Publikum. »Er muss einen Drachen bekämpfen und fangen, erst nach seiner Rückkehr wird er gekrönt. So hat es mein Vater gemacht, vor ihm mein Großvater, so habe ich es gemacht. So hätte ich es von Navid erwarten können, nicht wahr? Aber das habe ich nicht. Weißt du, warum?«
Yamal wusste es nicht. Er hatte keine Ahnung, wieso sein Vater den Drachenkönig tot sehen wollte. Der Kaiser Uyneias und der König der Drachen waren zwei Seiten einer Medaille, so war es schon lange gewesen, seit die letzten Drachenkriege mit dem Pakt zwischen beiden Seiten zu Ende gegangen waren. Er öffnete den Mund, doch Dshihan schien nicht auf eine Antwort zu warten.
»Die Welt hat sich verändert, Yamal. Sie sieht heimlich auf uns herab. Was bringt uns ein Bündnis mit den Drachen, wenn wir seine Macht nicht nutzen? Unsere Waffen sind in Vergessenheit geraten, unsere Zerstörungskraft fürchtet niemand mehr. Ich respektiere das Bündnis, aber die Welt tut es nicht. Deshalb brauche ich dich, Yamal. Wenn du den Drachenkönig tötest, erhältst du seine Macht. Man wird dich verehren und fürchten, solange du lebst.« Der Kaiser hielt inne und musterte Yamal so intensiv, als würde er ihn zum ersten Mal sehen. Yamal umklammerte seinen Becher und fragte sich, ob er Navid dieselbe Geschichte erzählt hatte. Wahrscheinlich hatte Navid ihm geglaubt. Yamals großer Bruder war schon früher schnell von seiner eigenen Überlegenheit zu überzeugen gewesen. Als die fremde Königin aufgetaucht war, hatte Navid keinen Gedanken mehr an Yamal oder seine eigene Mutter verschwendet. Yamal war zu klein gewesen, um zu begreifen, was da geschah. Er war auch zu klein gewesen, als Navid krank geworden war. Er hatte nicht verstanden, wieso sein Vater plötzlich Zeit mit ihm verbrachte oder wieso eine Palastwache Tag und Nacht vor seinem Zimmer stand. Er hatte nur gewusst, dass Navid krank war und dass er, Yamal, wichtiger wurde. Und jetzt hatte Navid versagt.
»Wenn Navid es nicht geschafft hat …«
Der Kaiser lächelte, obwohl es ihm sichtlich schwerfiel. Yamal fragte sich, ob ihn Navids Zustand getroffen hatte. »Ich liebe Navid, aber er war nie wie du. Er hat weder deinen Mut noch deine Klugheit, Yamal, und offen gestanden verfügt er nicht über dein besonderes Pflichtbewusstsein. Ich habe ihm diesen Auftrag erteilt, um ihm eine Chance zu geben, und ich hätte mir gewünscht, dass er sich seiner Aufgabe würdig erweist. Aber nun, da er gescheitert ist …« Der Kaiser hielt inne und seufzte kaum hörbar. Er hob eine kräftige Hand und legte sie sanft auf Yamals Schulter. »Du bist meine größte Hoffnung, Yamal. Du bist sie immer gewesen. Es zerreißt mir das Herz, dich dieser Gefahr auszusetzen, aber ich habe keine Wahl. Und ich spüre … ich weiß, du spürst es auch … dass du mich stolz machen wirst. Es liegt in deiner Natur, das zu tun.«
Er hatte keine Ahnung gehabt, dass sein Vater so von ihm dachte, aber in diesem Augenblick spürte er, was nur die Wahrheit sein konnte: Dshihan glaubte an ihn, mehr als er je an Navid geglaubt hatte.
Der Kaiser trat einen Schritt auf ihn zu, und Yamal sah, dass seine Augen schimmerten. »Ich bin bereit, dir diese Chance zu bieten, mein Sohn. Ich setze meine Hoffnung in dich … obwohl mich die Angst um dich in jeder Sekunde quälen wird. Ich schenke dir mein Vertrauen, Yamal. Wirst du für mich versuchen, woran dein Bruder gescheitert ist?«
Yamal schloss die Augen. Gescheitert. Navid war gescheitert, sein Vater sprach es endlich aus. Er hatte geahnt, dass es passieren würde, der Kaiser hatte recht. Navid war kein Hoffnungsträger, aber er, Yamal, war es. Er hatte es gespürt, als Navid seinen Arm gebrochen hatte, all die Jahre lang hatte er es gespürt. Er hatte den Schmerz ertragen, weil es seine Pflicht war, und hier war endlich sein Lohn.
»Nein«, flüsterte er und plötzlich schwebten seine Gedanken, als hätte er ein ganzes Fass Dshan geleert. »Ich werde es nicht versuchen. Nein, ich werde es tun.«
Er blinzelte, als er spürte, wie der Kaiser näher kam. Schließlich stand sein Vater direkt vor ihm. Fackelschein tanzte über die Opalohrringe, doch in all seiner Herrlichkeit hatte Dshihan nur Augen für seinen Sohn. »Ich danke dir«, sagte der Kaiser leise, und Yamal glaubte, ein gut verborgenes Zittern in seiner Stimme zu hören. »Du verstehst, was Ehre ist, mein Sohn. Ich weiß, du würdest lieber sterben, als deinen Vater zu enttäuschen.«
Als er es aussprach, konnte Yamal es spüren. »Ja«, sagte er entschlossen. »Ja, das würde ich.«
Zinas Atem ging schneller, als es ihr lieb war. Sie hatte keine Angst vor der Nacht, die glühenden Augen im Wasser erschreckten sie nicht. Anders als die meisten Bewohner der Goldenen Stadt bewegte sie sich auch im Dunkeln über die Kanäle. Furchtlos steuerte sie ihr kleines Floß zwischen den reglosen Schemen hindurch. Flussfresser waren nicht die Bestien, zu denen Geschichten sie machten. Zina wusste das, aber je lauter sie atmete, desto unruhiger wurde das Wasser. Flussfresser jagten nur ungern, aber wenn man sie störte, wurden sie wild.
Direkt vor Zina erglühte ein weiteres Augenpaar. Sie hatte ihre Laterne fast gänzlich unter dem Umhang verborgen. Nur ein feiner Streifen Licht traf eine bleiche Schnauze. Der Flussfresser trieb direkt vor ihr im Wasser, das Maul zur Ahnung eines Grinsens geöffnet. Zina wusste, dass er nicht wirklich grinste. Es war die natürliche Form seines Kiefers, aber der Eindruck blieb.
»Lach nicht«, murmelte sie.
Der Flussfresser sah spöttisch zu ihr auf.
Behutsam setzte Zina die Stange ins Wasser und drückte ihr Floß zur Seite. Ein Schlag mit dem kräftigen Schwanz des Flussfressers würde ausreichen, um sie von den Füßen zu fegen, aber das Tier rührte sich nicht. Träge beobachtete es, wie Zina an ihm vorbeitrieb. Als sie auf einer Höhe mit seinem länglichen Kopf war, schloss es das Maul und glitt langsam zurück unter die Wasseroberfläche.
Zina setzte ihren Weg durch die Seitenarme des Flusses fort. Das Kanalsystem der Goldenen Stadt war der Ort ihrer Kindheit. Sie hatte schwimmen gelernt, bevor sie laufen konnte. Die Flussfresser hatten sie nie angerührt. Ihre Eltern hatten früh dafür gesorgt, dass Zina sich zwischen den Tieren zu bewegen wusste, und das war ein Glück. Die Diener des Kaisers lebten zwar innerhalb der Palastmauern, doch der Weg bis zu den prunkvollen Hauptgebäuden war lang und gefährlich. Nicht selten kam jemand auf den Seitenarmen des Flusses um.
Der Kanal, auf dem Zina sich bewegte, wurde immer schmaler. Sie hatte die Hütten der Handwerker erreicht, die durch den Palmenhain vom Palast getrennt waren. Links und rechts von ihr ragten Hauswände auf, ungeschmückt und fensterlos. Ihr Floß schabte immer wieder über Stein. Zina rechnete damit, jeden Moment in diesem Rinnsal stecken zu bleiben. Sie schob sich noch ein wenig weiter, manövrierte ihr Floß mühsam um eine Ecke und fand sich plötzlich in einer Sackgasse wieder. Der Flussarm endete an einer dritten Hauswand, wo er sich rauschend durch ein Kellergitter ergoss. Zina verzog das Gesicht, als ihr Floß sanft gegen die Gitterstäbe stieß. Diesen Teil hatte sie noch nie gemocht.
Mit einer Grimasse ging sie in die Hocke, stellte die Laterne neben sich auf dem Floß ab und krempelte ihre Ärmel hoch. Kurz sah sie sich nach Flussfressern um, doch keines der Augenpaare war wieder aufgetaucht. Zina beugte sich vor und tauchte den Arm bis zur Schulter in den Kanal. Das Wasser war kühl und trüb. Sie tastete über Steine und Schlick, bekam Sand unter die Fingernägel und fand endlich, wonach sie suchte. Eine eiserne Kette lag am Grund des Kanals, jedes ihrer Glieder so groß wie Zinas Handfläche. Mit aller Kraft packte sie die Kette, richtete sich auf und zog. Ein Gurgeln ertönte. Etwas quietschte, dann setzten sich die Gitterstäbe vor ihr in Bewegung. Als der Mechanismus in Gang geriet, ließ Zina die Kette fallen und warf sich flach auf ihr Floß. Das Gitter schwang auf und sie glitt vorwärts, folgte dem Lauf des Wassers unter das Haus. Das Gemäuer hing so tief über ihrem Kopf, dass es ihr Haar streifte. Etwas Glitschiges berührte ihr Gesicht, dann ging ein Ruck durch ihr Floß und ein Windstoß fuhr ihr entgegen. Als sie aufsah, hatte sich über ihr eine Luke geöffnet und ein vertrautes Gesicht sah auf sie hinunter.
»Zina Zarastra.« Der singende Akzent in Daniels Stimme ließ ihren Namen tanzen. »Du hättest nicht kommen sollen.«
Er trat von der Falltür zurück, die ihr den Weg in seine Hütte geöffnet hatte. Zina sprang auf festen Boden und zog ihr Floß hinterher.
»Also hast du es gehört.«
Daniel schien es eilig zu haben, die Luke wieder hinter ihr zu schließen, als hätten wilde Tiere sie bis an seine Schwelle verfolgt. Zina half ihm schweigend, ein schweres Holzfass zurück auf die Falltür zu rollen. Als es geschafft war, hielten sie gleichzeitig inne, aber keiner von ihnen sprach.
»Die Trommeln«, sagte Zina schließlich, als sie die Stille nicht mehr ertrug. »Ich dachte …«
»Ja.« Daniel lächelte freudlos. »Ich auch.«
»Aber er lebt.« Zina schloss die Augen und verfluchte ihre Feigheit noch im selben Moment. Sie spürte keine Bewegung an ihrer Seite, konnte nicht einmal sagen, ob er atmete oder nicht. Wie so oft in den letzten Wochen verzichtete Daniel darauf, sie zu berühren. »Er hat überlebt und er ist zurück.«
Mehr Schweigen. Zina ballte die Hände zu Fäusten und plötzlich packte sie die Wut. Unvermittelt stieß sie sich von dem Fass ab und wirbelte herum. »Und?«, fuhr sie ihn an.
Daniels Wimpern zitterten leicht, aber sein Gesicht zeigte irritierende Ruhe. »Was?«, fragte er leise.
»Und, was hast du jetzt vor?«
Daniel antwortete nicht gleich. Er löste sich ebenfalls von dem Fass, trat vorwärts, Schritt für Schritt. Argwöhnisch beobachtete Zina, wie er ihren Abstand verkleinerte, bis er schließlich direkt vor ihr stand. Seine hellbraunen Augen wanderten rastlos über ihr Gesicht, sprangen zu ihrem Umhang, dem rostigen Säbel an ihrer Hüfte. »Dasselbe könnte ich dich fragen.«
Zina hasste es, wenn er das tat. Daniel war nervtötend schwer zu fassen. Er spielte mit allem, mit Vertrauen und Nähe, und war dabei nie wirklich da. Er wich ihren Fragen aus, gab sie zurück, und wenn es nicht anders ging, log er. Anfangs hatte Zina es für ein Spiel gehalten und es hatte ihre Neugier geweckt. Inzwischen wusste sie, dass es etwas anderes war. Aber was es war, wusste sie nicht.
»Mich«, wiederholte sie hart. »Ich bin hier, Daniel. Ich habe Pläne. Ich will wissen, was du willst.«
Daniel legte den Kopf schief, als hätte sie ihm ein vage bekanntes Lied vorgesungen. »Wieso ist das wichtig?«
Sie starrte ihn an. »Soll das ein Scherz sein?«
Er musterte sie nachdenklich. »Ich habe dich nie um etwas gebeten.«
»Bei der Feuermutter …« Zina stieß langsam die Luft aus. »Ich gehe den Drachenkönig suchen. Bist du dabei oder nicht?«
Zum ersten Mal seit langer Zeit wirkte Daniel milde verblüfft. »Du … willst gehen?«
»Und du kommst mit.«
Er schien sie kaum zu hören. »Über den Kaiserkanal? Das kannst du dir nicht leisten.«
»Das weißt du nicht«, gab Zina unwirsch zurück.
Daniel hob zwei geschwungene Brauen. »Ach, und wen hast du bestohlen?«
Zina presste die Lippen zusammen und schwieg.
Mit einer blitzschnellen Bewegung griff Daniel nach der Schriftrolle, die aus ihrem Umhang ragte. Er musste nur einen Blick daraufwerfen, um seine Befürchtungen bestätigt zu sehen. »Das kann nicht dein Ernst sein.«
»Kümmere dich um deine eigene Haut.« Unruhig hob Zina die Hand an ihr Gesicht und verwünschte sich in derselben Sekunde für die Bewegung. Bis auf eine Schramme an ihrem Kiefer war ihre Haut glatt und unversehrt. Es stand ihr frei, sich nach ihrem zwanzigsten Geburtstag eine Ausbildungsstelle zu suchen und der Arbeit im Palast den Rücken zu kehren. Wenn sie die Rolle mit ihrer krakeligen Unterschrift beim Hofmeister abgab, würde sie zwei Dinge bekommen: eine Handvoll Münzen und drei tiefe Schnitte in ihre Wange, einen für jedes bevorstehende Jahrzehnt im Dienst des Kaisers.
»Du willst das wirklich tun? Nach allem, was …«
»Dazu hat dich keiner gezwungen!«, stieß Zina hervor. Wütend starrte sie Daniel an, dessen rechte Gesichtshälfte siebenmal zerschnitten war. Obwohl er schon um die dreißig sein musste, war bisher keine der Narben zu einem Kreuz ergänzt. Über sechs Jahrzehnte standen ihm noch bevor. Eines davon hatte er für Zina auf sich genommen und sie wartete seitdem darauf, dass er sie dafür zu hassen begann.
Daniels Miene wurde kühl, wie immer, wenn es um seine Narben ging. »Ich habe das nicht getan, damit du dein Leben bei der nächstbesten Gelegenheit verkaufst.«
»Ach nein? Fühlt sich aber gerade verdammt danach an«, knurrte Zina. »Wenn mir jemand sagt, was ich zu tun und zu lassen habe, kann es genauso gut der Kaiser sein. Er gibt mir immerhin Gold. Von dir kriege ich nur kluges Gerede.«
Diesmal blitzte Unmut in Daniels Augen auf. Er hob eine Hand in ihre Richtung und änderte die Bewegung in letzter Sekunde, strich sich unruhig über die Stirn. »Wenn du ihnen die nächsten dreißig Jahre gibst, gibst du ihnen alles, Zina. Deine Jugend, deine Liebe, deine Familie. Deine Kinder. Willst du, dass sie deine Kindheit erleben?«
»Meine Kindheit war gut genug, danke sehr«, zischte sie. Sie ignorierte den Teil über Liebe.
»Du warst seit deiner Geburt keinen einzigen Tag frei.«
»Aber ich werde frei sein. Wenn ich zurückkehre …«
»Falls du zurückkehrst …«
»Bei meiner Rückkehr werde ich reich sein. Das Blut des Drachenkönigs ist wertvoller als Gold, oder?«
Daniel lächelte spöttisch. »Das kann man wohl sagen.«
»Siehst du. Ich werde mich freikaufen und dann bin ich immer noch reich, also werde ich dich auch freikaufen. Damit du endlich aufhörst, dich so verdammt tragisch und heldenhaft zu fühlen. Danach kannst du verschwinden, wenn du unbedingt willst.«
Für einen Moment schien es Daniel die Sprache verschlagen zu haben. Sein linker Flügel zuckte – die Reste des rechten hingen wie immer schlaff an seinem Rücken. Schließlich räusperte er sich und sagte: »Das wird nicht nötig sein.«
»Ach nein?«
Er wandte sich ab und begann, staubige Teppichrollen aus einer Ecke des Kellers in die andere zu tragen. »Nein. Ich … werde auch aufbrechen. Wir beide gehen zusammen.«
Es war, was sie gehofft hatte. Tatsächlich hatte sie es erwartet, trotzdem war Zina nicht zufrieden. Als sie nichts sagte, hielt Daniel inne und drehte sich nach ihr um. »Wenn du lieber allein gehen wolltest, wieso bist du dann hier?«
»Glaub mir, das frage ich mich auch.« Wieder war da die Stille, an die Zina sich fast schon gewöhnt hatte. Es war dieses Schweigen, das sich hin und wieder auftat und das doch keiner von ihnen erwähnte.
Daniel wischte sich den Schweiß von der Stirn, bevor er sich wieder den Teppichen widmete. »Ich hatte mir gedacht, dass du kommen würdest.«
Natürlich hatte er das. »Und wenn nicht?«
Er warf ihr einen flüchtigen Schulterblick zu. »Dann wäre ich ohne dich gegangen.« Die letzten Teppiche landeten dumpf vor ihren Füßen. Darunter kam eine Holztruhe zum Vorschein, die aussah, als hätte sie ihr bestes Jahrhundert bereits hinter sich. Mit einem leisen Ächzen stemmte Daniel die Truhe auf. Landkarten und Notizen quollen Zina entgegen wie Blut aus einer Stichwunde.
»Was ist das?«, stieß Zina hervor.
Daniel schenkte ihr ein feines Lächeln. »Es nennt sich Vorbereitung.«
»Du hast das geplant?«
»Sagen wir, ich habe eine Weile auf die richtige Gelegenheit gewartet.«
»Natürlich«, murmelte Zina und sah zu, wie er Schriftrollen und Trockenobst in einen Wachsbeutel stopfte.
»Und mit mir die halbe Stadt. Was bedeutet, wir müssen schnell sein.« Daniel zurrte seinen Beutel zu und richtete sich auf. Seine Augen glitzerten auf eine Art, die Zina überhaupt nicht gefiel. »Der Kaiserkanal wird bald völlig überfüllt sein und früher oder später wird die Meute wild. Glücklicherweise gibt es einen Nebenast, der nicht für den Verkehr genutzt wird. Wir nehmen den.«
Zina wartete.
»Er läuft durch den Tempelgarten des Kaisers«, fügte Daniel hinzu.
»Du bist verrückt.«
»Ich bevorzuge verzweifelt. Also. Vertraust du mir oder nicht?« Er trat wieder näher und das schwache Licht der Öllampe ließ seine Wimpern aufleuchten. Ein leichter Geruch nach Mandelholz ging von seiner Haut aus und für die Dauer eines Herzschlags blieben sie beide reglos. Sein rascher Atem glitt über ihren Hals und Zina reagierte wie von selbst. Sie küsste ihn, bevor sie darüber nachdenken konnte, und im ersten Moment fühlte es sich an, wie es sollte. Seine Lippen waren warm, seine Hände legten sich an ihre Taille, und als er sie an sich zog, durchzuckte sie plötzlich wilde Hoffnung. In der nächsten Sekunde hatte er sie losgelassen und sie wich so hastig zurück, als hätte er sie verbrannt.
Vermutlich hätte sie nicht kommen sollen, aber das hatte er ihr schließlich gesagt. Zina holte tief Luft, um sich zu sammeln. »Natürlich nicht.« Sie mied seinen Blick. »Worauf warten wir?«
Er reichte ihr wortlos die Hand und wenig später glitten sie bäuchlings auf ihren Flößen in die Dunkelheit.
Eine erste Ahnung von Morgenröte kroch über die Dächer des Kaiserpalasts. Die Luft war schwer von den Klängen der Feste, die überall zu Navids Ehren gefeiert wurden. Azads Seidenpantoffeln drohten ihm von den Füßen zu rutschen. Aus einer Laune heraus streifte er sie ab und sah zu, wie sie über die Dachkante und hinunter in den Tempelgarten segelten. In der nächsten Sekunde bereute er, was er getan hatte. Er hatte nichts in diesem Bereich des Palastes verloren. Niemandem außer dem Kaiser persönlich war es gestattet, den in einem Innenhof verborgenen Tempelgarten mit eigenen Augen zu sehen. Ausnahmen gab es nur auf persönliche Einladung des Kaisers und diese Ehre wurde kaum jemandem zuteil. Meist wurde der Thronfolger zur Vorbereitung auf seine Krönung durch den Garten geführt, hin und wieder auch eine besonders bezaubernde Kaiserbraut. Zum ersten Mal hatte Azad sich über dieses Verbot hinweggesetzt, als er etwa zehn Jahre alt gewesen war. Rayan hatte ihn überredet. Es gab ein Gerücht im Palast, dass die verstorbenen Seelen der Kaiserfrauen sich um die Pflege des Gartens kümmerten. Sie sollten nur bei Mondlicht sichtbar werden und einige Wochen lang hatten die beiden Brüder sich beinahe jede Nacht auf die Dächer geschlichen, die den Innenhof umgaben. Verstorbene Seelen hatten sie nie gesehen, dafür aber einen alten Tempeldiener, der mit unerklärlicher Präzision Büsche zurückschnitt. Seitdem war Azad oft genug hier gewesen, um sich in seinem Versteck auf dem Dach sicher zu fühlen, aber nun hoben sich die bunten Pantoffeln anklagend vom hellen Boden ab.
Er fluchte leise. Solange die Geblendeten die Schuhe fanden, wäre Azad sicher. Keiner dieser blinden Tempeldiener würde es wagen, dem Sohn des Sonnenkaisers einen Vorwurf zu machen. Aber wenn sein Vater die Pantoffeln zu Gesicht bekam … Azad schauderte. Der Kaiser war nie so hart zu ihm gewesen wie zum Erstgeborenen Navid, aber ein Verbrechen am Tempelgarten war ein Verbrechen an den unsterblichen Seelen der Drachen. Und während Azad sich nicht um den schrecklichen Zorn der Seelen scherte, hatte er doch einigen Respekt vor dem schrecklichen Zorn seines Vaters.
Azad kämpfte mit sich. Die meisten Palastwachen waren in den Ballsälen und im Morgenhof verteilt, wo Navids Gäste in den Sonnenaufgang tanzten. Die Tempeldiener schienen sich zum Gebet versammelt zu haben, zumindest war keiner von ihnen im Garten zu sehen. Vielleicht, wenn er sich beeilte …
In den Schatten eines gegenüberliegenden Fensters bewegte sich etwas. Azad, der sich schon halb vom Dach erhoben hatte, erstarrte. Das konnte unmöglich der Kaiser sein. Aus dem Halbdunkel zwischen zwei Vorhängen löste sich eine Gestalt. Auf den ersten Blick wirkte sie merkwürdig unförmig. Dann glitt trübes Morgenlicht darüber und Azad erkannte die weißen Locken und verkrüppelten Flügel des kaiserlichen Plattenmeisters. Sein Mund war auf einmal sehr trocken. Was hatte Daniel Dalosi hier verloren? Azad beugte sich vor und im selben Moment fiel Daniels Blick auf die Pantoffeln. Ruckartig hob er den Kopf und starrte Azad direkt ins Gesicht. Für einen Augenblick rührte sich keiner von ihnen. Dann fuhren sie gleichzeitig herum und Azad stürzte Hals über Kopf zurück durch die Dachluke. Er wusste nicht, weshalb Dalosi den Tempelgarten beobachtete, aber ganz offensichtlich konnte der Plattenmeister keine Zeugen gebrauchen. Mit hämmerndem Herzen stürzte Azad vorwärts, ohne genau zu wissen, wohin. Ein wirrer Plan formte sich in seinem Hinterkopf und seine nackten Füße schlugen den Weg in den Morgenhof ein, aber bevor er auch nur einer einzigen Palastwache begegnen konnte, wurde er gepackt und in den Schatten eines Samtvorhangs gezerrt. Eine sehnige Hand legte sich fest über seinen Mund und etwas kratzte unangenehm an seiner Kehle. »Ihr werdet nicht schnell genug schreien können, Euer Hoheit«, wisperte ihm Dalosis raue Stimme ins Ohr. Eine Gänsehaut lief über Azads Nacken. »Haben wir uns verstanden?«
Azad nickte vorsichtig. Die Hand löste sich von seinem Mund, aber der eiserne Griff an seinem Arm verschwand ebenso wenig wie die Klinge an seinem Hals.
»Ich werde dich nicht verraten«, sagte Azad sofort.
»Wieso nicht?«
Azad blinzelte. »Weil du mich sonst tötest?«, schlug er vor.
»Hm.« Dalosis Augen verengten sich. »Ihr wisst, wer ich bin.«
»Ja«, gab Azad zu. »Du stellst die magischen Leerplatten hier, mit denen kaiserliche Anordnungen vervielfältigt werden.«
Der Plattenmeister schnaubte leise. »Auch die Schriften der Gelehrten werden vervielfältigt, junger Prinz. Bücher, Bibliotheken. Wissen.«
»Dafür bist du aber nicht im Palast.«
Dalosi musterte ihn kühl. »Nein. Nicht unter diesem Kaiser.«
»Denkst du schlecht über meinen Vater?«
»Das würde mir nie einfallen.«
Azad horchte auf Dalosis Atem. Er ging rasch und flach. »Du wirst mich nicht töten«, stellte er fest.
Die Hand mit dem Messer zuckte, dann ließ Daniel sie sinken. »Nein«, gab er zu.
»Und jetzt?«
»Jetzt könntest du schreien.«
Azad starrte ihm ins Gesicht. Er rührte sich nicht.
»Aber das wirst du nicht tun«, bemerkte Daniel.
»Nein«, seufzte Azad und hinderte sich nur mit Mühe daran, die Augen zu verdrehen.
Der Plattenmeister stieß leise Luft aus und sein Griff lockerte sich ein wenig.
Azad zögerte. »Was hast du vor?«
»Das kann ich dir nicht sagen.« Daniel ließ Azads Arm los und wich weiter zurück, als nötig gewesen wäre. Rosiges Licht fiel durch einen Spalt zwischen den Samtvorhängen und erhellte Daniels klar geschnittene Gesichtszüge. Kurz blieb Azads Blick an den Narben auf seiner Wange hängen. Wenn kein Wunder geschah, würde der Plattenmeister bis zu seinem Tod keinen einzigen Tag mehr in Freiheit verbringen.
»Du bist kein Mörder«, sagte Azad unvermittelt.
»Ich glaube, das hatten wir schon geklärt.« In Daniels Stimme schwang ein Hauch von Spott mit, der durch den melodischen Akzent noch hervortrat.
»Normalerweise sind es die Mörder, die lebenslang für den Kaiser arbeiten. In der Wüste oder auf dem Fluss. Wenn du niemanden umgebracht hast, wieso bist du dann hier? Hast du Schulden?«
Daniel lachte kurz auf. »Nur fünfundsechzig Jahre meines Lebens.«
»Das meine ich nicht.« Azad betrachtete den Plattenmeister eingehend. »Wenn du kein Verbrecher bist, hast du Gold für die Schnitte bekommen. Bist du ein Spieler?«
»Nein.«
»Tränensüchtig?«
Der Plattenmeister schüttelte den Kopf.
Azad verengte die Augen. »Wieso hast du es dann getan?«
Daniel musterte ihn ungerührt. »Gute Arbeitsbedingungen.«
Azad gab auf. »Sag mir, wieso du in den Tempelgarten gesehen hast.«
Nachdenklich legte Daniel den Kopf schief. »Eine Antwort kannst du verlangen. Die Wahrheit musst du dir verdienen.« Seine Stimme war beherrscht, aber Azad spürte seine Unruhe. Wenn Daniel sein Leben schon verkauft hatte, wieso wirkte er dann, als liefe ihm die Zeit davon? Was war anders an dieser Nacht?
Und auf einmal war es klar.
»Der Drachenkönig wurde verwundet.« Azad starrte ihn an. »Und du willst sein Blut.«
Daniel starrte zurück. Dann, endlich, nickte er.
Tausend Gedanken wirbelten durch Azads Kopf, doch nur einer nahm schillernde Farben an. Sein Entschluss war in Sekunden gefasst. Er holte tief Luft und sah, wie Daniel den Atem anhielt. Doch statt eines Schreis stieß Azad drei gedämpfte Worte aus: »Nimm mich mit.«
Zina trommelte mit den Fingern gegen das Floß unter ihrem Arm. Man musste nur die Querstreben aushaken, um die aneinandergebundenen Holzstäbe wie einen Teppich einzurollen, aber selbst in dieser kompakten Form kam es ihr inzwischen recht sperrig vor. Wie sie es überhaupt bis in die Nähe des Tempelgartens geschafft hatten, war ihr ein Rätsel, festlicher Trubel hin oder her. Halb hatte sie damit gerechnet, entdeckt zu werden, aber natürlich musste es gleich einer der Prinzen sein. Ihn konnte man nicht mit einem Becher gestohlenem Honigwein zum Schweigen bringen, wie es Zina schon mit neugierigen Palastdienern gelungen war. Vielleicht hätte sie es geschafft, den zurückhaltenden Rayan zu überzeugen, aber seinem jüngeren Bruder traute Zina nicht über den Weg. Navid war längst nicht mehr der einzige Prinz, über den man sich in den Schlafsälen Schauergeschichten erzählte. Und Schauergeschichten waren längst nicht mehr das Einzige, was Zina fürchtete.
Endlich erschien Daniels vertraute Gestalt am Ende des Korridors.
»Wird auch Zeit!«, zischte Zina. »Was hat denn so lange … was macht er hier?«
Prinz Azad starrte sie an. »Das ist ein Mädchen.«
»Das ist richtig«, bestätigte Daniel. »Das ist Zina. Sie wird uns begleiten.«
»Das geht nicht.«
»Wieso nicht?«, fragte Daniel sachlich.
Azad schien nicht glauben zu können, dass er seine Zeit mit einer derart überflüssigen Diskussion vergeuden musste. »Sie ist … eine Dienerin.«
»Ich bin ein Diener.«
»Sie ist ein Mädchen.«
»Der ist ja schnell von Begriff«, fuhr Zina Daniel an. »Kann er auch irgendwas?«
»Azad wird uns durch den Tempelgarten führen«, sagte der Plattenmeister ruhig. »Er kennt die Gewohnheiten der Wachen und Tempeldiener.«
»Ich dachte, du hast den Garten schon oft beobachtet. Teil deines großartigen Plans.«
Daniel griff an ihr vorbei nach seinem Floß, das zusammengerollt an der Wand lehnte, und schulterte seinen Beutel. »Doppelte Erfahrung schadet nicht. Und solange er bei uns ist, kann er uns nicht verraten.«
»Sobald wir draußen sind, ist das egal!«
»Sobald wir draußen sind, kannst du froh über alles sein, was zwischen dir und dem Tod steht«, sagte Daniel nüchtern. »Eine Klinge mehr wird da nicht schaden. Er kommt mit.«
»Er hat kein Floß!«, triumphierte Zina.
»Du hast Platz genug auf deinem.«
Das verschlug ihr für einen Moment die Sprache. »A…aber …«
»Ich habe Proviant«, sagte Azad und hob einen lächerlich bunt bestickten Lederbeutel. »Sogar Kuchen.«
Zina warf Daniel einen verzweifelten Blick zu. »Du hast ihn packen lassen?«
»Er kommt mit«, wiederholte Daniel.
Zina versuchte, nicht in die Richtung des Prinzen zu sehen. Sein dunkler Blick schien auf ihrer Haut zu heften und brachte ihre Wangen zum Brennen. Sie machte eine unwirsche Geste und nach einer kurzen Pause reagierte Daniel und folgte ihr einige Schritte außer Hörweite. Zina entging nicht, dass er Azad dabei keine Sekunde aus den Augen ließ.
»Ist das dein verdammter Ernst?«, fuhr sie Daniel gedämpft an, sobald der Abstand für eine leise Unterhaltung groß genug war. »Der da?«
»Was stimmt nicht mit ihm?«
»Was mit …« Sie verschluckte sich fast an ihrer Entrüstung. »Das ist ein Prinz!«
»Das weiß ich.«
»Ich teile kein Floß mit einem von denen.«
»Dann kommt er eben mit auf meines«, erwiderte Daniel knapp. »Was auch immer dein Problem ist, sollte …«
»Was mein Problem ist«, wiederholte Zina hitzig, »weißt du verdammt noch mal ganz genau.«
»Azad hat niemandem etwas getan, Zina.«
Sie schnaubte laut auf. »Ach ja? Hast du ihn gefragt, oder wie?«
»Vielleicht solltest du dich langsam beruhigen«, schlug Daniel mit so gelassener Stimme vor, dass Zina ihm am liebsten an die Gurgel gegangen wäre.
»Ich bin ruhig«, fauchte sie. »Du hast ja keine Ahnung, was hier sonst los wäre.«
»Natürlich. Ich nehme an, das Inferno der Feuermutter ist nichts gegen deinen rasenden Zorn.« Daniel streckte die Hände aus und berührte sie an den Schultern, als sie gerade anfangen wollte, ihn anzuschreien. Die Geste brachte Zina so aus dem Konzept, dass sie stumm blieb. »Hör mir zu. Ich weiß, das ist nicht die Reisebegleitung, die du dir vorgestellt hast, aber dieser Junge ist wertvoll. Er ist mit Geschichten über den Drachenkaiser groß geworden, wahrscheinlich weiß er mehr über die Insel als wir beide. Und im Fall der Fälle ist er vielleicht das Druckmittel, das wir brauchen.«
»Du willst ihn als Geisel.«
»Ich will ihn als Option. Wenn wir zur Improvisation gezwungen werden, ist es immer praktisch, etwas in der Hinterhand zu haben.«
Zina warf einen raschen Blick in Azads Richtung. Der Prinz sah hinunter auf seine nackten Füße, aber Zina zweifelte nicht daran, dass er versuchte, sie zu belauschen. »Wenn du ihn für harmlos hältst, dann täuschst du dich. Ich hoffe, das ist dir klar. Die Prinzen sind gefährlich. Jeder von ihnen.«
Sie sah schnell genug zu Daniel, um zu bemerken, wie seine Lippen schmaler wurden. »Ja«, gab er gepresst zurück. »Das ist mir durchaus klar.« Ihre Schultern zuckten unter seiner Berührung und er löste seinen Griff und ließ die Arme sinken.
»Schön.« Zina schüttelte sich unwillig. »Dann nehmen wir ihn eben mit. Aber er kommt auf mein Floß, hörst du? Dann kann ich ihn wenigstens im Auge behalten.«
»Wenn du das für eine gute Idee hältst …«
Beinahe hätte Zina gelacht. »Nur damit das klar ist: Ich halte nichts hieran für eine gute Idee.«
Seite an Seite gingen sie wieder auf Azad zu.
»Du kannst mitkommen«, fuhr Zina ihn an.
Der Prinz schenkte ihr ein ironisches Lächeln. »Ich nehme an, du hast dich sehr für mich eingesetzt. Tausend Dank dafür.«
Sie ignorierte ihn. »Los jetzt. Wenn die Feste vorbei sind, kehren die Palastwachen zurück.«
Azad wollte Zina das Floß abnehmen.
»Finger weg«, zischte sie und machte sich wieder auf den Weg.
Die Morgensonne hatte den Tempelgarten erreicht. In den sorgfältig angelegten Beeten begannen sich große weiße Blüten zu öffnen, die der leuchtende Himmel in Gold und Rosa tauchte. Zina war immer noch wütend, weil Daniel den Prinzen mitschleifen wollte, trotzdem ließ sie der Anblick nicht kalt. Es war nicht selbstverständlich, die Sonne zu sehen. Nur der prächtigste Teil der Goldenen Stadt war unter freiem Himmel errichtet. Zinas Eltern waren im Armenviertel Treibstadt aufgewachsen, das an den unterirdisch verlaufenden Armen des Flusses lag. Vor langer Zeit, der Zeit des Drachenkrieges, hatte auch der Adel unter der Erde gelebt. Es war der Befehl des damaligen Kaisers gewesen, den vernichtenden Attacken der Drachen und eisigen Nächten der Wüste auf diese Weise zu entfliehen. Noch heute folgten Tunnel und Siedlungen dem Verlauf des Flusses durch den Untergrund, wo durch ein groß angelegtes System aus Heizrohren und Luftschächten Leben möglich war. Aber wer es sich leisten konnte, war nach Kriegsende zurück an die Oberfläche gezogen, während die Armut in Treibstadt wuchs. Kurz vor Zinas Geburt hatten ihre Eltern entschieden, dass sie nicht im ewigen Halbdunkel zwischen Flussfressern aufwachsen sollte. Es gab zwei Möglichkeiten, unter freiem Himmel zu leben: Man zahlte horrende Summen für eine kaiserliche Erlaubnis oder man bewarb sich um eine Stelle im Palast. Zina war in den kaiserlichen Dienst geboren worden und hatte nie ein Leben außerhalb der Palastmauern gekannt. Zehn Jahre lang hatten auch ihre Eltern am Hof gelebt. Seit dem Tag, an dem sie ihre Zeit als Palastdiener abgearbeitet hatten, hatte Zina sie nicht mehr gesehen.
»Schön, oder?« Azad hatte ihren Blick auf den Garten bemerkt. Zina folgte mit den Augen den schmalen Wegen, die zwischen weißen Blumen und silbrigen Büschen zu niedrigen Bänken oder Springbrunnen führten. Quer durch den Garten strömte der Wasserlauf, dem Daniel folgen wollte. Es war nicht mehr als ein seichter Bach, in dem statt lauernder Flussfresser duftende Blütenkelche trieben.
»Ja«, gab sie leise zu. Im hinteren Teil des Gartens, von den Sonnenstrahlen noch unberührt, verschwand das Wasser im marmornen Tempel der Drachenseelen. Niemand außer dem Kaiser und den Geblendeten durfte den heiligen Ort betreten. Wer es dennoch tat, wurde mit dem Tod bestraft.
»Sollten …« Zinas Stimme klang heiser. Sie räusperte sich und fuhr im Flüsterton fort: »Sollten wir es nicht vielleicht doch über den Kaiserkanal versuchen? Wenn der Prinz uns begleitet …«
»Yamal ist der Zweitgeborene«, flüsterte Azad zurück. »Er hätte nach Navid das Recht, aufzubrechen, aber ich nicht. Und …« Er zögerte. »Der Weg über den Kaiserkanal wird nicht weniger tödlich sein. Er ist nur teurer.«
Sie runzelte die Stirn.
»Er hat recht«, bestätigte Daniel gedämpft. »Es ist Jahrhunderte her, dass der Drachenkönig zuletzt verwundet wurde. Sein Blut ist kostbarer als alles, was du dir vorstellen kannst. Die halbe Stadt wird versuchen, an diesem Wunder teilzuhaben. Der Kaiser lässt sie machen, solange sie die Gebühren zahlen. Aber es sind viel zu viele, und die Strömung ist stark. Es wird Streit geben, dann Kämpfe. Die Flussfresser kommen, sobald sie die Unruhe spüren … die erste Nacht wird kaum jemand überleben.«
Zina warf ihm einen raschen Seitenblick zu. »Woher willst du das wissen?«
»Ich habe mich … umgehört.«
»Also werden wir draufgehen.«
»Nein. Wir nehmen einen anderen Weg. Er mündet viel später in den Kaiserkanal, flussabwärts der kaiserlichen Stege.« Daniel sah sie an. »Der Weg zur Dracheninsel ist weit und hart, Zina. Er wird dich alles kosten, was du hast.«
Grimmig starrte Zina zurück. »Ich habe nichts.«
Er lächelte. Es war ein merkwürdiges Lächeln, das Zina schlucken ließ. »Dann musst du um nichts fürchten.«