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An ihrem dreizehnten Geburtstag erhält Analina, Kronprinzessin von Arden, eine Nachricht, die ihr bisheriges Leben verändert: Auf Befehl ihrer Mutter soll sie ihrer Heimat den Rücken kehren und Schülerin an der Akademie des Meeres werden, um sich für den kommenden Krieg gegen die mysteriöse Schwarzmagierin Gwenda ausbilden zu lassen, die im Sumpfgebiet Ardens ihre Fäden spinnt. Mit ihren engsten Freunden tritt Analina eine Reise durch das Reich ihrer Vorfahren an, um das zu schützen, was sie in sich trägt – die Seele des Mondvogels, jenes magischen Geschöpfs, das Analinas Erbe retten soll. Doch nicht nur die Königin der Sümpfe hat Geheimnisse, von denen Analina nichts ahnt ...
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Für meinen Bruder
ISBN 978-3-492-97825-5© , ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2017Covergestaltung: zero-media.net, MünchenCovermotiv: FinePic®, MünchenDatenkonvertierung: psb, BerlinSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.
Lynda schritt im Rosenquarzsaal auf Schloss Funkelstein auf und ab. Sie war ratlos, und das war schon lange nicht mehr vorgekommen. Lynda erwartete ein Kind. Sie selbst jedenfalls war überzeugt davon – alle Zeichen sprachen dafür. Doch wenn das stimmte, stand sie vor einem der bisher größten Probleme ihrer Amtslaufbahn. Denn Lynda Céleste war keine gewöhnliche Frau. Sie war die Königin des Ardenreichs, dem größten der drei Reiche Hyiandas. Durch seine zentrale Lage zwischen den beiden anderen Kontinenten Lunadësias – Uyneia und B’ynyay – stand Hyianda immer schon im Mittelpunkt der lunadësischen Politik. Genauso wie das Schloss Funkelstein, Lyndas Schloss, in Hyianda im Mittelpunkt stand. Alle Welt sah zu Lynda auf. Sie konnte nicht einfach ein Kind bekommen! Nicht jetzt, da …
Lynda wurde durch die eifrige Stimme ihres Türstehers Silvo aufgeschreckt: »Euer Majestät, sie sind eingetroffen!«
Sie hob den Kopf. »Danke, Silvo. Sie sollen eintreten.«
Lynda richtete sich auf und strich sich eine blonde Locke, die sich aus der tadellosen Flechtfrisur gelöst hatte, aus dem Gesicht. Um alle Zweifel zu beseitigen, hatte sie gleich drei Schattenspäher anreisen lassen. Schattenspäher besaßen eine sehr seltene Gabe: Sie konnten die Magie, die in jedem Lebewesen Lunadësias und selbst in scheinbar leblosen Gegenständen steckte, als sichtbare Spur wahrnehmen. Jemand, der diese Gabe nicht besaß, konnte sich nicht vorstellen, wie Schattenspäher ihre Umwelt sahen, aber Lynda hatte gehört, dass die Magie für Schattenspäher aussah wie farbiges Licht – die Magie jeden Geschöpfes hatte einen anderen, einzigartigen Farbton. So konnten Schattenspäher auch das wahrnehmen, was dem normalen Auge verborgen blieb.
Die großen Flügeltüren des Saals schwangen auf und drei mit Kapuzen vermummte Gestalten traten ein. Mit hastigen Schritten stolperte die linke herbei und verbeugte sich tief, während die anderen beiden gemessenen Schrittes folgten, um sich dann ebenfalls stumm zu verneigen.
»Guten Abend. Ich danke Euch für Euer schnelles Erscheinen«, begrüßte Lynda die drei Kapuzenträger, die nun zu ihr aufsahen. Eine unheimliche Stille breitete sich aus. Einige Sekunden lang sprach niemand ein Wort, während Lynda das Gefühl hatte, von drei unsichtbaren Augenpaaren durchbohrt zu werden. Dann zogen die Seher die Kapuzen vom Kopf.
Der Schattenspäher, der vorhin gestolpert war, entpuppte sich als junges Mädchen: Eine Waldelfe, kaum vierzehn Jahre alt, blickte der Königin ehrfurchtsvoll entgegen. Ihre Augen schienen zu ernst für ein Kind ihren Alters. Lynda war sich sicher, sie nie getroffen zu haben, aber irgendetwas an ihr kam ihr bekannt vor … schmerzlich bekannt.
Die anderen Seher waren älter, viel älter. Ihr Blick ging ins Leere, als hätten sie schon genug von der Welt gesehen. Oder zu viel. Leise tuschelten sie miteinander, und Lynda wusste, dass sie sich absprachen. Dann erhob einer der Alten die Stimme: »Ihr hattet recht, Euer Majestät. Ihr erwartet eine Tochter. Das Ardenreich bekommt eine Prinzessin. Aber …«
Lyndas Herzschlag beschleunigte sich kaum merklich. Ein Haken. Natürlich musste es wieder einen Haken an der Sache geben, als wäre alles nicht ohnehin schon kompliziert genug.
»Aber?«, wiederholte sie, und obwohl sie innerlich bebte, klang ihre Stimme vollkommen ruhig.
Die junge Waldelfe antwortete ihr: »Eure Tochter wird kein gewöhnliches Kind sein. Sie …« Für einen Moment schien es, als wollten die älteren Schattenspäher ihre Schülerin unterbrechen, und sie hielt inne, doch Lynda machte eine nur mühsam gemäßigte Handbewegung: »Fahr fort.«
Und plötzlich sprudelte es geradezu aus ihr heraus: »Dieses Kind ist ein Geschenk, auf das niemand zu hoffen gewagt hat! Es wird mächtig werden und Kräfte entfalten, die unserem Reich wieder Gleichgewicht und Frieden bringen können. Die ganze Welt wird die Geburt dieses Mädchens erwarten, man wird es Wunder nennen und Lichtbringerin. Euer Majestät – Eure Tochter wird die nächste Mondprinzessin sein!«
Auf diese Ankündigung folgte bleierne Stille. Lynda, die für gewöhnlich nie um die richtigen Worte verlegen war, war sprachlos.
Konnte es möglich sein? Konnte dieses Kind, das so viele Probleme versprach – das sie nicht einmal gewollt hatte –, die nächste Mondprinzessin sein? Es war kaum zu glauben. Natürlich kannte Lynda die Legende von den Mondvögeln, die Licht in ihre Welt gebracht und alle Lebewesen mit Magie beschenkt hatten. Zudem gab es immer wieder Geschichten über besonders begabte Kinder königlicher Herkunft, die die Seele eines Mondvogels in sich trugen und sagenhafte Kräfte entfalteten. Doch die Geburt der letzten Mondprinzessin lag bereits mehrere Jahrhunderte zurück. Und nun sollte ausgerechnet sie die Mutter der nächsten sein?
»Seid ihr sicher?«, fragte sie, leiser, als sie sonst sprach.
»Völlig sicher«, bestätigte der augenscheinlich ältere der Schattenspäher. »Diese Magie ist völlig unverwechselbar, Euer Majestät.«
Lynda nickte langsam. Das änderte natürlich alles. Während es in ihrem Kopf bereits zu arbeiten begann, fiel ihr Blick auf das junge Mädchen, das mit weit aufgerissenen Augen stumm zwischen seinen Lehrern stand und sich sichtlich bemühte, sie nicht allzu sehr anzustarren. Ihr kam ein Gedanke.
»Wie heißt du?«, fragte sie unvermittelt.
Die junge Schattenspäherin blinzelte erschrocken. »Narena«, brachte sie hervor und fügte, nach einem harten Rippenstoß von einem ihrer Lehrer, hastig hinzu: »Euer Majestät.«
Lynda wandte sich an die beiden Alten. »In Anbetracht der Umstände hätte ich gerne einen Schattenspäher in meiner Nähe, falls es zu Komplikationen kommen sollte. Ich möchte Narena mit Eurem Einverständnis eine Stelle bei Hofe anbieten.«
Es war offensichtlich, dass jeder der beiden Männer sich selbst für die geeignetere Wahl hielt, was die Position des königlichen Schattenspähers anging. Der Jüngere der beiden öffnete den Mund, wie um zu widersprechen, doch Lyndas Blick ließ ihn seine Meinung ändern.
»Natürlich, Euer Majestät. Es wäre uns eine große Ehre, Euch unsere Schülerin anzuvertrauen.«
Lynda nickte knapp. »Dann danke ich Euch für Eure Dienste. Silvo wird Euch nach draußen begleiten. Narena, ich sorge dafür, dass man dich in deine neuen Räumlichkeiten bringt. Ich werde im Laufe der nächsten Woche nach dir schicken lassen.«
Ohne auf die gemurmelten Abschiedsworte der Schattenspäher oder die ängstlich geweiteten Augen des Mädchens zu achten, wandte Lynda sich ab. Es gab einige Dinge zu bedenken. Doch wenn sie sich nicht täuschte, bot sich ihr nach all den Jahren endlich eine neue Chance.
Die Morgensonne schien auf Schloss Funkelstein hinab und ließ seine cremeweißen Mauern leuchten wie Perlmutt. Obwohl es noch kühl war, versprach es ein schöner Tag zu werden. Der Himmel war klar und blau und die zarte Frühlingsluft kündigte strahlendes Wetter an. Es war einer dieser Tage, an denen alles genau so zu sein schien, wie es sein sollte.
Analina Nelia von Funkelstein war da anderer Meinung.
»Tut mir leid, aber ich kann es einfach nicht!« Resigniert ließ Analina die Hände sinken und ging ein paar Schritte Richtung Fenster. Sehnsüchtig warf sie einen Blick hinaus auf den makellosen Himmel. Das war wieder einmal typisch, dass sich ihre Lehrerin ausgerechnet den bisher schönsten Tag des Jahres aussuchte, um eine Intensiv-Stunde Magieunterricht abzuhalten. Analina hasste solche Stunden. Beluu, ihre Mentorin für Magie, war immer anspruchsvoll, aber manchmal war ihr Unterricht einfach die Hölle. Heute Morgen hatte sie Analina in aller Frühe aus dem Bett geworfen, um mit ihr an ihrer Ausdauer zu arbeiten. Das bedeutete, dass Ana seit sechs Uhr morgens damit beschäftigt war, Magiestrahlen gegen eine stabile Kristallscheibe zu schießen, bis ihr die Energie ausging. Immer und immer wieder.
Beluu räusperte sich und Ana wandte widerwillig den Blick vom Fenster ab und sah sie an. Beluu war eine Wassernymphe und damit schon von Natur aus launisch, aber bei ihr war diese Eigenschaft, davon war Analina überzeugt, selbst für eine Nymphe ungewöhnlich stark ausgeprägt.
»Du gibst dir keine Mühe«, fuhr Beluu sie unwirsch an, wie um Analinas Eindruck zu bestätigen. »Versuch es noch mal.«
Analina stöhnte leise auf. Sie hatte bereits vier Versuche hinter sich, einen weiteren Magiestrahl zu erzeugen, und fühlte sich inzwischen so ausgelaugt wie nach drei schlaflosen Nächten. Am liebsten hätte sie sich auf den Boden fallen lassen und die Augen geschlossen, aber das Wort Erschöpfung schien Beluu generell nicht zu kennen, und als Ausrede ging es bei ihr schon gar nicht durch.
Unter Beluus Blick kapitulierte sie und hob erneut die Hände. Inzwischen schmerzten ihre Handflächen, als hätte sie Verbrennungen daran, weil die ständige Beanspruchung ihre Haut reizte. Mit zusammengebissenen Zähnen begann sie, Energie aus ihrem Innern durch ihre Arme bis in die Fingerspitzen wandern zu lassen. Der Magiefluss war viel träger als sonst, weil sie bereits einen Großteil ihrer Energie aufgebraucht hatte, aber nach ein paar Sekunden spürte Analina wieder das vertraute Prickeln in ihren Fingerspitzen. Endlich. Angestrengt richtete sie den Blick auf die Kristallscheibe. Himmelblaue Funken begannen um ihre Finger zu tanzen. Analina holte tief Luft, das Prickeln wurde stärker, die Luft um ihre Hände begann zu glühen, und mit einem Ruck, der durch ihre Arme fuhr, brach ein gleißend heller, himmelblauer Magiestrahl aus ihren Handflächen hervor. Mit einem melodischen Klingeln traf er die Kristallscheibe, und Analina konzentrierte sich rasch darauf, ihn aufrechtzuerhalten.
»Siehst du, es funktioniert doch.« Mit einem anerkennenden Nicken drehte Beluu ihre Sanduhr um. »Mal sehen, wie lange …«
Analina spürte, wie die Magie versiegte. Sie runzelte verärgert die Stirn, doch bevor sie ihren Strahl stärken konnte, brach er schlagartig ab.
Beluu seufzte enttäuscht. »Ach, Analina, was ist denn heute los?«
»Ich bin müde, Beluu. Wir stehen hier seit drei Stunden und ich kann mich nicht mehr konzentrieren. Ich weiß, ich habe es schon länger geschafft, aber im Moment kann ich einfach nicht mehr.« Missmutig senkte Analina den Blick auf ihre geröteten Handflächen. Sie wusste, warum Beluu sie im Unterricht immer wieder bis an ihre Grenzen gehen ließ. Die Magie, die Analina bisher benutzte, war die gewöhnliche, die jedes Lebewesen in sich trug. Sie hatte eine charakteristische Farbe, in Anas Fall himmelblau, und eine gewisse Stärke. Normalerweise war sie die einzige Kraftquelle, die ein Magier besaß, aber Analina wusste, dass es bei ihr anders war. Oder anders sein sollte.
»Ich finde sie nicht«, sagte sie leise und sah zu Beluu auf. »Ich finde meine Mondmagie nicht. Ich spüre sie nicht.«
Beluu, die bisher die Stirn gerunzelt hatte, schenkte ihr nun ein kurzes Lächeln. »Das macht nichts, Analina. Es wird schon noch kommen. Du bist die Mondprinzessin, du musst Mondmagie in dir tragen.«
Analina schwieg. Ja, sie war die Mondprinzessin. Und als solche sollte sie eigentlich neben ihrer gewöhnlichen Magie noch die des Mondvogels in sich tragen, dessen Seele mit der ihren verschmolzen war. Das Problem war nur, dass sie bisher keine Anzeichen dieser Magie in sich entdeckt hatte. Beluu war da zuversichtlich und ließ sie immer wieder üben, in der Hoffnung, ihre Mondmagie würde irgendwann von selbst aus ihr herausbrechen. Aber Analina konnte sich nicht vorstellen, dass es in ihr noch etwas gab außer der himmelblauen Energie, die schon immer wie selbstverständlich zu ihr gehört hatte.
Beluu schien zu merken, was in ihr vorging, denn sie trat auf sie zu und sagte mit einem ungewöhnlichen Anflug von Sanftheit: »Na schön, dann machen wir eben eine Pause. Ich will ja nicht dafür verantwortlich sein, dass die Mondprinzessin tragisch an Erschöpfung zugrunde geht, und das ausgerechnet an ihrem Geburtstag.«
Analina zuckte zusammen und sagte vorwurfsvoll: »Du weißt, dass ich Geburtstag habe?«
Beluu schnaubte. »Natürlich weiß ich, dass du Geburtstag hast. Ob du es glaubst oder nicht, deine Geburt galt damals als ein gewisses Ereignis.«
»Und trotzdem hast du mich zu dieser … dieser lebensgefährlichen Zeit geweckt und drei Stunden lang gequält?«
»Du wirst es überleben. Wie alt wirst du, zehn?«
»Sehr witzig. Dreizehn. Und tu bloß nicht so, als wüsstest du nicht …«
Ein Pochen unterbrach sie mitten im Satz. Überrascht wandte sich Analina der Tür zu. »Ja?«
Eine junge Schlossbotin betrat Beluus Turmzimmer. Von dem einfallenden Sonnenlicht geblendet blinzelte sie irritiert und wandte sich dann mit einem Knicks an Analina: »Eure Mutter schickt mich, Euer Hoheit. Ihr sollt in ihr Arbeitszimmer kommen … unverzüglich.«
Analina hob die Brauen. »Worum geht es?«
»Das weiß ich nicht, Euer Hoheit. Aber es scheint wichtig zu sein.«
»Dann hat es nichts mit meinem Geburtstag zu tun«, sagte Analina trocken.
»Verzeihung?«
»Nichts. Schon gut. Danke, ich komme.«
Sie warf Beluu einen hastigen Blick zu. »Ist es in Ordnung, wenn wir aufhören?«
Keine Antwort. Beluus blassblaue Augen waren auf sie gerichtet, doch Analina wurde das Gefühl nicht los, dass sie sie im Grunde gar nicht sah.
»Beluu?«
Beluu blinzelte. »Bitte? Ähm, ja. Natürlich. Und beeil dich besser, du solltest deine Mutter nicht warten lassen.«
Stirnrunzelnd verließ Analina den Raum und machte sich auf den Weg in den Ostflügel, in dem das königliche Arbeitszimmer lag. Lynda schickte selten nach ihr. Sowieso bekam Analina ihre Mutter nicht sehr häufig zu Gesicht, denn Lynda hatte ständig zu tun. Wenn sie sich nicht hinter ihrem Schreibtisch verbarrikadierte und um Dinge kümmerte, die Analina nicht einmal ansatzweise durchschaute, dann hielt sie Versammlungen ab, reiste durchs Land, besuchte Bälle und Gerichtsverhandlungen, eröffnete wichtige Veranstaltungen oder war Ehrengast bei irgendwelchen Festen. Analina war es gewohnt, ihre Zeit ohne sie zu verbringen, und normalerweise hatte sie auch immer genug zu tun. Sie war von klein auf von verschiedenen Lehrern unterrichtet worden, die für eine gründliche Allgemeinbildung zu sorgen hatten. So sprach sie mehrere Sprachen fließend, bekam seit ihrem fünften Lebensjahr Fechttraining, konnte reiten und den ruhigeren der beiden Hofdrachen fliegen. Eigentlich war der Magieunterricht bei Beluu noch angenehm im Vergleich zu den endlosen Stunden Politik und Geschichte, die sie täglich über sich ergehen lassen musste. Aber am besten waren natürlich die freien Nachmittage – wenn sie denn welche hatte. Bei schönem Wetter durfte Analina dann ihre Freizeit draußen verbringen, zusammen mit ihren besten Freunden, den Kindern des Gärtners. Saphiron und Türkis hatte sie es vermutlich zu verdanken, dass sie bisher nicht an Langeweile gestorben war, denn abgesehen von ihnen hatte Analina nicht viele Freunde in ihrem Alter, um nicht zu sagen, sie hatte gar keine. Die Mondprinzessin zu sein half nicht unbedingt gegen Einsamkeit …
Gedankenversunken hatte Analina die Eingangshalle durchquert, war die breite Haupttreppe hinaufgestiegen und erreichte schließlich den Korridor, auf dem das königliche Arbeitszimmer lag. Die richtige Tür war nicht zu verfehlen. Kunstvoll verschlungene Rosen in Purpur und Gold wanden sich auf dem weißen Holz um das Wappen Funkelsteins, das ebenfalls in den Farben des Ardenreichs gehalten war: ein geschliffener Kristall, über dem eine Krone schwebte. Darunter zog sich wie eine Kette der Leitspruch der Familie. Er war in einer alten Sprache geschrieben, die Analina nicht verstand, aber die Bedeutung war ihr schon von klein auf eingeprägt worden: Wahrhaft königlich ist, wer durch sein Volk lebt.
Wie jedes Mal, wenn sie diese Tür sah, fühlte sie sich plötzlich eingeschüchtert. Instinktiv wich sie wieder einen kleinen Schritt zurück, bevor sie sich überwand und zaghaft anklopfte.
»Ja?«
Die Antwort kam beinahe sofort, aber die Stimme war nicht die ihrer Mutter. Leicht irritiert ließ Analina den Arm sinken. »I-ich …« Sie räusperte sich und versuchte es erneut: »Ich bin es. Analina«, fügte sie hinzu, bevor sie der Mut verließ. Prompt ertönten Schritte und im nächsten Moment wurde die Tür nach innen aufgezogen.
»Guten Morgen, Euer Hoheit. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.«
Ein großer, schwarzhaariger Mann lächelte sie freundlich an und trat dann einen Schritt zurück, um ihr Platz zu machen.
»Danke.« Zunehmend verunsichert folgte Analina der stummen Aufforderung und trat über die Schwelle.
»Die Königin wurde aufgehalten, aber sie sollte jeden Moment eintreffen. Sie bittet Euch, hier zu warten.«
»Tut sie das«, murmelte Analina und warf dem Mann einen prüfenden Blick zu. Sie konnte sich nicht erinnern, je zuvor mit ihm gesprochen zu haben, aber bei näherer Betrachtung kam er ihr doch irgendwie bekannt vor. Wenn sie sich nicht täuschte, hatte sie Parl Marsiy vor sich, einen der königlichen Berater.
Er nickte, fügte jedoch nichts hinzu. Das machte Analina bewusst, dass sie streng genommen die ranghöchste Person im Raum war und er vermutlich irgendeine Form der Anweisung von ihr erwartete.
»Ähm.« Ihr Blick glitt rasch durch das großzügige Zimmer, blieb kurz an den leuchtenden Sonnenflecken hängen, die auf dem makellosen Parkettboden tanzten, und wanderte dann zu der hohen Lehne des verlassenen Schreibtischstuhls. Natürlich konnte sie sich nicht auf den Platz setzen, der Lynda zustand, aber eine andere Sitzgelegenheit gab es nicht. Das bedeutete dann wohl, dass sie stehen musste. Unwillkürlich sah sie wieder zu Parl Marsiy und stellte fest, dass er sie beobachtete. Vielleicht bildete sie es sich ein, aber sie glaubte, die Spur eines Lächelns in seinen Mundwinkeln erahnen zu können.
Schlagartig erinnerte sie sich daran, dass er ihre Erlaubnis brauchte, um den Raum zu verlassen. »Wollen Sie … gehen?«
Das war definitiv nicht die Formulierung, die ihre Mutter gewählt hätte, doch er zuckte nicht mit der Wimper. »Ich wurde gebeten, Euch beim Warten Gesellschaft zu leisten.«
»Oh.« Analina blinzelte. »Tut mir leid.«
Jetzt war sie sich sicher, dass er ein Lächeln unterdrückte. »Das hoffe ich doch nicht. Es ist mir ein Vergnügen.«
Tatsächlich schien ihm die Situation deutlich weniger unangenehm zu sein als ihr, und das nahm ihr einen kleinen Teil ihrer Verlegenheit. Mutiger geworden wagte sie sich vor: »Sie sind Parl Marsiy, oder?«
Diesmal gelang es ihm nicht ganz, seine Überraschung zu überspielen. »Ja, Euer Hoheit.«
»Wissen Sie, warum meine Mutter mich sprechen will?«
Ein leichtes Flackern glitt über seine dunklen Augen. »Ich …«
»Sie dürfen es mir nicht sagen«, stellte sie fest.
Er wirkte erleichtert. »Ich fürchte nicht, Euer Hoheit.«
»Hm.« Analina musterte ihn kurz. »Verstehe.«
Für einen Moment herrschte Schweigen.
»Hattet Ihr bisher einen schönen Geburtstag?«, fragte er schließlich.
Analina ließ ihre immer noch geröteten Handflächen unauffällig hinter dem Rücken verschwinden. »Sehr schön, ja.«
Parl war die Bewegung nicht entgangen und kurz begegneten sich ihre Blicke. Er zögerte und räusperte sich dann. »Kann ich …«
Das Geräusch hoher Absätze hallte durch den Korridor und ließ ihn verstummen. Analina fuhr herum und bemühte sich hastig um eine aufrechte Körperhaltung. Im nächsten Moment schwang die Tür wie von Geisterhand auf und Lynda trat ein. Sie durchquerte den Raum, ohne innezuhalten, erreichte ihren Arbeitsplatz und drehte sich um. Für den Bruchteil einer Sekunde begegnete sie Analinas Blick, bevor sie sich kommentarlos an Parl Marsiy wandte. »Danke.«
Er nickte. »Jederzeit.«
Ohne dass ein weiteres Wort nötig war, schenkte er Analina ein flüchtiges Lächeln und zog sich zurück.
Lynda wartete, bis die Tür hinter ihm zugefallen war, dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf Analina. Das Sonnenlicht, das schon die ganze Zeit zwischen den dünnen Vorhängen hindurchgeschimmert hatte, brach sich nun in dem filigranen Diadem auf ihrer Stirn und ließ Analina blinzeln. Sie wusste, dass ihre Mutter eine außergewöhnlich schöne Frau war, und das trug nicht unbedingt zur Steigerung ihres eigenen Selbstbewusstseins bei. Wieder einmal wurde ihr klar, dass sie äußerlich das komplette Gegenteil ihrer Mutter war. Lynda war groß und schlank, hatte blonde Locken und bemerkenswert blaue, diamanthelle Augen. Analina dagegen war eher klein für ihr Alter, hatte dunkles Haar und ihre Augen erinnerten weniger an Diamanten als vielmehr an die eines verschreckten Rehs, groß und braun, wie sie waren. Sie hätte gerne gewusst, ob sie ihrem Vater ähnlich sah, aber Lynda hatte niemals ein Wort über diesen Mann verloren, und Analina nahm nicht an, dass sie nach ihm fragen sollte.
»Analina. Schön, dich zu sehen.« Lynda lächelte, doch ihre Augen blieben wachsam. »Alles Gute zum Geburtstag.«
»Danke.« Ana machte einen kleinen Schritt auf den Schreibtisch zu. »Wie war die Ratsversammlung?«
Lynda war vor ein paar Wochen verreist, um der Ratsversammlung der Hochmagier von Hyianda beizuwohnen, und offenbar war sie erst letzte Nacht zurückgekommen.
»Ergebnisreich.«
Unter ihrem prüfenden Blick fühlte Analina sich unwohl. »Du … wolltest mich sprechen?«
Lynda nickte. »Ja. Es gibt Neuigkeiten, die dich … nun, vielleicht überraschen werden. Bei der Ratsversammlung ging es diesmal um dich.«
»Um mich?«, wiederholte Analina verdutzt. »Wieso das?«
Ihre Mutter antwortete nicht sofort. Es schien, als suchte sie nach geeigneten Worten, was ungewöhnlich war. Normalerweise wusste Lynda Céleste sehr genau, was sie wollte. Schließlich sagte sie langsam: »Die Akademie des Meeres ist nun bereit, dich aufzunehmen. Du hast einen Platz bekommen.«
Ihre Stimme hallte in Anas Ohren nach. Wortlos starrte sie Lynda an, unfähig, eine Antwort zu formulieren. Sie war starr vor Schreck. Erst als Lynda einen schweren, mit purpurroter Tinte beschriebenen Briefumschlag aus ihrer Tasche zog und Analina entgegenstreckte, sickerte die Botschaft langsam durch. Ihr Magen verkrampfte sich.
»L’Arctes … hat geantwortet.« Es war keine Frage. Trotzdem hoffte sie verzweifelt auf den Widerspruch ihrer Mutter. Doch Lynda schwieg und ließ ihr keine andere Wahl, als mit zitternden Fingern nach dem Brief zu greifen. Die teure Purpurtinte war typisch für Nachrichten aus Uyneia, dem größten und reichsten Kontinent Lunadësias. Dort stand die ranghöchste der drei Akademien, die die Kinder des Adels ausbildeten und erzogen – vorausgesetzt, die Eltern besaßen das nötige Kleingeld. Lynda hatte Ana schon vor ein paar Jahren eröffnet, dass sie einen Platz an der Akademie in Hyianda beantragt hatte, aber Analina hatte insgeheim immer gehofft, dass sie abgelehnt werden würde. Eine Ausbildung an der Akademie bedeutete auch den Abschied vom Schloss. Abschied von Arden – Abschied von allem, was sie kannte.
Mit steifen Fingern brach Analina das Siegel, entfaltete das dicke Papier und begann zu lesen:
Hiermit erteilen wir, die Höchsten Akademiker der Drei Akademien, Analina Nelia von Funkelstein die Erlaubnis und den Befehl, sich vor Anbruch des neuen Jahres an der Akademie des Meeres zum ersten Schuljahr zu melden. Sie hat selbstständig und ohne weitere Aufforderung zu erscheinen. Ihr Ausbildungsschwerpunkt liegt auf Sprache und Kampf.
L’Arctes, Leiter der Akademie der Sonne
Ana las die Nachricht zweimal, weil sie nicht in ihrer Muttersprache Hyiandanisch geschrieben war, sondern in der uyneianischen Sprache der Sonne.
Sie hatten sie genommen. Sie würde fortgehen. Und lange Zeit nicht wiederkommen. Kurze, bruchstückhafte Sätze jagten durch ihren Kopf, während sie zu begreifen versuchte, dass es jetzt endgültig war. Ich gehe.
Schlagartig wurde ihr bewusst, dass Lynda noch im Zimmer war. Langsam hob sie den Kopf. »Ich … werde gehen?«
Lynda nickte. Sie lächelte nicht. Analina fragte sich, ob sie von dem Kloß wusste, der ihr plötzlich im Hals steckte. Immerhin war auch Lynda in ihrem Alter weggeschickt worden. Aber sie hatte wenigstens Gesellschaft gehabt.
»Ist es wegen Gwenda?«, fragte Analina leise.
Erneut schien Lynda nicht auf Anas Frage vorbereitet zu sein, denn ihre Stimme stockte kurz. »Wie bitte?«
Analina ließ sich nicht beirren. »Muss ich wegen Gwenda weg?«
Wie immer, wenn sie es wagte, diesen Teil ihrer Familie anzusprechen, wurden Lyndas Augen kühl und abweisend wie schimmernde Spiegel. Gwenda Melania war die Herrscherin des Sumpfgebiets, eines der beiden anderen Reiche Hyiandas. Analina hatte nie viele Antworten auf ihre Fragen über Gwenda bekommen, doch natürlich kannte sie wie jeder Bewohner Hyiandas die Geschichte: Seit Lynda im Alter von sechzehn Jahren den Thron bestiegen hatte, kämpfte Gwenda darum, die Herrschaft über das Ardenreich an sich zu reißen. Bisher war es allerdings nie zu einer offenen Schlacht gekommen – Gwenda hatte andere Methoden. Mithilfe von schwarzmagischen Ritualen, die selbst die mächtigsten Magier Hyiandas bislang nicht kannten, hatte sie ihre Magie im Laufe der Zeit um ein Vielfaches vergrößert. Und das noch bevor Lynda überhaupt auf die Bedrohung aufmerksam geworden war. In ganz Arden spann Gwenda ihre Fäden und hielt sich dabei so bedeckt, dass man kaum etwas gegen sie ausrichten konnte. Ihre Späher überflogen immer wieder das Land und hin und wieder wurden Dörfer angegriffen, scheinbar ohne jeden Grund. Analina war sich sicher, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis Gwenda versuchen würde, mit einer Armee durch die Schwarzlande bis nach Funkelstein zu ziehen. Die Bedrohung durch die Andere, wie sie vom Volk genannt wurde, war allgegenwärtig, und doch hatte Lynda offenbar nicht vor, den Kampf zu eröffnen, solange Gwenda kein Heer aufstellte. Und Analina wusste, warum: Sie durfte nicht diejenige sein, die einen ganzen Kontinent in den Krieg gegen ihre eigene Schwester stürzte. Gegen ihre Zwillingsschwester. Die Andere. Bis dieser Krieg ausbrach, schwebte die Bedrohung wie eine dunkle Wolke über Lyndas Reich.
Ein leises Miauen riss Analina aus ihren Gedanken. Ariyala, eine Goldkatze, die Lynda irgendwann aus Uyneia mitgebracht hatte, hatte auf dem Fensterbrett geschlafen und war nun aufgewacht. Sie sprang zu Boden, streckte sich ausgiebig und begann dann, um Lyndas Beine zu streichen. Geistesabwesend bückte Lynda sich und hob Ariyala hoch, die laut zu schnurren begann.
»Du weißt doch, warum du auf die Akademie musst, Analina. Du wirst dort zu der Kämpferin ausgebildet, die du als Mondprinzessin sein solltest. Und außerdem bist du dort in Sicherheit, ja. Und du wirst gut behandelt werden.«
Analina widerstand dem Impuls, trotzig die Arme zu verschränken, und ballte stattdessen ihre immer noch empfindlichen Handflächen zu Fäusten. »Du hast selbst gesagt, dass wir uns nicht im Krieg befinden …«
»Aber ich habe dir auch erklärt, dass es jederzeit dazu kommen kann. Natürlich werden unsere Grenzen geschützt, aber kein Schutz ist vollkommen. Und Konflikte wird es immer geben. Durch deine besonderen Kräfte wirst du früher oder später Aufmerksamkeit auf dich ziehen, und die wird nicht immer angenehm sein. In jedem Fall solltest du lernen, dich zu wehren.«
Analina biss sich auf die Lippe. Etwas in ihr wusste natürlich, dass Lynda recht hatte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Gwenda eine akute Bedrohung in Analina und ihren Kräften sah. Noch war sie kaum ausgebildet und ihre Mondmagie vielleicht weit davon entfernt, sich endlich zu entfalten, aber Gwenda würde sicher nicht warten, bis sie eine ebenbürtige Gegnerin war. Sie würde zuschlagen, sobald sich eine Möglichkeit dazu bot.
»Darum ging es also bei deiner ergebnisreichen Ratsversammlung? Ihr habt hinter meinem Rücken über meine Zukunft entschieden?« Analina konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme bitter klang. Offensichtlich bemerkte das auch Lynda, denn sie setzte die Katze ab und legte stattdessen Ana eine kühle Hand auf den Arm. Prompt breitete sich Gänsehaut auf der Stelle aus und Lynda zog ihre Fingerspitzen rasch wieder zurück.
»Ich verstehe, dass das alles überraschend für dich kommt«, antwortete sie. »Aber ich hatte keine Wahl. Es musste alles organisiert werden, bevor Gwenda davon erfährt und ihre letzte Gelegenheit nutzt, dir etwas anzutun, solange du unausgebildet bist.«
»Organisiert?«, wiederholte Analina langsam. »Was meinst du mit …«
Es war nicht zu übersehen, dass sie einen wunden Punkt angesprochen hatte.
Lynda seufzte leise. »Aus diesem Grund habe ich dich rufen lassen«, sagte sie ruhig. »Wir können deine Reise nicht länger aufschieben. Das nächste Schuljahr beginnt im Sommer, und wenn du bis dahin nicht angetreten bist, verfällt erstens dein Platz und zweitens die Garantie, dass Gwenda nicht mehr an dich herankommt. Deshalb musst du so schnell wie möglich aufbrechen.«
»Und damit meinst du …?«
»Morgen. Es ist bereits für dich gepackt worden und um Begleiter habe ich mich auch gekümmert. Die Reise ist gleich am ersten Tag der Versammlung beschlossen worden.«
Analina zuckte zusammen und wich unwillkürlich ein paar Schritte zurück. »Morgen«, wiederholte sie tonlos und räusperte sich, um die schreckliche Enge in ihrem Hals loszuwerden, »ich kann nicht … nicht so bald aufbrechen. Das ist unmöglich. Absurd. Wie stellst du dir das vor? Ich … ich habe weder damit gerechnet noch bin ich irgendwie vorbereitet … ich weiß nicht einmal, wo ich hinmuss! Das ist doch Wahnsinn …«
Plötzlich kam es ihr in Lyndas Zimmer sehr kalt vor. Ariyala schmiegte sich leise schnurrend an ihre Beine, doch sie nahm es kaum wahr. Alles kam ihr unwirklich vor. Es war doch ihr Geburtstag, verdammt noch mal! Wieso konnte Lynda keinen Kuchen backen und ihr Geschenke überreichen wie alle anderen Mütter? Nein, sie musste Analina auf eine Reise ans andere Ende Hyiandas schicken.
»Lynda, ich kann nicht …«
»Doch, du kannst«, gab ihre Mutter unbeeindruckt zurück. »Und du wirst. Wie gesagt, es ist alles geplant. Die Route ist festgelegt, die Begleiter sind geprüft und die Kontaktpersonen sind auch alle bereit. Du musst nur tun, was dir gesagt wird, dann wird alles gut werden. In spätestens drei Monaten solltest du angekommen sein.«
»Aber … aber wieso muss ich morgen aufbrechen? Wieso nicht in einer Woche oder zwei?«
»Je weniger Zeit wir verlieren, desto weniger Zeit hat Gwenda, von der Reise zu erfahren.«
Analina war wie erstarrt. Alles, was sie herausbekam, war: »Bitte … bitte nicht.«
Lynda erwiderte ihren flehenden Blick mit regloser Miene. Nur für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Ana, ein leichtes Schimmern in den eisblauen Augen wahrzunehmen. Dann blinzelte sie und der Eindruck verflog.
»Du solltest deine Begleitung kennenlernen, bevor ihr aufbrecht«, erwiderte Lynda sachlich. »Sie warten schon auf dich. Komm. Ich bringe dich hin.«
Ohne ein weiteres Wort schritt sie an Analina vorbei in Richtung Tür, ihre Absätze machten helle, klackernde Geräusche auf dem Parkett. Erst als sie der graue Seidenrock streifte, löste Ana sich endlich aus ihrer Starre. Wie in Trance setzte sie sich in Bewegung und folgte ihrer Mutter hinaus auf den Gang.
Lynda führte sie geradewegs in den Westflügel des Schlosses, in dem die Küchen und die Schlafsäle der niederen Angestellten lagen. Normalerweise durfte Analina sich hier gar nicht aufhalten, was sie allerdings bisher nicht davon abgehalten hatte, es trotzdem zu tun. Ihre Schritte hallten laut von den gekachelten Wänden wider und im selben nervösen Takt spürte Analina ihr Herz hämmern.
Vor einer hohen, schweren Tür machte ihre Mutter Halt. Unsicher trat Analina vor und hob die Hände, doch bevor sie ihr Glück versuchen konnte, bewegte Lynda leicht die Finger, und von einigen eisblauen Magiefunken begleitet schwang die Tür auf.
Sie waren in einer Art Aufenthaltshalle der Diener gelandet, in der Analina nie zuvor gewesen war. Abends wimmelte es hier vermutlich von Leben, aber jetzt, am Vormittag, war die Halle fast leer. Die einzigen drei Anwesenden standen schweigend mitten im Raum und hatten sie ganz offensichtlich erwartet. Naturgemäß war es der Schneeriese, der Analinas Aufmerksamkeit zuerst auf sich zog. Wie alle Angehörigen seiner Art verfügte er über die Eigenschaft, seine Körpergröße an die Umgebungstemperatur anzupassen, und so maß er in unmittelbarer Nähe eines offenen Kamins nur knapp zwei Meter. Unauffällig war seine Erscheinung trotzdem nicht, denn im flackernden Feuerschein funkelte seine reinweiße Haut, als wäre sie mit Raureif überzogen. Es war das erste Mal, dass Analina einem Riesen direkt gegenüberstand, und während seine Gestalt insgesamt etwas Einschüchterndes hatte, war sie vom freundlichen Ausdruck seiner blassroten Augen überrascht.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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