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Dunkle Geheimnisse.
Sylt im Jahr 1927. Der Bau des Eisenbahndamms hält die Insel in Atem, als Tessa Meldorf dort ankommt. Sie ist die neue Kurärztin, doch sie stößt überall auf Vorbehalte. Als auf dem Damm ein Bauarbeiter stirbt, gibt man ihr die Schuld. Nur der Kurdirektor hält zu ihr – sie beginnt sich in ihn zu verlieben, begreift aber bald, dass ihn ein düsteres Geheimnis umgibt ...
Eine Saga um Liebe, Vergebung und Schuld - vor der prächtigen Kulisse der prosperierenden Insel.
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Seitenzahl: 726
Gisa Pauly
Die Kurärztin von Sylt
Die Insel-Saga
Inhaltsübersicht
Kapitel I
Kapitel II
Kapitel III
Kapitel IV
Kapitel V
Kapitel VI
Kapitel VII
Kapitel VIII
Kapitel IX
Kapitel X
Kapitel XI
Kapitel XII
Kapitel XIII
Kapitel XIV
Kapitel XV
Kapitel XVI
Kapitel XVII
Informationen zum Buch
Gisa Pauly
Impressum
Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …
Gewidmet meiner lieben Freundin Dr. med. Ilse-Ruth Skoppek-Rutherford, die uns im Juni 2014 für immer verlassen hat!
»Davon geht die Welt nicht unter, sieht man sie manchmal auch grau …« Die Nachbarn zeigten, dass sie seit kurzem einen Plattenspieler besaßen und dazu alle Schallplatten von Zarah Leander. »Einmal wird sie wieder bunter, einmal wird sie wieder himmelblau …«
Tessa starrte aus dem Fenster des zweiten Stockwerks, in diese Welt, die tatsächlich nicht untergegangen war, obwohl es vor einer halben Stunde ganz danach aussah. Sie blickte auf die feucht glänzenden Dächer Berlins, die grauen Fassaden, auf die Fenster des gegenüberliegenden Hauses und sah zu, wie hinter einigen die Lichter angingen. Über die Straße trottete ein müder Arbeiter, zwei Kinder liefen ihm entgegen, eine Frau, die einen schweren Einkaufskorb am Arm trug, nutzte die Gelegenheit, ihn abzustellen und den Mann anzusprechen. Sie standen an der Ecke, um die Kurt vor wenigen Minuten verschwunden war. Zornig! Gekränkt! Auf der Treppe hatten seine Schritte noch bei jedem Absatz gezögert, aber auf der Straße waren sie schnell und entschlossen geworden. Er hatte nicht hochgesehen, als er die Straße überquerte. Es war vorbei! Schluss! Aus! Sie hatte getan, was sie vor ein paar Tagen nicht für möglich gehalten hätte: Sie hatte sich entschieden. Ihr schmales Gesicht mit den großen grauen Augen wurde für Augenblicke scharf und unbeugsam. Wer sie jetzt betrachtete, hätte gemerkt, wie viel Energie und eiserner Wille in ihr steckte.
»Davon geht die Welt nicht unter …«
Doch, für Kurt war sie untergegangen, seine Welt. Was bisher für ihn Gültigkeit gehabt hatte, sollte nun nichts mehr wert sein? Was Jahrtausende überdauerte hatte, war mit einem Mal über Bord geworfen worden. Von der Frau, die er liebte.
Vielleicht hatte sie wirklich zu viel verlangt. Vielleicht musste man eine Mutter wie Marika Melford haben, um achselzuckend dabei zuzusehen, wie die Welt sich veränderte. Aber Kurts Mutter war das genaue Gegenteil von Marika, und dass die beiden sich bis jetzt nicht kennengelernt hatten, war kein Zufall. Kurts Gesicht war jedes Mal voller Besorgnis gewesen, wenn seine Eltern davon sprachen, dass man Tessas Mutter, die bedauernswerte Kriegerwitwe, die ihr schweres Los so tapfer trug, die es geschafft hatte, ihre Tochter allein großzuziehen, endlich zum Tee begrüßen wolle. Kurts Mutter hatte in den letzten Wochen immer öfter davon gesprochen, und ihre Hände hatten immer nervöser mit der Perlenkette gespielt. Wenn sie sagte: »Wie aufopferungsvoll, Ihre arme Frau Mutter!«, dann wusste Tessa, dass Kurts Mutter eine ganz andere Frau vor Augen hatte als die, die sie zu sehen bekommen würde.
Es war gut, dass es dazu nicht gekommen war. Wer weiß, wie Kurts Eltern reagiert hätten, die schon Mühe aufbringen mussten, um sich mit einer Schwiegertochter abzufinden, die studiert hatte und seit neuestem sogar einen Doktortitel trug. Dass eine Hochzeit erst infrage kam, wenn auch Kurt der Doktorhut aufgesetzt worden war, stand außer Frage. »Wie sähe denn so eine Hochzeitsanzeige aus? Die Braut mit einem Doktortitel und der Bräutigam …«
Diese skandalöse Tatsache wurde nie ganz ausgesprochen und stets mit gesenkter Stimme vorgebracht. Und der Ton war jedes Mal vorwurfsvoller geworden, wenn Kurts Vater bedauerte, dass sie mit der Hochzeit noch eine Weile würden warten müssen. »Oder wären Sie bereit, in der Hochzeitsanzeige auf den Doktortitel zu verzichten?«
Nein, dazu war Tessa nicht bereit. Dass sie damit ihre Eignung als Ehefrau infrage stellte, war ihr klar. Und dass Kurt sich in solchen Momenten für seine unbeugsame Braut schämte, wusste sie auch.
»Eine Ärztin im Haus hat auch was Gutes«, hatte Kurts Mutter dann jedes Mal getröstet, die eine freundliche Frau war. »Wenn die Kinder mal krank sind … wenn wir alt und gebrechlich werden … medizinische Kenntnisse sind für eine Ehefrau und Mutter durchaus schätzenswert.«
Und ausgerechnet heute, an diesem Tag, der für Tessa bis vor einer Stunde noch zu den glücklichsten zählte, hatte Kurt sich unterstanden zu sagen, womit auch sein Vater jedes Für und Wider abschloss: »Frauen gehören nicht auf die Universität. Sie heiraten ja doch, und dann war das ganze Studium vergebens. Was für eine Verschwendung!« Kurt hatte sogar hinzugefügt, womit seine Mutter in solchen Fällen zu begütigen versuchte: dass es angenehm für einen gebildeten Mann sei, eine ebenso gebildete Frau zu Hause zu haben, mit der er sich unterhalten konnte, als hätte er einen Mann vor sich. Aber dafür gleich ein Universitätsstudium?
Ihr nächtelanges Lernen, das Durchbeißen, das Nichtaufgeben, wenn die Professoren sie auch noch so verächtlich ansahen und sogar ungerecht beurteilten – das alles sollte bestenfalls dem Amusement ihres zukünftigen Ehemannes dienen? Tessas Reaktion hatte Kurt fassungslos gemacht. Und sie hatte darauf verzichtet, ihm zu erklären, warum sie so wütend war. Er hätte es ja doch nicht verstanden. Am Ende hatte sie nur gesagt: »Ich werde diese Chance ergreifen, ob du es willst oder nicht. Ob du mitkommst oder nicht. Und wenn du davon unsere gemeinsame Zukunft abhängig machen willst, dann gehe ich erst recht.«
Tessa ließ sich vornübersinken und legte die Stirn an die kühle Fensterscheibe. Es tat weh, schrecklich weh! Aber sie hatte nicht den geringsten Zweifel, dass die Schmerzen, die ihre Seele jetzt zerrissen, irgendwann unerträglich geworden wären, wenn sie Kurt nachgegeben hätte. Sie wäre daran zerbrochen. Irgendwann …
»Geht’s mal drüber und mal drunter, wenn uns der Schädel auch raucht, davon geht die Welt nicht unter, die wird ja noch gebraucht …«
Tessa drehte sich vom Fenster weg und betrachtete ihr Zuhause, als könnte sie Trost finden in den schönen Möbeln und den Nippesfiguren, die ihre Mutter reichlich aufgestellt hatte, als könnte es ihr helfen, dass sie in einer wesentlich angenehmeren Umgebung lebte als die meisten Berliner.
Die Wände des Wohnzimmers trugen eine dunkelgrüne Tapete mit so winzigen goldenen Ranken, dass man sie nur aus der Nähe erkennen konnte. Aber ihrer Mutter gefiel das sanfte Flimmern, das entstand, wenn die Sonne durchs Fenster fiel. Auf der einen Seite des Zimmers stand ein wuchtiger Bücherschrank mit gläsernen Türen, so vollgestopft mit Büchern, dass sie auch quer auf den stehenden liegen mussten, damit möglichst viele hineinpassten, an der anderen Wand gab es ein Sofa mit einer geschwungenen Rückenlehne, der ganze Stolz ihrer Mutter. Es war mit dunkelrotem Samt bezogen, der hölzerne Rahmen war schwarz lackiert. Vor dem Sofa stand ein kleiner runder Tisch, auf dem eine weiße Häkeldecke lag, auf ihr hatte eine gläserne Bonbonniere Platz gefunden, in der ein paar Pralinés lagen, die mittlerweile ungenießbar sein durften. Sie dienten lediglich zur Dekoration, denn sie waren in grünes und rotes Stanniolpapier eingewickelt worden, grün wie die Tapete und rot wie das Sofa. An den Wänden hingen gerahmte Familienfotos, Tessas Vater in Uniform, das Hochzeitsbild ihrer Eltern, ein Bild von Tessa als Baby auf einem Eisbärfell und eine gerahmte Kinderzeichnung aus einer Zeit, da Tessas Mutter der Überzeugung gewesen war, dass in ihrer Tochter die Anlagen zu einer genialen Malerin schlummerten.
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