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Meisterdieb Michael St. Pierre wollte sein Handwerk nie wieder ausüben. Doch eine perfide Erpressung zwingt ihn dazu, sein Versprechen zu brechen. Er und seine Exfreundin KC Ryan sollen ein Tagebuch stehlen, dessen Inhalt eines der größten Geheimnisse der Geschichte birgt. Versagt einer von ihnen, muss der andere sterben. Der Weg führt Michael St. Pierre in die Unterwelt der chinesischen Triaden und zu einem Gegner, der alles daransetzt, Michaels Plan zu sabotieren ...
»Richard Doetsch ist zweifellos einer der besten Thriller-Autoren aller Zeiten!« BOOKLIST
Die spannende Mystery-Thriller-Reihe um Meisterdieb Michael St. Pierre für alle Fans von Dan Brown und James Twining:
Band 1: Der dunkle Pfad Gottes
Band 2: Die Quelle der Seelen
Band 3: Der Dieb der Finsternis
Band 4: Die Legende der Dunkelheit
eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.
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Seitenzahl: 701
Cover
Grußwort des Verlags
Über dieses Buch
Titel
Widmung
Zitate
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Anmerkung des Verfassers
Danksagung
Über den Autor
Weitere Titel des Autors
Impressum
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Meisterdieb Michael St. Pierre wollte sein Handwerk nie wieder ausüben. Doch eine perfide Erpressung zwingt ihn dazu, sein Versprechen zu brechen. Er und seine Exfreundin KC Ryan sollen ein Tagebuch stehlen, dessen Inhalt eines der größten Geheimnisse der Geschichte birgt. Versagt einer von ihnen, muss der andere sterben. Der Weg führt Michael St. Pierre in die Unterwelt der chinesischen Triaden und zu einem Gegner, der alles daransetzt, Michaels Plan zu sabotieren …
RICHARD DOETSCH
DIE LEGENDEDERDUNKELHEIT
Aus dem Englischen vonDiana Beate Hellmann
Für Virginia,meine beste Freundin.
Ich habe nicht die Hälfte von dem erzählt,was ich gesehen habe, weil keiner mir geglaubt hätte.– MARCO POLO
Princeps legibus solutus est.– DER HERRSCHER STEHT ÜBER DEM RECHT
Ich zeig dir die Angst in einer Hand voll Staub.
Italien
Das Schloss stand am Rand einer Klippe über dem Tyrrhenischen Meer, dessen dunkle Wasser mit dem Nachthimmel am Horizont zu verschmelzen schienen. Das Haus aus Steinquadern, Ziegeln und Granit war so in die Klippenwand gebaut worden, dass es aussah, als wüchse es aus der Erde heraus und existierte bereits seit Anbeginn der Zeit.
Wenn man vom Meer her darauf zufuhr, erweckte das alte Gebäude den Eindruck, als wäre es eins mit den Felsen, doch jetzt, im Dunkel der Nacht, wirkte es durch die glitzernden Fenster eher so, als gehöre es zu den Sternen am Himmelszelt. Im Zuge der wechselhaften Geschichte der Region hatte das Schloss, das 1650 für den Herzog von Faronte erbaut worden war, im Laufe der Jahrhunderte mehrmals den Besitzer gewechselt und war zuletzt von einem Mann gekauft worden, der über ein gewaltiges Vermögen verfügte, das er, Gerüchten zufolge, mit skrupellosen Geschäften im Fernen Osten gescheffelt hatte.
Michael St. Pierre stand auf dem Dach des Schlosses, ganz am Rand. Mit der Hand stützte er sich auf eine der Zinnen und fühlte sich dabei wie ein Kreuzritter, der die Mauern von Jerusalem überwunden hatte. Er betrachtete die Sterne, die den Nachthimmel zierten, den Mond, der gerade erst aufgegangen war, und die ungewöhnlich hohe Brandung – die Nachwehen eines Sturms, der sich längst verzogen hatte –, die fünfundsechzig Meter unter ihm, am Fuß der Klippe, donnernd gegen die Felsen schlug.
Gut dreißig Meter vor der Küste lag ein imposantes Schiff vor Anker, eine fünfzig Meter lange Luxusjacht. Die weiße Sunseeker gehörte dem Mann, auf dessen Haus Michael gerade stand. Er beobachtete das Boot schon seit gut einer Stunde. Vor ungefähr fünfzehn Minuten war etwa zweihundert Meter weiter südlich von der Jacht ein kleineres Schiff angekommen und hatte ein kleines Begleitboot zu Wasser gelassen. Michael sah dabei zu, wie sich das Begleitboot dem Kai näherte, der sich direkt unter ihm befand, und, nachdem es sich durch den schweren Wellengang gekämpft hatte, schließlich erfolgreich dort anlegte. Jetzt kletterten im Gänsemarsch sechs gut gekleidete Männer die schmalen, steilen Treppenstufen hinauf, die Jahrhunderte zuvor in den Fels gehauen worden waren. Sie blieben mehrmals stehen, um wieder zu Atem zu kommen.
Michael klemmte sein Gurtzeug an das Seil, das er am Fallrohr der Dachrinne befestigt hatte, und warf es nach unten. Er hatte fast eine Viertelstunde gebraucht, um auf die fünfunddreißig Meter hohe Nordfassade des Gebäudes zu klettern, die im Schatten der Wälder lag, die sich an der Küste entlangzogen. Da die Fassade aus grob behauenem Granit und aus Steinquadern bestand, war es so gewesen, als würde man einen Berg erklimmen, der mit Haltegriffen und Fußstützen durchsetzt war. Er war acht Kilometer durch den italienischen Wald gewandert mit einem Seil über der einen und einem kleinen Rucksack mit Gerätschaften über der anderen Schulter, was ihm das Aussehen eines Wanderers verliehen hatte. Sein Telefon hatte er ausgeschaltet. Seine Freundin und Busch würden zwar sauer sein, wenn sie versuchten, ihn zu erreichen, doch die Vorstellung, bei dem, was er hier trieb, entweder von den Leuten erwischt zu werden, die im Moment gerade zum Haus kamen, oder von den beiden Menschen, denen er am nächsten stand, war zu schrecklich, als dass er noch weiter darüber hätte nachdenken wollen. Erklären zu müssen, dass er in Wahrheit nicht nach Chicago geflogen war, konnte problematisch werden. Ungewohnte Schuldgefühle überkamen ihn, doch die hatten nichts mit dem zu tun, was er hier gleich tun würde, sondern mit dem Täuschungsmanöver, das er inszeniert, mit dem Versprechen, das er gebrochen hatte.
Fakt war, dass es auf der ganzen Welt nur einen einzigen Menschen gab, der wusste, wo er in diesem Moment war: sein alter Freund Simon, der ihn angeheuert hatte. Der saß jetzt wahrscheinlich über einem leckeren Abendessen in der kleinen Gemeinde Tramonti, nur ein paar Kilometer weiter nördlich an der Amalfiküste. Michael konnte nicht sagen, was ihn wirklich dazu gebracht hatte, herzukommen, ob Simons Argumentation so überzeugend gewesen war oder ob seine Eitelkeit und seine Gier nach einem Adrenalinschub dafür verantwortlich gewesen waren, doch er wusste tief drinnen – genauso wie ein Alkoholiker, der rückfällig geworden war –, dass er einen Preis dafür würde zahlen müssen, dass er der Versuchung erlegen war.
Michael zog eine schwarze Mütze aus der Hosentasche und setzte sie über seine hellbraune Haarmähne. In seinen blaugrauen Augen trug er braune Kontaktlinsen, und auf die Wangen hatte er sich schwarze Farbe geschmiert, wie Footballspieler sie als Blendschutz unter den Augen auftrugen. Es war nur eine primitive Vermummung, doch sie würde ihm die Wachhunde vom Leib halten, falls sein Bild von einer Überwachungskamera erfasst wurde.
Michael schaute ein letztes Mal hinunter auf das Meer, dann sprang er vom Dach. Er fiel durch die kühle Luft, ließ sich lautlos an dem Kernmantelseil fünfundzwanzig Meter in die Tiefe gleiten. Dann verringerte er den Druck auf den Petzl-Abseilachter und verlangsamte damit automatisch seine Fallgeschwindigkeit, bis er an ein großes Doppelfenster in der Mitte der gewaltigen Steinmauer kam. Einen Moment lang hing er einfach nur da, blickte hinunter auf die tosenden Wellen, deren Gischt siebzig Meter unter ihm leuchtete. Ein schöner Tod würde das nicht sein, wenn er hier abstürzte. Er zog ein Messer aus seinem Hosenbund, fuhr mit der Klinge am Fensterrahmen entlang, und mit einer schnellen, kraftvollen Bewegung hob er den Riegel des Bleiglasfensters.
Das Schloss war mit einer beeindruckenden Alarmanlage ausgestattet. Dass es die wirklich gab, hatte er sich vierundzwanzig Stunden zuvor von demjenigen bestätigen lassen, der sie eingebaut hatte, einem Mann aus Neapel, der bereitwillig mit einem Kollegen aus der Branche über seine Arbeit plauderte. Michael hatte in New York drei ähnliche Systeme installiert und wusste, dass es bis jetzt noch niemandem gelungen war, sie erfolgreich zu umgehen. Und er wusste auch, dass der Besitzer dieser Anlage hier darauf verzichtet hatte, viel Geld auszugeben und die Kabel und Leitungen durch den Teil der Steinfassade an den hinteren Fenstern zu führen, die zum Meer hinauszeigten. Michael verstand durchaus, was ihn dazu bewogen hatte. Wer sollte je auf die Idee kommen, an der steilen Wand hinaufzuklettern, und dabei das Risiko eingehen, auf die Felsen darunter in den Tod zu stürzen?
Michael schlüpfte durch das Fenster in ein Arbeitszimmer, einen gemütlich wirkenden, schwach beleuchteten Raum mit mahagonigetäfelten Wänden und einem Steinkamin, in dem ein Feuer knisterte. Ein schwerer antiker Schreibtisch füllte eine Ecke des Raums, und tiefe Ohrensessel mit hoher Rückenlehne standen gegenüber den flackernden Holzscheiten. Die Regale waren vollgestellt mit antiken Büchern und religiösen Artefakten. Michael erkannte das Gemälde über dem Kaminsims; es bestätigte die Gerüchte, die ihm über die zweifelhafte Seriosität des Schlossbesitzers und dessen Faible für das Unerreichbare zu Ohren gekommen waren. Vor zwölf Jahren war Picassos Portrait von Dora Maar bei einer Auktion für 23 Millionen Dollar verkauft worden, war aber nur eine Woche an Bord der Jacht des neureichen Internetmoguls gewesen. Dann war es bei Nacht und Nebel verschwunden. Michael erwog einen Moment, es seinem rechtmäßigen Besitzer zurückzugeben und dafür die Belohnung in Höhe von einer Million zu kassieren, nur war das ja nicht der Grund, warum er hier war.
Er drehte sich um und verriegelte die schwere Kassettentür des Arbeitszimmers.
Der Sicherheitsexperte in Neapel war ausgesprochen mitteilsam gewesen, sodass Michael sich jetzt in das System hacken und das gesamte Überwachungssystem des Schlosses lahmlegen konnte. Außer den Alarmanlagen und Kameras für den Eingangsbereich gab es drei Tresore: einen Waffentresor für die Garage und zwei Helix-09-Tresore. Einer davon stand im Arbeitszimmer im zweiten Stock, ganz am Ende des Raums in der Rückwand eines kleinen Schranks mit einer Bar, hinter ein paar Kisten mit achtzehn Jahre altem Macallan Scotch; der andere befand sich im Foyer des Salons, dem sogenannten Gentlemen’s Den, unter der Bar. Michael wusste zwar nicht, wo das Gentlemen’s Den war, hatte aber gehört, dass es sich dabei um eine Bar handelte, die nicht weit vom Schloss entfernt lag. Den Helix-09-Tresor kannte er gut: sein modernes Design, sein elektronisches Zahlenschloss. Und er wusste auch, wie man die Sperre aufhob, falls der Besitzer den Code vergaß, was zwei Dritteln der Leute passierte, die sich so ein Teil zulegten.
Doch als Michael die Tür des Barschranks öffnete, blieb ihm fast das Herz stehen. Die Kisten mit dem Scotch waren bereits zur Seite geschoben worden, die Tresortür stand weit offen, und die Innenbeleuchtung ließ die Diamantarmbänder und die Diamanthalsketten und die kostbaren Ringe mit den Edelsteinen glitzern, die dort in schwarzen, mit Samt ausgekleideten Kästen lagen. Außerdem lagen eine Sig Sauer und ein verblasstes Schwarz-Weiß-Foto in einem alten Holzrahmen darin, das ein kleines Kind zeigte. Das war alles. Keine Papiere, kein Umschlag mit einem Familienwappen, keine kleine rote chinesische Geheimschatulle. Nichts von alledem, was er hier hätte finden sollen.
Michael hörte auf, in den Barschrank zu starren. Es war totenstill im Haus, und das gab ihm zu denken. Das Treffen war für einundzwanzig Uhr geplant gewesen. Er hatte die Männer ankommen sehen, und er konnte riechen, dass irgendwo im Haus Essen gekocht wurde.
Plötzlich drang Stimmengewirr durch das offene Fenster; draußen herrschte Aufregung. Als er hinausschaute, sah er, wie sich die sechs Männer unten auf dem Kai um einen siebten Mann scharten und ihn herumstießen. Der Mann in der Mitte sah älter aus als die anderen, war körperlich gebrechlich, und der Buckel auf seinem Rücken zeugte von seinem fortgeschrittenen Alter. Seine Schmerzensschreie waren so laut, dass Michael sie trotz der tosenden Brandung deutlich hören konnte.
Obwohl sein Bauchgefühl ihm klar davon abriet, sperrte Michael die Tür des Arbeitszimmers auf und öffnete sie. Er trat in ein dunkel getäfeltes Treppenhaus mit handgeschnitztem Geländer und mit Perserteppichen, das regelrecht feudal wirkte. Der Gang war mindestens dreißig Meter lang und lief links auf vier Türen zu, die alle geschlossen waren, während man rechts in die riesige Eingangshalle hinunterblickte, die mit hochmodernen Möbeln ausgestattet war, die einen scharfen Kontrast zu dem jahrhundertealten Schloss bildeten. Michael spitzte die Ohren und lauschte, doch es war totenstill.
Er ließ den Blick schweifen, orientierte sich und merkte sich jeden Ausgang, durch den er möglicherweise verschwinden konnte. Und als er über das Geländer spähte, sah er etwas, was ihm neuerlich zu denken gab, denn ihm fiel auf, dass unter dem Sofa in der Eingangshalle etwas herausragte. Er lief die Treppe hinunter, um sich zu vergewissern, ob sich seine Befürchtungen bewahrheiten würden.
Michael hatte keine Pistole dabei – er hasste die Dinger –, nur das Messer in seinem Hosenbund. Damit konnte er zwar umgehen, doch es hatte keine magischen Kräfte; falls ihm jemand auflauerte, würde es keinen Schutz bieten. Ihm fiel die Sig Sauer ein, die er im Tresor gesehen hatte, doch jetzt war es zu spät, noch einmal zurückzugehen und sie zu holen.
Als er den Steinboden der riesigen Eingangshalle betrat, fiel sein Blick auf den Fuß, den er von oben gesehen hatte, und als er den nächsten Schritt wagte, konnte er auch die anderen Leichen sehen.
Die Galle schoss ihm in den Hals, und sein Herz begann wie wild zu hämmern. Obwohl er darauf gefasst war, mit dem Tod konfrontiert zu werden, hatte er das hier nicht erwartet. Und er konnte nicht umhin, sich vorzustellen, dass es KC war, die dort lag, und das erfüllte ihn mit Furcht. Und mit Wut.
Die drei Frauen, die vor ihm lagen, waren unterschiedlich alt, zwei vermutlich Mitte zwanzig, eine erheblich älter. Und das Kind … das Kind war mit Sicherheit noch keine fünf.
Alle vier Leichen, die drei Frauen und das Kind, waren enthauptet worden, und die Köpfe lagen in einer Blutlache neben dem Körper.
Zwei Tage vorher
»Auf gar keinen Fall«, sagte Michael.
»Du weißt doch noch gar nicht, worum ich dich bitten will«, erwiderte Simon und strich sich die schwarzen Haare aus der Stirn. Dann erhob er sich von seinem Barhocker, streckte sich durch, weil sein Körper nach dem langen Flug von Rom immer noch ganz steif war, und ging zurück zum Billardtisch.
»Das brauche ich auch gar nicht zu wissen, denn du weißt, dass ich es nicht tun kann.«
Simon nickte.
Sie waren in Paul Buschs Privatloft im Dachgeschoss seines Restaurants und seiner Bar Valhalla. Das Loft war Pauls persönliches Refugium, das seine Ehefrau Jeannie liebevoll seine Männerhöhle nannte: ein paar große abgenutzte Sofas und Sessel zusammen mit einem Flipperautomaten, einem Billardtisch und einer Dartscheibe. Monday Night Football flimmerte über den Bildschirm des überdimensional großen Fernsehers, der am anderen Ende des Raums an der Wand hing, und Busch selbst stand hinter der kleinen Bar und stellte gerade neue Alkoholvorräte in die Regale.
Das Restaurant, das Busch drei Jahre zuvor eröffnet hatte, nachdem er seinen Dienst bei der Polizei von Byram Hills quittiert hatte und in Rente gegangen war, lief außerordentlich gut. Es wurde nicht nur gern von den Einwohnern von Byram Hills besucht, die Leute kamen auch aus ganz Westchester County hierher. Das Essen war typisch amerikanische Küche: Steaks, Fisch, Hühnchen, alles in großen Portionen, die von Küchenchef Nick Mroz serviert wurden. Busch hielt nichts von Trends und von kleinen Portionen, und er wollte sich erst recht nicht nach den Launen irgendeines Nouvelle-Cuisine-Gastrokritikers richten. Er glaubte, dass man die Menschen glücklich machen musste.
»Und ganz egal, um was du mich bitten wolltest, sei so gut, und bitte KC nicht darum«, fügte Michael hinzu und hob dabei seine Colaflasche, um seinen Worten zusätzlichen Nachdruck zu verleihen.
Simon hob die Hände. »Ich will ja nur –«
»Lass es.«
»Aber –«
»Das ist alles deine Schuld, ist dir das eigentlich klar?« Michael drehte sich auf seinem Stuhl und sah, wie Simon sich einen Billardstock nahm und begann, die Bälle vom Tisch zu schießen, als sei das die einfachste Übung der Welt.
»Meine Schuld?«, hakte Simon mit seinem leichten italienischen Akzent nach, konzentrierte sich dabei aber weiterhin voll auf den Billardtisch. »Wie kann das alles meine Schuld sein?«
»Du warst derjenige, der behauptet hat, KC und ich würden ideal zusammenpassen.«
»Und? Habe ich nicht recht gehabt?«
»Ja – nein.«
»Ihr seid immer noch zusammen«, meinte Simon und streckte einen Finger in die Luft. »Fakt ist, dass sie mit dir zusammenlebt.« Der zweite Finger schoss nach oben. »Und ich glaube, dass du sie liebst«, schloss er, wobei Finger Nummer drei langsam in die Höhe ging.
»Meinst du nicht, dass es langsam Zeit wäre, ihr einen Verlobungsring zu kaufen?«, fragte Busch, der immer noch hinter der Bar stand.
Michael schaute auf und sah Paul an. »Warum sollte ich noch einmal heiraten?«
»Woher soll ich das wissen?«, erwiderte Busch in seinem typisch spöttischen Ton. »Vielleicht, weil du sie liebst, vielleicht, weil du Kinder haben willst … oder vielleicht, weil sie es will, Michael.«
»Ich war schon mal verheiratet, und wir wissen beide, was passiert ist.«
»Was soll das denn jetzt?« Busch klang ehrlich verwirrt. »Ich habe eigentlich immer gedacht, das wäre eine glückliche Zeit in deinem Leben gewesen.«
»Schon, aber sie ist zu Ende gegangen.«
»Das haben die glücklichen Zeiten so an sich«, gab Busch leise zurück.
Ein unbehagliches Schweigen machte sich breit.
»Schau«, meinte Michael schließlich, »glaub nicht, dass ich mir darüber nicht auch schon Gedanken gemacht hätte. Aber ich kann es nicht tun, noch nicht. Ich liebe sie, das muss im Moment reichen.«
Michael drehte sich wieder zu Simon. »Und du lass dir gesagt sein: dass KC und ich zusammen sind, liegt nicht daran, dass sie und ich die gleiche Vergangenheit haben.«
»Ich habe euch nicht miteinander bekannt gemacht, weil ihr die gleiche Vergangenheit habt«, protestierte Simon.
»Red doch keinen Sch–«
»He«, schnitt Busch ihm das Wort ab, während sein ein Meter fünfundneunzig langer Körper immer noch in dem schmalen Raum hinter der Bar eingepfercht war. »Es gehört sich nicht, in Anwesenheit eines Priesters zu fluchen.«
Simon sah ihn an und meinte mit einem Grinsen: »Das hat dich bis jetzt aber noch nie davon abgehalten.«
»Dich ja auch nicht«, entgegnete Busch und fuhr sich dabei mit den Händen durch die blonden Haare, sodass er plötzlich aussah wie ein zu lang geratener Surfer. »Mann Gottes. Ich nehme an, dass meine Fahrt gen Himmel später einmal einfacher wird als deine.«
»Solltest du nicht längst unten sein, um deinen Laden zu schließen?«, fragte Simon.
»Streitet ihr zwei euch wenigstens nicht so laut, während ich dichtmache«, erwiderte Busch mit einem Lachen. Dann schnappte er sich seine Bierflasche, ging zur Tür hinaus und die Treppe hinunter.
»Ach ja, Simon«, dröhnte seine Stimme dabei noch einmal nach oben, »versuch am besten gar nicht erst, Michael da in irgendwas reinzuziehen. Der Mann wird bald heiraten. Der muss am Leben bleiben, damit er seine zukünftige Gattin beglücken kann.«
»Darf ich dir wenigstens erzählen –«, fing Simon trotzdem an.
»Nein«, fiel Michael ihm ins Wort.
»Okay.« Er versenkte den letzten Ball, drehte sich um und lehnte sich mit dem Rücken gegen den Billardtisch. »Es ist in Italien, in einem Privathaus. Der Besitzer ist Rechtsanwalt.«
»Und schon kann ich ihn nicht leiden.«
»Du wirst ihn noch weniger leiden können, wenn ich dir den Rest erzähle. Er hat in Europa und Asien mit der Unterwelt Geschäfte gemacht und so ziemlich mit jeder Art Schmuggelware gehandelt: Waffen, Drogen, gestohlene Kunstwerke, was gerade gebraucht wurde. Er hatte keine Skrupel, wenn es darum ging, von wem er gekauft oder an wen er verkauft hat.
Vor zwanzig Jahren hat er dann ein neues Leben angefangen, hat zwei Töchter großgezogen und ist ein perfekter Familienvater geworden. Was in Wahrheit aber gar nicht gestimmt hat. Er hat seine Geschäfte nur vertuscht, Zwischenhänder benutzt und sich weiter mit Waffen und mit Kunst beschäftigt. Er wurde ein fanatischer Sammler von historischen Waffen, von Schwertern, Säbeln, ausgefallenen Pistolen und Revolvern, Dolchen und Katanas. Die meisten hat er den widerlichsten Leuten abgekauft und sie dann bei sich zu Hause versteckt.
Daneben hat er irgendwann angefangen, seltene Bücher zu sammeln, Seekarten, Manuskripte – Schriftstücke, die ihm Einblick in die Welt der Vergangenheit gegeben haben. Dann hieß es plötzlich, er hätte etwas außerordentlich Seltenes gefunden, etwas, das seine beiden Passionen in sich vereinigt.«
Simon hielt einen Moment inne.
»Und was?«, fragte Michael.
Simon lächelte, denn jetzt wusste er, dass er die Aufmerksamkeit seines Freundes geweckt hatte. »Irgendein Geheimnis, und er war bereit, es an den Meistbietenden zu verkaufen. Und dieser Meistbietende ist so gefährlich, wie ein Mensch nur sein kann. Der Anführer einer chinesischen Triade.«
»Seit wann interessiert sich die Kirche für die Machenschaften einer chinesischen Triade?«, fragte Michael halb im Scherz.
In all den Jahren, die Michael Simon jetzt kannte, hatte Simon nie eine Messe gelesen. Simon leitete das Vatikanische Geheimarchiv. Er war der Hüter der Mysterien der Kirche und ihrer Geheimnisse und ihrer Geschichte. Um die Kirche zu schützen, wandte er zuweilen Methoden an, die nicht mit dem Berufsbild eines Priesters in Einklang zu bringen waren, andererseits … selbst Gottes Gebote wurden manchmal gebrochen, um einem höheren Zweck zu dienen.
»Auch wenn es dir noch so schwerfällt, das zu begreifen«, sagte Simon, »liegt uns das Wohl aller Menschen am Herzen. Und ich weiß zufällig ein bisschen was über das, was dieser Mann da jetzt zum Kauf anbietet.«
»Und zwar?«
»Es handelt sich dabei um ein dreiseitiges Dokument und eine rote chinesische Geheimschatulle, die ungefähr so groß ist wie ein Ziegelstein und die zurzeit in einem kleinen Haus an der Amalfiküste aufbewahrt wird.«
»Was ist in der Geheimschatulle?«
Simon atmete tief ein und ließ die Luft dann ganz langsam wieder entweichen.
Michael hasste das. Es bedeutete fast immer, dass Simon nicht darüber sprechen konnte, dass die Sache aber todernst war. »Warum machst du es nicht?«
»Weil das nicht mein Job ist. Das ist dein Job.«
»Das war mal so.«
»Ich kenne dich, Michael. Den Geschäftsmann zu spielen und –«
»Zu spielen? Ich würde mal sagen, dass ich mehr geleistet habe, als nur ein bisschen zu spielen.«
»Zugegeben. Und du hast dir ein schönes und einträgliches Unternehmen aufgebaut. Aber das, wovon ich hier spreche, geht über Profite, Bilanzen und Gehaltsschecks hinaus.«
»Simon …«
»Du weißt genau, Michael, dass ich dich nicht fragen würde, wenn die Lage nicht ernst wäre.«
Und Michael verstand. Simon war einer der seriösesten Menschen, die er kannte. Wenn er in der Vergangenheit behauptet hatte, die Lage sei ernst, hatte das immer bedeutet, dass das Leben eines Menschen in Gefahr war, nicht nur dass irgendein politisches Pulverfass gleich in die Luft gehen würde oder dass irgendeine schwelende Kirchenangelegenheit die hohen Herren im Vatikan beunruhigte. Wenn Simon »ernst« sagte, meinte er das im wahrsten Sinne des Wortes.
»Ich kann dir nicht helfen«, sagte Michael schließlich. »Ich habe es KC versprochen.«
Simon nickte. »Das respektiere ich.« Er hob sein Bier, beugte sich vor und stieß mit Michael an.
»Danke«, erwiderte Michael.
»Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich KC bitten würde, es zu tun?« meinte Simon mit einem angedeuteten Lächeln.
»Simon«, rief Michael und hob die Hand.
»Ich mach doch nur Spaß«, sagte Simon, und aus dem angedeuteten Lächeln wurde ein breites Grinsen.
Ein paar Stunden später strich Michael mit dem Daumen über den elektronischen Sensor, steckte den Schlüssel ins Schloss und öffnete die dicke Metalltür des sechzig Zentimeter breiten Tresors, der in seiner Bibliothek hinter dem Schreibtisch stand. Der Safe war vollgestopft mit amtlichen Dokumenten – seinem Testament, der Eigentumsurkunde für sein Haus, dem Kraftfahrzeugbrief für seinen Wagen, einem halben Dutzend Verträgen –, einer noch nie benutzten Sig Sauer, die Busch ihm einmal geschenkt hatte und die immer noch in der Originalverpackung steckte, und einem Karteikasten für vertrauliche Firmenpapiere.
Er nahm ein paar Dokumente von seinem Schreibtisch und legte sie hinein. Es war schon nach Mitternacht gewesen, als er nach Hause gekommen war, doch statt schlafen zu gehen, hatte er beschlossen, ein Angebot fertigzuschreiben, dass er am nächsten Morgen mit ins Büro nehmen wollte. Auch wenn er es ungern zugab: Er war im Begriff, ein Workaholic zu werden.
Was als kleine Firma, die auf Überwachungsanlagen für Privathäuser spezialisiert war, angefangen hatte, war zu einem Unternehmen mit dreizehn vollzeitbeschäftigten Angestellten angewachsen, die nicht nur in diebstahlanfälligen Betrieben komplexe Sicherheitssysteme installierten, sondern auch bei gehobenen Privatkunden, die keine Kosten scheuten, um ihre wertvollsten Besitztümer zu schützen. Der einzige Kunde, für den Michael nicht arbeitete, war die Regierung. Die Tatsache, dass man ihn für ein schweres Verbrechen verurteilt hatte, machte es ihm unmöglich, für die amerikanische Regierung, für die Regierung irgendeines amerikanischen Bundesstaates oder auch nur für die örtlichen Behörden tätig zu werden. Ehrlich gesagt hatte er auch kein Bedürfnis, für irgendwelche Bürokraten zu arbeiten, die der Ansicht waren, am besten qualifiziert sei immer die Person, die das geringste Honorar verlangte.
Michael machte keinen Hehl daraus, dass er fast drei Jahre in Sing-Sing gesessen hatte, dem staatlichen Hochsicherheitsgefängnis in der New Yorker Kleinstadt Ossining. Es war das einzige Mal gewesen, dass man ihn verhaftet hatte. Man hatte ihn dabei erwischt, wie er aus einer Botschaft an der Upper East Side von Manhattan Diamanten stahl, die einem korrupten Botschafter gehörten. Er hatte seine Beute und seine Freiheit verloren, um eine Frau vor dem sicheren Tod zu bewahren. Mit dem Beutel voller Diamanten auf dem Rücken hatte Michael sich nach unten abgeseilt, als er aus den Augenwinkeln heraus eine Frau sah, die man gefesselt und geknebelt hatte und deren Kidnapper sich über sie beugte mit einem Messer in der Hand, auf dessen Klinge das Mondlicht funkelte. Da gab es für Michael nichts mehr zu überlegen.
Mit seiner Ehrlichkeit, was seine kriminelle Vergangenheit anging, machte er sich bei seinen Kunden eher beliebt als unbeliebt, denn wer kannte sich mit Überwachungssystemen besser aus als ein Mann, der wirklich wusste, wie man sie ausschalten konnte? Michaels Firma hatte sich von einem kleinen Alarmanlagenbetrieb zu einem Unternehmen mit Sitz in einer Lagerhalle von Byram Hills, New York, entwickelt.
Als er den Aktenordner in den Tresor legte, fiel sein Blick auf die kleine blaue Tiffany-Schachtel ganz hinten in einem Fach. Die stand schon seit Monaten dort, gleich neben seinem alten zerbeulten Ehering. Ein ganzes Jahr lang hatte er den goldenen Ring an einer Kette um den Hals getragen, ihn aber schließlich abgenommen, als er KC begegnete und sein trauerndes Herz zu heilen begann.
Er hatte den Brillantring bei Tiffany in der 57th Street in Manhattan gekauft. Jedes Mal wenn sie an dem Laden vorbeigegangen waren, hatte KC den Ring schweigend bewundert. Sie hatte nie davon geschwärmt und auch nie gefragt, ob sie ihn mal anprobieren dürfe. Sie sah ihn einfach immer nur an und versank dann eine Weile in Gedanken. Und das hatte Michael genügt.
Er erinnerte sich an Buschs Worte und an die Anspielungen, die Simon im Hinblick auf eine Heirat gemacht hatte. Es war nicht das erste Mal, dass seine Freunde die Sprache darauf gebracht hatten. Michael mochte es nicht, wenn man ihm sagte, was er zu tun hatte, oder wenn man ihn in die Ecke drängte. Er wusste, was für Gefühle er für KC hatte, und stellte sie nicht infrage. Doch als er auf seinen goldenen Ring schaute, dachte er plötzlich an Mary, an ihren Tod, an das, was sie seinetwegen alles hatte durchmachen müssen, und er dachte an die Seelenqualen, die er ertragen hatte, als er sie verlor, und an die Angst, einen solchen Verlust noch einmal erleben zu müssen. Er warf einen letzten Blick auf die blaue Schachtel, dann schloss er den Safe.
Es war schon weit nach Mitternacht, als Michael ins Bett kroch.
KC rollte sich auf die andere Seite und schaute aus ihren warmen grünen Augen zu ihm auf. Sie trug das rote Seidenoberteil, das Michael ihr letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte, und es war nicht zugeknöpft, und die langen blonden Haare hingen ihr ins Gesicht.
»Hallo«, flüsterte sie mit ihrem weichen britischen Akzent.
»Selber hallo«, flüsterte Michael lächelnd zurück.
Michael küsste sie zärtlich und strich ihr dabei mit der Hand über die Wange. Er schmiegte sich an sie, schlang die Arme um sie, hielt sie ganz fest, bis ihre Körper sich in einer vertrauten Stellung wiederfanden, sich aneinanderpressten und ihre Wärme teilten. Es brauchte keine weiteren Worte mehr; sie wussten auch so, was sie empfanden.
KC legte den Kopf in den Nacken und küsste Michael noch einmal. Und als er ihren Kuss erwiderte, begann die Leidenschaft zu lodern, Hingabe, die aus tiefster Seele strömte und die jeden Gedanken an Schlaf zunichtemachte.
Etwas mehr als ein Jahr war vergangen, seit Michael die Bekanntschaft von Katherine Colleen Ryan gemacht hatte – auf dem Basketballplatz, bei einem improvisierten Blind Date, das ihr gemeinsamer Freund Simon arrangiert hatte. Sie hätte ihn um Haaresbreite nicht nur besiegt, sondern geschlagen, was aber nicht nur auf ihre athletischen Fähigkeiten zurückzuführen war, sondern vor allem auf ihre langen schlanken Beine, die ihn so abgelenkt hatten. Einen Monat hatte ihre Beziehung gedauert. Dann war es zu einem Bruch gekommen, weil Michael dahinterkam, dass sie ebenfalls eine Diebin war, und er hatte sie aus den Fängen eines Mannes namens Iblis gerettet, der KC nicht nur angelernt und geschult hatte, sondern der auch besessen war von der Idee, sie zu besitzen, am Ende jedoch im Hochgebirge Indiens durch Michaels Hand den Tod fand.
Sie waren nach Byram Hills zurückgekehrt und hatten sich nicht nur ineinander verliebt. Sie waren auch Freunde geworden, die miteinander reden und einander zuhören konnten und Kraft schöpften aus den stillen Momenten, in denen es reichte, dass der andere einfach nur da war.
Jeden Abend lagen sie im Bett und unterhielten sich, wärmten einander in den zerwühlten Laken. Beide hatten sie den Tod geliebter Menschen verkraften müssen, sodass sie wussten, wie zerbrechlich und wie kostbar das Leben war. Sie vertrauten einander an, was sie in der Vergangenheit alles getan hatten, wobei es sich bei ihnen beiden um eine Vergangenheit handelte, die von Heldentaten geprägt war, die sich leicht außerhalb von Gesetz und Anstand bewegten. Beide waren sie Diebe, die ihre persönliche moralische Messlatte gefunden und Verbrechen begangen hatten, die in manchen Fällen einem höheren Zweck dienten.
Sie verbrachten ihre Wochenenden damit, sich sportliche Zweikämpfe zu liefern. Während KC besser Tennis spielte als er, war Michael ihr beim Golfen überlegen, aber richtig hitzig wurde der Konkurrenzkampf zwischen ihnen beim Basketball und beim Kajakfahren. Sie waren im Triathlon gegeneinander angetreten; er war der bessere Schwimmer, war ihr um Längen voraus, aber auf dem Fahrrad holte sie ihn nicht nur ein, sondern überholte ihn, sodass die letzte Disziplin, der 10 000-Meter-Lauf, vom Start bis zur Ziellinie zu einem Kopf-and-Kopf-Rennen ausartete, bei dem am Ende beiden die Zunge heraushing. Gleichgültig, um welche Sportart es sich handelte, und ganz egal, wie der Wettkampf ausging, eines stand fest: Sie waren beide am glücklichsten, wenn sie zusammen waren.
Ihre gelegentlichen Auseinandersetzungen waren dennoch heftig, weil sie beide Alpha-Typen waren. Im Allgemeinen wurden die Kräche durch irgendwelche Banalitäten ausgelöst, etwa weil sie vergessen hatte, Weißbrot zu kaufen, oder er geflissentlich zu übersehen schien, dass sich in der Küche die Abfalltüten stapelten, und sie endeten dann damit, dass Michael aus der Tür stürmte, um sich in der Innenstadt von Byram Hills in Buschs Bar wieder zu beruhigen. In der Regel dauerte der Streit einen Tag, manchmal zwei Tage, wurde dann aber jedes Mal beigelegt mit wortreichen Entschuldigungen, zärtlichen Umarmungen und unglaublichem Versöhnungssex.
Sie erzählten einander von den Verbrechen, die sie früher begangen hatten. Seltsamerweise wurde auch das zu einem Wettstreit, so als wollten sie einander auch dabei ausstechen: Michael hatte am helllichten Tag etwas aus dem Vatikan gestohlen, KC war im Louvre auf einen nächtlichen Raubzug gegangen, Michaels Abenteuer unter den Mauern des Kreml, KCs Bravourstück, als sie sich von einem afrikanischen Warlord ein gestohlenes Gemälde zurückgeholt hatte. Insgeheim hatten sie es geliebt, was sie früher getan hatten: Alarmanlagen und unerwartete Hindernisse zu überwinden, das Establishment auszutricksen und manchmal dabei die Befriedigung zu empfinden, begangenes Unrecht wieder in Recht zu verwandeln – nicht selten auf Bitten des Mannes, der sie am Ende miteinander bekannt gemacht hatte: Simon Bellatori.
Sie unterhielten sich über theoretische Diebstähle – im Weißen Haus, im Buckingham Palast, beim Britischen Auslandsgeheimdienst MI6 –, und ihre Herzen schlugen wie wild, wenn sie einander vor Augen führten, wie genial und findig sie waren, oder wenn sie den anderen auf dumme Fehler hinwiesen, die den theoretischen Plan zu einem wahnwitzigen Unterfangen machten.
Vor zwei Monaten, an einem warmen Herbsttag im September, waren sie dann gemeinsam nach Manhattan gefahren, um sich dort alles anzusehen, was die Touristen besichtigen, was Einheimische aber in der Regel meiden, es sei denn, man musste Verwandte herumführen, die auf Besuch waren.
Sie fuhren auf das Empire State Building, standen an der gleichen Stelle, an der Cary Grant und Deborah Kerr gestanden hatten, und blickten hinunter auf die riesige Stadt. Sie besichtigten die Freiheitsstatue, Ellis Island und den Central Park; zu Mittag aßen sie in Chinatown.
Zu guter Letzt standen sie vor dem Gebäude der Vereinten Nationen auf der East Side. Sie nahmen an einer Führung teil und schlurften hinter einer Gruppe von Touristen her, die durch die Generalversammlung und ein paar angrenzende Bereiche geleitet wurden. Während der ganzen Führung waren sie das Pärchen ganz hinten, das immerzu flüsterte und weder dem Tour Guide besondere Aufmerksamkeit schenkte noch der Umgebung – bis sie einen besonderen Ausstellungsraum betraten.
Sie schauten in eine Glasvitrine, in der Artefakte und Edelsteine ausgestellt waren, Schätze und Juwelen aus der ganzen Welt, die symbolisierten, was den unterschiedlichen Kulturen lieb und teuer war. Diamanten aus Afrika, Smaragde aus Südamerika, Rubine und Saphire aus Indien, Gold aus Alaska, und in einer Ecke lag etwas, was sich krass vom Glanz der anderen Teile unterschied: ein kleiner schwarzer geschliffener Stein von einer Insel im Pazifik. Michael schaute darauf und musste daran denken, dass das, was für einen Menschen eine Kostbarkeit war, für einen anderen nichts weiter war als ein Stückchen Fels. Was der eine an einem Partner verführerisch fand, konnte ein anderer als bedrohlich empfinden. Der Wert eines Gegenstandes – oder der eines Menschen – war nur eine Frage der Perspektive.
»Weißt du«, meinte Michael, während er den Blick durch den Raum schweifen ließ, »die haben hier ein ziemlich straffes Sicherheitssystem.«
KC grinste. »Willst du mir damit etwa das sagen, was ich vermute?«
»Findest du denn nicht, dass das hier ein romantisches Plätzchen für einen Heiratsantrag wäre?«, gab Michael grinsend zurück.
KC lachte, obwohl seine Antwort sie eher peinlich berührte. »Ich wollte damit nicht sagen …«
Michael nahm sie in die Arme und schaute auf die Auslage mit den Juwelen. »Ich würde das alles für dich stehlen.«
»Wirklich? Ich hatte eigentlich etwas Schlichteres im Sinn«, meinte KC. »Außerdem muss ich das echt nicht haben, dass man dich schnappt. Ehegattenbesuche im Gefängnis sind auch mit Beischlafgenehmigung nicht so prickelnd.«
»Dass man mich schnappt?«, lachte Michael. »Die würden nicht einmal mitbekommen, dass ich hier war.«
»Wirklich? Und wie würdest du das anstellen?«, fragte KC, griff nach Michaels Hand und zog ihn Richtung Ausgang.
»Ich könnte eine Vorrichtung bauen, mit der man –«
»Bauen? Du braucht doch nicht immer gleich was zu bauen. Was haben die Männer bloß immer mit ihren Handwerksköfferchen?«
»Ach ja? Und wie würdest du es machen?«
KC lächelte und ließ sich einen Moment Zeit, bevor sie antwortete. »Ich würde nur ein Taschenmesser brauchen«, sagte sie dann. »Und ein paar flache Schuhe und die Waffen einer Frau.«
Eine Woche später waren sie wieder in der Stadt. Michael ging mit KC zum Mittagessen ins Smith and Wollensky und machte anschließend einen Bummel mit ihr über die First Avenue, sodass sie wieder zum Gebäude der Vereinten Nationen kamen, mit dem farbenprächtigen Aufgebot an internationalen Flaggen, die im Wind flatterten.
»Michael?«, fragte KC misstrauisch. »Warum sind wir schon wieder hier?«
Michael lächelte nur und führte sie zum Touristeneingang, bezahlte den Eintritt und schloss sich mit ihr einer Führung an. Von dem, was der Tour Guide erzählte, hörten sie auch dieses Mal kein einziges Wort. Sie hielten sich hinter dem Grüppchen, und KC drängte Michael unablässig, ihr zu sagen, was los sei, doch er sagte kein Wort, bis sie wieder zu der Glasvitrine mit den Juwelen kamen.
Michael schaute KC an, griff in seine Jackentasche und zog eine kleine Schachtel mit einem weißen Band darum herum heraus. Er legte sie in KCs Hand.
»Das darf doch nicht wahr sein«, hauchte KC.
Michael legte seine Hand auf ihre.
»Ist das etwa –?« KC sprach nicht weiter und schaute auf die Juwelenauslage vor ihnen.
»Es ist kein Ring«, sagte Michael leise, und dabei schwang ein Hauch von Bedauern in seiner Stimme mit. »Du musst verstehen, dass –«
KC legte die Finger auf seine Lippen. »Ich weiß.«
»Aber weißt du auch, dass ich alles für dich tun würde?«
»Michael, sag mir bitte, dass du diesem Ort hier keinen nächtlichen Besuch abgestattet hast? Wenn man dich dabei erwischt hätte –«
»Hat man aber nicht.« Michael sah sie mit festem Blick an. »Sie wissen nicht einmal, dass es fehlt. Niemand achtet auf diesen kleinen schwarzen Stein. Manchen Leuten bedeutet er überhaupt nichts, für die Menschen auf dieser Insel im Pazifik bedeutet er Wohlstand, aber für mich ist er gleichbedeutend mit dir.«
»Ach, wie reizend von dir«, erwiderte KC mit spöttischem Unterton. »Und er bedeutete eine Herausforderung. Wolltest du mir gegenüber auf den Putz hauen?«
»Du hast doch nicht einmal mitbekommen, dass ich das Haus verlassen habe.«
»Wann?«
»Am Montag. Da hast du schon tief und fest geschlafen.«
»Ich war müde«, gab KC zurück. »Hast du dir eins von deinen verrückten Teilen gebastelt, um hier hineinzukommen?«
Michael nickte und schaute auf die kleine Schachtel. »Ich hatte das die ganze Woche hinten in meiner Sockenschublade versteckt.«
»Wirklich?«, meinte KC.
»Ich habe dir doch gesagt, dass ich es schaffe.«
»Ich kann nur nicht fassen, dass du es getan hast – irgendwie blödsinnig, so ein Risiko einzugehen.« Im nächsten Moment forderte sie ihn heraus: »Ich hätte das Ganze mit mehr Stil durchgeführt.«
»Tatsächlich?«
KC zog das Geschenkband von der kleinen Schmuckschachtel, und mit einem Lächeln auf den Lippen blickte sie zu Michael hoch. Im nächsten Moment hob sie den Deckel, schaute in die Schachtel und stellte fest, dass sie leer war.
Wieder blickte sie zu Michael und sah, dass sein Gesicht auf einmal einen verwirrten Ausdruck annahm. Er nahm ihr die Schachtel aus der Hand und starrte hinein. Eine kleine Ewigkeit verging, während die Gedanken in seinem Hirn nur so rasten. Und dann lächelte KC plötzlich, ein wissendes Lächeln. Sie griff nach seiner Hand und führte ihn zu der Vitrine.
Und da drinnen, in der Ecke, neben all den kostbaren Juwelen, lag der kleine schwarze Stein, als wäre er niemals weg gewesen.
»Donnerstagnacht«, flüsterte KC. »Du hast schon tief und fest geschlafen.«
Einen Moment lang starrte Michael sie an, dann lachte er auf. »Ich war müde.«
Auf dem Weg zur Grand Central Station, von wo sie den Zug zurück nach Hause nehmen wollten, wurde ihre Unterhaltung ernst, denn plötzlich ging ihnen beiden auf, wie dumm sie gewesen waren.
»Weißt du, eine Minute oder so, als ich die Schmuckschachtel gesehen habe …«, flüsterte KC.
»Ich weiß«, erwiderte Michael. »Es tut mir leid.«
»Schon okay, aber eins musst du mir versprechen.«
»Natürlich.«
»Hör auf damit, mir gegenüber auf den Putz zu hauen. Wir dürfen nicht so dumm sein.«
»Dann werden wir das geloben«, erwiderte Michael. »Es uns geloben.«
KC sah Michael tief in die Augen. »Einverstanden.«
»Also, jetzt bin ich wieder wach«, erklärte KC mit gespielter Verärgerung in der Stimme, nachdem sie einander geliebt hatten.
»Na, das tut mir aber leid«, entschuldigte Michael sich mit einem Grinsen.
»Wie geht es Paul?«
»Gut. Die Giants haben gewonnen.«
KC nickte. »Dann brauchen wir uns die nächste Woche wenigstens nicht anzuhören, wie sie besser hätten spielen können.«
»Simon ist in der Stadt.«
»Wirklich? Ich wusste nicht, dass er kommen wollte. Wie lange bleibt er?«
»Ein paar Tage.«
Abrupt setzte KC sich auf. »Was will er?«
Michael starrte sie an, bastelte sich seine Antwort zurecht, denn er wusste, dass er die ganz präzise formulieren musste; sein Gesicht war ein Wahrheitsbarometer, das KC sogar im dunklen Schlafzimmer lesen konnte. »Er wollte mich nur kurz sehen und hatte ein paar Fragen, die mit meiner Firma zu tun hatten.«
KC griff nach oben und schaltete das Licht ein. Michael setzte sich ebenfalls auf und starrte sie an. Er hatte es von Anfang an geliebt, wie ihr die langen blonden Haare nach dem Sex ins Gesicht fielen.
»Versuch es gar nicht erst«, meinte KC.
»Tu ich nicht …«, gab Michael lachend zurück.
»Was will er wirklich?«
Eine Weile sah Michael sie mit festem Blick an, dann gab er nach. Er erzählte ihr, dass Simon ihn um einen einfachen Diebstahl gebeten hatte, bei dem aus einem Privathaus in Italien ein Briefumschlag mit einem dreiseitigen Dokument entwendet werden sollte und eine Geheimschatulle.«
»Aber du hast ihn abblitzen lassen, oder?«
»Natürlich habe ich abgelehnt.«
»Michael, wir haben uns etwas gelobt. Wir haben uns geeinigt –«
»Das stimmt. Wir haben uns geeinigt«, wiederholte Michael und sah ihr fest in die Augen. »Sollte er also an dich herantreten – ich habe ihm gesagt, dass er sich bloß nicht einfallen lassen soll, dich zu fragen, aber ich weiß, dass er es trotzdem tun wird –, bist du gut beraten, ihm die gleiche Antwort zu geben.«
»Glaubst du etwa, ich –«
»KC, ich kenne dich doch, und verzeih mir bitte, wenn ich das sage, aber ich wäre nicht überrascht, wenn du abzischen und die Sache hinter meinem Rücken eben durchziehen würdest.«
KC lächelte ihr Sie-sind-ein-freier-Mann-Lächeln, dem Michael nie widerstehen konnte. Doch er hatte nicht vor, zuzusehen, wie sie sich in Gefahr begab.
»KC …«
»Ich habe dir etwas gelobt, Michael, ich habe dir mein Wort gegeben«, sagte KC und küsste ihn sanft auf die Lippen.
Italien
Michael rannte die Treppe in dem Schloss hinauf, während sich der Anblick der drei Frauen und des Kindes, der Anblick ihrer enthaupteten Körper, in sein Hirn brannte. Er raste durch den Flur im zweiten Stock und zurück in das Arbeitszimmer. Er öffnete den Barschrank, griff mit der Hand in den Tresor und schnappte sich die Sig Sauer. Er warf das Magazin aus, überprüfte, wie viele Kugeln noch darin waren, und steckte sie in seinen Hosenbund. Dann rannte er zum Fenster. Er hob das zweite Seil vom Boden auf, schlang es um den dicken Knauf der Schranktür und warf die ganzen siebzig Meter Seil aus dem Fenster. Er machte sich daran fest und sprang aus dem Fenster, ließ sich an der Seitenfassade des Schlosses hinunter, wobei sein Blick hin und her jagte zwischen dem Meer unter ihm und den sechs Männern am Kai, die den alten Mann in das Begleitboot gestoßen hatten und gerade ablegten.
Michael schwang sich an den Steinmauern des Schlosses und an der Klippenwand hinunter, seine Hände brannten von der Reibung des Seils, und seine Füße stießen immer wieder gegen den schroffen Fels. Tiefer und tiefer stürzte er. Als er das Wasser fast erreicht hatte, verlangsamte er seine Fallgeschwindigkeit und stoppte den Fall. Der Kai befand sich fünfundzwanzig Meter links von ihm.
Michael lehnte sich nach hinten, stemmte sich mit den Füßen gegen die Wand, hielt sich fast in der Waagrechten und begann dann, sich Richtung Kai an der Wand entlangzutippen. Es war ein bizarrer Anblick, wie er sich da über die Felswand arbeitete, sich mit kraxelnden Fußbewegungen langsam aufwärtsplagte, bis er keinen Zentimeter mehr weiter kam. Er drehte sich und fing an, in die andere Richtung zu rennen, wobei sein Schwung durch die Abwärtsbewegung größer wurde. So rannte er nach rechts über die Wand, bis die Schwerkraft ihn einmal mehr ausbremste. Er wechselte die Richtung, und dieses Mal rannte er mit größerer Geschwindigkeit, wurde immer schneller bei seinem Sprint über die Felswand, und als er dieses Mal den größten Schwung hatte, löste er sich von seinem Gurtzeug und ließ sich in die stürmische Brandung fallen, die fünf Meter unter ihm toste.
Er stürzte in das eisige Wasser und schwamm so schnell er konnte gegen die Strömung und gegen die Wellen, entschlossen, sich nicht gegen die Felsen schmettern zu lassen. Bis zum Kai waren es nur fünfzehn Meter, doch waren es gefühlte anderthalb Kilometer, die er durch das Meer schwimmen musste. Endlich erreichte er die Kaimauer und zog sich daran hoch aus dem Wasser. Ohne auch nur eine Sekunde stehen zu bleiben, sprang er in das Boot. Er dankte Gott; da das hier eine private Anlegestelle war, steckte der Schlüssel im Zündschloss. Er drehte ihn und drückte auf Start. Der Motor stotterte und hustete und starb fast ab, doch dann kam plötzlich Leben hinein, und er begann zu singen.
Michael blickte über das Wasser und sah, dass das andere Begleitboot nicht auf das Boot zusteuerte, das die Männer zum Schloss gebracht hatte, sondern auf die Luxusjacht, und die hatte es fast schon erreicht.
Michael drehte sein Boot Richtung Meer und drückte den Gashebel bis zum Anschlag durch. Das Boot jagte über die Wogen, schoss mit dem Bug hoch und schlug im nächsten Moment hart auf der nächsten Welle auf. Es war wie eine Skiabfahrt über eine buckelige Piste, und seine Knochen wurden bei jeder Welle durchgeschüttelt. Michael hatte nicht die leiseste Ahnung, was er tun sollte. Er wusste, dass die Männer den Umschlag und die Geheimschatulle aus dem Tresor genommen hatten, aber sie hatten außerdem den Mann entführt und seine Familie ermordet.
Als er wieder aufblickte, zogen die sechs Männer den alten Mann auf seine Jacht, und Michael erkannte, dass sie, wenn sie gefunden hätten, was sie suchten, jetzt schon verschwunden wären und den Mann zusammen mit den vier anderen Menschen getötet hätten. Als er sich der Jacht weiter näherte, beleuchtete deren Achterlicht das tosende Meer und den Namen, der in großen goldenen Buchstaben auf das Heck der Jacht gemalt war: Gentlemen’s Den … Und Michael verstand.
Als er der Sunseeker nah genug war, schaltete Michael den Motor ab und ließ sich vom Schwung seines Bootes zum Rand der Jacht tragen. Er ließ sich ins Wasser gleiten und schwamm um das Heck der Jacht herum, wobei ihn die hohen Wellen auf und nieder warfen. Das Begleitboot der Kidnapper war an der Backbordseite festgemacht, und die Fender des Bootes quietschten, als sie gegen das größere Boot getrieben wurden.
Michael bekam die auf und ab wogende Jacht zu fassen und kletterte langsam auf die Schwimmplattform. Er schaute sich um. Die Jacht war viel größer, als Michael vom Ufer aus gedacht hatte. Mit drei Zwischendecks über dem Wasser war sie fast zehn Meter hoch und im wahrsten Sinne des Wortes eine Meeresvilla. Den glänzenden weißen Rumpf zierten Messingarmaturen und Teakholzgeländer, und sie trotzte den wogenden Wellen wesentlich besser als das schwächliche Bötchen, das ihn hergebracht hatte.
Er stieg drei Stufen hinauf, hielt sich im Dunkeln und spähte in den Hauptsalon, einen luxuriösen Wohnraum, der ganz mit weißen Möbeln eingerichtet war – die Sofas, die Sessel und die Lederstühle, sogar der große Flügel in der Ecke war weiß. Die schweren schalldichten Glastüren waren fest zugezogen.
Der alte Mann war in der Mitte des Raums auf einem Stuhl festgebunden, und sein Gesicht war voller Blut und tränenüberströmt, aus seinen Augen schrie der Schmerz. Fünf Männer standen im Raum, und der Mann, der hier offenbar das Sagen hatte, hockte vor dem Gefangenen auf dem Boden. Er hatte sich die dunklen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der über die maßgeschneiderte Anzugjacke fiel.
Drei der Männer hatten eine Pistole in der Hand, während der vierte eine edel glänzende Schwertscheide hielt, aus der ein schwarzer Lederknauf ragte. Das Gesicht des Anführers konnte Michael zwar nicht sehen, wohl aber die Gesichter der anderen, und deshalb gab es für ihn keinen Zweifel, dass er eine Gruppe der asiatischen Mafia vor sich hatte: Yakuza, Triade, Tong oder Bangkok-Mafia.
Als Michael sich den Mann mit dem Pferdeschwanz genauer ansah, wusste er, dass er es gewesen war, der die Familie des alten Mannes auf dem Stuhl ermordet hatte, und dass er, sobald er das hatte, weswegen er hergekommen war, dasselbe Schwert bei diesem Mann zum Einsatz bringen würde. Der alte Mann wehrte sich gegen seine Fesseln, riss mit den Armen an dem Seil, obwohl das völlig sinnlos war. Seine von Höllenqualen gezeichneten Gesichtszüge und die Tränen in seinen Augen wurden nicht von den körperlichen Schmerzen verursacht, sondern von der Brutalität, mit der man sein Herz gefoltert hatte.
Der Mann mit dem Pferdeschwanz hielt eine dunkelrot lackierte Schatulle hoch und wog sie in den Händen. Einen Moment lang erhaschte Michael einen Blick auf einen furchterregenden Drachen, der mit einem Tiger kämpfte, ein Symbol, das in den Deckel geschnitzt war, und erkannte damit den Gegenstand, von dem Simon unbedingt gewollt hatte, dass er ihn stahl. Der Mann mit dem Pferdeschwanz hielt dem alten Mann die Schatulle vor die Nase und brüllte dabei etwas in einer Sprache, die Michael nicht verstand.
Michael hatte das Gesicht des Anführers immer noch nicht gesehen. Er verhörte den alten Mann, und dabei sprachen sein Körper und seine Hände mit, unterstrichen auf subtile Weise seine Forderungen. Der Mann mit dem Pferdeschwanz hatte Selbstvertrauen; davon zeugte nicht nur seine Körpersprache, sondern überhaupt alles, was er tat; er strahlte Überlegenheit aus und peinliche Genauigkeit. Plötzlich ließ er die Schatulle auf den Boden fallen, trat mit voller Wucht darauf und brach sie damit auf. Er hob sie vom Boden auf und hielt sie dem alten Mann vor die Nase, damit er sehen konnte, dass sie leer war.
Der Mann mit dem Pferdeschwanz zog sein Jackett aus, warf es auf einen Stuhl, dann knöpfte er sein weißes Hemd auf. Er zog ein Feuerzeug aus der Hosentasche und zündete die Flamme, sodass sie über dem silbernen Gehäuse tanzte. Und mit einem einzigen kraftvollen Griff packte er die linke Hand des alten Mannes, riss sie zu sich hin und hielt die Flamme an seine Handfläche.
Das Gesicht des alten Mannes versteinerte, wurde hart wie Granit. Mit festem Blick starrte er seinem Folterer in die Augen, lieferte ihm einen Wettstreit, wer von ihnen beiden den stärkeren Willen hatte, während seine Handfläche allmählich schwarz wurde und Rauch aufzusteigen begann. Und der Mann mit dem Pferdeschwanz grinste. Er zog das Feuerzeug weg und steckte es wieder in seine Hosentasche, holte dann eine schwarze Schatulle heraus, die so ähnlich aussah wie die rote. In den Deckel war ein Motiv geschnitzt, das einen Drachen im Kampf mit einem rasenden Tiger zeigte. Er hielt sie dem Mann hin und flüsterte ihm dabei etwas ins Ohr.
Und Michael sah, wie Angst die Züge des alten Mannes verzerrte, eine Qual, die größer war als die Flamme auf seiner Haut … und schließlich schrie der alte Mann.
Michael wandte den Blick ab und kletterte die Hintertreppe hinauf, hielt sich geduckt in der Dunkelheit. Rasch erreichte er das zweite Zwischendeck, das längst nicht so luxuriös ausgestattet war. Hier gab es eine große Bar aus Teakholz, ein paar schwere Polstersofas, und an der hinteren Rückwand hing ein Flachbildfernseher. Der hintere Teil dieses Bereichs war ein Außendeck mit Liegestühlen, und in der Ecke lagen Handtücher. Man hatte bei diesem Luxusschiffchen keine Kosten gescheut.
Michael hielt sich weiterhin im Dunkeln und sah sich um, bis er plötzlich am anderen Ende des Raums eine seltsame Gestalt erblickte. Als Michaels Augen sich an die veränderten Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, sah er, dass die Tür zum Ruderhaus offen stand, und das Licht der Navigationsinstrumente warf einen schimmernden Glanz auf die Brücke des Schiffes, und ihm wurde bewusst … wieder schaute er auf die Gestalt und erkannte in ihr die zusammengesackte Leiche des Schiffskapitäns.
Auf einmal entdeckte Michael auf der Backbordseite etwa dreihundert Meter hinter dem Bug ein Licht. Es steuerte auf die Jacht zu. Er wusste nicht, ob das ein Zufall war oder etwas Schlimmeres, doch hatte er nicht vor, abzuwarten, bis sich das herausstellte.
Michael rannte zur Bar und versteckte sich dahinter. Er ließ den Blick schweifen, sah auf die Schnapsflaschen, die in Lederhüllen steckten, auf die gesicherten Gläser, den vollen Weinkühler. Er wusste, dass es hier irgendwo sein musste. Schließlich schaute er auf die Eismaschine; er sah die breiten Fugen, die etwas schief waren und damit einfach nicht zu den anderen Dingen auf diesem Schiff passten, die alle so perfekt waren.
Er zog die Eismaschine heraus, und dahinter verbarg sich ein weiterer Helix-09-Tresor. Der war auf dem Kostenvoranschlag vermerkt gewesen: Einer war für das Arbeitszimmer gewesen, der andere für die Gentlemen’s Den – der Name der Jacht, auf der Michael sich zurzeit befand.
Er kannte den Bypass-Code, den Code, den man eingab, wenn man die Kombination vergessen hatte und an seine Wertgegenstände kommen wollte.
Michael tippte die Nummern in die Tastatur ein und zog die Tür auf. Er griff in den Tresor und nahm eine dünne Aktenmappe heraus. Als er sie aufschlug, fand er eine dreiseitige Fotokopie, doch als er sich den Briefkopf genauer ansehen wollte, stellte er fest, dass er das Ganze nicht entziffern konnte. Es waren asiatische Schriftzeichen, chinesische, wie er annahm.
Nachdem er die Aktenmappe unter sein nasses Hemd gesteckt hatte, richtete Michael sich auf und hörte im gleichen Moment einen Schritt hinter sich. Ohne zu zögern, warf er sich nach rechts, und im selben Augenblick wurde die Kugel abgefeuert. Michael suchte Deckung hinter der schweren Bar aus Teakholz, zog die Sig Sauer aus seinem Hosenbund und spähte um die Ecke, wo er einen Mann auf dem Boden kauern sah, der seine Waffe mit beiden Händen hielt und versuchte, ihn ins Visier zu bekommen.
Michael zielte und drückte ab. Der Mann fiel nach hinten; die Kugel hatte ihn in Herzhöhe in die Brust getroffen. Dass Michael Pistolen hasste, hieß noch lange nicht, dass er nicht damit umzugehen wusste. Dafür hatte Simon vor Jahren gesorgt.
Michael stand auf, und im gleichen Moment fiel plötzlich das Licht eines Scheinwerfers durch das Backbordfenster herein. Er duckte sich, um nicht gesehen zu werden, und hörte, dass unten plötzlich hektischer Tumult herrschte. Noch bevor er sich bewegen konnte, brach ein Feuersturm aus. Ein Kugelhagel prasselte gegen die Seite des Schiffes. Michael hörte, wie die Männer unten das Feuer erwiderten.
Die Fenster wurden herausgeschossen, und als das zweite Zwischendeck angegriffen wurde, flogen Michael die Kugeln nur so um den Kopf. Die Lampen im Salon und auf den oberen Decks wurden zerschossen, sodass der Raum plötzlich in völliger Dunkelheit lag.
Das Krachen von Flinten, Gewehren und Pistolen donnerte durch die Nachtluft. Michael hörte die stampfenden Schritte der Leute, die an Bord gekommen waren, hörte sie rufen und befehlen, während der koordinierte Angriff weiterging. Er hörte platschende Geräusche, als wenn Körper ins Wasser geworfen würden, und die dumpfen Schläge, die vom unteren Deck nach oben drangen, wenn Leute zu Boden stürzten.
Ein gewaltiges Getöse übertönte plötzlich die Kakophonie von Geräuschen, eine Explosion, die sich nicht allzu weit weg ereignete, denn der orangefarbene Glanz der Flammen flackerte durch die Fensteröffnungen. Michael konnte sehen, wie die Jacht des Mannes mit dem Pferdeschwanz, die Jacht, auf der die sechs Männer angekommen waren, vom Meer verschlungen wurde und wie das Schiff so rasch unter der Wasseroberfläche verschwand, dass die Flammen verzischten.
Als Michael sich umdrehte, sah er, dass das kleine Beiboot von der Backbordseite wegschaukelte. Es war niemand an Bord, doch alle Lampen leuchteten, und der Motor tuckerte im Leerlauf.
Und dann war es plötzlich totenstill. Michael hielt den Atem an und horchte. Er hörte die Schritte eines einzelnen Menschen. Er kroch durch den Salon zu der Leiche des Mannes, den er getötet hatte, zog ihm die Pistole aus der Hand und steckte sie sich als zusätzliche Waffe in den Hosenbund. Dann kroch er weiter, vorbei an dem toten Kapitän des Schiffes, auf dessen Stirn ein Einschussloch prangte, direkt über seinen glasigen Augen. Er erreichte die Treppe und lauschte, schlich sich langsam hinunter auf das erste Zwischendeck. Es war dunkel, denn die Lampen waren zerschossen worden, aber dennoch konnte Michael das Blutbad deutlich sehen.
Überall lagen Leichen. Der alte Mann hing vornübergebeugt auf dem Stuhl. Sein Oberkörper war von Schusswunden durchsiebt; er hatte in der Falle gesessen und war das Opfer des Kreuzfeuers geworden. Der Mann mit dem Pferdeschwanz war als Silhouette erkennbar, wie er da hockte, bereit, jederzeit zuzuschlagen. Mit der linken Hand umklammerte er seine Pistole und schwenkte sie durch den Raum, während er in der rechten Hand das gezogene Schwert hielt, auf dessen geschliffenen Kanten sich immer wieder das Licht brach.
Ein Stöhnen entrang sich den blutigen Lippen des alten Mannes.
»Nicht«, sprach eine tiefe, gebieterische Stimme, die überraschenderweise amerikanisch klang. Michael warf einen kurzen Blick auf den Mann: Er stand im Schatten der zerborstenen Tür, hatte einen schwarzen Tarnanzug an und trug eine dunkle Kappe auf den kurz geschorenen schwarzen Haaren. Er packte seine Pistole mit beiden Händen und hielt den Blick fest auf sein Ziel gerichtet; und daran, dass er zielen konnte, bestand nicht der geringste Zweifel. Neben ihm standen zwei weitere Mitglieder der Kommandotruppe mit einer Maschinenpistole, die Gesichter mit schwarzer Farbe bemalt.
Der heimtückische Mörder ließ sein Schwert sinken und ließ die Pistole auf den Boden fallen. Doch im nächsten Moment drehte er sich mit unvorstellbarer Geschwindigkeit um, packte das Schwert mit der anderen Hand und stieß es dem alten Mann hinein. Die Klinge glitt so leicht durch den Körper des Mannes, als würde sie durch Wasser dringen. Und genauso schnell wurde sie wieder herausgezogen, mit dem nassen Geräusch des Todes.
Die beiden Männer der Kommandotruppe rückten mit erhobener Waffe vor, den Finger am Abzug. Daraufhin ließ der Mann mit dem Pferdeschwanz das Schwert sinken und senkte den Kopf und gab sich geschlagen.
»Lass das Schwert fallen«, sagte der erste Kommandosoldat und ging dabei in der Dunkelheit um den Mann herum. Er stellte sich hinter den Mann, während seine Partner sich vor ihn stellten und mit der Pistole auf ihn zielten.
»Lass das –«, doch der Kommandosoldat konnte den Satz nicht mehr zu Ende bringen.
In einer einzigen fließenden Bewegung sprang der Mann mit dem Pferdeschwanz in die Hocke, drehte sich wie ein Derwisch, das Schwert ausgestreckt, und schnitt mit der Klinge dem ersten Kommandosoldaten die Kehle durch, dann drehte er sich noch einmal, noch schneller, und schnitt auch dem zweiten Mann die Kehle durch, streckte sie nieder, bevor sie reagieren konnten.
Und dann knallte ein Schuss.
Der Mann mit dem Pferdeschwanz taumelte von der Schlagkraft der Kugel nach hinten, fiel über einen Polsterhocker und stürzte zu Boden. Der Amerikaner mit der tiefen gebieterischen Stimme trat zu ihm hin, die Waffe schussbereit in der Hand. »Du stirbst noch nicht.«
»Aber du, und zwar bald«, flüsterte der Mann mit dem Pferdeschwanz. »Und du kannst nichts dagegen tun.«
»Was hast du getan?«, fragte der Amerikaner.
»Du wirst sterben«, erwiderte der Mann mit dem Pferdeschwanz. »Du hast vielleicht die Waffe in der Hand, aber ich bin hier derjenige, der töten wird, und eins musst du dir klar machen: Du wirst nicht der Einzige bleiben, der stirbt.«
»Wo ist das Dokument? Die Seiten …?« Der Amerikanerklang verzweifelt. »Wo ist die Schatulle?«
»Du bist der Letzte, dem ich das verraten würde.«
»Wenn sie an die Öffentlichkeit kommen, wenn irgendjemand erfährt –« Der Mann sprach nicht weiter. Er zog eine schwarze Kapuze aus seiner Hosentasche und warf sie dem Mörder zu. »Zieh dir das über den Kopf.«
Der Mörder hielt die Kapuze hoch und begutachtete sie.
»Ich sollte dich auf der Stelle erschießen und diesem Wahnsinn ein Ende machen.«
Der Mörder grinste und zog sich die Kapuze über den Kopf. »Eins muss dir klar sein. Du bildest dir vielleicht ein, dass du das Ganze hier unter Kontrolle hast, aber das stimmt nicht. Wenn ich sterbe, stirbst du auch.«
Der Mann zog ein paar Kabelbinder aus der Hosentasche und stellte sich hinter seinen Gefangenen. »Das werden wir ja sehen.«
Da das Schiff nun wieder einen Kapitän zu haben schien, lief Michael über die Treppe weiter nach unten und achtete darauf, dass er nicht gesehen wurde. Er gelangte unter Deck, wo es viele Schlafräume gab. Er ging daran vorbei Richtung Heck. Dort öffnete er eine Tür und betrat den Maschinenraum, wo zwei gewaltige Motoren unter roten Nachtlichtern glänzten. Michael bewegte sich gerade auf die Hintertür zu, als er sie sah. Sie waren groß und plump, dicke Klumpen C4, und der Sprengsatz war mit einem Funksender verbunden.