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Myriam ist ein zwölfjähriges Mädchen, das, all ihrer Erinnerungen beraubt, im Wald ausgesetzt wird. Allein auf ihr Herz vertrauend, eröffnet sich ihr eine Welt mit Wesen, die nur in Mythen und Legenden Erwähnung finden. Eine Welt, in der jedes Leben seine Berechtigung und Aufgabe hat. Mit ihren neuen Freunden macht sie sich auf die Suche nach sich Selbst und ihrer Aufgabe.
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Seitenzahl: 329
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Zuerst möchte ich mich bei meiner Frau und meinen Kindern
bedanken, für ihre Geduld und Unterstützung.
Bei Astrid Kieltsch für ihre Zuversicht und Motivation, ohne die
dieses Buch nie entstanden wäre.
Bei Cornelia und Udo Wolf fürs Probelesen, für die Ideen und
Vorschläge.
Bei Susanne Redmann, die mir das Self-Publishing nahegelegt
und mich bei diesem Prozess unterstützt hat.
Vorgeschichte
Eine schwere Entscheidung
Neue Freunde
Eine unerwartete Begegnung
Eine unverhoffte Wandlung
Der Schmerz der Vergangenheit
Das Wesen des Feuers
Vertrauen
Wege der Vorsehung
Unerwartete Hilfe
Wie eine nicht aufzuhaltende Flut, wälzte sich das Band von Fackellichtern über die große Wiese. Hundegebell brach sich an den Hängen des Berges Zyprion.
In ihrem Traum schwebte Eria oberhalb der Bäume, die den Anstieg zum Berg markieren. Bis zu dessen Fuß reichte der Grünstreifen. Ihr Blick schärfte sich. Nun konnte sie die dunklen Schatten erkennen, die dort lauerten. Lunaren, oder Mondwölfe wie die Menschen sie nannten.
Mit einer Schulterhöhe die der Körpergröße eines ausgewachsenen Mannes entspricht und einer Körperlänge von mehr als drei Metern, mit gelben Augen, warteten sie im Dunkel des Waldrandes. Kuriere rannten herum, um die Befehle des Lunaren Königs Cyferin zu übermitteln.
Der volle Mond verbarg sich hinter Wolken. Geradeso, als weigere er sich mit anzusehen, was in dieser Nacht bevorstand. Sobald der Wolkenvorhang aufriss, blitzte es dort, wo das Mondlicht auf die wartenden Leiber traf, silbern auf, nur um im nächsten Augenblick wieder zu verblassen.
Das war sie, die 'Dorenga Varta', die ‚Horde der Freiheitskrieger’! Wenn auch fast neunhundert Köpfe stark, so war es doch ein kläglicher Rest, der einst mehrere tausend Kämpfer zählenden Horde. Angeführt von König Cyferin, angetreten zur großen Schlacht. Diese würde über Leben oder Untergang ihrer Art entscheiden.
Die Menschen hatten fast den Waldrand erreicht. Ein Aufgebot von Soldaten und Bauern. Alle Städte schickten ihre Armeen und angeheuerten Söldner. Diesem Heer schlossen sich die Bauern bereitwillig an. Deren Kommandant schrie einen Befehl. In breit gefächerter Front nahmen die Männer gegenüber des Waldrandes Aufstellung.
Die Soldaten, mit schweren Speeren bewaffnet, in vorderster Reihe. Dahinter die Söldner mit Schwertern und Piken. Einige führten auch große Hunde, die sich wild gebärdeten, mit sich. Seit Tagen ausgehungert, um ihre Aggressivität zu steigern, waren sie nur sehr schwer zurück zuhalten. In gebührendem Abstand bildeten die Bauern die letzte Reihe.
Auf Befehl des Kommandanten wurden einige Hunde losgelassen. Der Gegner sollte aus dem Wald gelockt werden. Auf diesen Augenblick hatten die Tiere nur gewartet. Mit wütendem Gebell stürmten sie auf den Waldrand zu und stürzten sich auf den Feind. Nach und nach ging das Gebell in ein schmerzhaftes, ängstliches Winseln über. Kurze Zeit später verstummte es.
Angespannte Stille breitete sich aus. Warten auf den richtigen Augenblick. Die Wolken rissen auf.
Mit einem verächtlichen Grinsen gab König Cyferin das Signal. Sein Heulen schallte durch die Nacht. Neunhundert Kehlen stimmten mit ein, während ihre Besitzer sich in Bewegung setzten. Ihre massigen Körper verließen das Unterholz.
Noch schirmte der Schatten der Bäume ihr Fell gegen das Mondlicht ab. Als die wuchtigen, dunklen Leiber auf die Wiese hinausrannten und auf die wartenden Menschen zustürmten, musste es für diese aussehen, als rolle der Wald auf sie zu.
In vollem Lauf sprangen sie aus dem Waldschatten heraus.
Sofort flammte ihr Fell silbern auf. Wie leuchtende Pfeile jagten sie auf die Front der Menschen zu. Die ‚Dorenga Varta’ hatte ihren Angriff begonnen.
Eria erwachte. Müde schüttelte sie den Kopf, um die Reste der Bilder aus ihren Gedanken zu vertreiben. Anfangs war sie jedes Mal zitternd und mit bebendem Herzen erwacht.
In jener Nacht hatte sie alles verloren, was ihr etwas bedeutete. Den geliebten Ehemann und König, ihre Söhne, Brüder, Verwandten und Freunde.
Mehr als vier Jahre waren die Ereignisse her. Sie war schwanger, deshalb hatte Cyferin ihr verboten an dem Kampf teilzunehmen. Damals war sie dankbar dafür gewesen, denn sie hielt den Krieg für falsch. Aber heute?
Jetzt neigte sich ihre Schwangerschaft dem Ende zu.
Die besondere Beziehung, die zwischen ihr und einem befreundeten Adler bestand, hatte Eria dazu benutzt die Schlacht mitzuverfolgen. Durch dessen Augen beobachtete sie das Blutbad, das sich dort abspielte. Bis die Verbindung abrupt abriss.
Langsam öffnete Eria die Augenlider. Um sie herum herrschte tiefe Dunkelheit. Die Wurzeln knacksten über ihr und Erde rieselte von der Decke ihrer Höhle. Der Sturm tobte noch immer. Seit drei Tagen schien die Welt unterzugehen.
Lange hatte sie mit sich gerungen, bevor sie diese Entscheidung gefällt hatte. Das Versprechen, das sie ihrem Mann gab nur männliche Nachkommen zu gebären, war ihr heilig. Aber um zu retten, wo es scheinbar nichts mehr zu retten gab, musste sie so handeln.
Ihr Mann hätte dem niemals zugestimmt. Als Erbe eines Königs wurde auch er zu einem solchen erzogen. Für ihn zählten nur Söhne und deshalb durfte sie ihm nur diese gebären.
Der Hauptgrund, warum er sie damals zur Frau nahm, war der, dass er über ihre Gabe Bescheid wusste. Das Besondere an Eria war, sie bestimmte über das Geschlecht des ungeborenen Kindes. Cyferin war der einzig noch Lebende gewesen, der ihren vollständigen Namen kannte. 'Eria Thymarin'. Aber für jeden war sie stets nur Eria.
Sein Hass auf die Menschen war so gewaltig, dass er selbst jetzt alles daran gesetzt hätte, um zu verhindern, was sie bereit war zu tun. Leider gab es niemanden mehr, der ihr noch Vorhaltungen machen konnte. Ihre Entscheidung war gefallen.
Seit jenem Tag hatte sie sich psychisch darauf eingestellt ein Mädchen auf die Welt zu bringen und alle Vorbereitungen für die Geburt getroffen. In ihrer Tochter würde das Erbe der Thymarin weiterleben und vielleicht eine bessere Welt ermöglichen.
Eria hoffte, dass auch ihr Ritual wirksam war. Nicht nur ihre Tochter sollte das Licht der Welt erblicken, sondern auch deren Seelengeschwister. Wer dies sein würde, war ihr unbekannt. Darauf hatte sie keinen Einfluss. Den Gedanken nachhängend, schloss sie wieder die Augen. Sie musste ihre Kräfte schonen, um Feria auf die Welt zu bringen. Gestärkt von der Hoffnung, dass sie doch nicht die Letzte der Lunaren sein würde.
Roen blinzelte in die Abendsonne. Er beugte sich nach vorne, stützte die Arme auf den Weidezaun, legte sein Kinn darauf und sah den Tieren beim Grasen zu. Es war keine große Herde. Zwölf Schafe und ein Hammel. Wenn alles problemlos verlief, würden es in den kommenden Wochen wieder ein paar mehr sein. Die Hälfte der Mutterschafe war trächtig. Er drehte den Kopf nach links und betrachtete das kleine Maisfeld, das er dieses Jahr angelegt hatte.
Das Saatgut hatte die gesamten Ersparnisse aufgebraucht und viel Überredungskunst gegenüber seiner Frau gefordert. Der Mais gedieh prächtig. Nun war auch Ria zufrieden.
Den kommenden Winter mussten sie vielleicht einmal nicht hungern.
Mit einem verträumten Lächeln schweifte sein Blick nach rechts auf das kleine Gemüsefeld. Ria hatte es mit viel Liebe angelegt und die Pflanzen schienen es ihr zu danken.
So gesehen war es bisher ein erfreuliches Jahr gewesen. Es wurde auch Zeit, dass das Leben wieder angenehmer wurde. Er hatte die vier Dutzend Lebensjahre fast voll.
Davon hatte er die Besten vergeudet.
Als er seine erste Frau kennen lernte, war er ein stattlicher Mann gewesen. Mit einem Gesicht ohne Narben und braunen Haaren. Ein Jahr darauf heirateten sie.
Doch ihr Glück währte nicht lange. Schon im darauf folgenden Winter starb sie an einer Lungenentzündung.
An diesem Tag brach eine Welt für ihn zusammen. Er vertrank all sein Hab und Gut. Stolperte von einer Gaststätte in die nächste, bis man ihn aus der Stadt warf. So ging es von einem Ort zum anderen. Eines Abends, kam er hier mit zerrissener Kleidung und völlig verdreckt an.
Es wurden Holzfäller gesucht. Jeder, der sich daran beteiligte, bekäme nach Abschluss der Arbeiten, zu seinem Lohn noch ein kleines Stück Land geschenkt. Er hatte die Wahl. Entweder das Angebot annehmen oder verschwinden.
Säufer und Taugenichtse konnte man hier nicht brauchen.
Er blieb. Durch die ungewohnte, schwere Arbeit und seine schlechte körperliche Verfassung, wollte er mehrmals aufgeben. Irgendetwas in ihm wehrte sich aber dagegen. Er machte weiter, Tag ein Tag aus.
Fünf Jahre später waren die Arbeiten beendet. Er bekam den versprochenen Lohn, ebenso das Stückchen Land. Kein fruchtbares Ackerland wie erhofft, aber sein Eigenes. Voller Hecken und Steine.
Er fällte Bäume, um die Hütte zu bauen. Mit einem Teil der Felsen den Kamin, den Rest zu einer kleinen Mauer rund um das Gelände aufgestapelt. Es hatte vierundzwanzig Monate gedauert, um aus diesem Grundstück etwas Brauchbares zu machen.
Es folgten schwere Wochen. Er versuchte es als Viehzüchter, doch die Tiere gingen an einer Seuche ein.
Auch als Bauer erging es ihm schlecht. Durch seine Unkenntnis brachten die Pflanzen nur wenig Ertrag oder verdorrten auf den Feldern. Immer wieder musste er sich Arbeit in der Stadt ‚Dunkelwasser’ suchen, um zu überleben.
In dieser Zeit lernte er auch seine jetzige Frau Ria kennen.
Sie war eine herzliche Person, die es verstand mit anzupacken. Mit ihr kam Myriam ihre Nichte, deren Mutter bei der Geburt verstarb. Damit die Familie über die Runden kam, hatte er zwei Jahre in der Stadt gearbeitet. Ria versuchte ihrerseits, das Möglichste aus dem Boden herauszuholen.
Die tiefen Falten in Roens Gesicht berichteten von dem Leid, das er erlebt hatte. Vom einstmals dichten, braunen Haar, gab es nur noch einen dünnen Kranz.
Dieses Jahr war das Erste, in dem sie wie eine kleine Bauernfamilie zusammenlebten. Diesmal, so schien es, sollten sie für alle Strapazen und Entbehrungen belohnt werden.
Aus seinen Erinnerungen zurückkehrend bemerkte er, dass jemand neben ihm stand. Es war Kor, der erste Holzfäller mit dem Roen Freundschaft geschlossen hatte.
Ein bärbeißiger Typ, der keiner Schlägerei aus dem Weg ging. Andererseits ein ehrenhafter Freund, wenn man ihn respektierte. Kor war ein Riese, mit gewaltigen Schultern und einem Nacken, der einem Stier zur Ehre gereicht hätte.
Diese Tatsache und die langen, schwarzen Haare mit dem Vollbart, sollten eigentlich jeden vernünftigen Mann davon abhalten, sich mit ihm anzulegen. Dass dem nicht so war erzählte die Narbe, die über seine gesamte rechte Wange verlief.
Wie alle Holzfäller hatte auch er hier ein Stück Land bekommen, so dass ein kleines Dorf entstanden war.
„Hallo alter Freund“, sagte Roen. „Ist es nicht erstaunlich, wie sich hier alles verändert hat? Was wir mit unserer Hände Arbeit diesem Land abtrotzten?“
„Ja das ist es“, antwortet Kor und nickte.
Der bedrückte Unterton ließ Roen aufhorchen.
„Was ist los mein Freund? Wieder Ärger zu Hause? Komm, ich lade dich auf ein Gläschen ein! Ria wird sich freuen dich zu sehen.“
„Nein, ein andermal vielleicht!“
„Was ist los? Mir kannst du es doch anvertrauen!“
„Roen! Ich bin nicht nur als dein Freund hier!“
„Was willst du damit sagen?“
„Wie du weißt, bin ich so etwas wie der Dorfvorsteher unserer kleinen Gemeinschaft.“
„Natürlich weiß ich das, ich habe dich ja selbst gewählt!
Aber was hat das mit mir zu tun?“
„Es sind mehrere Beschwerden vorgetragen worden und es wurde eine Versammlung einberufen.“
„Und wieso hat mich niemand darüber informiert?“
„Ich hielt es für besser! Ich befürchtete, dass sonst die Sache außer Kontrolle gerät. Außerdem hoffe ich, wir können diese Angelegenheit noch andersregeln.“
Roens Augen waren zu schmalen Schlitzen geworden. Sein Kinn schob sich drohend nach vorne.
„Was willst du Kor? Ich habe mir nichts vorzuwerfen“, presste er heraus, wobei die Kieferknochen hervortraten.
„Es ist nicht deinetwegen“, versuchte Kor zu beschwichtigen.
„Sondern?“
„Es ist ...“
„Kor, raus mit der Sprache!“
„Es handelt sich um Myriam! Sie wollen das sie geht!“
Roen stieg die Zornesröte ins Gesicht. Er bebte wie ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch.
„Was! Seid ihr denn alle verrückt geworden? Ich habe, wie jeder andere hier, mit meinen Händen dieses Land urbar gemacht. Jetzt, wo ich die Früchte all der Anstrengungen ernten kann, soll ich gehen? Niemals!“
„Nicht du! Nur Myriam!“
„Sie ist die Nichte meiner Frau und wohnt unter unserem Dach, da kommt es auf dasselbe heraus“, grollte Roen. „Sie ist für mich wie eine Tochter! Du, mein bester Freund, verlangst von mir sie fortzuschicken? Sage mir, was hat ein zwölfjähriges Mädchen getan, dass ihr euch vor ihr fürchtet?“
Kor sah ihn traurig an.
„Keine Antwort? Dann sehe ich dieses Gespräch als beendet an! Geh Kor, und komm so schnell nicht zurück!“
Wütend drehte Roen sich um, und stapfte in Richtung des Hauses davon.
„Warte! Es geht in keiner Weise um das, was sie tut! Es geht um die Dinge die passieren, bei denen sie in der Nähe ist oder war.“
Schwer atmend drehte sich Roen langsam um, um seinen Freund erstaunt anzusehen.
„Willst du damit sagen, dass ihr Myriam für etwas verantwortlich macht, bei dem sie nur zugegen war? Das habt ihr doch nur ausgeheckt um uns loszuwerden! Ihr neidet uns, was wir uns erarbeitet haben. Ich hätte nie gedacht, dass du, als mein bester Freund, dich dafür hergibst. Geh! Ich schäme mich, für dich jemals so etwas wie Freundschaft empfunden zu haben.“
Roen drehte Kor erneut den Rücken zu. Doch kaum das er den zweiten Schritt getan hatte.
„Sie sagen - sie ist eine Hexe!“
Das war zu viel für Roen. Blitzschnell fuhr er herum. Mit einem zornigen Schrei warf er sich auf seinen einstigen Freund.
„Das ist eine Lüge!“
Roen prügelte auf Kor ein und in jeden Schlag legte er die angestaute Wut.
„Ihr verdammten Lügner! Ich werde jedem das verlogene Mundwerk stopfen, der das behauptet!“
Nachdem sich Kors Überraschung gelegt hatte, war es für ihn ein Leichtes, sich gegen den alten Freund durchzusetzen. Er warf sich herum und drückte Roen mit seinem gesamten Gewicht zu Boden, bis dieser sich nicht mehr rühren konnte.
„Lass mich los du Verräter!“, schrie Roen mit Tränen in den Augen.
„Halte jetzt den Mund und hör mir zu!“, herrscht Kor ihn an.
„Es begann alles vor zwei Wochen. Myriam ging unten am Bach spazieren und kam am Grundstück vom alten Warden vorbei. Sein Hund Spell sprang über den Zaun und lief zu ihr. Als sein Besitzer ihn zurückholen wollte, biss der Hund ihm in die Hand. Der Mann wurde dabei so schwer verletzt, dass er die Hand wahrscheinlich nie wieder benutzen kann.
Die Geschichte machte natürlich gleich die Runde, wie du dir denken kannst.“
„Mir ist nichts davon zu Ohren gekommen“, entgegnete Roen bissig.
„Wundert dich das? Sie haben Angst! Es passierte aber noch mehr. Zwei Tage später staunte Lenard, weil all seine Kühe am Rand der Weide standen und ihre Köpfe über den Zaun streckten. Als er hinüberging, um nach dem Rechten zu sehen, sah er Myriam dort stehen. Sie streichelte ihre Schnauzen und schien mit ihnen zu sprechen.
Aufgeschreckt durch das vorherige Ereignis, schrie er, sie solle die Tiere in Ruhe lassen und verschwinden. Danach gaben die Kühe lange Zeit keine Milch mehr.
Vor vier Tagen fütterte Marten die Hennen, als er Myriam in Richtung des Hofes laufen sah. Er rief ihr schon von weitem zu sie soll ihn in Ruhe lassen und woanders spazieren gehen. Seit diesem Vorkommnis legen seine Hühner keine Eier mehr.
Und gestern der Vorfall mit Borenor, dem Sohn von Netter.
Der Junge war mit den Schafen auf der Weide, als er sie kommen sah. Er lief zu ihr hin und beschimpfte sie, sie sei eine Hexe und solle aus dem Dorf verschwinden. Myriam ist dann weinend davongelaufen. Der Knabe kann sich nur noch daran erinnern, dass ihn danach ein harter Stoß im Rücken traf. Sein Vater fand ihn später bewusstlos auf der Weide liegen. Der Hammel hatte ihn umgerannt. Man erkannte es an dem Blut, das auf dessen Stirn klebte. Der Junge wird wahrscheinlich nie wieder laufen können.
Kommt dir das nicht auch alles sehr merkwürdig vor?“
Roen biss sich auf die Lippen.
„Könnt ihr es beweisen?“, platzte er heraus.
„Stell dich nicht dümmer, als du bist!“, entgegnete Kor.
„Die Dinge sind schon ins Rollen geraten und lassen sich nicht mehr aufhalten. Du weißt, was jetzt passiert! Niemand wird sich mehr mit euch abgeben. Ihr werdet weder etwas kaufen, noch verkaufen können. So lange, bis ihr wegziehen müsst. Die weiteren Möglichkeiten sind, dass Myriam auf dem Scheiterhaufen verbrannt oder ermordet aufgefunden wird. Glaub mir, ich wünsche mir weder das eine, noch das andere!“
Mittlerweile hatte Kor seinen Freund losgelassen und sie saßen sich gegenüber. Roen hob langsam den Kopf. Tränen liefen ihm über die Wangen.
„Myriam liebt schon immer Tiere. Sie weigert sich sogar, Fleisch zu essen. Als sie kleiner war, wurde sie öfters dazu gezwungen. Doch sie hat sich jedes Mal danach erbrochen, deshalb haben wir es gelassen. Könntest du dein Kind vom Hof jagen, mit der Gewissheit, dass es im Wald umkommt und ihm dabei in die Augen sehen?“
„Nein, das könnte ich nicht!“
„Wenigstens bist du ehrlich. Was denkst du, was ich jetzt tun soll? Ich bin zu alt um noch einmal von vorne anzufangen. Selbst wenn ich es wollte, wer würde mir dieses Land schon abkaufen. Hier ist alles was ich besitze!
Wie soll ich es Ria beibringen?“
„Wenn du möchtest, werde ich es Ria erklären?“
„Nein! Ich habe sie geheiratet, und als ich dies tat, habe ich Myriam als meine Tochter anerkannt. Jetzt soll ich sie einfach vom Hof jagen? Das bringe ich nicht übers Herz!“
Als Kor aufstand, um in die Innentasche der Jacke zu greifen, stand auch Roen auf. Kor zog seine Hand heraus und hielt Roen eine kleine Glasphiole entgegen. Darin schimmerte eine klare Flüssigkeit.
„Gift?“, fragte Roen erschrocken. „Nein, niemals!“
Kor verzog das Gesicht.
„Das ist kein Gift!“
Der empörte Unterton zeugte von den nicht ausgesprochenen Gedanken.
Wie kannst du nur glauben, dass ich dir so etwas vorschlagen würde.
Roen schaute Kor in die Augen.
„Was ist das und woher hast du es?“
„Wer das trinkt, fällt in den tiefen Schlaf des Vergessens.
Ich habe mir diesen Trank als junger Mann, für den 'eventuellen Fall' machen lassen, aber es kam nie dazu. Je mehr man davon trinkt, umso länger schläft und umso mehr vergisst man. Er ist geruchlos und schmeckt, so sagte man mir, nur leicht herb. Du könntest mit Myriam in den Wald gehen und ihr dort diesen Trank verabreichen. Wenn sie aufwacht, hat sie keine Erinnerung an das was vorher war.“
Roen schaute auf die kleine Phiole, die jetzt in seiner Hand lag.
„Ich kann das nicht! Damit verurteile ich sie zum Tod durch die wilden Tiere!“
„Du sagtest doch, Myriam liebt die Tiere?“, entgegnete Kor.
„Und scheinbar lieben diese sie auch. Dort draußen hat sie, wenn auch eine geringe, Chance zu überleben. Hier wird sie früher oder später auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden, oder anders sterben! Gib ihr wenigstens diese kleine Möglichkeit.“
„Aber ...“, setzte Roen zu einer weiteren Entgegnung an, als er bemerkte, dass sein Freund an ihm vorbei sah. Langsam drehte er sich herum. Ria stand, mit in die Hüfte gestemmten Fäusten, vor der Tür der Hütte. Roen schaute wieder zu Kor und gab ihm die Hand.
„Trotz allem danke ich dir“, erklärte Roen. „Ich wünschte mir nur, ich hätte schon eine Lösung!“
„Und ich hoffte, dich nie vor diese Wahl stellen zu müssen“, entgegnete Kor und ging eilig davon.
Roen sah seinem Freund noch einen Augenblick nach, bevor er zur Hütte ging. Während er sich der Tür näherte, schaute er Ria ins Gesicht. Das stete Lächeln, für das er sie so liebte, war aus ihm gewichen. Stattdessen traf ihn ein anklagender, starrer Blick, der ihm folgte. Roens Magenwände zogen sich zusammen. Rasch ging er durch die Tür, um diese sofort hinter sich zu schließen.
Er wollte, nach dem Gespräch mit Kor, nicht auch noch mit Ria eine Diskussion anfangen. Dieser Moment stand ihm noch früh genug bevor. Im ersten Augenblick fühlte er Erleichterung in sich aufsteigen, als der Riegel hinter ihm in die Halterung fiel. Doch gleich darauf sah er Myriam vor dem Kamin stehen. Er spürte, wie sich sein Herz erneut verkrampfte. Sie spielte mit den Tieren, die er ihr immer schnitzte. Sie schien ihn noch nicht bemerkt zu haben.
Sie war schon groß für ihr Alter, aber zierlich.
Das Kind kann doch keiner Fliege etwas zu Leide tun, dachte er.
Myriam trug eine einfache, graue Bluse und einen ebensolchen Rock. Die langen, schwarzen Haare fielen wie ein dichter Vorhang, über ihren Rücken.
Als sie ihn bemerkte, drehte sie sich herum und lächelte ihn an. Der Blick, aus diesen strahlend grünen Augen, traf Roen ins Herz.
Er sah die Abdrücke von feuchter Erde, die immer entstanden, wenn sie sich auf die Erde kniete. Was sie sehr häufig tat. Roen lächelte bei dem Gedanken daran.
„Hallo Papa!“
Das war zu viel! Roen schossen erneut die Tränen in die Augen. Hastig drehte er sich herum, riss die Tür auf und rannte hinaus. Krachend fiel das Tor hinter ihm in die Verriegelung.
Erst spät am Abend kehrte er zurück. So spät, dass er davon ausgehen konnte, Myriam nicht mehr entgegentreten zu müssen. Aber Ria war noch wach und wartete, vor dem Kamin sitzend, auf ihn. Er setzte sich auf den Stuhl neben ihr und schaute in die Flammen.
„Willst du mir jetzt verraten, was los ist?“, fragte sie.
„Ja! Du hast jedes Recht dazu und ich bin es dir schuldig!“
Roen erzählte ihr alles was Kor zu ihm gesagt hatte. Auch, welche Möglichkeiten blieben. Sie unterbrach ihn nicht einmal. Ihr Gesicht war wie versteinert. Kaum hatte er geendet, rannte sie weinend in die Schlafkammer.
Nachdem Roen sich etwas beruhigt und die Tränen getrocknet hatte, stand er auf um Ria zu folgen. Die Tür war nur leicht angelehnt. Er hob die Hand um diese aufzuschieben, als er Ria drinnen sprechen hörte.
Überrascht hielt Roen in seiner Bewegung inne.
„Ach Phari, wieso bist du gegangen und hast mir die Verantwortung für Myriam überlassen? Jetzt hat die Vergangenheit sie doch eingeholt. Dein Opfer war vergebens.“
Roen wusste, Phari war der Kosename von Rias Schwester Pharisia. Aber was hatte sie mit Opfer gemeint? Diese war doch angeblich bei Myriams Geburt gestorben?
Er wurde durch das Knarren des Bettes in seinen Überlegungen unterbrochen. Ria hatte wahrscheinlich darauf gesessen und sich jetzt erhoben. Roen schlich eilig zum Stuhl zurück. Seine Frau sollte nicht wissen, dass er sie belauscht hatte.
Kaum das er saß, kam Ria auch schon herein. Wortlos setzte sie sich. Roen überlegte, was Ria ihm über Myriams Eltern erzählt hatte.
Diese hatten in 'Dunkelwasser' gelebt. Dies war die nächst größere Stadt, drei Tagesreisen südlich von hier.
Myriams Vater war Händler. Auf der Rückreise von einem seiner Einkäufe, wurde er kurz vor der Siedlung von Räubern überfallen und getötet.
Pharisia, zu dieser Zeit hoch schwanger, hatte das Geschäft verkauft und war zu ihrer Schwester Ria gezogen. Durch den Schmerz des Verlustes geschwächt und des Lebensmutes beraubt, überstieg die Geburt Pharisias Kräfte. Kaum lag Myriam in Rias Armen, schloss Phari für immer die Augen.
Er wusste eigentlich wenig, musste er sich eingestehen.
Bisher war das für ihn auch ohne Bedeutung gewesen.
Allerdings passte diese Geschichte nicht zu Rias Bemerkungen. Hatte sie ihm etwas verschwiegen? Wieso hatte die Vergangenheit sie eingeholt?
„Lass uns ins Bett gehen, die nächste Zeit wird hart genug“, erklärte Ria plötzlich.
Roen wurde abermals aus seinen Gedanken gerissen ohne eine Antwort gefunden zu haben. Aber jetzt gab es andere Probleme, die gelöst werden mussten. Daher nickte er nur.
Keiner der beiden konnte schlafen. Schon bei Morgengrauen waren sie wieder auf den Beinen. Sie saßen am Tisch und starrten vor sich hin.
Noch in der Nacht hatten sie sich darauf geeinigt, dass wenn es schon sein musste, dann gleich heute. Jeder Aufschub hätte nur die Gefahr erhöht, nicht mehr die Kraft aufzubringen, um den Plan durchzuführen.
Roen wollte mit Myriam in den Wald gehen und die Bögen mitnehmen. Das hatten sie früher öfter getan. Das letzte Mal war schon eine längere Zeit her, daher würde Myriam keinen Verdacht schöpfen. Wahrscheinlich freute sie sich sogar darüber.
Die Sonne erschien über dem Horizont, als Ria in die Kammer ging, um das Mädchen zu wecken. Sie erzählte ihr, was ihr Vater für heute geplant hatte. Myriam war sofort begeistert.
„Dann zieh dich schnell an. Essen steht auf dem Tisch.
Dein Vater ist ins Dorf, um noch einige Vorbereitungen zu treffen. Ich werde hinausgehen, um nach den Tieren zu sehen.“
Jemand anderem wäre vielleicht aufgefallen, dass Ria es vermied, das Mädchen anzusehen. Aber Myriam war viel zu aufgeregt, um dies zu bemerken. Kaum den Satz beendet, war Ria auch schon verschwunden. Weder Roen noch sie selbst hatten so früh wirklich etwas zu tun. Aber der Schmerz war zu stark, um sich lange in Myriams Gegenwart aufzuhalten.
Das Mädchen schlang ihr Essen hinunter. Es war viel zu aufgedreht, um sich dafür Zeit zu nehmen. Kaum fertig, rannte sie in ihre Kammer und packte schnell die Dinge zusammen, die sie mitnehmen wollte. Zum Schluss nahm sie Bogen und Köcher von der Wand. Diese hatte ihr Onkel Kor einmal geschenkt.
Vor dem Haus angekommen, sah sie ihre Eltern zusammenstehen und flüstern. Als Roen sie sah, zwang er sich zu einem Lächeln.
„Komm meine Kleine. Wir haben noch einen langen Weg vor uns.“
Er nahm Ria in den Arm, drückte sie kurz, gab ihr einen Kuss und beeilte sich fortzukommen. Ria verabschiedete sich knapp von Myriam. Dabei flüsterte sie ihr ins Ohr:
„Pass auf dich auf.“
Zu mehr, war sie nicht fähig. Ria eilte ins Haus und schloss sofort die Tür hinter sich. Myriam sah ihrer Mutter überrascht nach, zuckte mit den Schultern und folgte ihrem Vater.
„Es hat wohl etwas mit gestern Abend zu tun“, sagte sie leise zu sich selbst.
Sie raste Roen hinterher und freute sich auf das, was sie heute Neues erleben würde.
Die Waldgrenze lag unweit vom Haus. Myriam erreichte ihren Vater als dieser auf den Waldweg einbog. Roen war noch in Gedanken versunken, als seine Tochter neben ihm erschien. Langsam hegte er Zweifel, dass sie unschuldig war, an dem was man ihr vorwarf. Es nagte an ihm, dass er Kor nicht hatte widersprechen können. Von diesen Vorfällen hatte er nichts gewusst.
„Myriam, was ist damals beim alten Warden passiert?“
Das Mädchen blieb abrupt stehen. Sie sah ihn mit großen Augen an, wobei sie sich auf die Unterlippe biss.
„War Onkel Kor deshalb gestern Abend da?“, fragte es zögerlich und senkte dabei den Kopf.
„Unter anderem! Aber ich möchte von dir hören, was geschehen ist.“
Beide setzten ihren Weg fort. Myriam schien es Überwindung zu kosten darüber zu reden.
Ob doch etwas an den Vorwürfen dran ist?
Zögerlich begann Myriam endlich zu sprechen.
„Es war mir peinlich. Ich wollte immer eine gute Tochter sein und euch keinen Ärger machen. Deshalb habe ich euch nichts davon erzählt. Bist du mir böse?“
„Nein! Aber es wäre besser gewesen!“
Dann hätte sich vielleicht eine andere Lösung als diese ergeben, fügte er in Gedanken hinzu.
„Verrate mir bitte, was sich zugetragen hat!“
„Bei meinem Spaziergang kam ich in die Nähe des Grundstückes. Da sprang Spell über den Zaun und kam zu mir. Ich kniete mich hin und kraulte ihn hinter den Ohren.
Dann legte er sich auf den Rücken und ich streichelte ihm den Bauch. Plötzlich rief Herr Warden nach seinem Hund.
Doch dieser reagierte nicht darauf. Nachdem der Bauer bei uns angekommen war, riss er den armen Kerl hoch und schimpfte ihn aus. Ich weiß noch, dass ich dachte, der Hund ist viel zu gut für dich. Im selben Augenblick fuhr Spell herum und biss seinem Herrchen in die Hand. Es hat heftig geblutet! Ich bin erschrocken aufgesprungen und weggelaufen. Ich hätte Herrn Warden helfen sollen, aber ich hatte zu viel Angst.“
Roen dachte über die Erzählung nach, konnte aber nichts Falsches darin erkennen. Dass sie fortgelaufen war, hielt ihr niemand vor.
„Was war mit den Kühen von Lenard?“
„Was soll dort gewesen sein? Ich ging an der Weide vorbei, als sie zu mir kamen. Ich streichelte deren Köpfe und sagte ihnen, was sie für liebe Wesen sind. Der Mann schimpfte, also bin ich weggelaufen. Ich dachte nur, wenn diese Tiere wüssten, wie sie ausgenutzt werden, würden sie sich dagegen wehren.“
In Roen keimte ein Verdacht auf.
„Und bei Marten?“
„Da bin ich nur vorbeigelaufen und er hat mich schon vertrieben. Es tat mir weh! Auf einmal will mich jeder im Dorf vertreiben. Ich bin auch gleich weitergegangen!“
„Dann war da noch der Vorfall mit Borenor Netter. Was ist dort geschehen?“
„Ich habe gehört, was ihm passiert ist. Glaubst du etwa, dass ich damit etwas zu tun habe?“, fragte sie leise.
„Nein, aber ich möchte es trotzdem hören!“
„Da gibt es nicht viel zu erzählen! Ich ging zur Weide und Borenor kam sofort angerannt. Er beschimpfte mich als Hexe. Ich habe geweint und bin fortgelaufen. Ich bin keine Hexe! Warum sagt er so etwas?“
„Ich weiß es nicht mein Schatz! Aber was hast du in diesem Moment gedacht oder gefühlt?“
„Es hat mir wehgetan, und wenn ich gekonnt hätte, hätte ich ihn dafür verprügelt. Aber er ist stärker als ich!“
Roen nickte. Wortlos gingen beide eine Zeitlang nebeneinander her.
„Papa? Hast du mich noch lieb?“
„Ja mein Schatz! Du hast nichts Falsches getan!“
Myriam strahlte! Schon bald wurde ihre Aufmerksamkeit von den vielen Tieren und Pflanzen in Anspruch genommen, die sie begeistert beobachtete.
Roens Gedanken überschlugen sich. Er wusste zwar nicht, wie dies möglich war, aber alles deutete darauf hin, dass Myriam mit den Tieren in Verbindung stand, wenn auch unbewusst. Auf das, was sie fühlte oder dachte, schienen die Tiere auf ihre Weise zu reagieren. Er war sicher, dies alles passierte ohne das bewusste Handeln von Myriam.
Genau das war das Problem. Sie wusste nicht, was um sie herum geschah. Deshalb entzog es sich ihrer Kontrolle.
Er liebte dieses Kind. Es schmerzte ihn, sich von ihm trennen zu müssen. Andererseits fiel es ihm jetzt etwas leichter das durchzuführen, was er vorhatte. Er war fest davon überzeugt, Myriams Zukunft lag hier im Wald. Nicht in dem kleinen Dorf, wo sie als Hexe verfolgt wurde.
Plötzlich fielen ihm wieder Rias Worte ein. Lag die Antwort in dem, was sie ihm verheimlicht hatte?
Roen richtete seine Aufmerksamkeit auf den Weg. Ihm fiel ein schmaler Pfad auf, der vom Hauptweg abzweigte.
„Myriam! Lass uns doch heute diesen Weg nehmen!“
Gleichzeitig deutete er auf einen Durchgang zwischen zwei Ginsterbüschen.
„Es ist doch interessanter, einen uns unbekannten Weg zu nehmen!“
Myriam nickte, nahm den Bogen von der Schulter und legte einen Pfeil auf. So hatte Roen es ihr beigebracht.
„Wenn man unbekannte Wege geht, muss man mit allen Gefahren rechnen!“, hatte er immer erklärt.
Myriam konnte gut mit dem Bogen umgehen, auch wenn sie sich weigerte, auf Lebewesen zu schießen. In leicht gebückter Haltung schob sie sich zwischen den Büschen hindurch. Zusammen folgten sie diesem Trampelpfad. Roen wusste weder wohin er führte, noch ob er von Menschen oder Tieren benutzt wurde.
Myriam war ein neugieriges Kind und konnte sich Dinge gut merken. Roen lenkte ihre Aufmerksamkeit immer wieder auf die verschiedensten Pflanzen. Er wollte prüfen, was Myriam sich alles behalten hatte. Ob sie essbar oder giftig waren oder ob sie heilende Kräfte besaßen. Sie jubelte, wenn sie die Fragen richtig beantworten konnte.
Freute sich aber auch, wenn sie etwas Neues dazu lernte.
Für sie war es ein Spiel!
Roen aber ahnte, dass dieses Wissen schon bald über Leben oder Tod entscheiden konnte. Oft, wenn Myriam abgelenkt war, nutzte Roen die Gelegenheit um sich die Tränen aus den Augen zu wischen.
Er hob den Kopf, um einen Spalt im Blätterdach zu suchen.
Es musste bald Mittag sein. Hier unten, in dem graugrünen, trüben Licht, war es nur sein Magen, der ihn darauf hinwies.
Der Pfad führte seit geraumer Zeit stetig bergauf. Als Roen um einen Felsen bog, konnte er dessen höchsten Punkt erkennen. Falls er von der Kuppe aus keinen geeigneten Platz zum Lagern fand, würde er es sich einfach dort bequem machen. Roen spürte, wie seine Nervosität stieg, je näher er dem Scheitelpunkt kam. Noch einen Schritt und er konnte über die Anhöhe sehen. Was er erblickte, hatte er nicht zu hoffen gewagt.
Der Weg führte in leichten Windungen hinunter ins Tal. In dessen Mitte lag eine Lichtung, die vom Sonnenlicht überflutet wurde. Das leuchtende Grün der Gräser und die Farbenpracht der Blumen ließen sein Herz Freudensprünge vollführen. Ein kleines Rudel Rehe weidete dort.
„Ist das schön“, hörte er Myriam andächtig flüstern. Mit strahlenden Augen und offenem Mund stand sie neben ihm.
„Das wolltest du mir zeigen! Hab ich recht Papa?“
Ein gepresstes, „Ja“, war alles, was er herausbrachte.
Roen musste erst den Klos herunterschlucken, der sich in seinem Hals breit gemacht hatte. Dort also würde es geschehen.
Myriam war nicht mehr zu halten. Voll Freude und Übermut rannte sie den Weg hinab. Roen war froh darüber, jetzt mit seinen Gedanken allein zu sein. Je näher er der Lichtung kam, umso mehr beschlich ihn das Gefühl, diesen Ort zu kennen. Ein letzter Schritt brachte ihn vom Halbdunkel des Waldes in das strahlende Licht der Sonne.
Voller Neugier schaute er sich um.
Die Rehe waren verschwunden, dafür hatte Myriams Tanz schon gesorgt. Sie sprang über die Wiese, hatte die Arme ausgebreitet und drehte sich im Sonnenschein.
Langsam ging Roen am Rand der Lichtung entlang.
Plötzlich stand er wieder im Schatten. Er schaute verwundert nach links oben. Es war ihm völlig entgangen, dass dieser eine Baum nicht am Rand, sondern alleine mitten auf der Lichtung wuchs.
„Eine Eiche“, flüsterte er.
Seinem inneren Gefühl folgend, betrachtete er sich die Büsche am Rand etwas genauer. Er riss die Augen auf und rannte hinaus auf die Lichtung.
Eine einzelne Eiche, eingerahmt von Haselnusssträuchern.
Er kannte diesen Ort, oder vielmehr dessen Beschreibung.
Seine Großmutter hatte ihm immer wieder Geschichten von Elfen, Feen und Nymphen erzählt. Dem Leben mit der Natur und ihren heiligen Plätzen.
So, genau so, hatte er sie sich damals vorgestellt. Niemals hätte er geglaubt, dass es sie wirklich gibt.
Roen wunderte sich darüber, dass ihm die Eiche vom Hügel aus entgangen war. Jetzt, wo er sie genauer betrachtete, verstand er warum. Es war nicht die Höhe, die diese so riesig wirken ließ, sondern ihre Breite. Der Stamm war gewaltig. Roen trat an ihn heran, streckte die Arme so weit wie er konnte, und versuchte ihn zu umfassen. Es reichte nicht einmal bis zur Hälfte. Ungläubig schüttelte er den Kopf. Danach umschritt er den Stamm so nah wie möglich.
Roen brauchte fünfzehn Schritte. Selbst in Anbetracht der Tatsache, dass er immer über die Wurzeln steigen musste und dadurch sich seine Schrittweite verkürzte, blieb noch ein gewaltiger Umfang. Die meisten Bäume konnte er mit sechs bis sieben Schritten umrunden.
Er setzte sich ins Gras, um die Eiche ehrfürchtig zu betrachten. Tränen liefen ihm über die Wange. Wie oft hatte er gewünscht, einen solchen Ort zu finden. Dessen ungeachtet war er auch dankbar, dass es jetzt so war.
An ihrem Stamm machte Roen es sich gemütlich.
„Myriam, komm her, lass uns etwas essen!“
Sie kam lachend angerannt.
„Dies ist ein herrlicher Platz“, schwärmte sie. „Er ist so - friedlich!“
„Ja es ist ein besonderer Ort, eine heilige Stätte!“
Roen reichte ihr etwas Käse und eine Scheibe Brot.
Zögerlich gab er ihr auch die Wasserflasche. Die Phiole hatte er schon am Morgen in diese umgefüllt. Während sie sich stärkten, erzählte er Myriam die alten Geschichten, die ihm seine Großmutter überliefert hatte.
Myriam verzog das Gesicht, nachdem sie das erste Mal an der Flasche getrunken hatte. Roen hielt die Luft an. Als Myriam aber einen weiteren Schluck nahm, entspannte er sich wieder.
Mit glänzenden Augen lauschte sie seinen Geschichten.
Nachdem sie ihre Mahlzeit beendet hatte, legte sie sich auf die Seite und hörte weiter den Erzählungen ihres Vaters zu.
Später schloss sie die Augen und schlief ein.
Roen schaute lange Zeit auf sie hinunter. Irgendwann holte er die grüne Decke heraus, die er vorsorglich mitgenommen hatte, und wickelte Myriam darin ein. In diesem Moment kam ihm ein Vers in den Sinn, den seine Großmutter andächtig am Ende einer jeden Geschichte rezitierte.
Unbewusst sprach er die Worte laut nach.
Ne warit tyr filan de dana gat,
dir finor hel pylan tref ifinat.
Onatei die sadi ryfan sono entari,
sodasi die nofir reg tat karaly.
(Die Zeit der Ruhe sei nun beendet,
dein Wesen sich erneut dem Leben zuwendet.
Öffne deinen Geist erhör meine Bitte,
beende deinen Schlaf tritt in unsere Mitte.)
Roen wiederholte den Vers noch zweimal. Jedes Mal nahm seine Stimme an Kraft und Überzeugung zu. Einen Augenblick lang erschien es ihm, als würden die Worte in dem alten Stamm einen Widerhall finden und die Natur den Atem anhalten.
Die Äste des mächtigen Baumes begannen sich plötzlich knarrend zu bewegen und die Geräusche des ihn umgebenden Waldes drangen wieder an sein Ohr. Roen kniete sich neben seine Tochter und nahm sie in den Arm.
In diesem Moment brach sich der angestaute Schmerz seine Bahn. Laut fing Roen an zu schluchzen, während sein Körper beim Weinen durchgeschüttelt wurde. Es schob Myriam die Haare aus dem Gesicht und ihr Kopf fiel leicht zur Seite.
Sie ist nicht tot, sie schläft nur, musste er sich selbst immer wieder bestätigen. Aber er spürte, wie er kurz davor war sie aufzuheben und mit ihr nachhause zu gehen. Noch einmal drückte er sie an sich und gab ihr einen letzten Kuss auf die Stirn. Zärtlich legte er sie zwischen den Wurzeln der Eiche ab.
„Ich hoffe, du kannst es mir jemals verzeihen“, verabschiedete er sich von ihr.
Alle Sachen die Myriam gehörten hatte er zu ihr gelegt. Nur die Wasserflasche war seine eigene. Eilig nahm er den Rucksack auf. Es wurde Zeit den Ort zu verlassen, an dem er das, was er so sehr liebte, zurücklassen musste.
Es ist passend, ein Heiliger Ort für ein Kind, dem die Natur heilig ist!
Wiroja rieb sich verschlafen die Augen, drehte den Kopf nach links und bemerkte beim Blick zum Vorhang des kleinen Fensters, dass der Morgen erst graute. Wodurch war sie geweckt worden? Sie blinzelte, lauschte, doch alles war still.
Mehrmals ruhig ein- und ausatmend schloss sie wieder die Augen, um sich auf ihren Körper zu konzentrieren. Sie verspürte eine innere Unruhe, konnte sich aber nicht erklären, wodurch diese ausgelöst worden war. Sie spürte in die einzelnen Bereiche ihres Körpers, fand aber keinen Hinweis, der auf eine nahende Erkrankung hinwies.
Wie Wiroja es von ihrer Mutter gelernt hatte, konzentrierte sie sich noch auf den Energiefluss ihres Körpers. Diese Unruhe ging nicht von ihr aus, sie kam von außen. Das Energiegefüge des Waldes musste sich verändert haben.
Erschrocken öffnete Wiroja die braunen Augen. Sie sprang aus dem Bett, schlüpfte in die grüne Bluse und den braunen Rock, kämmte hastig ihre langen, blonden Haare durch und lief in die große Küche. Die ganze Zeit überlegte sie, was diese Veränderung ausgelöst haben mochte.
Waren wieder Holzfäller in den Wald eingefallen? Das letzte Mal war das vor sieben Jahren passiert, dort wo jetzt das kleine Dorf stand. Damals hatte der Schmerz der gefällten Bäume das Energiegefüge auf ähnliche Weise verschoben. Die Intensität war fast die gleiche und doch war es anders. Was war geschehen?
Jetzt war Wiroja wirklich zutiefst beunruhigt. Sie eilte hinüber zum Wassereimer, warf sich eine Handvoll kaltes Wasser ins Gesicht und stürmte aus dem Haus. Sobald sie durch die Tür trat, gab es keinen Zweifel mehr. Hier im Freien brauchte sie sich nicht mehr zu konzentrieren, um es zu spüren.
Sie wandte sich nach rechts und ging zu der jungen Eiche die dort stand. Wiroja legte ihre Hand an den Stamm, schloss die Augen und stellte ihre Frage:
Was ist geschehen?
Odom ist erwacht!
Wiroja zuckte zurück. Mit solcher Wucht hatte die Antwort sie getroffen.
Odom, die alte Eiche? Der Vater des Waldes, wie ihre Mutter sie genannt hatte? Dieser gewaltige Baum musste mehrere Hundert Jahre alt sein. Welchen Grund gab es für sein Erwachen?