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Endlich – Markus Heitz setzt seine große Dark-Fantasy-Bestseller-Reihe um die ebenso kunstsinnigen wie tödlichen Albae fort Ein düsteres, unerbittliches Volk mit Sinn für Kunst und Poesie erzählt ein neues Kapitel des Geborgenen Landes: Die Albae, die gefürchteten Dunkelelben, sind noch lange nicht geschlagen. Eine ebenso blutige wie faszinierende Fantasy-Serie, die Markus Heitz endlich weiterschreibt. DUNKLES ERBE folgt drei außergewöhnlichen Figuren an drei sehr verschiedenen Orten bei ihren Abenteuern. In den Ruinen des untergegangenen Dsôn Khamateion will Künstler Amânoras die toten Albae heimlich mit Denkmälern ehren und deren rastlose Geister beruhigen. Als Zwerge ihn entdecken, steht plötzlich nicht nur sein eigenes Leben auf dem Spiel. Bald muss er entscheiden: Was ist der Preis für Kunst? In Brandenwall leben Albae, die uralten Traditionen folgen, heimlich unter den Menschen und hegen eigene Pläne zur Zukunft des Geborgenen Landes. Als ein Zwerg aufkreuzt, der sich zum Ziel gesetzt hat, die Dunkelelben aufzuspüren, müssen die Häuser der Albae gemeinsam eine Lösung finden. Doch sie sind in ihre Machtspiele verstrickt, und mittendrin steckt die junge Albin Sajùtoria. Gegen ihren Willen. Was vermag sie auszurichten? Dann gibt es noch den intriganten Elb Telìnâs, der seine eigenen Ziele verfolgt. Er scheint genau zu wissen, wie er das Erbe der Albae lenken kann. Aber dann laufen die Dinge überraschend aus dem Ruder. Wie kann er sich retten? Die Fantasy-Reihe »Die Legenden der Albae« von Markus Heitz ist in folgender Reihenfolge erschienen: - Gerechter Zorn - Vernichtender Hass - Dunkle Pfade - Tobender Sturm - Vergessene Schriften - Dunkles Erbe
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Seitenzahl: 627
Markus Heitz
Dunkles Erbe
Roman
Knaur eBooks
Die Schicksale dreier Albae verweben sich zu einer Legende
In Dsôn Khamateion, dem untergegangenen Reich der Albae, will Künstler Amânoras in den
Ruinen die toten Albae heimlich mit Denkmälern ehren und deren rastlose Geister
beruhigen. Als Zwerge ihn entdecken, steht plötzlich nicht nur sein eigenes Leben auf dem
Spiel. Bald muss er entscheiden: Was ist der Preis für Kunst?
In Brandenwall leben Albae, die uralten Traditionen folgen, heimlich unter den Menschen.
Doch als ein Zwerg aufkreuzt, der sich zum Ziel gesetzt hat, die Dunkelelben aufzuspüren,
müssen die verschiedenen Häuser der Albae gemeinsam eine Lösung finden. Doch sie sind
in ihre Machtspiele verstrickt, und mittendrin steckt die junge Albin Sajùtoria. Gegen ihren
Willen. Was vermag sie auszurichten?
Dann gibt es noch den intriganten Elb Telìnâs, der seine ganz eigenen Ziele verfolgt. Er
scheint genau zu wissen, wie er das Erbe der Albae lenken kann. Aber dann laufen die
Dinge überraschend aus dem Ruder. Wie kann er sich retten?
Markus Heitz’ große Bestseller-Saga um die ebenso kunstsinnigen wie tödlichen Albae geht
endlich weiter!
Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de
Dramatis Personae
Dramatis Personae
Dramatis Personae
I.
KAPITEL I
KAPITEL II
KAPITEL III
KAPITEL IV
KAPITEL V
KAPITEL VI
KAPITEL VII
KAPITEL VIII
KAPITEL IX
II.
KAPITEL I
KAPITEL II
KAPITEL III
KAPITEL IV
KAPITEL V
KAPITEL VI
KAPITEL VII
KAPITEL VIII
III.
KAPITEL I
KAPITEL II
KAPITEL III
KAPITEL IV
KAPITEL V
KAPITEL VI
Amânoras, Künstler
Horgáris, Kriegerin & Amânoras’ Frau
Retéris, Amânoras’ und Horgáris’ leibliche Tochter
Ecalôr, Amânoras’ und Horgáris’ leiblicher Sohn
Vârai, Amânoras’ und Horgáris’ Adoptivtochter
Fòlorân »Ahnos«, Ahnherr von Amânoras
Nacailôr, Krieger
Caphorias, Spion
Balodilia Schwemmstein aus dem Clan der Grubfinder vom Stamm der Vierten, Kriegerin
Bordoïn Mattauge aus dem Clan der Rubinfinger vom Stamm der Vierten, Krieger
Gandogil Eisernwill aus dem Clan der Niederwerfer vom Stamm der Dritten, Krieger
Roga, Ragana
Telìnâs, Krieger, Ambasciar & Fîndaii
Ascatoîa, einstige Zhussa & ehemalige Herrscherin über Dsôn Khamateion
Sajù(toria), Ascatoîas Tochter
Aïsoroth, Künstler (Gebeinschnitzerei) & Fannān des Hauses Riphâlgis
Sirûsha, Künstlerin (Malerin), Haus Riphâlgis
Darustòn, Künstler (Maler), Haus Riphâlgis
Damânion, Kaufmann, Haus Avaris
Païcolur, Arviâ, Lorânor, Yintaïa, Kânoras; Krieger/-in, Haus Wèlèron
Taláris, Kriegerin, Haus Kashagòn
Gidànor, Handwerksmeister, Haus Ocizûr
Zîrlanor, Krieger & Vorsteher der Kriegerschaft des Hauses Wèlèron
Boldalar Feinunz aus dem Clan der Waagmacher vom Stamm der Vierten, Großincvizitorius
Belgala Feinunz aus dem Clan der Waagmacher vom Stamm der Vierten, Großincvizitoria
Gyrdelis Eisenfunke aus dem Clan der Schnellschmieder vom Stamm der Ersten, Kriegerin & Schmiedin
Ralephio, ältester Krieger aus dem Tross des Großincvizitorius
Ailek, Krieger & Ralephios Sohn
Davis Frugter, Oberratsherr von Brandenwall
Adelein Frugter, Davis’ Frau
Korporal Konac, Stadtwache in Brandenwall
Telìnâs, Krieger, Ambasciar & Fîndaii
Imîndias, Schmied
Khitâburàs, Ochranor in Enaiko
Caphorias, Spion
Belcèton, Spion in Therlisôn
Imòndâ, Spionin in Therlisôn
Brûgar Funkenatmer aus dem Clan der Feuerschlinger vom Stamm der Dritten, Krieger
Pagus, Magister der Bücher in der Eulen-Bibliothek
Kartho, Lehrling in der Eulen-Bibliothek
Adelia, Maga & Herrscherin von Rhuta
Elawuën, Kisâri
Telìnâs, Krieger, Ambasciar & Fîndaii
Sêmanôlas, Hofdichter
Celefïèl, Phormadura von Therlisôn
Dernoïn, Phormadur von Therlisôn
Ligéla, Dlordân, Sotèras, Milêndris; Bewohner/-in von Therlisôn
eine Sanduhr: eine volle Stunde
ein Umlauf: ein Tag
ein Zyklus: ein Jahr
Sekunda: eine Sekunde
Minuta: eine Minute
Hora: eine Stunde
ein Teil der Unendlichkeit: zehn Zyklen
ein Moment der Unendlichkeit: ein Umlauf
ein Splitter der Unendlichkeit: eine Stunde
Avaris: Wohlhabende von hohem Stand, Kaufleute
Kashagòn: jene, die sich allein der Kampfkunst verschworen
Ocizûr: Handwerker mit eigenen Schulen und Hochschulen
Riphâlgis: Künstler, ergeben der Kunst in jeglicher Form
Shiimāl: Spezialisten für Viehzucht und Ackerbau
Wèlèron: einfache Krieger, Priester und Magieforschende
Brandenwall: Freie Stadt im Norden des Geborgenen Landes
Dsôn Khamateion: einstiges Reich der Albae im Braunen Gebirge
Enaiko: die Stadt des Wissens im Süden des Geborgenen Landes
Gautaya: Kaiserreich in Gauragon
Kràg Tahuum: einstige Orkfestung in der Mitte des Geborgenen Landes
Therlisôn: Wohnsiedlung der Meldrith
Tî Silândur: Elbenreich
Aasdieb: geflügelte Kreatur, die bei Hunger auch jagt, um Aas zu erschaffen
Amekh Modrá: Eigenbezeichnung des nachtblauen Orkvolks
Cadengis: der gefährlichste Gott der Cadengi, deren Glaube in Brigantia verbreitet ist
Cadengis’ Mutter: a. die gefährlichste Göttin der Cadengi, b. beliebter Fluch
Cuprey: sagenumwobene wilde Rinder, sehr aggressiv
Knochenmalmer: bärengroße Raubtiere
Meldrith: Person mit albischen und elbischen Vorfahren
Morratugor: Panzerechse
Parsoi Khi: magiesensitives Volk
Ragana: Moorhexen
Srgāláh: humanoides Wesen mit Hundekopf
Vezenèsir: geisterhafte Klagegestalt
Adlata: Gehilfin
Ambasciar/-a: Botschafter/-in der Elben
Aprendisa: Lehrling
Discipula: Schülerin, meist in einer geistigen Ausbildung
Famula/-us: magisch begabter Mensch in Ausbildung
Fannān: albischer Großmeister der Künste
Fîndaii: Leibwache und Eliteeinheit der Kaiserin
Ganyeios: Titel des Herrschers von Dsôn Khamateion
Ingenius/-a: Erfinder/-in
Kisâri: Titel, Kaiserin der Elben
Magus/-a: Zauberer/-in
Mhûomà: höchste Ragana
Ochranor: albischer Beschützer, Bewahrer
Phormadur/-a: Vorsteher/-in der Meldrith
Studiosus/-a: Student/-in
Tharka: Sondereinheit der Dritten für die erste Schlachtreihe
Zhussa: Zauberkundige der Albae
Ocularia: Augenglas, auch getönt
Schrotarmbrust: Armbrust mit geschlossenem Lauf, verschießt Schrotladungen; Weiterentwicklung der Kugelschleuder
DAS BUCH DER KUNST
Um die Entstehung von Dsôn Khamateion ranken sich viele Geschichten.
Und weilte Carmondai, der Meister in Wort und Bild, noch unter uns, ich schwöre, er hätte die besten davon auf eine Weise dargeboten, dass wir gebannt an seinen Lippen hingen und eine jede für die Wahrheit hielten.
Gewiss, auch über ihn berichtet man sich vieles.
Doch dazu ist jetzt nicht die Zeit.
Nun verhält es sich so, dass die Herkunft jener Albae, die sich mit alchemistischen Mitteln vor mehr als eintausend Zyklen als Elben ausgaben, ein Mysterium ist.
Mal soll es sich um einen Stoßtrupp mit der Aufgabe gehandelt haben, das Geborgene Land zu infiltrieren und die nachfolgende große Invasion vorzubereiten;
mal um ein teilaufgeriebenes Heer, das jenseits der Gebirge in eine gewaltige Schlacht gegen Drachen, absonderliche Wesen und verschiedenste Geschöpfe aus dem Volk der Orks verwickelt worden war. Die Überlebenden hatten keine andere Wahl, als sich auf diesem gefährlichen Wege in Sicherheit zu bringen;
und dann gibt es die Behauptung, es handelte sich um in Ungnade gefallene Albae, die ihr Heil in der Flucht suchten, bevor sie in ihrer Heimat jenseits des Außenmeeres hingerichtet worden wären.
Wegen welcher Umstände sie das Vertrauen entzogen bekamen, ist mir jedoch nicht bekannt.
Von einer Invasion wurde Abstand genommen.
Es sei wohl die Absicht gewesen, ins Volk der Elben einzusickern und sich erst nach und nach als Albae zu erkennen zu geben. Um ein friedliches Zusammenleben anzustreben und dank des mitgebrachten neuen Wissens nach Wohlstand für alle zu trachten. Für das gesamte Geborgene Land.
Das Einsickern gelang.
Als jedoch die ersten Mischkinder geboren wurden, bei denen die Besonderheiten der Albae zutage traten, erfuhr Inàstes Volk Ablehnung, Feindschaft und Hass. Die Verfolgung begann erneut. Daher blieb den Albae nichts anderes übrig, als sich eine sichere Bleibe zu erschaffen, wo sie abseits von allen unbehelligt leben konnten.
So entstand Dsôn Khamateion, im Braunen Gebirge, in einem unwirtlichen Teil, den die Kinder des Schmieds vom Stamm der Vierten nicht nutzten, da sie die Steinbrüche darin aufgegeben hatten.
Nach und nach erwuchs die Stadt in den Talkesseln, heimlich und zunächst, ohne entdeckt zu werden, aus Rabenholz, Mondscheineiche und Silberbirke, bis genug Steine geschlagen waren.
Aus Fachwerk wurden massive Gebäude, aus Schnitzereien in Balken und Holzmalerei alsbald Gravierkunst, Bildhauerei und Fresken mit ausgesuchtesten Materialien.
Als sich die Vierten zu einem Kriegszug entschlossen, blieb dem Ganyeios nichts anderes übrig, als sich mit aller Härte zu verteidigen und vorgeschobene Teile des Gebirges zu besetzen. Erst mit dem Siegeszug der Brigantiner, dem finalen Verlust des Zwergenreichs im Braunen Gebirge und den Beben endeten die unaufhörlichen Angriffe der Vierten.
Die goldene Ära von Frieden und Wohlstand begann.
Bis Albae vor den Toren erschienen, die darauf drängten, man müsse das alte Erbe fortführen und das Geborgene Land unterjochen. Unentwegt raunten und flüsterten und predigten sie ihr Ziel.
Sie brachten Unruhe nach Dsôn Khamateion und wurden verbannt, woraufhin sie nach Brandenwall gingen.
Doch die Gemeinschaft in Dsôn hatte einen Riss erhalten. Die verlockenden Worte von mehr Macht waren auf fruchtbaren Boden gefallen.
Auch der Ganyeios verlor an Autorität und Einfluss, bis die Zhussa Ascatoîa die Herrschaft an sich riss, um mit ihren Drachen sowie dem Volk der Albae einen Krieg gegen das Geborgene Land zu führen.
Doch Ascatoîa verlor ihre magischen Kräfte, und die Geschuppten wandten sich gegen sie.
Das war das Ende von Dsôn Khamateion.
Aufzeichnungen von Khitâburàs,
undatiert
Lautlos glitt die Stake ins schwarzblaue Wasser, in dessen Tiefe es unentwegt blitzte und flirrte, als tobte unter der Oberfläche ein Gewitter. Durch das kraftvolle Abstoßen der Stange vom steinigen Untergrund schob sich der kunstvoll geschnitzte, fünf Schritt lange Flachkahn vorwärts. Mit kaum hörbarem Plätschern glitt er in die umspülten Ruinen, die einst prachtvolle Bauten rund um den Platz des Westwindes gewesen waren.
Hier neigte sich eine hohe Fassade aus dem Wasser, als fiele sie jeden Augenblick in sich zusammen; da reckten sich Pfeiler einer zerstörten Brücke wie gigantische Finger empor, als suchten sie Halt oder, die Götter anklagend, nach dem Sinn ihres Überdauerns; und dort stemmten sich halb zerstörte, abstrakte Kunstwerke von etlichen Schritt Durchmesser auf ihren zerfallenden Marmor- und Bronzesockeln über die Fluten. Erblindete Spiegelelemente an den beschädigten Stücken reflektierten kaum mehr das Licht der untergehenden Sonne.
Im Hintergrund des Panoramas des Untergangs erhoben sich verschneite Gipfel und Hänge des Braunen Gebirges, zeitweise von Dunst und Wolken umhüllt, während über allem das abenddämmernde Firmament mit schwach grau funkelnden Gestirnen prangte.
Nach einem Teil der Unendlichkeit sah man den alten Glanz, die Kunstfertigkeit, das architektonische Können der Baumeister kaum mehr.
Die Witterung hatte die Stadt verschlissen. Gelegentlich aufsteigende ätzende Dämpfe griffen die Steine weiterhin an, teils zerbröckelten die behauenen Quader, teils lagerte sich dickflockige Patina darauf ab und machte die beste Gravurarbeit zunichte. Selbst die Balken aus schwarzem Rabenholz, grau gemasertem Eisenholz und sogar Steineiche verloren ihre Beständigkeit.
Etliche Kristalle, Edel- und Glasschmucksteine waren aus den Fassungen in Wand- und Deckenfresken gefallen, die einst Ruhm, Ansehen und Reichtum der Bewohner verkündet hatten. Sämtliche verwendeten Metalle, das Glas, die Spiegel, die Beinschnitzereien, Schmückerei innen wie außen, litten. Alles war in Dsôn Khamateion buchstäblich aus den Fugen geraten.
Dafür wucherten graue Moose und bunte Flechten über die Reste und Ruinen. Dornenbewehrte Schlingpflanzen baumelten wie gierige Tentakel herab, und vereinzelt wagten schnell wachsende Kargweiden den Wuchs auf Vorsprüngen und Simsen. Die Wurzeln bohrten sich in die Steine, brachen sie weiter auf.
Der breite Kiel des Flachkahns schob sich nach Backbord in das enge Gewirr aus gerissenen Hauswänden und -fronten. Straßen und Gässchen waren zu Kanälen geworden.
Das Wasser unter dem Bootsrumpf wechselte die Farbe von Unwetterschwarz zu Schwefelgelb, das zuckende Wetterleuchten ging in ein beständiges, schwaches Glimmen über. Trotz des eisigen Winters im Gebirge wurde die Luft ringsum feuchtwarm; die wabernden Dämpfe waren beißend, aber nicht tödlich.
Die Stille war überpräsent. Selbst der Kahn glitt leise wie ein treibendes Blatt über das Gewässer. Die Stake wurde mit größter Umsicht bewegt, damit kein Laut entstand.
Der Alb, der den neun Schritt langen Stab mit dem Eisenhaken am unteren Ende führte, stand am Heck, dick in dunkle Kleidung eingepackt sowie mit einer kunstvoll bemalten, weißen Eisenporzellanmaske vor dem Antlitz. In ihrem Innern lagen getränkte Tücher als Gas-Filter vor den Auslässen von Mund und Nase. Die Kapuze schützte gegen die Kühle.
Das schummrige, sterbende Sonnenlicht hatte seine Augen schwarz gefärbt, wie es für seine Art üblich war, sofern keine Alchemie zum Einsatz kam, um den verräterischen Effekt zu unterdrücken.
Die Pupillen richteten sich auf die Statuette, ungefähr so groß wie ein Erwachsenenbein, die in einer lappengepolsterten, offenen Kiste in der Kahnmitte lag.
Aus einem verkohlten Rabenholzbalken geschnitzt, zeigte sie ein umschlungenes albisches Liebespaar im Todeskampf, die rinnenden Tränen bestanden aus unterschiedlich großen Diamanten. Die Anatomie, der leidende Ausdruck auf den Antlitzen, die Haltung, alles war perfekt und vermittelte Hingabe, Liebe bis in die Endlichkeit. Ewigkeit auf andere Weise.
Ein weiteres Kunstwerk für Dsôn, die er überall in den Ruinen aufstellte. Der Alb gedachte auf diese Art der Toten von Dsôn Khamateion, die den Drachenangriffen, einstürzenden Gebirgen, Feuer- und Wasserkatastrophen sowie den Unterirdischen zum Opfer gefallen waren.
Viertausendeinhundert davon hatte er seit dem Ende der Stadt angefertigt und in den Überresten drapiert.
Es fehlten noch etwas mehr als sechsunddreißigtausend.
Seine Mission würde ihn etliche Teile der Unendlichkeit in den Ruinen beschäftigen. Sonnenumlauf für Sonnenumlauf.
Es schreckte ihn nicht, sondern erfüllte ihn mit Stolz.
Für ihn als Alb spielte Vergänglichkeit keine Rolle. Material, von Holz, Gold, Metallen, Gesteinen und Glas bis hin zu Edelsteinen fand er in den Ruinen mehr als genug.
Die Vierten waren seit drei Wintern nachlässiger mit ihrer Wacht geworden, weil sie davon ausgingen, dass es in den Trümmern nichts mehr gab als Geister und Echos.
Außerdem mochten sie das Wasser nicht. Der See, der sich in weiten Teilen des untergegangenen Albaereichs ausgebreitet hatte, seit sich zwei Kaskaden am äußersten Ostrand schäumend und tosend in das Gebiet ergossen hatten, war ihnen nicht geheuer.
Einst hatte sich die prächtige Stadt mit ihren Plätzen, Kunstwerken, Tempeln und Schreinen in einem Seitental im Nordwesten des Braunen Gebirges erhoben, unterhalb von mächtigen Gipfeln. Im Haupttal, verteilt auf zwei aufeinanderfolgende Kessel, hatten sich ein Wald und Äcker befunden. Die ältesten Bauten bestanden überwiegend aus Holz, die neueren aus jenen Steinsorten, die man aus dem verlassenen Zwergensteinbruch geschlagen hatte.
Die Unterirdischen selbst hatten die Wasserfälle mit Durchbrüchen erschaffen und gehofft, die Überreste der Stadt ließen sich wegschwemmen und versenken.
Doch trotz Bergstürzen, Beben, Bränden und Fluten zeigte sich Dsôn Khamateion beharrlich und mit einem Rest von Stolz und Widersinn. Nur seine Bewohner waren verloren und in die Endlichkeit gegangen.
Daher kamen die Vierten selten bis gar nicht in den überschwemmten Ruinenbereich, den sie Wasser des Todes nannten. Dies gab dem Alb große Bewegungsfreiheit. Er fand die Bezeichnung beinahe poetisch, für zwergische Verhältnisse, und übernahm ihn in seiner Sprache: Morratu Quàn.
Niemand durfte wissen, dass es ihn gab. Sonst begänne die Hatz. Das Geborgene Land wollte jegliches Leben aus und in Dsôn Khamateion getilgt haben. Auf ewig.
Falls doch eine Patrouille den Gang in diesen Bereich wagte, sollte sie ihn in der schwarzen Kleidung und mit der weißen Eisenporzellanmaske für einen Spuk halten, eine geisterhafte Manifestation einer trauernden Seele, wie sie gelegentlich erschienen, um ihr Schicksal zu verfluchen oder beweinen.
Der Alb steuerte den Kahn auf die viereckige Erhebung zu, die aus dem gelb glimmenden Gewässer ragte; sie war gerade einmal zwei mal zwei Schritte groß.
Einst hatte an dieser Stelle die prächtige Kuppelhalle gestanden, in der die Geheime Kammer und der Ganyeios Entscheidungen gefällt hatten. Durch monumentale, geschickt angeordnete Fenster war das Licht von Sonne und Mond hineingefallen, hatte den Thron des Herrschers und die einmaligen Kunstwerke im gigantischen Raum beleuchtet.
Das war vorbei.
Die übergroßen Statuen, die Kokons aus Silberdraht, die Glasmalereien – sie alle lagen auf dem Grund des künstlichen Sees. Zerbrochen, zerstört, vernichtet.
An der Erhebung angelangt, verkeilte der Alb den Eisendorn des Stabes im felsigen Untergrund und vertäute das Gefährt daran, bevor er die Statuette der Liebenden aus ihrem Lumpenbett hob und mit einem eleganten Satz auf das Podest sprang.
Langsam ging er auf ein Knie herab und stellte sein Kunstwerk ab, beugte das Haupt und sandte ein stummes Gebet für die Toten an die Schöpferin Inàste.
Leise gluckerte es im Wasser, Blasen stiegen auf und platzten beim Durchstoßen der Oberfläche. Die Stake wackelte leicht, schlug pochend und alarmierend gegen den Rand des Kahns.
Der Alb verharrte in seiner knienden Position und öffnete den schweren Mantel. Darunter kamen die beiden Kurzschwerter zum Vorschein, die in Halterungen an den Oberschenkeln steckten.
Er spürte die Unruhe des Untergrundes, sah die aufkommenden Vibrationen durch Wellen auf der Wasseroberfläche sowie den vier, fünf Schritt langen Schatten, der durch das gelbe Schimmern aufwärtsschoss – und größer wurde.
Eine rötlich gefärbte Panzerechse wuchtete mit einem dunkel-drohenden Gluckern den vorderen Teil ihres Leibes auf das Podest, die lange Schnauze zum tödlichen Biss aufgeklappt.
Der Alb wich den messerlangen Zähnen bis an den gegenüberliegenden Rand der Erhebung aus und versetzte der Statuette einen dosierten Tritt, sodass die Liebenden zurück in den Kahn und in die gepolsterte Kiste flogen. Keinesfalls durfte sie in den Untiefen verloren gehen oder Schaden nehmen.
Dann schwang er sich rittlings auf die Schnauze der Panzerechse. Die Hände zuckten zu den Griffen der Kurzschwerter, und gleich darauf drangen die Klingen bis zum Heft in die Augen des Morratugors ein. Die einzigen Stellen, die für gewöhnliche Nahkampfwaffen problemlos zu durchdringen waren.
Die wütende Kreatur verlor die Körperspannung. Klackend schnappte das Maul zu, und die Vorderläufe mit den langen Krallen erlahmten. Langsam rutschte die riesige Echse rückwärts vom Podest ins gelb schimmernde Wasser, aus dem sie auf der Jagd gekommen war.
Der Alb saß behände von der Schnauze ab und zog dabei die Kurzschwerter aus den Augen. Mit einem raschen Hieb brach er der getöteten Kreatur bei deren Untergehen die überstehenden zwei Fangzähne aus dem Knochen; sorgfältig barg er sie in seinem Mantel.
Beim ersten überraschenden Zusammentreffen mit einem solchen Morratugor wäre er beinahe gestorben, und die während des Kampfes entstandenen Wunden hatten sich entzündet. Doch inzwischen kannte er die Schwachstelle der rötlichen Panzerechsen und wusste die Zeichen ihres Kommens zu deuten. Er ließ sich nicht mehr wie gewöhnliche Beute überrumpeln.
Erst als der Morratugor vollends versunken war, wusch er die Klingen im Wasser rein und nahm die Statuette zum zweiten Mal zur Hand.
Erneut deponierte er die Liebenden, senkte Knie und Haupt zum Gebet an Inàste. Das versprühte Blut der Echse auf der steinernen Erhebung machte das Aufstellen angemessen dramatisch. Ein Opfer für die verlorenen Seelen.
Nach einer Weile kehrte der Alb in den Kahn zurück, löste den verkeilten Metallhaken der Stake aus dem Untergrund und stieß sich ab. Sein Blick blieb liebevoll und stolz auf das Kunstwerk gerichtet. Die Diamanten im polierten Rabenholz funkelten wie zum Abschied.
Die Nacht fiel schnell über die Ruinen, es wurde eisig kalt.
Unerwartet stieg der Geruch von Feuer in seine Nase – was eigentlich nicht sein durfte. Weder hatte es in letzter Zeit Gewitter gegeben, bei dem ein Blitz einen Brand hätte auslösen können, noch trieben sich Vierte in dieser Gegend herum.
Der Alb befürchtete Schlimmstes für seine geschundene Heimat.
Schnell stakte er das Flachboot an eine aufragende Hauswand und vertäute es an der Stange, kletterte die rissige Fassade hinauf bis an die höchste Stelle und blickte sich suchend um.
Etwa fünfhundert Schritte südlich von ihm brannte ein Lagerfeuer, um das eine Handvoll Gestalten saß, die sich Proviant in den Flammen brieten und rösteten.
Unzweifelhaft Menschen.
Der Anblick nährte die Sorgen des Albs, die er im Keim ersticken wollte.
Mit geschickten Sprüngen, einigem Hangeln und langen Sätzen von der Hauswand auf einen Rundbogen bewegte er sich über ein Standbild zur nächsten Ruine und lautlos auf die Gruppe zu, die ohne Berechtigung nach Dsôn gekommen sein musste. Nur der Mantel rauschte leicht im Wind.
Im Schatten einer halb zerfallenen Kolossalstatue des Gottes Samusin schlich der Alb sich am Boden an das Feuer heran und verharrte in kurzer Entfernung, sodass er die Worte der Männer und Frauen vernahm, die schäbige Winterkleidung trugen und eine Branntweinflasche kreisen ließen. Sie feiern etwas. Letzte Bissen eines Mahls wurden verzehrt, der Abfall ins Feuer geworfen.
Für den Alb sahen sie alle gleich grobschlächtig aus, stanken gegen den Wind nach Schweiß, Schmutz und schlechten Absichten.
»Das wird uns unsere Träume erfüllen«, jubelte ein dünner Mann und pochte auf seinen offenbar leeren Rucksack. »All unsere Träume, ihr Bastarde! Die Ausbeute wird verflucht groß.«
Lautstarke Zustimmung erklang.
»Vergesst nicht, dass wir auf dem Nachhauseweg an den Vierten vorbeimüssen«, mahnte eine Frau, die eine dunkle Wollmütze auf dem Kopf trug. »Das Tor wird von den kleinen Scheißern gut bewacht sein.«
»Und unser Trick zum Reinkommen wird auch nur ein einziges Mal funktionieren, ich weiß. Deswegen stecken wir auch alles an Schätzen ein, was wir aus den bleichen Knochen der Schwarzaugen reißen können«, sagte ein anderer Mann und lachte; zwischen seinen Zähnen steckten Reste von Trockenfleisch.
»Hast du eine ungefähre Ahnung, wo wir anfangen sollen zu suchen?«, hakte die zweite Frau der Truppe nach, die eine erstaunlich schöne Stimme hatte. »Gibt es eine Karte oder dergleichen?«
Die Männer lachten sie aus. Einer bewarf sie mit einer Handvoll Steinchen und Schmutz vom Boden.
Der Alb in seinem Versteck verzog das Antlitz unter der Maske. Genau das hatte er befürchtet, seit er den Rauch ihres Feuers gerochen hatte: Plünderer, die sich an den Besitztümern der Toten vergriffen. Das war eine zweifache Ungeheuerlichkeit. Niemand durfte die Verlorenen bestehlen und die Aufmerksamkeit der Vierten erregen.
»Als wenn irgendwer irgendjemanden kennt, der eine Karte von Dsôn zeichnen könnte«, entgegnete der Angesprochene belustigt und nahm die kreisende Branntweinflasche an sich, um einen raschen Schluck die Kehle hinabzuschütten. Tropfen davon verfingen sich an den Spitzen des langen, dunklen Schnauzbarts. »Die Bergmaden rücken keinerlei Aufzeichnungen raus. Schön blöd wären sie!«
»Was ist mit diesem Berengart? Der vor zehn Zyklen in ihrer Gefangenschaft war?« Die Frau mit der angenehmen Stimme blieb hartnäckig.
Zu einer anderen Zeit hätte der Alb sie vielleicht als Sklavin mitgenommen, ihren Gesang geschult, bis sie darin taugte, und sie zu seiner Erbauung Lieder vortragen lassen, während er Kunstwerke erschuf.
»Klaey Berengart«, präzisierte ein anderer Mann. »Der ist längst erfolgreicher Wegelagerer geworden. Er und seine Leute haben mörderische Flugpferde, was eine Verfolgung unmöglich macht. Abgeschossen hat ihn noch keiner. Und diese Viecher fressen dich mit Haut und Haaren, wenn du ihnen zu nahe kommst!«
»Mh. Ich habe aber gehört, er hat anfangs Landkarten von Dsôn verkauft«, warf die Frau ein. »Es hätte doch sein können, dass –«
»Alles Unfug und erfundenes Geschmiere«, widersprach der schnauzbärtige Mann mit der Branntweinflasche, der ihr Anführer zu sein schien. Der Alkohol schwappte gluckernd gegen die Wände. »Berengart hat damit den Trotteln das Geld aus der Tasche gezogen. Niemand kam je an den Vierten vorbei.« Er griente. »Bis auf uns, ihr elenden Arschgeburten!«
Es wurde gelacht und applaudiert.
Der Alb hatte von den Flugmahren gehört, die eigentlich in Dsôn Khamateion beheimatet waren und die sich der Räuber angeeignet hatte. Sie machten Berengart mit seinen Brigantinern zu einem gefährlichen und inzwischen sehr reichen Mann.
»Schön. Also durchforsten wir die Ruinen und schnappen uns, was glänzt?«, fragte einer der Plünderer.
»So sieht’s aus. Bin sicher, wir werden rasch fündig. Westlich von unserem Rastplatz gab es ein paar große, trocken gebliebene Gebäude. Da ist was zu holen. Ins Wasser bringt mich bei der Kälte keiner.« Er nahm noch einen Schluck. »Beschissener Winter. Das Braune Gebirge versteht keinen Spaß. Gebt acht, dass euch die Nase über Nacht nicht abfriert.« Er deutete auf die beiden Frauen. »Ihr Hübschen habt die erste Wache. Haltet das Feuer am Brennen, aber lasst die Flammen nicht hochschlagen. Ihr habt es vorhin am Tor gehört: Angeblich gibt es keine Patrouillen in dieser Gegend, nur am Eingang. Aber man weiß nie. Ihre Minenaugen werden Lohen und hellen Lichtschein in der Dunkelheit weit ausmachen können.«
Die Truppe richtete sich für die Nacht ein. Die glücklichen Schläfer zogen mitgebrachte Pelze gegen die klirrende Kälte über sich.
Der Alb wartete, bis nur noch die Frauen die Augen geöffnet hatten.
Die dringendste Frage, die er von einem der Plünderer beantwortet haben wollte, lautete: Wie gelangte das halbe Dutzend an den aufmerksamen Unterirdischen vorbei?
Er griff auf die angeborenen magischen Kräfte seiner Art zurück und ließ die Flammen klein und kleiner werden.
Die Frauen versuchten, mit hastigem Schüren und überstürztem Nachlegen gegen das unerklärliche Sterben des Feuers vorzugehen.
Währenddessen trat der Alb aus seinem Versteck und bewegte sich ohne ein Geräusch auf die Rücken der Wachen zu, die über der Feuerstelle knieten und sich um die darbenden Flämmchen mühten. In seinen Händen lagen die Kurzschwerter. Stichbereit.
»Euer Tod«, raunte er den Frauen durch seine Maske zu, »heißt Amânoras.«
Dabei rammte er ihnen die Spitzen von hinten durch die Nacken, sodass sie binnen eines Wimpernschlags starben, ohne einen Laut von sich zu geben. Sie stürzten nach vorne in das kärgliche Feuer und erstickten es, Blut quoll aus den Wunden und löschte die letzte Glut mit leisem Zischen.
»Ich nehme euch das Leben. Eure Seelen sollen für diesen Frevel niemals Frieden finden.«
Amânoras schritt von Schlafplatz zu Schlafplatz, geräuschlos wie ein Schatten. Weitere drei Mal taten die blutigen Klingen tödliche Arbeit, bis nur noch der Anführer der Plünderer leise schnarchend am Leben war. Die Enden des ungestutzten, kammartigen Schnauzbartes wehten leicht im Atemwind.
»So hässlich«, raunte Amânoras über ihm. Mit einem Schwert entfernte er die wärmende Pelzdecke vom Schlummernden und verursachte mit seinen Kräften schlimmste Furcht in dessen Verstand und Herz. »So erbärmlich.«
Der bärtige Mann atmete rascher, wälzte sich hin und her – bis er mit einem Schrei aus dem schrecklichen Traum auffuhr. Nur um den schwarz gekleideten, maskierten Amânoras vor sich im Sternenlicht mit gereckter, bluttropfender Klinge zu sehen.
»Was bei den Göttern …?«
»Ein wahr gewordener Albtraum, nicht wahr?«, sagte Amânoras spöttisch. Er sah im Licht der Gestirne perfekt – im Gegensatz zu seinem Gegner. »Damit musst du rechnen, wenn du dich nach Dsôn begibst.«
»Zu Tions Dämonen mit dir! Du bist ein Geist! Eines der Trugbilder, von denen man sich zuraunt.« Der Mann griff nach seinem Schwert neben dem Lager und zog ein Amulett von Elria unter der Kleidung hervor. »Hinfort mit dir, Spuk! Weiche!«
Amânoras gestattete, dass der Plünderer die Waffe mit bebenden Fingern zu sich zerrte und aus der Hülle zog. Er lächelte. »Das frische Blut an meiner Klinge stammt von deinen Leuten«, eröffnete er ihm kalt wie der Nordwind, der durch die Ruinen strich. »Soll deines nicht sofort hinzukommen, beantworte meine Fragen, Sterblicher.«
Der Mann hielt sein Schwert zitternd in der Rechten. Seine Augen zuckten, die verängstigten Blicke gingen immer wieder zu seiner reglosen Truppe unter den Pelzen und zu den erstochenen Frauen, die in der nachlassenden Glut vor sich hin schmurgelten. Als versuchte er, sie von den Toten zu erwecken und zu seiner Unterstützung zu rufen. »Mein Name ist …«, stammelte er vor sich hin.
»Nichtig für mich. Wie seid ihr an den Zwergenwachen vorbeigekommen?«, erkundigte sich Amânoras sanft. »Sie lassen niemanden passieren. Dsôn Khamateion steht unter dem Bann der Vierten. Diese Ruinen zu betreten ist ohne eine Erlaubnis unter Todesstrafe verboten.«
Der Plünderer würgte seine Angst hinab, fuhr sich einmal mit der Hand, die das Elria-Amulett hielt, über die langen Barthaare. »Wir haben uns in präparierten Proviantkisten versteckt. Doppelte Böden. Bei der letzten Fahrt aus Kohlstitt bezahlten wir dem Händler ein gutes Sümmchen, um –«
»Wie plantet ihr, aus Dsôn zu entkommen?«, unterbrach ihn Amânoras leise, was das Bedrohliche der weißen Eisenporzellanmaske verstärkte. »Durch das Tor?«
»Das … das haben wir noch nicht bedacht. Erst wollten wir Beute machen. Das Weitere sollte sich ergeben«, gestand der Mann mit belegter Stimme. »Irgendwie hätten wir die Unterirdischen getäuscht.«
Amânoras sah es anders.
Die vorbereiteten Kisten waren längst entdeckt worden. Bestimmt würden sich die Vierten zusammenreimen, welches Gesindel sich unbemerkt an ihnen vorbeigeschmuggelt hatte, und die Zahl der Patrouillen verstärken. Oder mit Suchhunden auf die Jagd nach den unerlaubten Besuchern gehen. Der Todesstrafe für Brechen der Bannmeile entging niemand. Sie war übereinstimmend eingeführt worden, damit keiner verbotene albische Kunst oder Schriften ins Geborgene Land schmuggelte. Das Böse sollte mit Dsôn verrotten.
»So gute Kämpfer sind sie außerdem nicht«, redete der schnauzbärtige Plünderer gegen seine Furcht an. »Wir haben einige von ihnen spielend leicht bezwungen.«
Jetzt wurden Amânoras’ Schwierigkeiten unangenehm.
»Wo?«, raunte er gefährlich hinter der bemalten Eisenporzellanmaske und legte den Kopf leicht schief.
»Nicht weit von unserer Lagerstatt«, haspelte der Mann. »In Richtung Westen, dort, wo sich diese zerstörte, hausgroße Glaskugel befindet.«
Der Knochenplatz mit dem gefallenen Mond. Amânoras traf eine Entscheidung: Er musste den Anschein erwecken, als hätten sich die Unterirdischen und die Plünderer gegenseitig getötet. Nur dann würde nichts schlechter für ihn. Was zugleich bedeutete, nichts von den Sterblichen für das Anfertigen seiner eigenen Kunstwerke mitzunehmen. Weder von den Vierten noch von den Menschen. Fehlende Körperteile oder herausgeschnittene Haut wären zu auffällig. Welch Drama.
»Wie viele?«, wisperte Amânoras.
Der Mann druckste herum.
»Wie viele?«, wiederholte Amânoras.
»Zwei.«
»Sechs gegen zwei«, stellte er verächtlich fest. »Heldenhaft von euch.«
»Acht. Zwei haben wir gegen die Bastarde verloren. Und im Wasser vers… bestattet! Ich meine bestattet.«
»Und die Leichen der Unterirdischen?«
»Liegen gelassen. Damit sich die Aasbestien und Knochenmalmer mit ihnen vergnügen und uns in Ruhe lassen.«
Amânoras hatte genug gehört. »Dein Tod heißt –«
»Warte!« Der Plünderer reckte sein Schwert zur Abwehr, die Spitze zitterte. »Du … du hast gesagt, dass du mich nicht töten wirst, wenn ich dir …«
»Ich sagte, dass ich dich nichtsofort töte.« Schneller, als der Mann zu reagieren vermochte, schlug er das gegnerische Schwert zur Seite und durchbohrte das Herz seines Gegenübers. »Dein Tod heißt Amânoras. Ich nehme dir das Leben. Möge deine Seele für diesen Frevel niemals Ruhe finden.«
Aufkeuchend sank der Plünderer nach hinten und starb mit einem letzten Ächzen.
Jetzt musste es zügig gehen, bevor die Wacht das Fehlen zweier Aufklärer bemerkte. Ich hoffe, die Unterirdischen sandten noch keine Soldaten aus. Amânoras wandte sich um und kehrte auf dem Weg, den er gekommen war, zu seinem Kahn zurück.
Durch die Kanäle und umgeben von zerfallenden Gebäuden stakte er im Sternenlicht zum gefallenen Mond, wie das geborstene Kunstobjekt einst geheißen hatte. Dank des Glasschliffs und am Boden angebrachter Spiegel war das volle Nachtgestirn darin reflektiert worden, als befände er sich mitten auf dem Knochenplatz von Dsôn.
Dieses Mal nahm der Alb keine pietätvolle Rücksicht auf die Umgebung. Sowohl das Staken als auch das flachrumpfige Boot erzeugten leises Gluckern und Plätschern. Innerhalb kürzester Zeit schwenkte Amânoras auf den teilüberfluteten Platz ein.
Im Schimmer der Gestirne sah er die Leichen der Unterirdischen mitten auf dem Pflaster aus feinstem, einst weißem Marmor liegen. Auch hier wirkte der Zerfall fort. Witterung und Wasser zerfraßen das Gestein, färbten es schmutzig.
Die hohe, teilzerbrochene Glaskugel leuchtete kaum mehr. Der reflektierte Himmelskörper wurde zum gerissenen, gesprungenen Zerrbild, als wäre der Mond auf die Erde gestürzt und geborsten. Die toten Zwerge wurden vom silbernen Streulicht illuminiert.
»Inàste sei Dank«, murmelte Amânoras und machte den Kahn an der fixierten Stake fest, um über die freie Fläche zu rennen. Noch kein Suchtrupp aufgekreuzt. Leise platschte das Wasser unter seinen Sohlen, Spritzer flogen weit. Jetzt muss ich …
In diesem Moment leuchtete schwacher, gelbrötlicher Schein aus verschiedenen Richtungen hinter den Mauern auf. Zwergenpatrouillen erschienen mit Fackeln und Blendlaternen aus dem Gewirr der Ruinen und erreichten den gegenüberliegenden Rand des Knochenplatzes.
Als sie ihre Toten und den maskierten Alb erblickten, blieben sie stehen. Laute Flüche erklangen in der Nacht, Armbrüste und Kurzbögen wurden bereit gemacht.
Amânoras zögerte nicht – und kehrte auf der Stelle um. Ein gekonnter Sprung brachte ihn auf das flache Boot zurück.
Ohne Langbogen war es zu riskant, die vierzig Kopf starke Truppe anzugreifen. Bis er die Distanz zu ihnen überbrücken und in den Nahkampf gehen könnte, hätten ihn mehrere Geschosse getroffen. Zwerge beherrschten den Umgang mit Bolzen und Pfeilen gefährlich gut.
Während ein Teil der Vierten mit Kampfgeschrei ins Rennen verfiel, um ihn zu erreichen, und die Übrigen ihre Schusswaffen hoben, um ihn zu treffen, stakte der Alb den Kahn rasch in die Deckung einer aufragenden Hausfassade und wurde unerreichbar. Für Geschosse und Häscher.
Amânoras wusste: Sein Leben in Dsôn wurde nach nur einem Teil der Unendlichkeit kompliziert.
Leider nicht nur seines.
Die Nachwelt, also jene, die es nicht anders kennen, streitet seit vielen Zyklen und Teilen der Unendlichkeit darüber, ob es sie gibt.
Die Ursprünglichen.
Legenden und Gerüchten nach hielten sie sich ebenso von den Meldrith wie Dsôn Khamateion und Brandenwall fern.
Stattdessen lebten sie an einem geheimen Ort.
Die einen nennen sie märchenhafte Erfindung, um sich nicht mit ihnen beschäftigen zu müssen, und hassen den Gedanken, dass sie wahr sein könnten.
Die anderen sprechen von gezielter Lüge, um ein mulmiges Gefühl zu erzeugen, sobald eine Kerze flackert und zu erlöschen droht. Oder um Hoffnungen zu schüren, für die kein Platz in gemachten Plänen ist.
Und wieder andere behaupten, es gab sie bereits vor der ersten großen Invasion des Geborgenen Landes, die von Legenden unseres Volkes, Sinthoras und Caphalor, angeführt wurde. Alles hätten sie seither überlebt, sogar den Stern der Prüfung oder Nagsar und Nagsor Inàste, das unauslöschliche Herrscherpaar.
Die Albae, die vor etwas mehr als eintausend Zyklen ins Geborgene Land kamen, ihre wahre Natur mit Alchemie verhüllend, fürchten sich vor den unsichtbaren, allgegenwärtigen Ursprünglichen aus alter Zeit.
Und jene Albae in der freien Stadt Brandenwall, die versteckt über die Menschenbewohner regieren, behaupten, sie selbst seien die wahren Ursprünglichen: Ausgestoßene aus Dsôn Khamateion und vor langer, langer Zeit verbannt vom Ganyeios, da sie nach den Traditionen unter Nagsar und Nagsor Inàste leben.
Keiner will, dass es die wahren Ursprünglichen wirklich gibt.
Nun erwies es sich, dass die vermeintliche Legende Mòndarcai existiert, obwohl man sein Dasein stets verleugnete. Doch er wurde gesehen, von vielen Zeugen, wie er auf einem Drachen ritt und andere Geschuppte tötete, bevor er wieder verschwand.
Welcher Schluss lässt sich daraus ziehen?
Nun, es ist ein Schluss, der vielen nicht gefallen wird.
Denn wenn aus einer Legende bereits eine Tatsache wurde, könnte es ein, dass aus der anderen …
Es stellen sich zudem die Fragen: Sollten sich die Ursprünglichen zu erkennen geben und aus ihren Verstecken treten, was würden sie bringen?
Frieden?
Krieg?
Leid?
Und für wen?
Aufzeichnungen von Khitâburàs,
undatiert
Die überscharfe Klinge näherte sich dem Ziel, und die freie Hand griff fest, doch zärtlich ins dunkle Haupthaar. Sirrend fuhr die Schneide abwärts – und durchtrennte kurz über den Fingern hervorstehende Strähnen. Lautlos trudelten sie herab und landeten auf dem Steinboden.
»Fertig«, verkündete Horgáris und blies ein letztes loses Härchen von ihrem Handrücken. Sie trug eine schwarz-weiße Robe mit roten und gelben Stickereien, die blonden Haare mit den zwei dunkleren Strähnen zusammengesteckt am Hinterkopf. Eine für jedes Kind, das sie geboren hatte. Schnell beugte sie sich über Amânoras’ rechte Schulter nach vorne und küsste ihn liebevoll auf die Wange. »Du siehst gepflegter denn je aus, Geliebter.«
Er lächelte in den Spiegel. »Danke.« Glatt rasiertes Kinn, schlankes Gesicht, hohe Wangenknochen, und doch beherrschte eine gewisse Weichheit seine Züge. »Ich hielt mich fast schon für einen ungehobelten Menschen.«
Innig blickten sich Alb und Albin über die reflektierende Oberfläche in die Augen. Ihre Liebe dauerte bereits fünf Teile der Unendlichkeit, und sie war nach Amânoras’ Dafürhalten nicht weniger geworden.
»Wie recht du hast! Beinahe erlosch meine Liebe zu dir«, sagte Horgáris neckend und verstaute das Rasiermesser sorgfältig in der Schachtel. Sie legte die scharfe Klinge, welche Haare nicht nur kürzen, sondern auch zu spalten vermochte, so sie von ihrer kundigen Hand geführt wurde, mit der Schneide nach unten auf eine Halterung aus Wachs und Bernstein.
Horgáris wandte sich um und stellte das Kistchen in ein Schränkchen, das aus Schwarzholz und geweißtem Gebein gefertigt war. Nachts schimmerten die Intarsien wie Knochenleuchten.
»Und nun?« Amânoras erhob sich vom Stuhl und warf den schützenden Leinenumhang ab, der über seiner bequemen, dunklen Kleidung gelegen hatte. Die langen schwarzen Haare, ihrer Spitzen beraubt, fielen bis aufs Schulterblatt.
»Liebe und begehre ich dich wie bei unserem ersten Anblick.« Horgáris zwinkerte einmal.
»Schön, dass unsere Welten im Einklang sind.« Der Alb schloss sie in die Arme und genoss ihre Wärme. Duftwasser und Eigengeruch mengten sich zu Unwiderstehlichkeit. »Wie sieht es mit deiner Frisur aus?« Er versuchte, die hochgesteckten blonden Haare zu lösen. »Soll ich dir …?«
»Bei Inàste, niemals!«, wehrte Horgáris lachend ab und wand sich aus seinem Griff. »Das kann Retéris übernehmen, wie stets. Sonst scherst du mich am Ende runter bis auf die Haut wie ein Schaf. Du magst ein Künstler sein, aber auf den Umgang mit meinem anspruchsvollen Schopf verstehst du dich nicht.«
Es klopfte ungeduldig an der Tür zu ihren Gemächern.
»Vater, Mutter? Beeilt euch. Wir warten«, drang Retéris’ Stimme ungehalten durch das Holz. »Die Beratschlagung kann nicht länger hinausgezögert werden.«
Amânoras und Horgáris wechselten grinsend einen Blick. »Wir sind gleich da«, antworteten sie unisono.
»Wie sie uns mit ihren Eineindrittel Unendlichkeitsteilen maßregelt – das ist die Erziehung deines Ahnherrn«, befand Horgáris und seufzte. »Sie ist erwachsener als du und ich.«
»Das wäre ein Wunder. Retéris sah ihn in der Vergangenheit allenfalls an wenigen Momenten der Unendlichkeit«, entgegnete Amânoras und wehrte seine indirekte Mitschuld an der Ernsthaftigkeit des Nachwuchses ab. »Aber ihre Wut und den Kampfesmut, den hat sie von dir.«
»Sowie die Freude am Disputieren, ich weiß. Gerade erscheinen mir alle Wesensmerkmale unserer Tochter wie ein Fluch.« Horgáris lachte auf und öffnete die Tür. »Komm. Lass uns vor das unerbittliche Gericht treten und uns dem harten Urteil beugen.«
»Es sei!« Amânoras ging an ihr vorbei und hakte sich währenddessen bei ihr ein.
Arm in Arm schritten sie durch ihre Unterkunft, die am östlichen Rand der überspülten Ruinen von Dsôn lag. Gut geschützt und verborgen vor den Vierten, die gelegentlich auf ihrer Wachrunde vorbeizogen.
Im Gehen überlegte Amânoras, welch Glück sie bei allem Unglück gehabt hatten. Bislang waren sie die einzigen Überlebenden, die in dem untergegangenen Reich seines Volkes überdauert hatten. Der halb versunkene Palast, in dem er mit Horgáris, Sohn Ecalôr und Tochter Retéris lebte, erwies sich als perfekt im Unperfekten.
Vor der Geburt der eigenen Kinder hatten sie eine junge Albin namens Vârai als Nachwuchs angenommen und zogen sie liebevoll groß. Bald nach dem Einzug der Familie in den Palast hatte sich Amânoras’ erkrankter Ahnherr zu ihnen gesellt. Er lebte bereits mehr als fünfzig Teile der Unendlichkeit und litt an den Folgen der Alchemie, den seine Altvorderen eingenommen hatten: Fingerzittern, Stottern und ansatzlose Wutausbrüche.
Früher hatte die Familie des reichen Albs Esîphanor in dem mehrstöckigen Prachtgebäude aus Glimmholz gelebt, das im Dunkeln silbern leuchtete, dank Basalt und Granit.
Zwei zerriebene Leiber hatten Amânoras und Horgáris unter herausgebrochenen Steinen und einer eingestürzten Wand geborgen. Der Rest der ehemaligen Bewohner war wohl bei dem Versuch, dem sterbenden Dsôn zu entkommen, von den Bergen erschlagen oder den Vierten abgeschlachtet worden.
In den Kellern und Vorratsräumen jener Ruinen, die nicht überschwemmt waren, fand sich genug Proviant, der durch die gute Haltbarmachung überdauerte. Manchmal erlegte Horgáris Wild oder eines der ausgebüxten Nutztiere, von denen es einige in den Busch- und Farnwaldflecken ringsum gab; ab und an schoss sie einen Steinbock aus der Steilwand oder »fischte«, wie die Albin es nannte. Ein von ihr erlegter Morratugor brachte schmackhaftes Fleisch für etliche Momente der Unendlichkeit.
Aber die größte Kunst blieb, nicht von den Unterirdischen entdeckt zu werden.
Genau dies war passiert und ließ sich nun nicht mehr ungeschehen machen.
Amânoras und Horgáris gingen über den abfallenden Boden. Der Palast wies eine leichte Neigung auf, die runde Gegenstände schnell zum Rollen brachte. Flüssigkeiten standen in den Gefäßen ein wenig schief, und Erbsen gab es nur als Eintopf oder Stampf.
Die breiter werdenden Risse in den Wänden belegten, dass das Gebäude der Natur nicht ewig widerstehen würde. Es sackte zunehmend weiter ab, wie das gelegentliche Knacken von Stein sowie das Knarren und Knistern der Balken verrieten.
Das Paar erreichte den großzügig gehaltenen Kaminraum, in dem sie sich unter bestimmten Wetterbedingungen erlaubten, ein Feuer zu entfachen, um die Winterkälte aus den Wänden zu vertreiben. Seit dem Vorfall auf dem Knochenplatz durften keine Flammen entzündet werden, jedenfalls nicht tagsüber. Der Rauch hätte ihren Standort verraten. Ihnen blieben die Kohlebecken in den Räumen, auch wenn sie dabei auf den Sauerstoffgehalt im Zimmer achten mussten.
»Da seid ihr ja«, begrüßte sie Retéris, die ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten war und das blonde Haar vererbt bekommen hatte. Sie saß mit Vârai und Fòlorân am großen Tisch in der Mitte des Kaminraums. Dicke Webmäntel aus Schwarzwolle sowie fein aufbereitete Felle verbargen die Kleidung darunter. Schmuck um Hals und an den Fingern diente als Blickfang, das Gleiche erreichten goldene Spangen und Hülsen im Tierhaar, als gäbe es noch andere Bewohner zu beeindrucken. »Wir dachten schon, ihr wolltet euch rausreden und die Besprechung erneut verschieben.«
Der kleine Ecalôr schlummerte mit seinen gerade einmal Eindrittel in einer Wiege, dick unter Decken und Pelzen gegen die Kühle eingemummelt.
»Wir hätten euch damit nicht durchkommen lassen.« Fòlorân, der wie der große Bruder seines Nachfahren Amânoras wirkte, stampfte unterstützend mit dem schulterhohen Speer auf, den er als Gehstock nutzte. Nicht die Teile der Unendlichkeit hatten ihm Falten um die Augen und Furchen auf der Stirn eingebracht, sondern seine Krankheit. Es kam vor, dass das Dunkle seiner Wutlinien nach einem Wutausbruch schwand, aber die Haut wie eingeschnürt wirkte. Doch sein Verstand war klingenscharf. »Unsere Leben hängen davon ab.«
Lediglich Vârai blieb ruhig und blickte auf ihre Vorzeichnung auf dem weißen Karton, mit der sie sich beschäftigt hatte. Auch sie sah sich als Künstlerin, als Erschafferin von Neuem und Großartigem und wich Amânoras innerhalb des Palastes selten von der Seite. Wissbegier, Faszination und unendliche Inspiriertheit zeichneten die junge Albin mit den hellbraunen Haaren aus.
»Möchte jemand einen Wein, bevor wir beratschlagen?«, lockte Horgáris und versuchte, die Stimmung etwas zu heben. Sie nahm Gläser aus dem Schrank und stellte sie auf den Tisch, wählte eine Flasche und öffnete sie. »Es ist ein leichter Tropfen. Nichts, was die Sinne benebelt.«
»Danach«, schnarrte Fòlorân, dessen Züge härter als die seines Nachfahren waren. Auf dem schwarzen Schopf saß ein ausladendes Barett, an dem wiederum eine Gebeinbrosche mit Tionium und Palandium haftete. »Entweder muss ich mich im Anschluss betrinken, oder ich feiere den Sieg der Vernunft.«
Amânoras und seine Gefährtin setzten sich auf die freien Stühle. »Beginnen wir mit der Unterredung«, hob er an. »Wägen wir ab, welche Lösungen –«
»Es gibt nichts mehr abzuwägen, Vater«, fuhr ihm Retéris ins Wort. »Moment um Moment haben wir seit der Zerstörung abgewogen und jedes Mal entschieden zu bleiben. An diesem Ort, an dem es nichts mehr gibt. Weil du eine Aufgabe hast. Als Einziger hier.«
»Du solltest die Schönheit im Verfall eigentlich erkennen«, warf Vârai ein und malte an ihrer Vorzeichnung weiter. Sie hatte einen roten Seidenschal um Hals und Haupt geschlungen. Die dünne Spitze aus gepresstem Grafit vollendete Linien, deutete neue an, erschuf Kringel ohne offensichtlichen Sinn. »Es ist eine andere Form von Kunst, die –«
»Ein Ort, an dem es nichts mehr gibt. Zudem werden die Vierten uns jetzt jagen«, redete Retéris über den Einwurf hinweg. »Nachdem sie Vater gesehen haben und für den Mörder ihresgleichen halten.«
»Eine Schande, dass du die vermaledeiten Bergmaden nicht getötet hast«, murmelte Fòlorân und trommelte mit zwei Fingern vorwurfsvoll über den Speerschaft. »Wir hätten es den Plünderern in die Stiefel geschoben. Damit wären unsere Probleme hinfällig.«
»Es waren vierzig. Sie hatten Bögen und Armbrüste«, verteidigte sich Amânoras zum gefühlt einhundertsten Mal. »Und sie standen in großer Entfernung. Sie hätten mich gespickt, bevor ich nah genug gewesen wäre.«
»Wärst du ein Krieger wie ich geworden, hättest du es spielend mit ihnen aufgenommen. Aber nein, du wähltest einen anderen Pfad.« Fòlorân ließ nicht locker. »Gegen meinen Willen und den deines Vaters.«
»Du warst nie da und wolltest nie da sein«, bemerkte Amânoras spitz. »Mutter war mein Pfad nach Vaters Tod sehr recht. Und mir auch.«
»Ich möchte eine Abstimmung darüber, was wir tun. Vor Ablauf eines Splitters der Unendlichkeit«, eröffnete Retéris resolut in den Streit zwischen Ahnherr und Nachfahre, als wäre sie ihrer beider Mutter.
»Nein. Wir haben abgemacht, dass wir zu Beginn eines neuen Winters gemeinsam entscheiden. Und das taten wir. Es ist nicht lange her«, erinnerte Horgáris. »Du hast für das Bleiben gestimmt. Erinnere dich, Tochter.«
»Das war, bevor die Unterirdischen Vater entdeckten. Wir sind unserer Unsterblichkeit nicht mehr sicher. Und das noch dazu an diesem schrecklichen Ort, der für das Ende unserer Zivilisation steht«, gab Retéris zurück. »Die Erinnerung daran, wie wundervoll Dsôn einst gewesen ist, schmerzt mich sehr. Es drückt auf meine Seele.«
»Deine Seele? Nun, unsere Toten erhielten keine würdige Beisetzung, und deren Seelen leiden weitaus mehr als deine. Ich hole es symbolisch nach und gebe ihnen ihren Frieden«, mahnte Amânoras. »Es ist meine Pflicht als Künstler. Als letzter Künstler von Dsôn.«
»Den es bald nicht mehr geben wird, sobald die Vierten uns aufgespürt haben!«, erwiderte seine Tochter mit Empörungstränen in den Augen. »Wir können es niemals mit Hunderten von ihnen aufnehmen.« Sie legte eine Hand beschwichtigend auf die ihres Ahnherrn, der bereits Luft zum Protest schöpfte. »Zu deinen besten Zeiten – vielleicht, Ahnos. Aber nicht jetzt.«
Fòlorân lächelte sie dankbar an, und die Gebeinbrosche am Barett blinkte auf.
»Es wird keine vorgezogene Abstimmung geben«, beharrte Amânoras und sehnte sich nach einem Schluck Wein. Etwas Leichtigkeit im Verstand. Aber er hielt sich zurück. »Es ist entschieden worden. Von uns allen. Daher werden wir die Gefahr aussitzen.«
»Was würdest du tun wollen, Retéris?« Horgáris versuchte zu verstehen, was hinter dem plötzlichen, argen Drängen ihrer Tochter lag. »Welche Pläne schweben dir vor?«
»Raus aus diesem unwürdigen Grabmal. Aus diesem Hort voller Schmerz, umgeben von Geistern und lauernden Bestien und Unterirdischen, die uns allesamt töten wollen«, stieß sie aus. »Wir sind nicht sicher hier!«
»Und wohin möchtest du?«, hakte Horgáris nach.
Retéris zeigte nach Süden. »Lasst uns nach Brandenwall ziehen! Dort sind bestimmt viele von den Unseren aufgenommen worden«, sagte sie mit weicherer, lockender Stimme. »Sobald wir uns in der Stadt erholt haben und zu Kräften gekommen sind, will ich ins Geborgene Land hinaus und Rache nehmen.«
»Ich wusste es«, murmelte Amânoras und stieß die Luft aus. Er nahm die Weinflasche und goss sich ein. Er ahnte, woher das blutrünstige Ansinnen kam. »Das ist sinnlos, Tochter!«
»Was kann sinnlos daran sein, Vergeltung zu jenen zu bringen, die uns, die unsere Heimat, die den Ganyeios vernichtet haben?«, erwiderte Retéris düster, und schwarze Wutlinien entstanden auf ihrem Antlitz. »Sie nahmen mir meine Zukunft. Ich will mich in ihre Burgen und Schlösser schleichen. Menschen, Zwerge, Meldrith und Elben raune ich meinen Namen ins Ohr, ehe ich mit dem Messer zustoße. Niemals soll Freude im Geborgenen Land darüber herrschen, dass sie mein Dsôn vernichtet haben. Nimmermehr!«
»Du ganz alleine?« Vârai sah nicht von ihrer Zeichnung auf, die mehr und mehr hinzugewann. Aus den wirren Strichen und Kringeln war eine Figurengruppe um den gefallenen Mond auf dem Knochenplatz geworden.
»Ich habe sie über viele Splitter und Momente hinweg ausgebildet«, sagte Fòlorân mit Stolz. »Sie ist vernichtend wie ein schwarzer Pfeil in der Nacht.«
»Mag sein, dass meine Tochter das einst sein wird. Aber noch ist sie jung und muss viel lernen«, wiegelte Amânoras ab. »Solange sie mich nicht schlägt, und ich bin nur ein Künstler, wie du mich stets erinnerst, wird sie schneller tot sein als gefürchtet. Das kann ich nicht zulassen.«
»Aber du würdest mich in diesem vermodernden Dsôn gegen verfluchte Unterirdische sterben lassen?« Retéris stieß einen verzweifelten Schrei aus. »Für deine … Kunstwerke und die Toten, die sich nicht darum scheren, ob wir ihnen Geschenke machen?«
»Das werden wir nicht, Tochter.« Amânoras versuchte es versöhnlicher. Seinen vorherigen Fehler in der Wahl seiner Worte hatte er zu spät bemerkt. Er sah es ihr nach, dass sie seinen Auftrag nicht verstand. Nicht von Herzen verstand. »Niemand von uns wird sterben.«
»Ich will eine Abstimmung!«, verlangte Retéris trotzig.
»Und ich auch«, sprang Fòlorân ihr bei, um wieder mit dem Speerende auf den Boden zu stoßen. »Gerne opfere ich meine Unsterblichkeit beim Kampf gegen die Vierten, um meiner Nachfahrin den Ausbruch aus diesem Gefängnis zu ermöglichen und das Geborgene Land in Angst und Schrecken zu versetzen. So wie es sein muss. Und wie es dieser Abschaum verdient hat.«
»Stimmen wir doch zunächst ab, ob wir eine Abstimmung erlauben«, schlug Horgáris als Kompromiss vor.
»Guter Gedanke! Wer ist dafür, die festgelegten Pläne neu zu überdenken?«, fragte Amânoras in die Runde. »Der hebe jetzt die linke Hand.«
Seine Tochter und sein Ahnherr waren die Einzigen.
»Damit ist es entschieden. Wir bleiben«, verkündete er erleichtert. Seine höhere Aufgabe geriet nicht in Gefahr. »Aber nicht im Palast.« Er nickte Retéris zu. »Dies ist mein Zugeständnis an dich. Als Beweis, dass ich deine Unsterblichkeit nicht leichtfertig für mein Tun aufs Spiel setze.«
Seine Tochter warf sich frustriert gegen die Lehne ihres Stuhls. Ihre Lippen wurden zu einem dünnen Strich, und Fòlorân legte eine Hand beruhigend auf ihre Schulter.
»Was hast du vor?« Horgáris sah ihren Gefährten nachdenklich an. »Es gibt in den gefluteten Gebieten kaum vergleichbar angenehme Unterkünfte wie diese.«
Amânoras lächelte. »Kehren wir zurück. Zu den Anfängen.«
»Bei Inàste!«, stieß Fòlorân verzweifelt aus. »Habt ihr den Verstand verloren?«
»Was bedeutet das?« Vârai unterbrach das Zeichnen und schaute irritiert in die Runde. Der rote Seidenschal schmiegte sich um ihr Antlitz und betonte die feinen Züge.
»Es ist viel gefährlicher als dieser einstürzende Palast«, deutete Retéris an. »Ein Funke, und wir explodieren.«
Vârai zuckte mit den Schultern. »Ich verstehe es nicht.«
»Zu Beginn, als Dsôn unterging und die künstlichen Kaskaden das Wasser unablässig gegen uns spülten, bildete sich auf dem Boden der verbrannten Steineichwälder sumpfiges Terrain«, erzählte Amânoras. »Das Drachenfeuer wandelte den Untergrund, sodass an manchen Stellen nicht einfach nur glühend heißer Morast, sondern darüber eine tückische Kruste entstand. Wie ein dünn gebackener Teig. Man kann darauf laufen wie auf Erde, und es scheint fester Grund zu sein. Aber eine falsche Bewegung, ein falscher Tritt, und der Fuß bricht in brodelnden Sumpf darunter ein. Und verbrennt.«
»Dein Vater und ich verbrachten dort viele Momente, weil sich die Unterirdischen nicht hineinwagen. Ihr Gewicht ist von Natur aus höher als unseres. Ihre Vorliebe für schwere Panzerung tut ihr Übriges. Nach vielen Verlusten hielten sie sich fern.«
»Ein tödlicher Ort?«, stellte Vârai ungläubig fest. »Der soll uns schützen? Bei Inàste!« Sie berührte versonnen das rote Tuch. »Ich denke, dass er uns umbringen wird.«
»Aber, Schwester! Sieh doch die Schönheit des Zerfalls darin«, spöttelte Retéris. »Male doch, wie einer von uns als Lohe vergeht.«
»Wir hatten wunderbare Baumhäuser errichtet, in denen es sich vorübergehend leben lässt. Dort ist es sicherer als hier«, erklärte Horgáris. »So sie noch existieren.«
»In Baumhäusern.« Fòlorân stöhnte. »Wie verfluchte Elben. Dass ich das noch erleben muss!«
»Wir zwingen dich nicht. Bleib im Palast, Ahnos«, schlug Amânoras mit zuckersüßer Stimme vor. »Du kannst alle Unterirdischen umbringen, die eindringen. Es wird dir ein Leichtes sein, so einem Krieger wie dir. In gewohnter Umgebung.«
Vârai grinste.
»Bevor wir alle mit Gepäck und Proviant umziehen, werden euer Vater und ich die Lage auskundschaften. Ob unsere Häuser von einst noch in den Wipfeln stehen und sicher sind«, eröffnete Horgáris. »Wir brechen vor Sonnenaufgang auf.«
Amânoras nickte langsam. Damit würden sich seine Arbeiten am nächsten Kunstwerk zum Gedenken der Toten von Dsôn verschieben.
Das schmeckte ihm nicht.
Die Künstlerseele begehrte gegen den zeitlichen Verzug auf, zumal ihm ein grandioser Gedanke gekommen war, den er unbedingt umsetzen wollte. Aber das musste warten. Das Leben seiner Familie hatte Vorrang vor den Seelen der Verlorenen. Das sagte er sich wieder und wieder, auch wenn es sich nicht richtig anfühlte.
Denn Kunst stand über allem.
Amânoras sah verwundert den aufragenden Stamm der immergrünen Sumpfzypresse hinauf, die sich etliche Schritte weit in den Himmel stemmte. Er fuhr mit der Hand über die Rinde, die keinerlei Anzeichen alter Brandschäden zeigte, und wandte sich nach rechts, wo Horgáris eine gewaltige Feenweide hinaufkletterte und zwischen den dichten Ästen verschwand. Langhaariges Trauermoos hatte lange, weiße Fäden daran ausgebildet, die im Wind wehten wie Totenschleier.
Weit vor Sonnenaufgang waren sie aus dem Palast aufgebrochen und im Schutz der weichenden Dunkelheit eilig nach Westen vorgedrungen. In kurzen Intervallen hatten sie gerastet und stets die Veränderungen der Landschaft bemerkt, je weiter sie sich ihrer alten Bleibe näherten.
Wie merkwürdig. Amânoras schob den leichten Tragesack auf seinem Rücken in angenehmere Position. Was ihn verwirrte, war zum einen der hohe, kräftige Wuchs der vielen Bäume ringsum, zum anderen die Arten. Weder die Sumpfzypresse noch die Feeneiche galten in Dsôn als heimisch, auch die Moosschmarotzerpflanze mit den wollähnlichen, bleichen Fäden kam für gewöhnlich hier nicht vor. Ihre Gartenmeister hatten Sorten bevorzugt, die dem ästhetischen Empfinden der Albae eher entgegenkamen und sich gut stutzen sowie in Form schneiden ließen.
Diese ausgebrochene Natur war wild, ungezügelt und unbeherrscht. Und viel zu weit gediehen für die kurze Zeit.
»Wir waren schon lange nicht mehr an diesem Ort«, rief er zu Horgáris hinüber. Gefütterte schwarze Kleidung schützte ihn und seine Gefährtin vor dem ausklingenden Winter, die Kapuzen hatten sie zurückgestreift. Als Rüstung trugen sie lediglich einen Brustharnisch. »Kannst du dich erinnern, dass diese Bäume hier standen?«
»Nein«, antwortete sie aus zehn Schritten Höhe, den stählernen Kurzbogen über der Schulter. »Dieser neue Sumpfwald reicht bis an die Berghänge. Das Wasser breitete sich weiter aus, als wir dachten. Und mit ihm der fremdartige Bewuchs.«
Amânoras wandte sich nach Westen, wo ihr altes Versteck über dem tückisch dünnen Untergrund lag. »Noch einen Sonnenlauf, schätze ich. Sofern das Dickicht nicht zunimmt.«
Er roch das torfige Moor, das abgestandene bräunliche Wasser, das durchfeuchtete Erdreich, in das die Pflanzen Wurzeln schlugen. Trotz des Winters hatten die Weiden ihre langen, flugfähigen Blätter in Form kleiner Feenkreaturen behalten. Zwischen den vereinzelten Schneeflecken auf dem Boden blühten Sumpfdotterblumen, Schwertlilien, Blutweiderich und Moorrosen in satten Farben, als gäbe es Insekten zum Anlocken.
»Das ist falsch«, murmelte Amânoras.
»Was sagst du, Geliebter?« Horgáris war lautlos zu ihm zurückgekehrt. Die langen blonden Haare lagen unter einem dunklen Tuch.
»Es ist falsch. Das alles.« Er pochte gegen den dicken Stamm der Zypresse. »Sie muss binnen eines Teils zu dieser Größe gewachsen sein. Aber wie?«
»Das Drachenfeuer mag den Boden fruchtbarer gemacht haben.«
»Aber woher kommen diese Pflanzen? Die Blumen?«
»Das Abschiedsgeschenk der Drachen?« Horgáris grinste. »Wie die kleinen Vögelchen trugen sie die Samen mit ihren Haufen in den letzten Winkel. Oder das Wasser aus den Bergkaskaden spülte sie zu uns.«
Amânoras wollte diese Erklärung nicht gänzlich von der Hand weisen, doch erschien sie ihm kaum plausibel. Die Samen hätten viel früher austreiben müssen.
»Gut für uns«, sagte er dennoch. »Wir können uns besser vor den Unterirdischen verbergen. Sie mögen Wälder nicht besonders.«
»Ich auch nicht. Die überlasse ich Elben.« Horgáris atmete tief ein. »Es riecht nach Blumen! Im Norden des Braunen Gebirges und mitten in der Eiseskälte, die einem jeglichen Lebewesen das Blut in den Adern gefrieren lässt, riecht es blumig. Das ist nicht nur falsch, sondern verrückt.«
Amânoras entdeckte eine ihm unbekannte schwarzblaue Blume, aus der ein roter Blütenstempel hing wie ein geronnener Blutstropfen. Und wundervoll!
Seine Künstlerseele wollte, dass er sie pflückte und konservierte, sie verarbeitete und den Toten von Dsôn zum Geschenk machte. In Gedanken kreierte er kleine Gedenktafeln, gegossen aus Edelbronze und Grünsilber, geziert von dieser Blume.
»Amânoras? Gehen wir?« Horgáris stupste ihn an. »Reiße dich vom Anblick der Schönheit los.«
Er lächelte sie ertappt an. »Nichts vermag es mit deiner Anmut aufzunehmen.«
»Du Lügner. Ich erkenne die Verzückung auf deinen Zügen, sobald der kreative Geist in deinem Kopf umherfliegt.« Seine Gefährtin schritt an ihm vorbei und gab ihm einen Kuss. »Wir nehmen die Blume auf dem Rückweg mit.«
Amânoras folgte ihr in das Dickicht aus Großblutfarn, dessen größte Stängel ihm bis zur Schulter reichten und deren ausladende gezackte Blätter bis zu drei Schritt lang waren. Es fiel ihm schwer, die Gedanken aus den rotierenden Entwürfen zu lösen, die binnen Herzschlägen in seinem Kopf entstanden.
Das änderte sich, als Horgáris unvermittelt stehen blieb und sich eilig duckte, während sie den Stahlkurzbogen von der Schulter nahm. Im selben Moment vernahm er die Kampfgeräusche: das Klirren von Waffen und das Brüllen einer großen, gefährlichen Kreatur, das Amânoras sehr gut kannte.
»Knochenmalmer«, flüsterte er und trat an die Seite seiner Gefährtin. Etliche von ihnen hatten sie gemeinsam besiegt, wenn es sich nicht hatte vermeiden lassen. Gerade auf der Jagd im Gebirge geriet man schnell an diese Bestien.
»Drei von ihnen«, sagte sie und bog den Großblutfarn behutsam zur Seite, damit sie besser sehen konnte, ohne entdeckt zu werden.
Ein Trupp Unterirdischer war an die tödlichen Tiere geraten, welche die Ausmaße von Höhlenbraunbären hatten. Die Krallen der tellergroßen Pranken rissen schwere Wunden, und die stumpfen Zähne wirkten in den kräftigen Kiefern wie Mühlsteine, die mit einem Biss Knochen zerstampften. Rüstungen halfen gegen die mörderischen Quetschungen nicht.
»Es sind üblicherweise Einzelgänger«, sagte Amânoras verwundert.
»Alles Männchen, was es noch rätselhafter macht. Sie würden sich eher gegenseitig zerfetzen, als Unterirdische anzugreifen.«
Die Vierten hatten bereits fünf Krieger an die Knochenmalmer verloren und wehrten sich am Rande einer sumpfigen Stelle gegen die brachialen Attacken. Die tiefen Schnitte und Löcher in den Seiten der Bestien hielten die Tiere nicht vom beständigen Nachsetzen ab.
Als würde sie etwas antreiben, dachte Amânoras.
Geschickt brachten die Unterirdischen die Stämme der Bäume zwischen sich und die wütenden Tiere, um aus deren Schutz mit Äxten und Beilen auf sie einzudreschen. Etwaige Kugelschleudern schienen verloren gegangen zu sein.
Horgáris und Amânoras verfolgten gebannt den erbarmungslosen Kampf zwischen Bestien und Zwergen, bis nur noch ein blutender Knochenmalmer und zwei erschöpfte Vierte übrig waren, von denen einer eine Wunde in der Schulter davongetragen hatte.
Die übel zugerichteten Leichen lagen rings um die Feenweiden und halb im warmen Sumpfwasser an den Wurzeln der Zypressen, über dem schleierhafter Nebel waberte. Das Rot aus den offenen Wunden vermengte sich mit dem torfigen Nass und zog lange Schlieren.
Da bekam Amânoras einen Einfall.
»Erschieß den Malmer«, verlangte er von Horgáris. »Rasch!«
»Wieso?« Sie sah über die Schulter zu ihm. »Die Bestie nimmt uns Arbeit ab. Warum die Unterirdischen retten?«
»Weil sie danach in unserer Schuld stehen und wir ihnen sagen können, was wirklich auf dem Knochenplatz geschah. Dass die Plünderer die Vierten töteten.«
Horgáris runzelte die Stirn. »Ist dir das Sumpfgas zu Kopf gestiegen?«
»Es ist mein Ernst!«
»Und was, denkst du, werden die Vierten tun, wenn die zwei geretteten Bergmaden in ihre Festung zurückkehren und von dir erzählen? Etwa nicht auf die Jagd nach dir gehen?«
»Ja.« Amânoras versuchte, seine Antwort mit Überzeugung vorzutragen.
Während sie disputierten, erwischte der Knochenmalmer den verletzten Zwerg trotz des Schutzes hinter dem Baum mit der Pranke. In einer Splitterwolke ging der Unterirdische schreiend zu Boden, und der rasche Biss der nachsetzenden Bestie zerquetschte den Schädel im Helm wie eine Traube im Bitterzuckermantel. Das Gekreisch verstummte.
Horgáris lachte ungläubig über die Forderung ihres Gefährten. »Niemals.«
»Was haben wir zu verlieren? Die Vierten suchen ohnehin nach mir. Appellieren wir an ihr Ehrgefühl und dass wir …« – er sah angespannt zum fortschreitenden Kampfgeschehen, wo der letzte Zwerg einen Hieb einstecken musste – »… wenigstens einen von ihnen gerettet haben. Beeile dich!«
»Samusin möge dir glauben.« Horgáris legte einen langen schwarzen Pfeil aus dem Köcher auf die Sehne und schoss ihn mitten durch den rechten Augapfel des Knochenmalmers. Sie setzte ein zweites Geschoss in die Seite und ein weiteres durch die Brust ins Herz.
Aufschnaufend brach die Bestie neben dem letzten, verdutzten Vierten zusammen, die Krallen gruben sich tief in den weichen Sumpfboden.
Die Albin reichte Amânoras den Stahlkurzbogen. »Los, geh! Tue so, als wärst du der Schütze gewesen.« Sie zog einen Wurfdolch aus der Gürtelhalterung. »Ich bin in der Nähe, falls die Bergmade es wagt, dich begnadeten Künstler zu attackieren.« Sie gab ihm einen Pfeil. »Nimm ihn. Das macht es glaubwürdiger.«
Amânoras schob die Sehne in die Nock und hastete aus der Deckung des Blutfarns. »Hey! Hey, du«, rief er von Weitem. »Unterirdischer! Ich habe dir das Leben gerettet.«
Der dunkelbärtige Vierte hob seinen zerschlissenen Schild zur Abwehr und reckte die leichte Axt. »Das Schwarzauge!« Seine Statur war schmächtiger als jene der anderen vier Stämme, dafür waren die Feinarbeiten der Schmucksteine in der Rüstung und im Helm um Längen besser gelungen. »Hier hast du dich also vor uns versteckt. Mörder!« An seinem linken Arm war das Kettenhemd nach der letzten Attacke aufgeschlitzt, und das dunkelrote Blut troff herab.
Lange wird er es nicht mehr machen. Er überlegte, welche Gemälde und Lackierungen sich aus dem Lebenssaft anfertigen ließen. Reiß dich zusammen. Die Made soll überleben.