Die Legenden der Albae - Markus Heitz - E-Book
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Die Legenden der Albae E-Book

Markus Heitz

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Beschreibung

Nach den Ereignissen aus Markus Heitz' Bestseller »Das Schicksal der Zwerge« liegt das Geborgene Land gebrochen dar. In der schrecklichen Schlacht wurden von den Helden viele Opfer gebracht, um die Heimat der Zwerge, Elben und Menschen vor dem Bösen zu bewahren: Lot-Ionan und die Albae sind besiegt. Aiphatòn, der Sohn der Unauslöschlichen und einstiger Kaiser der Albae, macht sich auf die Suche, die Letzten seines Volkes in ihren Verstecken im Geborgenen Land aufzuspüren und zu vernichten. Er schwor, dass von den Albae niemals mehr eine Gefahr ausgehen darf. Dabei gerät er plötzlich an eine rätselhafte Magierin, die sich mit ihrer Sippschaft auf ganz besondere Zauber versteht, gegen die es scheinbar kein Mittel gibt. Sollte es Aiphatòn nicht gelingen, die Botoiker aufzuhalten, droht dem geschwächten Geborgenen Land der Untergang. Aus einem Alb, dem Todfeind des Geborgenen Landes, wird die größte Hoffnung. Doch noch andere Dinge tun sich in Tungdils Heimat, die sich sein alter Freund Ingrimmsch nicht erklären kann ...

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Entdecke die Welt der Piper Fantasy:

Denen, die zu handeln wissen, wenn es angebracht ist. Es sollte mehr von jenen geben.

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1.

Auflage 2014

ISBN 978-3-492-96607-8

© Piper Verlag GmbH 2014 © 2013 Markus Heitz, vertreten durch: AVA international GmbH Autoren- und Verlagsagentur www.ava-international.de Karte: Guter Punkt, München | Markus Weber Covergestaltung: Guter Punkt, München Covermotiv: Alan Lathwell, London Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

DRAMATIS PERSONAE

TARK DRAAN

Die Albae

Aiphatòn, Kaiser der Albae in Tark Draan und Kind der Unauslöschlichen

Die Dsôn Aklán

Firûsha, Sisaroth und Tirîgon, Drillinge, gemeinsame Herrscher über die Nord-Albae

Daitolór, Albkrieger im Rang eines Benàmoi

Tanóra, Veteranin

Vonòria, Veteranin

Carmondai, Geschichtenweber

Ostòras, Krieger

Rhogàta, Kriegerin

Votòlor, Krieger

Die Menschen

Mallenia, Königin von Gauragar und Idoslân

Rodario, König von Urgon

Coïra, Maga

Kerjan Münzler, Bürgermeister von Güldenwand

Rodîr Bannermann, Krieger

Endô, Flüchtling

Sha’taï, seine Nichte, Flüchtling

Lot-Ionan, Magus und einstiger Ziehvater von Tungdil Goldhand

Die Zwerge

Baromir Goldenstein aus dem Stamm der Zweiten

Boïndil »Ingrimmsch« Zweiklinge aus dem Clan der Axtschwinger, König der Zweiten

Tungdil Goldhand aus dem Stamm der Dritten, Spitzname: »Gelehrter«

Beligata Hartschlag, einst aus dem Stamm der Dritten, nun eine Freie

Belogar Streithammer aus dem Clan der Brockenwälzer vom Stamm der Fünften

Gosalyn Bergsturz aus dem Clan der Gangsucher vom Stamm der Fünften

Carâhnios, Zhadár

Die Elben

Fiëa

Ilahín, Fiëas Gemahlin

Phenîlas

ISHÍM VORÓO

Die Albae

Modôia, Herrscherin über Dsôn Elhàtor

Ôdaiòn, Modôias Sohn

Leïóva, Vertraute Modôias

Ávoleï, Leïóvas Tochter und Kommandantin eines Kampfschiffes

Olòndôras, Cîanoi

Khônatá, Oberste Cîanai der Hohen Schule

Shôtoràs, Regent von Dsôn Dâkiòn

Irïanora, Shôtoràs’ Nichte

Saitôra, Irïanoras gute Freundin

Bethòras, oberster Bau- und Kartenmeister

Gathalor und Iophâlor, Irïanoras Bekannte

Pasôlor und Horgôra, Vertraute des Regenten

Arthâras, Leibwächter

Zelája, Dienerin

Vailóras, Krieger und Abgabeneintreiber

Lethòras, Oberster Cîanoi

Tanôtaï, Todestänzerin

Anûras, Meister der Todestänzer

Nodûcor, verstoßener Alb

Die Menschen

Kôr’losôi, Botoiker der Nhatai-Familie

Saî’losôi, Botoikerin der Nhatai-Familie

Fa’losôi, höchste Botoikerin der Nhatai-Familie

Ysor’kenôr, Botoiker der Rhâhoi-Familie

Ythan’kenôr, Ysor’kenôrs Bruder

Sonstige

Gricks, Tratshka, Nrashq, Obko, Cushròk, Söldner aus dem Volk der Drêki

Joako, Wirt

Begriffe

Dsôn Elhàtor, die Erhabene, eine Albaestadt auf einer Insel

Dsôn Dâkiòn, die Stolze, eine Albaestadt auf einem Berg

Tronjor, Fluss, der von Dâkiòn zum Meer fließt

Onwú, Seefahrervolk der Menschen, Feinde Elhàtors

Shintoìt, Bezeichnung für ein Kind der Unauslöschlichen

Zhartài, Meistermörder, der auch Albae zu Zielen erklärt

Zhadár, abgeleitet von Zhartài, oftmals übersetzt als »die Unsichtbaren«

Benàmoi, Offiziersrang der Albae

Cîanai/Cîanoi; Cîani (pl.), Magierin/Magier bei den Albae

Botoiker, magisch begabte Menschen in Ishím Voróo

Drêki, Scheusale, deren Wurzeln orkischen Ursprungs sind

Dhaïs Akkoor, alte Hauptstadt des Botoiker-Reiches

Tr’hoo D’tak, neue Hauptstadt des Nhatai-Reiches

Ultai t’Ruy, Hauptstadt des Rhâhoi-Reiches

Malméner, Bestienzüchtung aus Troll, Oger und Riese

Kinder des Schmieds, Selbstbezeichnung der Zwerge

Man sagt, sie seien grausamer als jedes andere bekannte Volk.

Man sagt, der Hass gegen die Elben, Menschen, Zwerge und alle anderen Geschöpfe rinne schwarz durch ihre Adern und zeige sich im entlarvenden Licht der Sonne in den Augen.

Man sagt, sie hätten ihr Dasein ganz dem Tod und der Kunst gewidmet.

Man sagt, sie würden schwarze Magie beherrschen.

Man sagt, sie seien unsterblich …

Vieles wurde über das Volk der Albae verkündet.

Nun lest die folgenden Geschichten und entscheidet danach selbst, was der Wahrheit entspricht und was nicht.

Es sind Geschichten von unsäglichem Gräuel, von unvorstellbaren Schlachten, größter Niedertracht, grandiosen Triumphen und vernichtenden Niederlagen.

Aber auch von Mut, Aufrichtigkeit und Tapferkeit.

Von Freundschaft.

Und Liebe.

Dies sind die Legenden der Albae.

Unbekannter Verfasser Vorwort aus den verbotenen, die Wahrheit verklärenden BüchernDie Legenden der Albae, undatiert

Es ist nicht lange her, dass ich diese Zeilen niederschrieb.

Manche Geschehnisse klingen in den Vergessenen Schriften an, manche Hintergründe erscheinen nun in neuem Licht.

Wie sich doch alles miteinander verbindet, und selbst wenn viele Teile der Unendlichkeit dazwischenliegen.

Die Zeit der falschen Götter ist vorüber, wie es scheint. Sie erhoben sich selbst zu höheren Wesen und scheiterten. So endeten die Unauslöschlichen.

Doch das Wesen, das sie uns hinterließen, benahm sich gänzlich anders. Pflichtbewusstsein, Demut, Aufopferung – man erwartet es kaum von den Sterblichen und gar nicht von einem Göttersohn, für den er sich halten durfte.

Aiphatòn marschierte, um die Gefahr aufzuhalten, und geriet von einem Sturm in den nächsten, die an Kraft gewannen, bis er an den stärksten geriet.

Und ich?

Noch befinde ich mich im Auge des Orkans, genieße die Ruhe nach den vielen Momenten des Tosens und Lärmens, des Schreiens und des Todes.

Ich vermag nicht zu ermessen, wie lange diese Stille anhält und ob mich die Winde dann zerreißen.

Sollten meine Aufzeichnungen enden, hinterließ ich doch mit ihnen ein Vermächtnis, das mich übersteht.

Welch Ironie: Ein unsterblicher Alb benötigt dünnes Papier, um weiterzuleben!

Lest und versteht.

aus dem Epos »Aiphatòn«, aufgezeichnet von Carmondai, dem Meister in Bildnis und Wort

Tark Draan, Dsôn Bhará (einstiges Elbenreich Lesinteïl), eine Meile vor Dsôn, 5452.Teil der Unendlichkeit (6491.Sonnenzyklus), Frühsommer

Wie ich es mir dachte: Sie warteten ab, weil sie es nicht wagen, uns nachts anzugreifen.

Mit den blasshellen Strahlen der aufgehenden Sonne rückte die Schar jämmerlicher Gegner heran, die Daitolór deutlich in der Ebene erkannte. Den Tod bringen wir ihnen so oder so.

Staub stieg unter ihren Stiefeln auf, die trockene Witterung hatte die Erde rings um den Krater sandig werden lassen. Da kein Wind wehte, schraubten sich die bräunlichen Schwaden verräterisch in die Höhe und waren auch aus der Ferne leicht auszumachen.

»Sie kommen einmal mehr von Nordwesten über die Ebene. Etwa eintausend, die Hälfte der Barbaren als Krieger verkleidet, die anderen sind Bauern«, rief Daitolór von seinem Aussichtsplatz nach unten, ohne dabei beunruhigt oder aufgeregt zu klingen. »Sie eint, dass alle keinen Funken Verstand besitzen.«

Leises Gelächter erklang nach den Worten des Benàmoi.

Der Alb, der seine dunklen Haare unter dem Helm verstaut hatte, sprang von einem abstrakten Kunstwerk aus klar lackiertem Gebein und rostigem Eisen herab. Er landete elegant vor den zwanzig Kriegerinnen und Kriegern in gehärteten, schwarzen Lederpanzerungen.

Daitolór zeigte auf die nahenden Feinde. »Steckt die glatten Spitzen auf und zieht die Sehne so weit zurück, wie es geht. Jeder Pfeil muss mindestens drei von ihnen durchschlagen und das Leben rauben. Das spart Geschosse.«

Seine Soldaten, die ihre langen Bögen bereits von der Schulter genommen hatten, nickten stumm.

»Sobald die Verstandslosen auf zweihundert Schritte herangekommen sind, geben wir zwei geschlossene Salven ab, danach sucht sich jeder seine Ziele unmittelbar vor sich. Und nun los.«

Die kleine Einheit huschte hinter die zahlreichen Kunstwerke, die einst dazu gedient hatten, Besucher zu beeindrucken: durch ihre Beschaffenheit, durch ihre Besonderheit, durch ihre Einmaligkeit.

Daitolórs drei Schritt hoher Aussichtspunkt ruhte auf einem ehernen Sockel und formte mit den geschnitzten, durch Silberdraht verbundenen Knochen das Sternbild Inàstes Pfeil mit all seinen kleinen und großen Gestirnen nach.

Alles in allem nahm das Kunstwerk einen Raum von vier mal vier mal vier Schritt ein; unterschiedlich große Kristalle symbolisierten dabei die Sterne und funkelten wunderschön sowohl im Licht der Sonne als auch des Mondes. Den Sockel konnte man über Stufen erklimmen und sich mitten in den Nachbau des Sternbildes begeben.

Daitolórs Lieblingsstück, das er zwischendurch immer wieder betrachten musste, befand sich etwa zehn Schritt zu seiner Linken, umgeben von einer ganzen Schar Standbilder aus Gold, Tionium und poliertem Stahl.

In seiner Schlichtheit unterschied es sich und zog gerade dadurch die Blicke auf sich. Aus Gebeinen war ein sieben Schritt großer Oberkörper geformt worden, der sich aus der Erde zu stemmen schien. Die Knochen waren kunstvoll bemalt und mit Edelsteinen besetzt, die flirrten und blinkten.

Mit der rechten Hand reckte die Figur eine Waffe in die Höhe, mit acht Klingen bestückt und windradgleich gelagert, sodass der leichteste Luftzug genügte, um sie anzutreiben. Wenn die runenversehenen Schneiden durch den Wind glitten, surrten und summten sie leise; und je schneller sie sich drehten, desto hypnotischer wurde das Gesamtmuster der blitzenden Steine, das dabei entstand. Daitolór hatte sich oft dabei ertappt, zu lange gestarrt und gelauscht zu haben …

Genau wie in diesem Moment. Er riss sich vom Anblick los. Ein Schande, dass die Werke als Schützung herhalten müssen.

Der Benàmoi sah den Kriegern seiner Einheit zu, wie sie ihre Positionen einnahmen, und lockerte die gefiederten Pfeilschäfte im Köcher, der um seine Hüfte hing. Zwar führte jede und jeder von ihnen fünfzig Geschosse mit, was ausreichte, um die Feinde auszulöschen, doch man wusste nicht, wie lange die nächste Angriffswelle von neuen Verrückten auf sich warten ließ. Für jeden Bolzen, der ein Kunstwerk trifft, werde ich Rache nehmen und den Schützen leiden lassen.

Daitolór hatte aufgehört zu zählen, wie viele Tode seinen Namen trugen.

Und doch stand es nicht gut um das Reich der Nord-Albae, so viel Abschaum sie auch beseitigten.

Die Gefüge der Macht gerieten ins Schwanken, aber er zweifelte nicht daran, dass sie triumphieren würden. Es war für den Benàmoi allenfalls eine Frage der Pfeilvorräte.

Zwanzig Teile der Unendlichkeit lang hatten die Albae über große Teile Tark Draans regiert. Zuerst gab es nur die Dsôn Aklán – die Drillinge Sisaroth, Tirîgon und Firûsha – sowie die Überlebenden aus den Höhlen Phondrasôns. Gemeinsam hatten sie Dsôn Bhará errichtet und ihre Herrschaft mit jedem Sonnenaufgang ausgedehnt.

Später war Aiphatòn erschienen, der Sohn der Unauslöschlichen, zusammen mit einer Schar wilder Albae ohne Anstand und Kunstverstand, und hatte die Gesamtherrschaft über das Volk der Albae aufgrund seiner Abstammung an sich gerissen. Die Magie, die er beherrschte, untermauerte seinen Anspruch und pulverisierte buchstäblich jeden Widerstand. Den Hass gegen ihn und seine zweitrangige Gefolgschaft verbarg man im Norden hinter der Maske der herablassenden Freundlichkeit.

Zu guter Letzt hatte man die Unterirdischen aus dem Stamm der Dritten als Verbündete gewinnen können, was einen großen Schritt bedeutete. Damit konnte die vollständige Eroberung von Tark Draan und vor allem die Sicherung der eingenommenen Gebiete angegangen werden.

Daitolór erinnerte sich an die guten Zeiten, die mit dem Auftauchen von Tungdil Goldhand endeten. Er, der Held aus vergangener Zeit, hatte die vom Mut befallenen Völker gegen die Albae und alle anderen Eroberer geführt, mit denen sich die Drillinge bereits herumschlugen: vom Magus Lot-Ionan über den Drachen Lohasbrand bis zum Scheusal Kordrion.

Und auch gegen die Albae.

Gleich sind sie nahe genug. Leider konnte Daitolór die Augen nicht davor verschließen, dass es kaum mehr Kriegerinnen und Krieger seines Volkes gab, um den Wellen des Abschaums standzuhalten, die gegen sie brandeten.

Die Barbaren rannten unentwegt gegen die Hauptstadt an, angestachelt von Erfolgen in Dsôn Bharás Umland sowie den aufpeitschenden Worten der Elben, Unterirdischen und selbst ernannten Helden, die lachhafte Namen wie Mallenia oder Rodario trugen.

Selbstverständlich verschwiegen die Anführer, wie viele Tote es unter den Angreifern gegeben hatte, um den Barbaren nicht den Mut zu rauben.

Es blieb zumeist nicht genug Zeit, die Leichen aufzubrechen und nach geeigneten Knochen für neue Kunstwerke zu durchsuchen. Die meisten Kadaver wurden des Nachts von Aasfressern davongeschleppt, sodass die Barbaren die wahren Ausmaße ihrer Verluste nicht wahrnahmen. Nur der süßlich-beißende Gestank des verrottenden Fleisches aus den umliegenden Erdlöchern hing gelegentlich in der Luft.

Der kleine Barbarenhaufen rückte im Laufschritt über die Ebene heran. Was immer sie dazu bewog, sich an diesen Ort zu begeben und den Kampf zu suchen, Daitolór bezweifelte, dass ihr Antrieb Mut hieß. Barbaren vollbrachten meistens aus Gier die höheren Taten. Sicherlich wusste man in Tark Draan vom Reichtum der Albae. Das Glitzern der Kunstwerke wird sie anlocken.

Angeblich waren die sogenannten Süd-Albae, die Aiphatòn befehligt hatte, alle mitsamt dem Kaiser gegen Lot-Ionan gefallen. Der einzige Sohn der Unauslöschlichen gehörte der Vergangenheit an, und Daitolór weinte ihm keine Träne nach. Dass Aiphatòn den übermächtigen Magus geschlagen hatte und mit in den Tod reißen konnte, bezweifelte der Benàmoi.

Auch die Dsôn Aklán, für ihn die wahren Herrscher der Albae, verzeichneten einen schmerzvollen Verlust: Firûsha starb bereits vor längerer Zeit im Kampf gegen eine Maga, wie man sich erzählte; von ihren geschwisterlichen Anführern Tirîgon und Sisaroth hatte man lange nichts vernommen. Sicherlich kämpften sie irgendwo in Tark Draan gegen den Abschaum. Solange die beiden Brüder ihnen beistanden, konnte nichts Schlimmes geschehen.

Sie führten uns aus Phondrasôn zu einem unserer größten Siege. Sie führen uns gewiss auch durch die schwere Zeit.

Die Schwäche der Nord-Albae und das Durcheinander nutzten die Feinde aus: Während sich die Truppen rasch sammeln wollten, um die Hauptstadt zu verteidigen, brachen plötzlich Aufstände überall in Dsôn Bhará los. Somit waren die Albae gezwungen, an vielen Orten gleichzeitig gegen die Funken des Widerstands anzutreten und sie mit Blut zu löschen.

Wie Daitolór inzwischen erfahren hatte, kündigten die Unterirdischen vom Stamm der Dritten den Verbündetenpakt auf und stürmten zusammen mit den Rebellen in die Schlacht. Wir werden auch sie niederwerfen. Und bestrafen, wie wir noch kein Volk in Tark Draan straften.

Das Trampeln der Stiefel und das Scheppern der schlecht gemachten Rüstungen erklang. In dem kleinen, schäbigen Heer führten sie sogar Reiter mit. Etwa einhundert ihrer Soldaten saßen im Sattel und hielten lange Lanzen aufrecht in den Himmel, an denen bunte Wimpel flatterten.

Keine Unterirdischen? Der Alb spähte die Linie entlang, in der sie sich näherten. Ich hoffe, Samusin, dass wir wieder einige der Verräter erlegen.

»Fertig machen!«, rief er und kehrte zurück auf seinen Hochstand. Es gab eine Lücke zwischen den sich kreuzenden und verbundenen Gebeinen des Kunstwerks, durch die er die Geschosse treffsicher gegen die Feinde senden würde.

Daitolór legte einen der überlangen, schwarzen Pfeile, die sich auch von dünnem Metall nicht aufhalten ließen, auf die Sehne.

Die Streitmacht ging ins Rennen über – doch zum Erstaunen des Benàmoi zog keiner der Angreifer die Waffe. Die Reiter trabten locker hinter den Fußtruppen, die Schützen hatten Armbrust und Bogen auf den Rücken gehängt.

Sie wissen nicht, dass wir hier lauern, durchzuckte es den Alb, und um seinen Mund bildete sich ein abfälliges Lächeln.

Die Barbaren sputeten sich vermutlich deswegen, da sie sich dem Krater bereits nahe sahen und schnell in das Schwarze Herz von Dsôn Bhará gelangen wollten, um es dem Reich aus der Brust zu reißen und zu zerstören.

Da sie keine Späher aussandten, laufen sie blind in unsere Pfeilschauer. Oh, sie sind wahrlich vom Verstand befreit. Und gleich dazu von ihrem Leben. »Bereit?«, rief er, zog die Sehne weit nach hinten und legte auf den Reiter mit der glänzendsten Rüstung an, auf der sich die aufgehende Sonne spiegelte. Es gab keinen besseren Weg, um nach der Aufmerksamkeit eines Geschosses zu verlangen. »Schießt!«

Seine Finger gaben die dünne Schnur frei, und sofort ließ er einen zweiten Pfeil auf den Berittenen daneben folgen.

Die einundzwanzig Geschosse sirrten noch durch die Luft, als sich die nächsten bereits auf den Weg machten.

In das erste Prasseln der Einschläge und Schreie folgte unmittelbar das zweite. Mehr als hundert Gegner fielen mitten in der Bewegung auf die staubige Erde und wurden teilweise von den Nachfolgenden überrannt. Es hatte den Anschein, als begreife der Haufen zunächst nicht, was sich ereignete.

Euer Tod heißt Daitolór. Er sah, dass der von ihm anvisierte Barbar in der schimmernden Rüstung abrupt im Sattel erschlaffte und vom Pferd sackte; der Reiter dahinter schrie auf und griff sich an die Brust, während ein Dritter die Lanze freigab und niederstürzte. Der Barbar zu dessen Linker taumelte indes rücklings aus dem Sattel, der Ritter dahinter hielt sich das Visier und krümmte sich.

Nur fünf? Daitolór war mit seiner Ausbeute nicht zufrieden. Es hätten sechs oder mehr sein müssen. Seit wann nutzen sie dickeres Eisen? Sie werden doch nicht gelernt haben?

Verärgert sandte er einen Pfeil nach dem anderen gegen das armselige Heer, das stehen geblieben war und sich somit für fünf, sechs Herzschläge zu einem noch einfacheren Ziel machte, bevor die ersten Schlauen unter den Einfältigen die Schilde hoben.

Aber die Kriegspfeile der Albae jagten spielend einfach hindurch und drangen noch in ein, zwei weitere Körper dahinter ein. Wer nicht sofort tot niederstürzte, erlitt schwerste Verletzungen.

Nachdem Daitolór die Hälfte seiner Geschosse verbraucht hatte und kaum mehr als vierzig Herzschläge vergangen waren, stand von dem Barbarentrupp nichts und niemand mehr; sogar die Reittiere lagen auf der Erde.

Die Albae stellten den Beschuss ein.

Verwundete Feinde krochen über die Leblosen hinweg und suchten Schutz vor den Pfeilen, hinter manchem Pferdeleichnam sah der Benàmoi eine huschende Bewegung.

Die Feiglinge glauben sich dort in Sicherheit.

»Wir rücken vor«, gab er Anweisung. »Haltet die Bögen zur Hand, bis wir nahe genug sind, danach nehmt ihre Lanzen und tötet jeden Barbaren, in dem noch so etwas wie Leben zu stecken scheint.«

Daitolór verließ seinen Hochstand und schritt zusammen mit seinen zwanzig Kriegerinnen und Kriegern auf das blutige Wirrwarr aus Barbaren- und Pferdeleichen zu.

Widerstand schlug den Albae nicht entgegen. Nicht ein Bolzen flog zu ihnen hinüber.

Unter Todesangst stehend und unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, suchten die Verletzten ihr Heil in der viel zu langsamen Flucht, anstatt sich zur Wehr zu setzen.

Erbärmliches Volk. Der Geruch des vergossenen Blutes drang in Daitolórs Nase, das Wimmern und qualvolle Schreien weckte seine Abscheu.

Er befahl drei seiner Krieger, die Einheit mit den Bogen zu sichern; den Rest ließ er das Morden fortsetzen, um sicherzustellen, dass keiner der Feinde überlebte und sich nachts aus dem Staub machte. Die langstieligen Lanzen der erschossenen Reiter eigneten sich ausgezeichnet, die Kehlen der Feinde zu öffnen und sich dabei nicht mit deren Blut zu besudeln.

Gleich zehnmal fanden sie Barbaren, die sich unter den Gefallenen verborgen und gehofft hatten, den wachsamen Augen der Albae zu entgehen. Rasche Klingenstöße bereiteten den Feiglingen ein Ende; ebenso erging es denjenigen, die sich hinter den toten Pferden kauerten und tatsächlich um Gnade flehten. Sie starben unter den verächtlichen Blicken der Krieger.

Die Sonne hatte ihren höchsten Stand noch nicht ganz erreicht, als Daitolór und seine Verteidiger von Dsôn das letzte Barbarenleben nahmen.

»Sammelt die ungebrochenen Pfeile ein, wo es möglich ist«, befahl er seiner Truppe und zog den Helm von den dunklen Haaren, um sich etwas Kühlung zu verschaffen. »Danach kehren wir zu unserem Lager zurück und warten auf die nächsten Ziele. Wir werden schwerlich aus der Übung kommen.«

Erneut erklang böses, leises Lachen.

»Was ist mit den Toten, Benàmoi?«, fragte einer der Krieger. »Mir fehlen noch ein paar hübsche Zähne, mit denen ich mir die Stiefel besohlen will.«

»Die ganze Sohle?«

»Ja. Es gibt einen herrlichen musikalischen Klang, wenn man über Stein läuft.«

Daitolór hob die Hand als Zeichen seiner Erlaubnis, die Körper auszuweiden. »Diese Stiefel mit Zahnsohle muss ich einfach sehen«, fügte er hinzu.

»Ich zeige sie dir, sobald ich fertig bin.«

»Benàmoi, ein Tross aus Dsôn«, erklang der Ruf einer der Bogenschützen, die unentwegt sicherten.

Verwundert wandte sich Daitolór um und erkannte eine Schar von zehn Albae, die auf Nachtmahren heranritten. Sein Erstaunen wuchs, als er die blutrote Rune auf dem Lanzenwimpel eines Kriegers im Wind flattern sah.

Das Zeichen der Dsôn Aklán! Das Herz des Benàmoi pochte schneller. Ist das … Firûsha?

Tatsächlich befand sich in der Mitte der Schar eine Albin in einer auffälligen, schwarzen Tioniumrüstung, die mit kostbaren Intarsien versehen war. Da sich die Gruppe in einem Bogen auf sie zubewegte, wurde der zusätzlich schützende Eisengrat entlang der Wirbelsäule sichtbar. Ein überlanges, schlankes Schwert hing schräg an der Seite ihres Nachtmahrs, die massiven Parierstangen ragten weit heraus und glänzten.

Das ist sie! Sie lebt! Oh, Inàste, das ist … Daitolórs Gedanken überschlugen sich, die Freude drohte ihn zu überwältigen. Er begab sich einige Schritte weg von dem Leichenfeld und warf einen Blick auf seine Stiefel, ob das Leder mit Barbarenblut verschmutzt war. Was kann sie von uns wollen? Zum Sieg gratulieren?

Die Berittenen hielten vor ihm an, die schnaubenden Nachtmahre wühlten mit den blitzumspielten Hufen den Boden auf.

Daitolór deutete eine Verbeugung an. Seine Blicke fielen sowohl auf die Dolche mit den Zweifachklingen, die an den Oberschenkelpanzerungen befestigt waren, als auch auf die handtellergroßen Wurfeisenscheiben an den Metallschienen ihrer Oberarme. »Dsôn Aklán«, grüßte er. »Wir hielten den Norden der Stadt einmal mehr.« Er erhaschte durch das Visier einen Blick auf ihr Antlitz und fand sie unglaublich ansprechend.

Seine Truppe blickte zur Albin, als wäre sie ein Geist.

Firûshas durchdringende Augen, in denen er ein Hauch von Blau trotz der Schwärze zu sehen glaubte, richteten sich auf ihn. »Du hast uns gute Dienste erwiesen, Benàmoi. Solange meine Brüder sich in der Schlacht gegen Lot-Ionan und die aufständischen Barbaren befinden, werden sie sich nicht um Dsôns Sicherheit kümmern können.« Sie nickte erst ihm, dann seiner kleinen Einheit zu, anschließend schob sie das Visier des Helms in die Höhe. »Ich danke euch. Haltet die Stellung.«

Sie ist wunderschön. Genau wie man es sich erzählt. »Wir brauchen mehr Pfeile, Aklán«, wagte Daitolór den Hinweis. »Die Barbaren sind in solcher Überzahl, dass wir …«

Firûsha lächelte und schob eine schwarze Haarsträhne zur Seite. »Schicke einen deiner Leute in die Stadt zu meinem Quartiermeister. Er soll dir die besten Geschosse aushändigen.« Die Albin zeigte nach Südosten. »Wir reiten den Feinden derweil entgegen und schlachten ab, was sich uns in den Weg stellt, um euch eine Pause zu gewähren. Eure Arme müssen müde vom unentwegten Schießen sein.«

Daitolór konnte nicht aufhören, sie anzustarren. Sie …

Firûsha atmete ein. »Du dachtest wie viele andere, ich sei in die Endlichkeit gegangen, richtig?«

Er nickte kaum merklich, auch wenn sie seine Gedanken nicht ganz traf. »Vergib mir. Man erzählte sich, dass du an eine Maga geraten seist und auf dem Grund eines Sees in Weyurn liegst«, antwortete er ehrlich. »Dich nun vor mir zu sehen ist das schönste Geschenk, das mir die Schöpferin in den letzten Momenten der Unendlichkeit machte.«

Wind kam auf und drehte auf Süden. Er spielte mit den schwarzen Haaren der Albin, die unter dem Helm herausragten und bis auf die Schultern fielen. Der frische Geruch von neuer Zuversicht lag darin; weder Fäulnis noch Barbarenblut verunreinigten ihn.

Firûsha umfasste mit einer Hand den Griff ihres Zweihandschwertes. »Und ich werde erneut in die Schlacht reiten. Eine Barbarin raubt mir nicht die Unendlichkeit, und möge sie auch eine Maga sein«, sagte sie. »Ihr alle«, richtete sie das Wort an die Truppe, »vernehmt es und tragt es in euren Herzen: Ich, Firûsha, eine der Dsôn Aklán, wandle unter euch und rücke aus, um den Tod in die Reihen der Feinde zu tragen. Gemeinsam verändern wir den drohenden Untergang in einen Sieg!«

Daitolór hob den blutverschmierten Speer. »Wir lassen keinen Feind weiter vordringen als bis hierher«, schwor er feierlich. »Kein Barbar, kein Untergründiger und kein anderes Wesen als ein Alb wird seinen Fuß in unsere Stadt setzen.«

Die Luft frischte weiter auf und versetzte die Kunstwerke in Bewegung.

Die Kristallsterne von Inàstes Pfeil wippten und glitzerten auf, das Gebein rieb leise aneinander, und die dünnen Drähte erschufen ein helles Säuseln, das wie Wispern klang; auch die acht Klingen der aus dem Boden brechenden Figur erhöhten ihre Rotationsgeschwindigkeit, ein pfeifendes Summen erklang.

Ein kühler Schauder rann Daitolórs Rücken hinab, obwohl die Sonne auf ihn niederbrannte. Ohne es zu wollen, drehte sich der Benàmoi um und ließ die Blicke schweifen. Etwas erschien ihm merkwürdig, und ein ungutes Gefühl breitete sich in ihm aus.

Die Nachtmahre schienen ebenfalls zu spüren, dass eine Veränderung vor sich ging. Sie schnaubten, die roten Augen rollten, zuckten unruhig umher, und die Nüstern blähten sich auf.

Sollten sich Scheusale heimlich an Dsôn heranwagen wollen? Aber von woher sollten sie kommen? Sosehr sich Daitolór anstrengte, es fiel ihm keine Erklärung für sein Unbehagen ein.

Firûsha zügelte ihren unsteten Hengst. »Seht sie euch an! Sie wollen ihre Fangzähne in Barbaren schlagen«, rief sie lachend und erntete zustimmende Heiterkeit. »Wir reiten besser los, bevor sie vor Unbändigkeit noch …«

Eine kräftige Böe fuhr dunkel surrend zwischen den Albae hindurch und wirbelte Staub und Erde auf. Von einem Blinzeln aufs nächste verschwanden sowohl die Berittenen als auch die Einheit in den graubraunen Dreckschleiern.

Die sich rasch ändernden Töne der acht wirbelnden Klingen des Kunstwerks drangen bis zu dem Benàmoi, doch wirkten sie nun weder faszinierend noch beruhigend. Ganz im Gegenteil, sie schienen seine Anspannung zu erhöhen und anzufachen.

Der Gott des Windes scheint sich einen Spaß mit uns erlauben zu wollen. Daitolór packte den Speer fester, kleine Körnchen knirschten zwischen seinen Zähnen – und da fühlte er das Kribbeln überall auf seiner Haut.

Dieses Mal war es kein unbestimmbares Gefühl, sondern die Auswirkung heftiger Magie, die plötzlich um ihn herum entstand.

Was vermag … Ehe er einen Warnruf ausstoßen konnte, erklang ein kreischendes Knistern, welches durch das Surren drang. Inmitten des Staubs leuchteten fingergroße Runen in Dunkelgrün auf.

Dann gellten Todesschreie.

Die Nachtmahre wieherten brüllend. Daitolór vernahm das Klacken ihrer zuschnappenden Zähne, auf das ein lautes, trockenes Knacken folgte. Jemand oder etwas brach den kräftigen Tieren die Nackenwirbel.

Dann sprühte warme Flüssigkeit aus dem Dreckdunst gegen den Benàmoi. Der Geruch sagte ihm, dass es sich dabei um Blut handelte.

Albaeblut.

»Aklán!«, schrie er und reckte seinen Speer gegen den unsichtbaren Feind, der im Schutz des Staubes zuschlug. »Gib acht!«

»Weg von hier«, rief Firûsha außer sich irgendwo in den Sandschleiern und trug tiefsten Schrecken in ihrer Stimme. »Er ist hier!«

Er? Daitolór vernahm das Angaloppieren von Nachtmahrhufen, in das sich das erneute Zischen magischer Entladung mischte. Lot-Ionan!

Ein armdicker, smaragdfarbener Strahl schoss knisternd an ihm vorbei und traf den Alb neben ihm, der von der Kraft zerfetzt wurde. Abgesprengte Körperteile hagelten gegen den Benàmoi, erneut spritzte das Blut auf ihn.

Keuchend kniete er sich nieder und spähte um sich, mit rasendem Herz, die Finger um den schmierig gewordenen Waffenschaft gelegt.

Die schrägen, lauten Töne der acht Klingen wollten nicht enden. Zum ersten Mal wünschte sich Daitolór, sie mögen verstummen.

Der Wind spielte mit den Staubschleiern und löste sie allmählich auf, als wollte Samusin den Blick auf den Schrecken freigeben, der den Albae entgegentrat.

Weit entfernt ritten die Aklán und vier ihrer Begleiter, die sich nicht der übermächtigen Magie eines Lot-Ionan stellen konnten.

Neben und vor dem kauernden Benàmoi lagen die blutigen Fetzen, die nur anhand der Rüstungsstücke als Albgliedmaßen erkannt werden konnten. Zwei herrenlose Nachtmahre stampften schnaubend umher, orientierten sich im abschwächenden Wind.

Wo ist der Magus? Daitolór glaubte, seine Aufgabe zu kennen: Er musste der Aklán Zeit verschaffen, damit sie sich in Sicherheit bringen konnte, um die Verbliebenen ihres Volkes anzuführen. Ein Speer reichte nicht aus, um den Magus zu töten, das wusste der Alb, aber zum Ablenken reichte er gewiss. Mit Inàstes Beistand gelang vielleicht ein Wunder.

Aus dem Drecknebel schälte sich der Umriss eines weiteren Albkriegers, den Daitolór nicht kannte. Er muss zur Garde der Aklán gehört haben und vom Nachtmahr gestürzt sein.

Ohne sich weiter umzuschauen oder Vorsicht walten zu lassen, ging der unbekannte Soldat auf einen der Rappen zu und schwang sich in den Sattel, um der Herrscherin zu folgen.

»Wohin willst du?«, erklang eine sonore Stimme aus den letzten graubraunen Schleiern, dann erschien keine fünf Schritte neben Daitolór die Silhouette einer kahlen, dünnen Gestalt die einen langen Stab in der Linken hielt.

Der Benàmoi machte sich noch kleiner und hielt sich für einen Wurf bereit. Es könnte mir gelingen, wenn der Magus abgelenkt ist.

Der Alb auf dem Nachtmahr gab dem Hengst die Sporen, sodass das große Tier einen Satz auf den Magus zumachte und die Reißzähne bleckte; der Reiter riss sein Schwert aus der Scheide und führte einen Hieb gegen den Feind.

Smaragdfarbene Runen leuchteten am Stab des Magus auf.

Mitten im Sprung umhüllte Hengst und Krieger das grüne Licht. Wie von einer gigantischen Faust getroffen, wurden sie auf die Erde geschmettert. Knackend brachen die Beine des Nachtmahrs, der Alb wurde unter dem schweren Leib des Rappen eingeklemmt. Da das leidende und rasende Tier um sich schnappte, musste der Krieger es mit einem schnellen Schlag in den Nacken töten, bevor die tödlichen Zähne ihn packen konnten.

»So schnell kann aus einem Angriff eine Niederlage werden«, erklang die Stimme des Magus, der ausgezeichnetes, fast altertümliches Albisch sprach.

Daitolór harrte aus und ließ den Feind nicht aus den Augen, der sich dem eingeklemmten Reiter gemächlich näherte.

Die letzten Dunstwolken lösten sich auf – und er erkannte seinen Irrtum.

Aiphatòn! Obwohl ihn der Benàmoi nie zu Gesicht bekommen hatte, wusste er sofort, dass der Kaiser nach Dsôn gekommen war.

Kein anderer Alb glich ihm, dessen Brust, Bauch, Unterleib sowie Schultern und Oberarme überwiegend von ins Fleisch eingenähten Panzerplatten bedeckt waren. Das Metall, so sagte man, bestand aus einer besonderen Legierung, welche magische Energie aufnahm und speicherte. Das erklärte seine Kräfte, die an die eines Magus heranreichten. Er war kahlköpfig, trug schwere Panzerhandschuhe und von der Hüfte abwärts ein wickelrockähnliches Gewand in Schwarz.

Der eingeklemmte Krieger reckte die Klinge mit dem Nachtmahrblut gegen Aiphatòn. »Du bist ein Verräter an deinem eigenen Volk«, sprach er stöhnend. »Zuerst bringst du diesen Abschaum aus dem Süden, nun willst du die Aklán vernichten. Dabei bist du der Sohn der Unauslöschlichen!« Er biss die Zähne zusammen, um einen Schmerzensschrei zu unterdrücken. »Besinne dich, Aiphatòn!«, sprach er weiter. »Verbünde dich mit …«

Der kahle Alb legte den Kopf in den Nacken und lachte schallend. »Du stehst kurz davor, in die Endlichkeit zu ziehen, und versuchst, mich in ein Bündnis mit den Aklán zu schwatzen? Ich bin dein Kaiser, Alb!«, donnerte er und richtete die schlanke Spitze des Speers auf den Liegenden. »Du müsstest mir gehorchen, ohne auch nur eine Frage zu stellen, so wie es auch die Aklán sollten! Stattdessen betrieben sie ihre Intrigen, trachteten nach meinem Sturz und sahen sich auf meinem Thron. Denkst du, ich bin so gütig und verzeihe diesen Frevel? An mir, dem Sohn der Unauslöschlichen?«

Daitolór wagte nicht, sich zu rühren.

Inzwischen hegte er große Zweifel daran, Aiphatòn mit irgendetwas aufhalten zu können. Wer einen Nachtmahr im Flug einfach zu Boden schmetterte, der würde über einen herkömmlichen Speer lachen. Er sah seine Kriegerinnen und Krieger zerstückelt und von Magie zerrissen umherliegen, als wären sie für wertlos befundene Schlachtabfälle. Aber was unternehme ich?

»Die Unauslöschlichen ließen uns damals im Stich«, spie der Eingeklemmte aus. »Wir saßen in diesem Loch, mitten im Grauen Gebirge, und warteten auf Nachricht aus Tark Draan. Doch sie kam nicht. Sie kam niemals! Ohne die Dsôn Aklán wären wir in Phondrasôn untergegangen.«

Aiphatòn betrachtete ihn, die Augen waren tiefschwarze Löcher und verliehen dem schmalen, ebenmäßigen Antlitz etwas abgründig Unheimliches.

Man sagte, dass diese Augen niemals ihre wahre Farbe zeigten, auch nicht bei Nacht, wie es bei Albae üblich war. Als Kind von Nagsar und Nagsor Inàste war er ein Shintoìt, das höchste und reinste Wesen. Man erkannte ihn stets als solchen, auch ohne die ins Fleisch gewobene Panzerung.

»Es wäre besser für euch gewesen«, befand Aiphatòn flüsternd und stach durch den Hals des liegenden Kriegers. »Und für das Geborgene Land. Aber wisse: Ich mache meinen Fehler wieder gut.«

Der Verletzte umfasste röchelnd den runenverzierten Speerschaft mit einer Hand und wollte ihn rausziehen, sein Schwert prallte erfolglos dagegen.

»Die Aklán wird die Nächste sein, die ich in die Endlichkeit sende. Danach kehre ich zurück und stecke dein geliebtes Dsôn in Brand. Ich bin ihr Kaiser, und die Albae werden durch meine Hand untergehen, wie ich es einem alten Freund versprach. Die Erkenntnis traf mich spät, doch sie traf mich. Dein Tod heißt Aiphatòn«, sprach er getragen. »Ich nehme dir die Unendlichkeit und überlasse deine Reste den Aasfressern. Ist es nicht lustig, dass dich das mit den gemeinen Barbaren eint? So enden die Unterschiede.«

Gurgelnd starb der Alb unter dem Nachtmahr, das Blut rann aus dem eingerissenen Mundwinkel und tropfte auf die Erde. Der Körper entspannte sich.

Daitolór regte sich nicht. Er darf mich nicht sehen.

Der Benàmoi hatte nach dem Gehörten einen Entschluss gefasst.

Unbeweglich verfolgte er, wie Aiphatòn die schmale Spitze aus dem Fleisch des Kriegers zog und sie an dessen Kleidung säuberte. Dann lief der Kaiser los und schien sich an Firûshas Fährte zu heften.

Daitolór, dem die gesamte Einheit innerhalb eines Wimpernschlags durch diesen Alb genommen worden war, sah, dass der Shintoìt keine Stiefel trug, sondern mit bloßen Füßen die Verfolgung aufnahm.

Erst als sich der Feind weiter entfernt hatte, erhob er sich und warf seinen Speer achtlos zu Boden. Gegen einen Widersacher wie Aiphatòn taugten Holz und Stahl nichts.

Mit einem Magus fertigzuwerden, das traute er seinem Volk durchaus zu, doch wenn sich der Sohn der Unauslöschlichen gegen sie wandte, und zwar bis der letzte Alb vernichtet war, wie er es versprochen hatte, schwebten sie in größter Gefahr.

Ich muss die Aklán warnen. Zusammen mit ihren Brüdern wird sie einen Weg finden, wie man ihn aufhält.

Daitolór ging zum verbliebenen Nachtmahr und fasste ins Reitgeschirr, besänftigte das Tier mit ein paar geraunten Worten und schwang sich in den Sattel. Spurenlesen war keine besondere Kunst, die Hufe hinterließen in der Erde deutliche Abdrücke, die Aiphatòn leider ebenso leicht sah.

Vom Rücken des Rappen warf er einen Blick auf den Leichenhügel, dann zum Kraterrand in einer Meile Entfernung, wo sich die Stadt und der Palast erhoben. Halte stand, schwarzes Herz, und bringe unseren Feinden mit jedem deiner Schläge die Endlichkeit.

Dass er Dsôn gegen den Willen der Aklán im Stich ließ, musste sein, denn nur so bewahrte er Firûsha vor dem Einzug in die Endlichkeit. Die etwa fünfzig Kriegerinnen und Krieger, die dort unten im Kessel ausharrten, würden Dsôn lange genug verteidigen. Auch ohne ihn.

Samusin stehe uns bei. Und ich flehe dich an, Inàste, lasse nicht zu, dass ausgerechnet ein Shintoìt unseren Untergang bedeutet. Daitolór fühlte unsäglichen Hass gegen den Kaiser; umgehend verriet ihm das leichte Ziehen im Antlitz, dass sich Wutlinien darauf gebildet hatten.

Er wandte den Kopf – und sah Aiphatòn unmittelbar neben dem Nachtmahr stehen. Woher …? Daitolórs Augen weiteten sich vor Furcht. Noch bevor er die Hand nach dem Schwertgriff zu strecken vermochte, zuckte die dünne Speerspitze heran.

»Warum so wütend, Benàmoi?«, sprach Aiphatòn mit eiskaltem Lächeln. Die Klinge bohrte sich durch den Hals des Nachtmahrs und von dort durch das gehärtete Leder in die Brust des Kriegers. »Geh zu deiner Einheit und lasse sie wissen, wer sie in die Endlichkeit schickte.«

Die Runen am Schaft leuchteten dunkelgrün auf; ein grelles Knistern wurde lauter und lauter, bis es zum einzigen Geräusch in Daitolórs Ohren wurde. Sein letzter Gedanke war, dass es nun niemanden mehr gab, der die Aklán vor ihrem tödlichen Verfolger warnte.

»Ich sah in meinem Leben die unterschiedlichsten Gemüter.

Ich sah jene, die sich mühten, etwas zu erreichen, und ich sah jene, die ihre Talente unnütz vergeudeten.

Am schlimmsten waren jene, die sich nicht gut benahmen und dazu nichts Anständiges vermochten. Weil sie viel erreichen wollten, ohne sich anzustrengen, waren sie zu Widerlichstem fähig.«

Verfasser unbekannt, gesammelt von Carmondai, Meister in Wort und Bild

Ishím Voróo, Albaestadt Dsôn Elhàtor, 5452.Teil der Unendlichkeit (6491.Sonnenzyklus), Frühsommer

»Ich konnte nicht umhin, Eure letzten Worte zu vernehmen. Im Übrigen bin ich nicht der Meinung, dass Dsôn Dâkiòn zerstört werden muss.« Modôia trug das bodenlange, schwarze Kleid, dessen silberdurchwirkte Schleppe zwei Schritt auslud, und hielt einen dunkelroten Glaspokal in der linken Hand. Ihr langes, blondes Haar war zu einem Kranz geflochten, sonst wäre es durch die Böen zerzaust worden. »Ihr seid stets so rasch mit dem Vernichten, geschätzter Ôdaiòn. Nehmt doch ein wenig Rücksicht. Es dauerte doch, bis diese Stadt erbaut war.« Man hörte ihrem Tonfall an, dass sie den Alb neckte, dem sie gerade in seine Ausführungen gefallen war.

Einige ihrer Gäste auf der gewaltigen Terrasse aus weißem Marmor applaudierten leise und vornehm, was zur Folge hatte, dass sich noch mehr Albae umwandten, um die kommende Unterhaltung besser verfolgen zu können.

Die Sonne hatte den Zenit lange überschritten. Die Temperaturen waren durch den Wind angenehm geworden, und die gespannten Bahnen aus weißer Seide schützten vor der unmittelbaren Macht des sinkenden Taggestirns.

Der Seewind kam von Westen, trug den Geruch von Salz und Frische mit sich, aber auch ein sich beständig wiederholendes, leises Trommeln. Es beunruhigte weder Modôia noch ihre knapp vierzig bestens gekleideten Besucher des großzügigen Hafenhauses.

Ôdaiòn, ein junger Alb in einem tailliert geschnittenen, dunkelblauen Gewand deutete eine Verbeugung an. »Oh, ich kenne Eure Milde, Modôia, und auch ich schätze Nachsicht gegenüber den Schwächeren. Aber Ihr liegt falsch.« Er streifte seine halblangen, braunen Haare zurück und legte eine Hand auf den Rücken, stellte sich gerade hin und sah ihr direkt in die Augen.

»Ist das so?« Modôia schenkte ihm ein spöttisches Lächeln. Du möchtest einen Zweikampf? »Damit wir über den gleichen Sachverhalt sprechen, mein Guter: Reden wir bei Dsôn Dâkiòn von der Stadt, die sich viele, viele Meilen von unserer Insel entfernt befindet?«

»So ist es.«

»Und es ist die gleiche Stadt, die weit im Innern des Landes liegt?«

»Auch das vermag ich nicht zu leugnen.« Er lächelte schief.

Modôia ging einige Schritte um den jungen Alb herum und schwenkte dabei ihren Glaspokal, ohne dass ein Tropfen Wein überschwappte und auf den hellen Stein tropfte; leise schnurrte die Schleppe über den Marmor. »So fordert Ihr die Vernichtung einer Stadt, die weit entfernt liegt und uns absolut nicht gefährlich werden kann und noch dazu randvoll mit Albae ist?« Sie lachte auf. »Das wäre, als würde man ein kleines Ei zerschlagen, weil daraus ein unbedeutendes Vöglein schlüpfen könnte, das unter Umständen an einem Moment der Unendlichkeit über unser Haupt fliegt und uns auf die Robe … nun ja … dort eine korngroße Hinterlassenschaft beschert.« Die Albin blieb wieder vor ihm stehen. »Und selbst wenn es so käme: Ich kann meine Robe waschen. Lasst das Ei in Frieden.«

Die Gäste lachten und spendeten erneut Beifall zu Modôias Gunsten. Die Brise spielte mit den zahllosen aufgehängten Windspielen aus geschnitzten und mit Silber beschlagenen Röhrengebeinen, eine willkürlich erzeugte, filigrane Melodie erklang, die dezent durch den Applaus und das Trommeln tönte.

Ôdaiòn räusperte sich und wanderte nun seinerseits langsam um sie herum. »Was Ihr dabei vergessen hattet zu erwähnen, ist der Fluss. Und ich rede nicht von einem kleinen Rinnsal, sondern von einem Strom, ungefähr sechzig bis achtzig Schritt breit und tief genug, um schwere Schiffe zu tragen«, holte er aus und gab seinen Worten etwas Überlegenes mit.

»Ihr meint den Tronjor«, rief eine Albin vom Rand der Terrasse dazwischen.

»Eben jenen, meine Liebe.« Ôdaiòn hob sein Glas zum Dank in ihre Richtung. »Dieser Strom, dieser Tronjor, mündet nicht allzu viele Meilen von uns entfernt ins Meer.« Er sah zu Modôia. »Verzeiht, aber Ihr kennt die Entfernung sicherlich besser als ich?«

»Dreiundzwanzig«, präzisierte sie die Angabe und täuschte gute Laune vor, aber man sah ihr an, dass der Unmut wuchs. Er ist gut. Ich weiß, worauf er hinaus will.

Ôdaiòn schlug sich an die Stirn. »Wie konnte ich es nur vergessen? Wo wir es doch den Kleinsten im Unterricht beibringen?«, rief er mit gespielter Zerknirschung, was ihm dieses Mal die Heiterkeit der Gäste einbrachte. »Und verhielt es sich nicht schon einmal so, dass uns diese Stadt ihre Verbündeten auf den Hals hetzte?«

»Das war ein Missverständnis«, stieß Modôia rasch hervor.

»Natürlich. Ein Missverständnis. Wie ein irrtümlich abgefeuerter Pfeil, der dennoch sein Ziel haargenau trifft, um einen Vergleich zu bringen«, hakte Ôdaiòn sofort ein.

Noch mehr Lachen kam auf.

»Er traf nicht, sondern flog allenfalls in unsere Richtung, bevor wir ihn im Flug zerschmetterten«, hielt sie dagegen.

»Diesen Einwand lasse ich gelten.« Der Alb neigte sein Haupt. »Aber zurück zu Eurem Bild: Woher weiß ich, dass aus dem winzigen Ei nicht ein … Drache oder … der Keim für ein grauenvolles Monstrum anstelle eines Vögelchens schlüpft?«

»Weil wir wissen, dass Dsôn Dâkiòn mit uns in einer … besonderen Art … auf freundschaftliche Weise verbunden ist. Das Ei hätte also Glaswände. Wir wüssten, was sich darin befindet«, konterte Modôia. »Und wir könnten sehen, dass es ungefährlich ist.« Damit sollte es genug sein.

Dieses Mal bekam sie den Applaus, und sie prostete in die Runde.

»Weil wir glauben, der sichtbare Keim verändere sich nicht. Doch was, wenn er an die Luft gelangt?« Ôdaiòn gab nicht auf, was die Albin dazu brachte, sich zu versteifen. »Nehmen wir den Froschlaich. Würde man glauben, dass aus einem kleinen, schwarzen Punkt ein Tier wird, das um ein Vielfaches größer ist und eine völlig andere Gestalt hat?«

Nun habe ich dich. »Ihr denkt demnach, dass aus der Stadt ein gewaltiges Schiff wird, Hunderte Schritte breit und lang, das sich vom Berg herabsenkt, in den Fluss gleitet und zu uns kommt, um uns zu vernichten?« Modôia trank einen Schluck. »Oh, ich fürchte gar, mein lieber Ôdaiòn, Ihr seid betrunken. Geht nach Hause, bevor Ihr über die Brüstung fallt und ins Hafenbecken stürzt.«

Nun lachten die Gäste laut und klatschten anhaltend.

Ôdaiòn lächelte und hob sein Glas. »Ich ergebe mich, aber nur für diesen Splitter der Unendlichkeit. Mein eigener Vergleich ließ mich in die Falle tappen, aus der ich mich nicht zu befreien vermag.«

Modôia gewährte ihm einen lobenden Augenaufschlag. »Ihr werdet von Mal zu Mal besser. Ich muss mich hüten, sonst könntet Ihr mir doch zu viele Anhänger in Dsôn Elhàtor finden.«

Er nickte dankend und grinste.

Modôia wollte den Arm heben, um ihn auf die Schulter des jungen Albs zu legen, doch ein heißer Schmerz jagte warnend durch ihr Rückgrat. Die alte Pein traf sie deutlich zu früh. Ich könnte die Gelegenheit nutzen und mich zurückziehen, bevor …

»Es geht los!«, schallte der freudige Ruf von der Balustrade. »Sie sind gleich heran.«

Und schon ist der Moment verstrichen. Modôia und Ôdaiòn tauchten in den Strom der festlich gewandeten Gäste ein, die nach vorne traten, um über das steinerne, weiß gestrichene Geländer hinaus aufs Meer zu blicken. Anfangs hatten die Skulpteure versucht, Gebein zur Sicherung zu nutzen, aber die salzige Luft und die Sonne ließen die Knochen schnell porös und brüchig werden. Ehe es zu tödlichen Unfällen kommen konnte, hatte man sie gegen bemalten Granit ausgetauscht, der aus den Wänden des erloschenen Vulkans der Insel geschlagen worden war.

Vor Modôia und ihren Besuchern breitete sich die See aus, die kaum Wellen schlug und malerisch glitzerte. Es wäre der perfekte Moment, um sich in den Hafen zu begeben und dort zu schwimmen – wenn nicht die Flotte der Onwú auf die Einfahrt zuhielte.

Von der Terrasse aus, die hoch über den umgebenden Gebäuden lag, hatte man eine unverbaute Sicht auf das, was geschah.

»Ich zähle einundzwanzig Schiffe«, sagte Ôdaiòn an ihrer Seite und lehnte sich nach vorne, stützte die Ellbogen auf das Geländer. Sein Duftwasser roch nach Pfeffer, nach Lilien und Muskat. »Das hat sie bestimmt viel Zeit gekostet. Und Gold.«

»Das teuerste schwimmende Brennholz, das es zurzeit auf dem Meer gibt«, kommentierte Modôia und nahm sich eines der Häppchen, die ihnen von den Bediensteten gereicht wurden. Man hatte geräucherten Schalenfisch mit einer milden Gado-Frucht verbunden, deren Süße und Frische den Geschmack des Fleischs wundervoll ergänzte. »Ihr solltet weniger von Eurem Parfum auflegen, oder Ihr lockt die Bienen an.«

Ôdaiòn lächelte geradeaus. »Ich locke nur an, was ich möchte.« Er zeigte unauffällig auf eine junge Albin in einem weißen Kleid. »Sie als Insekt zu bezeichnen, würde ihr nicht gerecht.«

Das Trommeln klang nun von den Decks der gegnerischen Schiffe deutlicher zu ihnen hinauf. Befehle wurden gebrüllt, Segel gerefft und Dutzende Riemen ausgefahren.

Während der Hauptteil der Onwú-Flotte zurückfiel, nahmen zwei gepanzerte Modelle Fahrt auf. Am Bug hatten sie lange, eiserne Rammsporne montiert, die auf das große Gatter vor der Einfahrt zielten.

Sie bemühen sich um Taktik. Modôia sah hinab.

Die Hafenmauer wimmelte von Albae. Man hatte sich versammelt, um das Spektakel anzuschauen, als kämen die Onwú mit Schlachtschiffen für ein gemeinsames Fest vorbei. Es wurde gegessen und gelacht, Kinder saßen auf den Steinen zwischen den Zinnen, damit sie besser sehen konnten.

Manche Albae auf der Mauer und auf der Terrasse schlossen Wetten ab, wie Modôia mitbekam. Es ging nicht darum, wer gewann. Es stellte sich die Frage, wie lange die Feinde über Wasser bleiben oder welches der Schiffe am längsten standhalten würde. Auf die beiden vorderen würde ich nicht wetten.

»Möchtet Ihr verraten, was sich unseren Augen gleich bieten wird?«, erkundigte sich Ôdaiòn neugierig. »Wird unsere Kriegsflotte etwa aus den geheimen Ausfahrten stoßen, um die Onwú zu umschließen?«

Modôia schnalzte tadelnd mit der Zunge, und selbst das bereitete ihr Schmerzen. Aber es gab kein Zurück, wie so oft. »Seid nicht ungeduldig. Ihr werdet es gleich sehen.« Sie erklomm ein kleines Podest, das auf ihre Anweisung gebracht und aufgestellt worden war, und pochte mit dem Tionium-Siegelring an ihrem Mittelfinger gegen das Glas, woraufhin sich die Aufmerksamkeit auf sie richtete. »Liebe Gäste, ich bitte um kurzes Gehör. Meine Aufgabe wird es sein, zu gegebener Zeit zu erklären, was es mit den Umbauten in den letzten Momenten der Unendlichkeit auf sich hat. Richtet nun bitte die Augen weiterhin auf den Hafen, um einen Eindruck davon zu erhalten.«

Alle schauten wieder dorthin, wo sich die Onwú-Flotte versammelt hatte.

Sie werden überrascht sein. Modôia zwang sich zu lächeln und trank erneut von ihrem Wein, zwinkerte Ôdaiòn zu und wartete auf ihren Einsatz, während die Unterhaltungen auf der Terrasse vorerst verstummt waren. Die Spannung wuchs. Man wollte unbedingt erfahren, was sich die Gelehrten ausgedacht hatten.

Die blonde Albin verdrängte ihre Qualen, so gut es ging, und ließ ihre Blicke über die vielen Häuser schweifen, die rings um die geschützte Bucht lagen und sich bis hinauf an den Kraterkegel zogen. Wie viel Glück uns Samusin doch zugestand, dieses Eiland zu erreichen.

Ganz in der Tradition ihres Volkes waren die Formen der Gebäude verspielt und doch anmutig, mal mit geraden Linien, mal mit gewundenen. Sonnensegel brachen die harten Kanten, Fahnen und Banner flatterten im Wind.

Wegen der Macht der Sonne wurden die Wände und flachen Dächer weiß gestrichen, schwarze geschwungene Linien, Runen, Punktmuster und Malereien setzten filigrane Akzente. Mitunter zogen sich die Bemalungen über ganze Straßenzüge und erschufen ein riesiges Bildnis, das lediglich vom Meer und aus großer Entfernung zu erkennen war.

In der Nacht funkelten Hunderte Lichter auf den Terrassen und flachen Dächern, als sei die Stadt der Spiegel der Sterne.

Die recht steilen Straßen sowie die Treppen und Bogenbrücken waren mit Knochenplättchen getäfelt, deren aufgeraute Oberfläche verhinderte, dass man bei Nässe darauf ausrutschte und hinfiel. Sobald sie von Absätzen, Sohlen, Sonne und Salz zu sehr angegriffen waren, wurden sie ausgetauscht.

Gut und gerne zehntausend Albae lebten in Dsôn Elhàtor, das Albaereich, das ebenso wie Dsôn Dâkiòn nicht mehr als eine große Stadt war.

Eine sichere Zuflucht nach den vielen Teilen der Unendlichkeit, die ich in Phondrasôn und in Tark Draan erlebte. Modôia schloss die Augen und richtete das Antlitz in die Sonne, die nun an den Seidentüchern vorbeischien. Sie mochte die intensive Wärme über alles, seit sie ihr Abenteuer in Tark Draan und im Grauen Gebirge überlebt hatte; zudem linderte sie die Schmerzen.

Wie sehr habe ich mich in den letzten zwanzig Teilen verändert. Sie seufzte. Wie sehr veränderten wir uns alle. Wer hätte gedacht, dass Ishím Voróo auch Gutes für uns vorhalten kann, wenn man nur weit genug reist?

»Die Rammschiffe der Onwú sind bald heran«, vernahm sie Ôdaiòns Stimme neben sich. »Sollte nicht langsam etwas geschehen?«

»Die Cîani stehen bereit, um notfalls einzugreifen«, gab sie zurück, ohne die Lider zu heben. »Doch ich vertraue der Kunst unserer Baumeister.« Modôia öffnete die Augen und blickte zum Hafen. »Geehrte Gäste, gebt Obacht«, sprach sie laut. »Achtet auf die Festungstürme rechts und links.«

Die beiden gepanzerten Gefährte pflügten durch die sanften Wellen und verdrängten das Wasser mit ihrem tief liegenden Bug, Gischt spritzte in die Höhe und traf über den Ruderern auf die Panzerung, die gegen Geschosse angebracht worden war.

»Es wurden neue Rohrleitungen aus Eisen verlegt, vom Krater des erloschenen Vulkans bis hinunter zum Hafen«, sprach Modôia. »Das Meerwasser, das dort von den Pumpen hinaufgefördert und gesammelt wird, schießt mit hohem Druck abwärts, dem die Röhren jetzt endlich standhalten.« Die blonde Albin atmete tief ein. Gleich wird es beginnen.

Die Rammsporne befanden sich keine zwanzig Schritte mehr von dem Gatter entfernt, als aus dem unteren Drittel der Festungstürme dünne, weiße Strahlen herausspritzten. Anstatt wie Steine oder Pfeile von oben gegen die Schiffe zu treffen, schnitt sich das gebündelte Wasser auf Höhe der Riemen durch die Seitenplanken und schoss durch die Aussparungen für die Ruderschäfte.

Dort, wo die Wasserstrahlen auftrafen, wurde das Holz eingedrückt und durchtrennt. Splitter flogen ins Innere, die Schreie der verletzten und sterbenden Ruderer waren weithin hörbar. Gischtwolken stoben glitzernd empor und schufen Regenbögen.

»Je weiter nach unten das Wasser fällt, desto mehr verengen sich die Röhren«, erklärte Modôia unterdessen stolz. »Damit steigt die Wucht, mit der es aus den drehbaren Düsen schießt, die in den Türmen montiert sind.«

Da sich die schweren Schiffe nicht einfach anhalten ließen, wurden die Rümpfe über die gesamte Länge aufgeschnitten. Die Gefährte brachen mehr und mehr auseinander.

Die Baumeister halten ihr Versprechen. Modôia verfolgte, wie die Barbaren vom Oberdeck und aus den Ruderebenen in die aufgewühlten Fluten plumpsten.

Ein Strahl trennte den Rammsporn des rechten Schiffs zielgenau ab. Zerfallend erreichten die Wracks das Gatter und zerschellten daran.

Die Albae auf der Mauer jubelten und klatschten. Auch die Gäste auf der Terrasse stimmten in die Freude ein, und jemand fluchte, weil er eine Wette verloren hatte.

»Die Röhren wurden überall auf der Insel verlegt«, rief Modôia durch die Ausgelassenheit. »Wir können an verschiedenen Punkten zuschlagen und notfalls zusätzliche Leitungen legen lassen. Damit ist es noch einfacher, unsere Heimat zu verteidigen.« Sie hob ihren Kelch, in dem sich das Sonnenlicht fing und den Wein zum Leuchten brachte. »Auf Dsôn Elhàtor, die Erhabene! Möge sie unbesiegt bleiben wie in den letzten zwanzig Teilen der Unendlichkeit.«

»Auf Dsôn Elhàtor, die Erhabene!«, riefen ihre Gäste.

»Und auf Modôia«, sagte Ôdaiòn und reckte sein Glas zu ihr. »Seid weiterhin unser führender Stern und erstrahlt im verdienten Glanz! Niemand könnte uns besser leiten.«

Erneut erklang Beifall, der dieses Mal voller Begeisterung und Überzeugung über die Terrasse und hinab auf die Stadt schallte.

Modôia deutete eine Verbeugung an. »Nein, genug. Das ist zu viel der Ehre«, wehrte sie die Bekundungen mit Demut ab. »Vor allem, wenn sie von meinem eigenen Sohn eingefordert wird.«

Die Menge lachte.

»Er war nur schneller als ich, Herrscherin«, rief ein Alb. »Aber verdient habt Ihr es, Modôia. Tausendfach!«

Sie stieg mit einem perfekt dargebotenen, hinreißenden Lächeln vom Podest, Ôdaiòn reichte ihr dabei eine helfende Hand. »Ich mag es, mich mit Euch zu messen«, raunte sie dabei, »aber hört auf, auch die Bewunderung für mich einzutreiben.«

»Wieso nicht, Mutter?« Der braunhaarige Alb grinste. »Was für ein Sohn wäre ich, wenn ich nicht weiterhin für den Stellenwert sorgte, den Ihr verdient?«

Modôia seufzte erneut. »Ich werde es Euch nicht verbieten können.«

»So ist es.« Ôdaiòn hatte ihre schlanke Hand nicht losgelassen und wollte sie zurück in die Menge führen, doch sie blieb stehen. »Was ist?«

»Ich hatte meinen Auftritt«, erwiderte sie ernst. Die Schmerzen wischten das Lächeln aus ihrem Antlitz. »Nun seid Ihr an der Reihe.« Modôia zeigte zum Hafen. »Was auch immer nun vor sich geht, es liegt an Euch, Erklärungen abzugeben. Ich will die Machtübergabe bald vornehmen, und je präsenter Ihr seid, desto eher werden sie Euch als kommenden Herrscher von Dsôn Elhàtor annehmen.« Sie wusste um ihre Wirkung auf die Bewohner der Inselstadt, die geradezu überirdisch zu nennen war. Er wird es schwer haben, trotz seines scharfen Verstandes. »Übrigens sollte das nicht noch einmal vorkommen.« Sie entzog ihm ihre Finger.

»Was meint Ihr?«, erkundigte er sich ratlos.

»Dass Ihr mich gewinnen lasst. Ich bemerkte sehr wohl, dass Ihr Euch bei unserem Redewettstreit absichtlich in die Enge treiben ließt.« Modôia legte eine Hand in seinen Nacken, zog ihn zu sich und gab ihm einen leichten Kuss auf die Stirn. Eine Geste wie zum Segnen. »Unterhaltet sie gut.« Dann wandte sie sich um und zog sich unter dem wohlwollenden Applaus ihrer Gäste zurück. Die Herrscherin hatte ihren Auftrag erfüllt.

Niemand hatte bemerkt, wie schwer es ihr fiel, so zu tun, als ginge es ihr blendend. Dabei hätte sie vor Qualen bersten können.

Modôia kehrte ins Haus zurück, hielt sich aufrecht, solange sie sich in Sichtweite der Albae befand, und sackte nach einer Biegung zusammen.

Hastig lehnte sie sich gegen die weiße, mit Mosaiken verzierte Wand und presste die Lippen aufeinander, um nicht zu schreien. Ihr Rückgrat brannte und sandte Schmerzen in jeden Winkel ihres Leibs.

Die Arznei lässt immer schneller nach. Ich hätte die stärkere Dosierung wählen müssen. Sie war nicht die Einzige in Elhàtor, die diesen Preis für die neue Heimat zahlen musste, und doch erschien es ihr, als litte sie am stärksten unter den Auswirkungen. Keine Cîani vermochten ihr zu helfen, im Gegenteil: Der Einsatz von Magie verschlimmerte die Qualen. Sonne half. Sonne und die Essenzen ihrer engsten Vertrauten Leïóva.

Mühsam schleppte sie sich in ihre Schlafgemächer, wo sie mit sorgenvollem Blick erwartet wurde.

»Es wird heftiger«, lautete Leïóvas Einschätzung. Sie trug ein schlichtes, weißes Kleid, die schwarzen Haare fielen offen auf die kräftigen Schultern. Stützend nahm sie Modôia in Empfang, um sie zum Bett zu geleiten.

Leïóva nahm das bereitgestellte Fläschchen mit dem Elixier und setzte es der zitternden Modôia an die Lippen. »Ich warnte dich vor zu viel Anstrengung.«

»Ich dachte, ich …« Die Pein raubte Modôia die Stimme, und sie sank auf das Lager. Schon mit dem ersten Schluck driftete ihr Verstand in schwarze, weiche Watte.

»Du erfülltest deine Aufgabe. Überlasse das Feld deinem Sohn. Ich wache über dich«, vernahm sie noch Leïóvas beruhigende Worte und fühlte, wie die Finger kühlend über die Schläfen strichen.

Dann dämmerte Modôia weg und schwebte in süßem Gefühl, fernab aller Schmerzen.

Tark Draan, Menschenreich Gauragar, in den Ausläufern des Grauen Gebirges, 5452.Teil der Unendlichkeit (6491.Sonnenzyklus), Frühsommer

Aiphatòn blieb an der Kreuzung stehen und ließ seine Blicke über die steinigen Wege schweifen. Wohin seid ihr abgebogen? Da er bei knapper Betrachtung nichts erkannte, ging er in die Hocke und stützte sich mit dem Speer ab.

Der einzigartige Alb war in stetem Dauerlauf durch das blühende Geborgene Land geeilt und den Spuren gefolgt, die Firûsha mit ihrem kleinen Tross im Boden hinterlassen hatte. Die Hufeisen der Nachtmahre und die leichten Brandspuren zeichneten sich unübersehbar in der Erde ab.

Auf seiner Hatz lief er durch sprießende Getreidefelder und über Wiesen mit alten, knorrigen Obstbäumen. Er war Straßen und Pfade entlanggeeilt, durch dichten Wald gehastet und bald auf lang gezogene Grasebenen zurückgekehrt.

Ohne Unterlass hoben und senkten sich seine Beine. Er setzte über Hindernisse hinweg, eilte durch Sonnenschein, Regen und Unwetter. Das Essen nahm er sich unterwegs ungefragt aus Vorratskammern der Menschen, oder er pflückte sich reifes Obst. Die Unterbrechungen beschränkte er auf ein Minimum.

Der Saum seines langen, schwarzen Hosengewandes, das von den Hüften bis zu den Zehen reichte, war zerschlissen, der Stoff inzwischen reichlich schmutzig, doch das kümmerte ihn nicht. Sein sehniger Oberkörper hatte sich unter den unentwegten Sonnenstrahlen gebräunt.

Sein Ansporn war, die gefährliche Albin zur Strecke zu bringen.

Die Süd-Albae, die durch ihn ins Geborgene Land gelangt waren, hatte er bereits durch heimtückisches Gift in den sicheren Tod geschickt. Die Schuld, die er in den vergangenen Zyklen auf sich geladen hatte, würde er damit nicht abwaschen können, doch er konnte weitere Bedrohungen für das Geborgene Land ausschalten.

Währenddessen würden Ingrimmsch und die Heere der Zwerge und Menschen zusammen mit der Maga Coïra gegen Tirîgon, Sisaroth und Lot-Ionan siegen. Daran zweifelte Aiphatòn nicht – und genau deswegen musste er die Aklán erwischen, die mit ihrer Flucht ein bestimmtes Ziel verfolgte. Es gab einen Grund, weswegen Firûsha in den Norden wollte und sich ins Graue Gebirge hineinbewegte. Da war er sich sicher.

Nichts zu finden. So sehr er sich bemühte, er konnte dieses Mal keine Spuren ausmachen. Der Fels schien mit der Aklán verbündet. Er richtete sich auf. Wie kann das sein?

Die Nachtmahre legten eine enorme Geschwindigkeit vor. Selbst auf dem Rücken eines zuverlässigen Pferdes hätte Aiphatòn die fleischfressenden Geschöpfe nicht eingeholt. An einem Gehöft mit herausragenden Reittieren war er noch nicht vorbeigekommen, daher lief er weiterhin. Es bedeutete für ihn die größere Beweglichkeit.

Aiphatòn wandte die Blicke aus schwarzen Augen zu den Berghängen, die sich mehr und mehr bleigrau vor ihm aufschwangen.

Er sah schroffe, scharfkantige Wände, an denen man sich schon bei bloßer Berührung verletzte, sowie wolkenumspielte Gipfel in eigenartigen Formen, denen die Zwerge passende Namen gegeben hatten. Schattige, meilenlange Furchen zogen sich in den Flanken mit Schnee und Eis dahin und machten das Erklimmen zu einem immensen Wagnis. Dazu kamen poröse Vorsprünge und abbrechende Überhänge, tückische, schmale Pfade und rasch aufziehende Unwetter, die jedem unerfahrenen Wanderer den Tod brachten.

Was kann sie dort suchen? Von da gibt es keinen Ausweg. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als jeden der vier Wege etliche Schritte, unter Umständen sogar meilenweit zu folgen, bis er sichere Spuren fand. Das kostete ihn erneut Zeit, die Firûsha zupasskam.

Also gut. Aiphatòn wählte die Nordstraße, die breit genug war, um zwei Karren nebeneinander passieren zu lassen.

Er schulterte den Runenspeer und balancierte ihn aus, dann trabte er an, ohne dass die Waffe rutschte oder sich auf eine Seite neigte. Der Alb hatte die Hände gerne frei.

Seine Gedanken schweiften, auch wenn er die Blicke auf den Fels unter sich gerichtet hielt.

Eigentlich durfte diese Jagd nicht stattfinden, denn Firûsha müsste tot sein. Sie war bei dem Versuch, einen Anschlag auszuführen, von Coïras magischer Attacke getroffen worden und viele Schritte tief in den See gestürzt.

Noch immer vermochte er sich nicht zu erklären, wie die Albin es geschafft hatte, vom Grund des Gewässers zurückzukehren. Ingrimmsch klang so überzeugt, als er von ihrem Tod sprach.

Doch bei einer Aklán war vieles möglich, das wusste Aiphatòn nur zu gut.

Sie und ihre Brüder hatten zahlreiche Albae aus Phondrasôn ins Geborgene Land geführt, Meile um Meile mit List, Magie und überragenden Kampffertigkeiten unterworfen, bevor er und seine Albae aus dem Süden einmarschiert waren. Ein zweites Mal wird sie der Endlichkeit nicht entkommen.

Aiphatòn beschäftigte seine eigene Schuld unaufhörlich, mit jedem Schritt, den er tat, vom Erwachen bis zum Einschlafen. Und auch dann verschonte sie ihn nicht, bis in die Träume verfolgten ihn die Erinnerungen und Bilder: die Eroberung des Geborgenen Landes, seine gnadenlosen Truppen, die Unterjochung der Völker, sein Titel Kaiser der Albae und die unbarmherzige Suche nach Elben.

Aber mit Tungdils Rückkehr war die Einsicht gekommen, nein, das Erwachen, genau zu dem Scheusal geworden zu sein, das er niemals hatte sein wollen.

Welchem dämonischen Rausch erlag ich, dass ich mich in der Vergangenheit gebärdete, als sei ich verkommen wie meine Erzeuger? Dabei hatte er dem Zwerg einst geschworen, niemals so zu werden.

Das Böse lebte in ihm, und es vermochte mitunter, übermächtig zu sein.

Das darf niemals mehr geschehen. Kein Alb darf mehr im Geborgenen Land leben. Sein eigener Tod war beschlossene Sache. Seiner und vorher der eines jeden Albs.

Die Straße führte steil bergauf und leitete seine Schritte auf eine Stadt zu, vor deren Tor zwei Wachen standen, wie er nach einigen Windungen erkannte. Vor ihm ratterten Fuhrwerke, die Fässer und Holzbalken transportierten.

Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, verbarg er sich im Schatten der Felswand. Und da erkannte er in einer vertrockneten Flechte dicht am Wegesrand einen halben Hufeisenabdruck, der zu denen der Nachtmahre passte.

Sie ritten hier entlang. Aiphatòn sah zur unbekannten Stadt.

Den Gedanken, dass sich die Gruppe um Firûsha aufgeteilt hatte, verwarf er. Sie hatten sich bislang nicht getrennt, weswegen sollten sie nun damit beginnen?

Ist diese unscheinbare Stadt ihr Ziel? Was gibt es darin, was den Drillingen von Nutzen sein könnte?

Niemand durfte sein Kommen bemerken, er wollte ein Aufsehen vermeiden. Eine Maskerade als zerlumpter Bettler konnte er sich sparen, die beständig schwarzen Augen, die ihm als Shintoìt gegeben waren, und die leicht spitzen Ohren verrieten ihn als Alb. Die Kunde seiner Ankunft würde sich rasch verbreiten und zu Firûsha gelangen, womit die Überraschung dahin wäre.

Aber verborgen in einem der Fässer könnte ich hinein. Aiphatòn nahm den Speer von der Schulter und schloss geräuschlos zum hinteren Karren auf, sprang auf die Ladefläche und prüfte geduckt den Inhalt der Behälter.

Die Spundlöcher oben und an der Seite verrieten, dass eine Flüssigkeit darin zu finden war, dem schwachen Geruch nach handelte es sich um Wein.

Rasch bohrte er die untere Öffnung eines Fasses an und ließ eine ordentliche Menge ablaufen. Der helle Wein strömte hinter dem Wagen auf die Straße, das Plätschern ging im Knarren und Klappern der Räder unter. Das Loch schloss er mit Dreck und Harz, das er von den Wagenlatten schabte.

Aiphatòn verbarg seinen Speer unter einer zusammengerollten Plane und hoffte, dass es ausreichte, um den Wachen zu entgehen. Sonst werde ich mit viel Aufmerksamkeit in die Stadt einfallen.