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Der Verlust ihres besten Freundes steckt Joe, Luc und Nici tief in den Knochen. Nun jedoch geht das Abenteuer auf Howlith-Island erst richtig los, denn die drei haben es sich zur Aufgabe gemacht, Ben zu retten, koste es was es wolle. Dank der Hilfe von John und dessen Familie aus dem Reservat kommen sie des Rätsels Lösung ein wenig näher. Als dann aus dem Indianer-Reservat auch noch jemand auf mysteriöse Weise verschwindet, spitzt sich die Situation zu. Ben erlebt in der Zwischenzeit die schlimmsten Monate seines Lebens. Der Ort, an den er entführt wurde, erweist sich als der grausamste, den er sich je vorstellen konnte. Durch einen dummen Zwischenfall macht er die Bekanntschaft der dunklen und bösen Könige, doch ob das für ihn gut ausgeht und ob er diese Hölle überlebt, bleibt ungewiss. Band 2 der erfolgreichen und spannenden Jugendbuchreihe.
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Seitenzahl: 359
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Gedicht
Kapitel 1: Die Abreise
Kapitel 2: Die Ferien
Kapitel 3: Das Camp
Kapitel 4: Schulbeginn zurück auf Howlith-Island
Kapitel 5: Bei den Indianern
Der Brief von John
Kapitel 6: Das magische Fest der Winternacht
Kapitel 7: Halbjahresferien
Was während der ersten sechs Monate im dunklen Königreich geschah
Februar, kurz vor Beginn der Halbjahresferien auf Howlith Island
Kapitel 8: Die vierte Lektion
Kapitel 9: Der Plan
Kapitel 10: Währenddessen im dunklen Königreich
Kapitel 11: Werden sie es schaffen, ihn zu retten? Oder ist Benjamin für immer verloren?
Währenddessen am Wasserfall
Kapitel 12: Ende gut, alles gut (oder doch nicht...!)
Liebe die ganze Menschheit, hilf allen Lebewesen.
Sei glücklich.
Sei höflich.
Sei eine Quelle unerschöpflicher Freude.
Erkenne Gott und das Gute in jedem Gesicht.
Kein Heiliger ist ohne Vergangenheit, kein Sünder ohne Zukunft.
Sprich Gutes über jeden.
Kannst du über jemanden kein Lob finden,
so lasse ihn aus deinem Leben gehen.
Sei originell.
Sei erfinderisch.
Sei mutig. Schöpfe Mut, immer und immer wieder.
Ahme nicht nach. Sei stark. Sei aufrichtig.
Stütze dich nicht auf die Krücken anderer.
Denke mit deinem eigenen Kopf.
Sei du selbst.
Alle Vollkommenheit und Tugend Gottes sind in dir verborgen, offenbare sie.
Auch Weisheit ist bereits in dir, schenke sie der Welt.
Lasse zu, dass die Gnade Gottes dich frei macht.
Lasse dein Leben dass einer Rose sein, schweigend spricht sie die Sprache des Duftes.
Shri Babaji Haidakhan, 1984
„Man muss tun, was man tun muss. Auch wenn man nicht gleich in allem einen Sinn erkennt, ist doch einer vorhanden“, denkt sich Luc und packt Bens Sachen zusammen. Sein Blick ist vom vielen Weinen leer.
„Na los! Komm schon, Captain Hutton wartet nicht!“, ruft Nici ihrer Freundin zu.
„Ja, ja, ich komme ja schon“, erwidert Joe und hievt ihre Koffer aus dem Zimmer. Die drei Freunde treffen sich an der Rezeption und gehen dann gemeinsam zum Bootssteg, an dem Captain Hutton bereits wartet. Es ist ein schöner Julitag, es ist bereits neun Uhr, die Kinder bekommen alle ein Lunchpaket mit auf den Weg und verlassen für acht lange Wochen die Insel, um Ferien zu machen.
Der sonnige, warme Morgen lädt eigentlich zum Schwimmen im Meer ein, doch den drei Freunden scheint das Wasser zurzeit eher unheimlich als einladend. Ihnen ist der Schock immer noch ins Gesicht geschrieben. Es gibt im Moment nicht viel, an dem sie sich erfreuen könnten. Man sieht, wie sich die anderen Kinder auf zuhause und auf die Ferien freuen, wie sie sich freuen, wieder ein Jahr abgeschlossen zu haben, oder besser gesagt, wie sie sich freuen, wieder ein Jahr überlebt zu haben. Wie die aus der Abschlussklasse stolz über den Schulhof stolzieren und ihre Absolventenkappen präsentieren, wie sie sich gegenseitig gratulieren und unter Tränen von den Lehrern verabschieden, denn sie sind das letzte Mal hier auf Howlith Island. Auch die anderen Schüler verabschieden sich und gehen zu Captain Huttons Boot. Während die drei Freunde auf die nächste Fähre warten, kommt Emma zu ihnen und sagt: „Hi Leute, es tut mir leid für euren Freund, ich weiß genau, wie ihr euch fühlt, aber ich möchte euch danken, so wie auch alle anderen hier. Ihr habt so viel für Howlith getan, ihr könnt wirklich stolz auf euch sein.“
„Danke Emma, das ist lieb von dir, du hast ja recht, wir haben Großes geleistet, aber ohne euch alle hätten wir es nie geschafft“, erwidert Nici und sieht in den Himmel, wo die mächtige Schutzschicht deutlich zu sehen ist. Sie hat sich seit Bens Verschwinden wieder komplett geschlossen und wacht nun über die ganze Insel. Auch die anderen sehen nach oben und werfen Joe, Luc und Nici dankbare Blicke zu.
„Wir können wirklich stolz auf uns sein und auch auf Ben, aber wir sind es ihm trotzdem schuldig, einen Weg zu finden, um ihm zu helfen“, meint Joe und setzt sich auf ihren großen Koffer. Ihre kleineren vier Koffer hat sie daneben abgestellt. Luc und Nici setzen sich dazu und warten. Man kann deutlich sehen, wie alle drei versuchen, einen klaren Gedanken zu fassen, sie müssen sich nun in erster Linie überlegen, was sie Benjamins Eltern erzählen werden, wenn sie am Bahnhof von St. Latifee Village aufeinandertreffen.
„Einsteigen!“, ruft Captain Hutton, und die Schüler folgen seiner Aufforderung. Luc und Nici helfen Joe mit ihren Koffern, Nici nimmt einen kleinen und Luc schnappt sich die beiden anderen. Sie starren aufs Wasser, es funkelt in glänzenden Blau- und Grüntönen, als würden Diamanten darauf ruhen.
Seit sich die Schutzschicht wieder völlig geschlossen hat, kommt alles viel besser zur Geltung; der Wald mit seinen prächtigen alten Bäumen, das Wasser, das die Insel von allen Seiten behutsam einhüllt, der Himmel, die Luft; ja, sogar der Regen hat etwas Besonderes bekommen und wirkt nicht mehr so trüb. Eigentlich müsste man sich jetzt pudelwohl fühlen. Das tun die meisten auch, doch Luc, Nici und Joe können sich nicht entspannen, um die neue Energie zu fühlen. Jeder von ihnen spürt diesen stechenden Schmerz in der Brust, der sie unweigerlich an Benjamin denken lässt. Es ist ein Gefühl, als hätten sie ihn verraten, ihn zurückgelassen, ihn seinem Schicksal überlassen, ihn allein gelassen.
Dieses schlechte Gewissen ist kaum auszuhalten und zum Mittelpunkt eines jeden Tages geworden.
Würden die drei sich nicht gegenseitig zur Seite stehen, wäre jeder von ihnen bereits daran zerbrochen.
Während der Fahrt aufs Festland sehen die drei hinüber zu den Drachenbooten; sie erkennen den Platz, an dem Benjamin verschwunden ist, und erschrecken. Sie sehen sich kurz an und plötzlich kommen ihnen die Tränen. Nici hält sich die Hände vors Gesicht und beginnt, bitterlich zu weinen.
„Ist schon gut“, versucht Joe, sie zu trösten und streichelt ihr über den Rücken, dabei wischt sie sich selbst die Tränen aus dem Gesicht.
Auch Luc hat nasse Augen und kämpft mit den Tränen. Er nimmt seine Brille ab und versucht, mit Daumen und Zeigefinger die Tränen zu unterdrücken, indem er auf seinen Nasenrücken drückt.
Er beugt sich nach vor und legt eine Hand auf Nicis Knie, um ihr zu bedeuten, dass alles wieder gut wird. Auch wenn er selbst sich dessen nicht sicher ist.
Nach einer Weile sind sie am Hafen von Port Cohel angekommen.
„Aussteigen!“, hört man durch die Lautsprecher.
Alle verlassen das Schiff. Als Joe ihre letzten Koffer Luc über die Planke entgegen wirft, klopft ihr jemand auf die Schulter und sagt: „Kopf hoch Kinder, ihr werdet das schon schaffen, ich habe das mit eurem Freund gehört ... das tut mir sehr leid. Aber dadurch habt ihr vielen anderen hier das Leben gerettet.“
Die Freunde sind dankbar für Captain Huttons tröstende Worte. Sie nicken ihm zu und gehen gemeinsam zum Hauptbahnhof.
Unterwegs bleiben sie noch einmal kurz stehen und schauen hinüber auf die Insel. Luc flüstert, den Blick zu den Drachenbooten gerichtet: „Hey Kumpel, halte durch, wir werden dich retten.“
Dann holen sie tief Luft und gehen zum Schalter, um ihre Tickets nach St. Latifee Village zu kaufen.
Durch den Lautsprecher kann man eine nette Damenstimme hören:„Der Zug Nr. 471 nach St. Latifee Village auf Plattform 19 ist zum Einsteigen bereit, bitte achten Sie auf die Markierungen.
Wir wünschen Ihnen eine gute Fahrt und schöne Ferien!“
Die meisten Schüler jubeln und beginnen zu klatschen. Doch Luc, Nici und Joe können sich einfach nicht freuen, zu tief sitzen ihnen der Verlust und die Trauer in den Knochen. Sie steigen ein und lassen sich ihre Tickets löchern. Als sie auf ihren Plätzen sitzen, fragt Luc plötzlich: „Habt ihr eine, Idee was wir ihnen sagen sollen?“
„Nein, keine Ahnung“, entgegnet Nici.
„Wir müssen uns was einfallen lassen, wir können nicht einfach vor ihnen stehen und sagen: Hallo Mr. Und Mrs. Hastings, hier sind die Sachen von Benjamin, er wurde vom Nebel geholt, wir haben getan, was in unserer Macht stand, aber … tut uns leid“, sagt Joe zynisch und verdreht dabei die Augen.
„Tja, aber das wäre die Wahrheit, oder etwa nicht?“
„Ja, Nici, aber wir können ihnen das nicht antun, wir müssen vorsichtiger sein, einfühlsamer. Das sind wir ihnen schuldig“, erwidert Joe.
Luc beugt sich vor und stemmt die Ellbogen auf seine Oberschenkel, den Kopf stützt er in seine Hände: „Du hast recht, das können wir ihnen nicht antun. Aber vielleicht sollten wir betonen, dass wir alles tun werden, um Ben zu retten, das wär doch was, oder?“
„Ich hab irgendwie Angst davor. Wie werden sie wohl reagieren? Vielleicht sind sie böse auf uns oder enttäuscht“, wirft Nici ein, „vielleicht werden sie ja uns die Schuld an Bens Verschwinden geben.“
Die Zugfahrt vergeht sehr schnell und die drei Freunde sprechen kaum ein Wort miteinander. Sie sind in Gedanken versunken und starren nur aus dem Fenster.
Angekommen in St. Latifee Village, steigen alle wieder aus und gehen zum Ausgang des Bahnhofs. Dann bleiben sie plötzlich erstarrt stehen, als sie Bens Eltern mit Julie und dem kleinen Bill sehen.
Auch Mr. und Mrs. Hastings bleiben stehen und es schlägt ihnen das Lächeln aus dem Gesicht. Sie stehen sich gegenüber und starren sich an. Mr. Hastings versucht, das Schweigen zu brechen, und fragt: „Ist er, ähm, …“
Die Freunde bringen kaum ein Wort heraus, ihre Lippen zittern vor Traurigkeit.
„Ja, er ... wurde vor ... ein paar Tagen ... geholt“, antwortet Luc.
„Es tut uns so leid, wir, wir ... wollten ihm noch helfen, doch der Nebel war zu stark“, bedauert Nici und wischt sich die Tränen aus den Augen.
„Oh nein! Nicht mein Junge, nein! Warum nur?!“, weint Mrs. Hastings, sie hat den kleinen Bill in einem Tuch an ihrem Oberkörper und die kleine Julie an der linken Hand. Mr. Hastings nimmt seine Familie liebevoll in den Arm und kämpft ebenso mit den Tränen. Dann erzählen ihm Luc und Joe alles, was passiert ist, dass nun der Nebel für die nächsten drei Jahre vertrieben ist und dass sie alles tun werden, um Benjamin zu retten.
„Das ist lieb, doch es wäre sehr gefährlich für euch. Ihr müsst wissen, dass es noch nie jemand geschafft hat, es ist noch nie jemand zurückgekehrt“, erklärt Mr. Hastings betroffen.
Mrs. Hastings hat sich wieder einigermaßen beruhigt und fragt:
„Wie lange ist er schon verschwunden?“
Die Freunde sehen sich verwirrt an, dann antwortet Nici: „Seit ... sechs Tagen.“
Mrs. Hastings kann kaum ein Wort sagen, das einzige, was aus ihrem Mund kommt, ist ein fürchterliches Schluchzen.
„Ich glaube, es ist besser, wenn wir jetzt gehen Schatz, komm, lass uns nachhause fahren“, sagt ihr Mann und bedankt sich bei Nici, Joe und Luc. Dann geht die Familie zurück zum Auto und fährt zurück nach Saraya Bay.
Hier am Bahnhof kommt es jedes Jahr zu fürchterlichen Szenen und herzzerreißende Momenten, in denen Eltern die Nachricht bekommen, dass eines ihrer Kinder nicht mehr nachhause kommt. Jedes Jahr aufs Neue ist es ein Hoffen und Bangen, dass die eigene Familie verschont bleibt, doch es gibt kein Entkommen. Der Nebel macht keinen Unterschied, ob reich oder arm, gebildet oder nicht. Er holt sich wahllos, was er will.
Die Freunde haben nicht erwartet, dass es so schnell gehen würde, doch es ist besser als verzweifelte Versuche, irgendjemandem die Schuld zu geben.
„Hey Leute, mein Bus nach Foxwoodland fährt in zehn Minuten, ich sollte den nehmen, der nächste fährt erst in drei Stunden“, erklärt Luc und verabschiedet sich von seinen Freundinnen. „Es sind ja nur acht Wochen, Mädels, dann sehen wir uns wieder.“
„Es ist ziemlich komisch, dass wir uns nun trennen, nach so langer Zeit, ich werde mir draußen ein Taxi nehmen und nach Searock fahren. Mal sehen, ob überhaupt jemand zuhause ist.
Ihr werdet schon sehen, die zwei Monate werden schnell vergehen“, entgegnet Joe und lächelt gequält.
„Ja, ist gut, also dann sehen wir uns, ich glaube, mein Fahrrad steht immer noch da draußen, wo ich es vor fast einem Jahr abgestellt habe. Bis dann, Leute, passt auf euch auf“, verabschiedet sich Nici und geht hinaus. Sie umarmen sich tröstend und gehen getrennte Wege.
Wie vermutet steht das alte Fahrrad draußen noch genauso da, wie sie es zurückgelassen hat.
Nici schaut es skeptisch an und sagt leise: „Kein Wunder, dass du noch da bist, dich würde, wenn überhaupt, nur die Müllabfuhr mitnehmen.“
Sie steigt vollbepackt auf und winkt Luc zu, der gerade in seinen Bus steigt. Sie freut sich schon auf ihren Vater.
Joe steht am Ausgang des Bahnhofs und wartet darauf, dass ein Taxi anhält, um sie nach Hause zu bringen.
Das Taxi fährt so schnell, dass sie schon in wenigen Minuten an dem mächtigen Penthouse angekommen sind, in dem Joe aufgewachsen ist. Ein Portier öffnet die Autotür und hilft ihr aus dem Wagen.
„Die Koffer sind hinten, bitte in Appartement 403“, bittet Joe den dunkelhäutigen älteren Mann, der sie seltsam ansieht.
„Johanna? Bist du das? Meine Güte, hast du dich vielleicht verändert!“ Joe runzelt die Stirn.
„Michael! Du bist es, wie schön, dich zu sehen“, antwortet sie und umarmt den alten Mann.
Michael ist der Nachtportier des Penthouses, er ist für ein Jahr auf einer Fortbildung gewesen und ist zurückgekehrt, um wieder hier zu arbeiten. Wie es aussieht, nur noch tagsüber.
Wenn Joe früher nachts Angst hatte oder alleine in der großen Wohnung war, ist sie immer zu Michael an die Rezeption gegangen, um dort zu spielen. Er hat es immer geschafft, ihr die Angst zu nehmen und sie aufzumuntern. Er war wie ein guter Freund für sie. Doch Menschen verändern sich, und so hat auch er sich verändert. Er ist mittlerweile bestimmt schon sechzig Jahre alt.
„Na, das ist ja eine Überraschung, ich habe mich schon gefragt, wann du endlich ankommen wirst." Michael hat schon immer besser über Joes Aktivitäten Bescheid gewusst als ihre eigenen Eltern.
„Sind meine Eltern auch hier?“
„Ja, sie sind oben, doch mir hat niemand etwas von deiner Ankunft heute erzählt, also ist leider nichts vorbereitet, Joe.“
„Typisch, wahrscheinlich haben sie es schon wieder vergessen." Sie geht die Treppen hinauf zum Haupteingang.
Dort öffnen sich zwei große Schiebetüren aus Glas. Michael transportiert ihre Koffer auf einem Wagen über eine Rampe neben der Treppe. Sie gehen über einen roten Teppich durch eine große, edle mit vielen Lichtern geschmückte Halle.
Dunkelbraune Sofas aus echtem Leder stehen an den Seiten. Auf einem sitzen sich ein Mann und eine Frau gegenüber und glotzen beide in ihre Laptops, zwei junge Buben sitzen daneben und sind vollkommen vertieft in ihre Spielekonsolen.
Michael beobachtet Joe und sagt: „Heutzutage wird nicht mehr viel gesprochen, findest du nicht auch?“ Er schiebt den Wagen mit den Koffern zum Lift und drückt dann den vergoldeten Knopf, an dem ein Pfeil nach oben zeigt.
Joe antwortet nicht, sie ist nur gespannt auf ihre Eltern. Wie sie wohl reagieren werden nach all der Zeit? Plötzlich öffnen sich die Lifttüren und eine junge, blonde Frau mit kurzem Rock, grauen High Heels und Blazer rast aus dem Lift und brüllt mit gestresster Stimme etwas in ihr Handy, ihre Haare wehen im Wind, den sie selbst verursacht. Sie eilt durch die Schiebetüren hinaus und steht mit einem Satz mitten im tosenden Verkehr der Menschenmenge. Ein Gehweg voller gestresster Menschen und die Straße voller Autos, die von gestressten Menschen gefahren werden.
Die junge Dame hält kurz die Hand hoch, ein rotes Taxi hält mit quietschenden Reifen und verschluckt sie.
In dieser Stadt, Searock, sind alle so, ständig unterwegs, haben nie Zeit für sich selbst, nur Termine, Meetings, Kunden, Klienten, Stress, Stress, Stress.
Michael schiebt den Wagen mit den Koffern in den Aufzug und Joe folgt ihm. Der Portier drückt auf einen Knopf, gibt einen Code und dann die Appartementnummer 403 ein, denn der Lift in diesem Gebäude steuert jedes der zwölf Appartements direkt an.
Oben angekommen läutet Joe an der Tür, doch es reagiert niemand. Sie läutet noch zwei Mal, bis endlich jemand die Tür aufreißt und brüllt: „Mann, Michael, ich hab doch gesagt, keinen Besuch heute! Was ist daran so schwer zu verstehen?“
Es ist Joes Vater, der völlig genervt die Tür geöffnet hat. „Ja, ähm, Mr. Terrel, ich weiß, ähm ... aber es ist Ihre Tochter, die wieder zuhause ist“, antwortet Michael eingeschüchtert.
„Hi Dad!“ Joe kommt hinter dem Kofferwagen hervor.
„Johanna!“
„Wer ist da, Schatz?“, ruft ihre Mutter aus der Wohnung.
Am liebsten würde Johanna ihrem Vater in die Arme fallen, weinen, sich trösten lassen, ihm alles erzählen. Doch die heimische Atmosphäre ist wie immer kühl, also behält Johanna ihre Emotionen für sich.
„Es ist Johanna, sie ist wieder zuhause!“, ruft der Vater zurück und starrt seine Tochter an.
„Kann ich reinkommen?“, fragt Johanna zögernd und sieht ihren Vater dabei schräg an.
„Ja, natürlich, tut mir leid, Kleine, ich war kurz mit den Gedanken woanders.“
Der Vater geht zur Seite, damit Johanna und Michael mit den Koffern eintreten können.
„Johanna mein Liebling! Schön dich zu sehen, wie geht’s dir?
Wie läuft’s in der Schule?“, ruft ihre Mutter aus der Küche, die gerade das Abendessen auspackt. Familie Terrel hat eine tolle, große und geräumige Küche, doch solange Johanna sich erinnern kann, ist noch nie darin gekocht worden. Wenn sie alle zuhause sind, wird immer etwas bestellt.
„Das Hauspersonal wurde gekündigt, sie waren … wie soll ich sagen … einfach überflüssige Geldschlucker. Haha“, erklärt Mrs. Terrel hektisch, während sie die Teller auf die Bar stellt.
„Seit du nicht mehr da bist, Johanna, brauchen wir eigentlich nur noch eine Putzfrau, und die kommt einmal in der Woche.
Ach ja, Elliot, der Putze, musst du unbedingt sagen, dass sie auch die Blumen im Büro gießen muss, das vergisst diese dumme Ziege ständig. Soll ich etwa meine Blumen selbst gießen? Bestimmt nicht!“, wendet sie sich an ihren Mann.
Joe muss sich trotzdem erst an den Anblick gewöhnen, ihre Mutter in der Küche, das sieht wirklich eigenartig aus.
„Komm, du hast bestimmt Hunger“, sagt ihr Vater und die beiden setzen sich an einen langen, hohen Tisch, der wie eine Theke aussieht.
"Na toll, jetzt bin ich auch noch schuld daran, dass die armen Leute ihre Arbeit verloren haben?" „Der Hauptbestandteil ihrer Arbeit bestand darin, sich um dich zu kümmern, Schatz, und da du nun die meiste Zeit des Jahres auf Howlith Island verbringst, ist ihre Arbeit wirklich überflüssig geworden“, erklärt ihre Mutter. Dann reicht sie ihrer Tochter ein Stück des rohen Fisches. Michael stellt die Koffer in den Flur und verabschiedet sich.
„Igitt! Was ist das denn?“, faucht Johanna und spuckt den Happen rohen Fisch, der in grüne Blätter eingewickelt ist, wieder zurück auf ihren Plastikteller.
„Also bitte, kennst du sowas denn nicht? Das ist sehr unhöflich, dich so zu benehmen, Johanna, so habe ich dich nicht erzogen!“, faucht ihre Mutter zurück.
„Du hast mich doch nie erzogen …“
„Was hast du da jetzt gesagt? Du freches Ding! Elliot, nun sag doch auch etwas!“
„Ja, ja beruhige dich, Miriam. Johanna, du hast das doch früher auch gern gegessen, was soll das Theater jetzt? Entschuldige dich bei deiner Mutter, so spricht man nicht mit Erwachsenen und schon gar nicht mit den eigenen Eltern.“
„Ich habe so etwas Widerliches noch nie gemocht, das müsstet ihr aber auch wissen, ich hab´s noch nie gemocht! Und wofür soll ich mich entschuldigen? Dafür, dass ich die Wahrheit gesagt habe? Ganz sicher nicht!“ Joe hüpft von ihrem Hocker herunter und geht in ihr Zimmer, dabei stampft sie bei jedem Schritt fest auf den Boden, um ihre Wut loszuwerden.
Plötzlich ist die Stimmung im Keller, Joes Eltern bestrafen sie mit verächtlichen Blicken und Sprüchen über Höflichkeit und Anstand.
Nach dem Essen gehen alle schlafen. Joe ist froh, wieder in ihrem bequemen Bett zu liegen, doch irgendwie fühlt sie sich unwohl und allein, sie hat schon lange nicht mehr allein geschlafen und vermisst schon jetzt ihre Freundin Nici.
Vor einigen Monaten erst hat sie sich in dieses Zimmer zurückgewünscht und das Zimmerteilen mit Nici ebenso verabscheut wie die Gemeinschaftsduschen und gemeinsamen Toiletten, doch nun ist es umgekehrt.
Joe hofft innig, dass die Ferien besser verlaufen werden als dieser Abend.
Am nächsten Morgen wacht Johanna auf und merkt, dass sie doch besser als erwartet geschlafen hat. Ihre Eltern sitzen am selben Tisch wie gestern Abend und lesen beide die gleiche Zeitung, jeder hat sein eigenes Exemplar.
„Guten Morgen!“, begrüßt sie ihre Eltern.
„Guten Morgen, hast du gut geschlafen?“, fragt ihre Mutter und legt die Zeitung beiseite.
Ihr ungeschminktes Gesicht jagt Joe einen Schrecken ein, denn sie hat dunkle, geschwollene Augenringe und tiefe Falten. Ihr Vater sieht dagegen aus wie immer, nur etwas müder als sonst.
Ding, Dong!
„Oh, das muss mein Taxi sein“, sagt Mr. Terrel, legt seine Zeitung zusammen, trinkt seinen Kaffee aus und verabschiedet sich.
„Was machst du, Dad?“, fragt Joe und nippt vom frisch gepressten Orangensaft.
„Ach, ich hab Termine, wir eröffnen ein neues Hotel in Southcoast Cantar. Aber das verstehst du noch nicht Kleines.“
„Was versteh ich nicht? Dass du den ganzen Tag nicht nachhause kommst und sowieso keine Zeit für mich haben wirst? Ist es das, was ich nicht verstehe?“, faucht Joe ihrem Vater entgegen, der schon mit einer Hand am Aufzugsknopf an der Tür steht.
„Johanna, wir haben wirklich viel zu tun, wir können nicht ...“, will der Vater gerade erklären, da unterbricht ihn seine Frau: „Was ist denn nur los mit dir? Warum bist du eigentlich immer so frech? So undankbar? Ich habe es immer schon gesagt, du warst und bleibst ein Problemkind, doch so frech bist du noch nie gewesen. Hast du etwa vor, uns jeden Tag, den du hier verbringen wirst, zu versauen?“
Plötzlich muss Joe an Ben und seine Familie denken und beginnt zu weinen, dicke Tränen laufen über ihre Wangen. Die Gedanken an diese idyllische Familie und ihren Freund machen ihr sehr zu schaffen. Sie hüpft von ihrem Hocker und läuft in ihr Zimmer.
Auf ihrem Bett drückt sie sich das Kissen vors Gesicht und brüllt aus vollem Leib ihren Schmerz hinaus, der Schrei wird vom Kissen abgedämpft, sodass die Eltern nichts mitbekommen.
Und wenn schon, es würde eh keiner der beiden nach ihr sehen, sie könnten ja ihre Termine versäumen! Als sich die Aufzugstür öffnet, sagt Mrs. Terrel: „Ich wusste es, Elliot, dieses Kind wird uns noch viele Probleme bereiten. Ich habe dir doch gesagt, es wäre besser, sie in dieses Feriencamp in Black Castle zu stecken, dann hätten wir unsere Ruhe und sie wäre endlich ... naja ... sie wäre nicht so allein und könnte nicht auf dumme Gedanken kommen.“
Mr. Terrel nickt ihr zu und antwortet: „Du hast wahrscheinlich recht, Miriam, tu das, was du von Anfang an tun wolltest.
Vielleicht ist sie ja in der Pubertät, da sind Kinder nun mal so, glaub ich jedenfalls.“
„Ach papperlapapp, die Kleine ist einfach zu frech geworden, sie wächst uns über den Kopf, so kann sie mit uns nicht umspringen, glaubt sie denn, der ganze Luxus ist uns so in den Schoß gefallen? Diese Göre!“ Mrs. Terrel steckt sich eine kleine weiße Tablette in den Mund.
„Beruhige dich bitte, Miriam, denk an deinen Blutdruck, außerdem sprichst du über deine Tochter, vergiss das nicht.“
Dann verlässt Elliot die Wohnung.
Er steigt in den Aufzug und die Türen schließen sich, während er noch einen Blick auf seine Armbanduhr wirft.
Joe hat sich ein wenig gefangen, sitzt nun an ihrem Schreibtisch und verfasst einen Brief an ihre Eltern, einen Abschiedsbrief.
Sie wird auf eigene Faust in dieses Camp nach Black Castle fahren, genug Geld haben die Eltern ja. Sie wischt sich die Tränen aus dem Gesicht, bindet ihre Haare zu einem Zopf und geht nach einer Weile aus ihrem Zimmer. Doch es ist niemand mehr in der großen Wohnung, sie ist ganz allein.
Sie geht zur Theke und erblickt etwas Unerwartetes.
Dort auf dem Tisch liegt ein Kuvert, sie öffnet es, findet ein Bündel Geld darin und einen Brief, in dem steht:
Liebe Johanna, dein Vater und ich halten es für das Beste, wenn du in das Feriencamp von Black Castle fährst und dort deine Ferien verbringst. Ich fliege heute Nachmittag zu deinem Vater, um die Eröffnung zu organisieren. Also werden wir uns nicht mehr sehen.
„Wow, endlich sind wir mal einer Meinung, Mutter“, denkt sich Johanna und liest grinsend weiter: Hier hast du etwas Geld, kauf dir, was du dort noch brauchst.
Es ist auch ein Prospekt von dem Feriencamp dabei, auf dem du eine genaue Wegbeschreibung findest, die du dem Taxifahrer geben kannst. Sag Michael Bescheid, und der Fahrer soll dann mit uns abrechnen.
Hier noch die Nummer des zuverlässigsten Taxiunternehmens der Stadt: 47732-1774.
Wir werden die Kosten für das Camp gleich morgen früh überweisen.
Bitte sei uns nicht böse, doch es wird für alle das Beste sein.
In Liebe, deine Mutter.“
„Ha, von wegen böse, ich bin froh, wenn ich hier wegkann. Tolle Idee, Mom, danke“, sagt Joe spöttisch.
Sie legt ihren Abschiedsbrief auf den Tisch, zieht sich etwas an und verlässt dann mit dem Geld und einer großen Portion Shoppinglaune die Penthousewohnung. Sie winkt Michael kurz und verlässt das große Gebäude.
Joe sieht sich auf der Straße um und geht dann nach rechts zur U-Bahn. Sie beschließt, ein paar Sachen zu kaufen und auch für ihre Freunde eine Kleinigkeit zum Geburtstag zu besorgen.
„In ein paar Tagen habe ja auch ich Geburtstag, vielleicht sollte ich mir einfach selbst was kaufen und mich selbst beschenken“, denkt sie und fährt gut gelaunt in die teuerste Einkaufsmeile von Searock.
Die Familie Terrel schenkt sich seit Jahren nichts mehr, sie haben alles, besitzen alles, und wenn nicht, dann kaufen sie sich eben einfach, was sie wollen. Geschenke sind nur Zeitverschwendung, sagt ihre Mutter immer.
Nach einem erfolgreichen Nachmittag fährt Joe zurück nachhause, bestellt sich eine Tasse Kakao und etwas zu essen im hauseigenen Restaurant. Dann packt sie ihre Sachen wieder zusammen, die sie kaum ausgepackt hat, denn morgen früh will sie sich auf den Weg machen. Sie geht früh zu Bett, da sie es kaum erwarten kann.
Frisch und ausgeschlafen ruft sie am nächsten Morgen die Rezeption an und bittet Michael, ihr ein Taxi zu bestellen. Dann verlässt sie die Wohnung und geht hinaus, um auf das Taxi zu warten. Sie trägt einen knielangen Rock und eine weiße Bluse, darüber hat sie einen roten, dünnen Pullover angezogen, da es in den Morgenstunden noch etwas frisch ist. Als sie so am Ausgang steht und auf das Taxi wartet, sieht sie eine alte Dame, die bettelnd an der Hausmauer sitzt. Joe wirft ihr ein paar Münzen hin, doch was passiert da?
Joe traut ihren Augen kaum, als die alte Dame aufsteht und sie am Arm packt. Joe rümpft die Nase, weil die Frau und ihr dreckiger, roter Mantel stinken, als wären sie nie gewaschen worden.
Da flüstert die Frau plötzlich: „Ich weiß, was ihr vorhabt. Tut das nicht, du und deine Freunde, ihr werdet es nicht schaffen, es ist zu mächtig. Zu gefährlich, zu gefährlich!“ Nervöse Zuckungen überkommen sie.
„Wovon sprechen Sie? Lassen sie meinen Arm los!“
Die Frau zieht sie noch näher heran und raunt: „Von deinem Freund, er ist im dunklen Königreich gefangen, du weißt genau wovon ich spreche, Mädchen. Wenn ihr ihm helfen wollt, dann ..." Die alte Frau sieht sich ängstlich um. "Er muss den richtigen Ausgang finden. Hör gut zu, Mädchen, sonst könnt ihr ihm nicht helfen. Er muss noch imstande sein, den Ausgang zu finden.
Falls er sich überhaupt noch an euch erinnert, verstehst du? Erinnerungen, Erinnerungen!“ Bei den letzten Worten zuckt die Frau zusammen und schüttelt den Kopf.
Joe versucht, sich einige Zentimeter wegzudrücken, und fragt:
„Wieso sollte er sich nicht an uns erinnern können, wir sind seine besten Freunde?“ Die Alte sieht Joe tief in die Augen, ihr Blick ist klar und kalt.
„Je länger er weg ist, desto mehr schwindet seine Erinnerung ... und seine Energie.“
Plötzlich rempelt jemand Joe von hinten an und sie verliert ihre Handtasche. „Hey, was soll das, pass doch auf!“, ruft sie dem in der Menge verschwindenden Mann noch hinterher, dann klaubt sie ihre Sachen auf, die auf dem Weg verteilt liegen. Sie steht wieder auf, dreht sich um und sagt: „Okay, dann lassen Sie mal hören, wie findet er diesen Ausgang?“ Doch sie steht vor einer leeren, kahlen Mauer.
Die Frau ist verschwunden. Mit ihrem stinkenden roten Mantel ist sie wie vom Erdboden verschluckt. Ihre Decke, ihr Becher mit dem Kleingeld, alles ist weg. Joe dreht sich suchend um und versucht, an all den Leuten vorbei zu schauen, doch es ist niemand mit einem roten Mantel und grauem, zerzaustem Haar zu finden.
„Das gibt’s doch gar nicht, wie ist das nur möglich?“, fragt sich Joe.
Als Michael sie beobachtet, fragt er etwas besorgt: „ Alles okay mit dir, suchst du jemanden?“
„Ja, ähm ... nein, doch ..., ähm, sag mal, Michael, diese alte Frau, diese Bettlerin, wann kommt sie wieder?“
Auf diesem Weg gehen ständig Menschen auf und ab, Taxis halten und fahren weiter und hohe Busse versperren Joe die Sicht auf die andere Straßenseite. Die Frau könnte überall sein.
„Hier darf man nicht betteln, Joe, du musst dich irren, hier hat seit Jahren niemand mehr gebettelt.“ Michael sieht Joe verwirrt an. „Ist wirklich alles in Ordnung mit dir, Johanna?“
„Ja, aber …“, will sie gerade antworten, da steht plötzlich ein Taxi neben ihr und ein kaugummikauender Mann, der eine Kappe verkehrt herum auf dem Kopf trägt, fragt: „Hat hier jemand ein Taxi nach Black Castle bestellt?“
„Ja, mein Herr, diese junge Dame hier, ich lade schnell die Koffer ein. Einen Moment bitte“, antwortet Michael dem Fahrer und nimmt Joe die Koffer ab.
Dann öffnet er ihr die Autotür und verabschiedet sich von ihr:
„Pass gut auf dich auf, Kleine, und komm gesund wieder, hörst du?“
„Mach ich, bis bald, Michael, danke.“
Ab geht’s nach Black Castle. Joe zeigt dem Fahrer den Prospekt und er gibt Gas und biegt wieder in die Hauptstraße ein. Ihr wird klar, wie lange sie nun unterwegs sein wird. Nach St. Latifee Village sind es nur 15 Minuten, aber die Fahrt nach Black Castle dauert volle vier Stunden.
Die alte Bettlerin geht ihr nicht mehr aus dem Kopf, sie versucht, in den Menschenmassen am Gehsteig jemanden in einem roten Mantel zu erkennen, doch vergebens. Wie kann das nur sein? Ihr Blick schwenkt von einer Straßenseite zur anderen, dann auf das Display im Taxi. Sie erkennt das Datum und erschrickt. Es ist Benjamins 12. Geburtstag ...
Als Luc zuhause ankommt, hört er keine Menschenseele. Der Garten ist verwildert, um den hat sich schon lange niemand mehr gekümmert.
Doch als er die Haustür öffnet und mitten im Wohnzimmer steht, kann er ein leises Schnarchen vernehmen. Er bleibt kurz stehen und versucht, sich seiner Gefühle bewusst zu werden, er atmet den Duft seines Zuhauses ein und bemerkt, dass er ihn kaum berührt. Er hat es nicht vermisst. Der Geruch von Schimmel, Zigaretten und dreckiger Kleidung begrüßt ihn. Luc geht in die Küche, wo ihm ein beißender Gestank in die Nase sticht. Er sieht Essensreste, volle Aschenbecher, leere Bierdosen und Weinflaschen, sicher mehrere Wochen alt, vieles davon schon vergammelt und am Verrotten. Er stellt seinen Koffer ab und geht die Treppe hinauf in den oberen Stock, in dem sich sein Zimmer befindet. Das Schnarchen wird lauter.
Er will vorsichtig die Tür zu seinem Zimmer öffnen, da merkt er , dass abgesperrt ist.
Luc klopft, fassungslos darüber, dass sein eigenes Zimmer versperrt ist.
„Was ist?“, ertönt eine kratzende Männerstimme aus dem Zimmer.
„Onkel Alfred? Bist du das?“, ruft Luc zurück.
„Verschwinde! Lass mich schlafen!“ Luc tritt ein paar Schritte zurück und schüttelt den Kopf, dann geht er wieder hinunter, nimmt sich aus der Schublade neben dem Herd einen großen Müllsack und fängt an, in der Küche Ordnung zu machen.
So wie er es früher auch immer getan hat.
Nach einer Weile hört er plötzlich Schritte am Eingang.
Luc freut sich, endlich jemanden zu sehen, der bei Bewusstsein ist, nicht halb im Koma wie sein besoffener Onkel.
Er geht zur Tür, öffnet langsam und blickt in den Lauf einer Schrotflinte.
Das Herz schlägt ihm bis zum Hals, fast könnte man die rasenden Schläge durch sein T-Shirt sehen. Nicht schießen, nicht schießen, denkt er.
„Junge! Was machst du hier, du hast mich zu Tode erschreckt, ich dachte, du wärst ein Einbrecher!“, faucht sein Vater Barney Grant.
„Ich habe dich zu Tode erschreckt? Das tut mir aber leid, immerhin hättest du mich fast erschossen!“, antwortet Luc.
Barney Grant lässt die Pistole neben dem Eingang stehen und umarmt seinen Sohn.
„Wie geht’s dir, Junge? Du bist gewachsen, gut siehst du aus.“
„Danke, mir geht’s gut, ich habe das erste Schuljahr auf Howlith Island mit sehr gutem Erfolg abgeschlossen, Dad. Hier ist mein Zeugnis.“
„Ich bin stolz auf dich, mein Sohn. Hast du auch Geld verdient?“
„Was? Dad, ich bin erst 11, ich meine... bald 12, aber ich darf noch nicht arbeiten.“
„Ach ja? Dann sperr´ wenigstens die Tür zu, die Gegend hier ist ziemlich kriminell und unsicher geworden. Überall in der Nachbarschaft wurde schon eingebrochen.“
Das erklärt, warum sein Vater ihn mit einer Schrotflinte begrüßt hat.
„Ich hab die Post mit reingebracht Dad, einige Briefe sind für dich dabei.“
„Lass sehen!“, freut Barney sich, er wollte sich gerade auf die Couch setzen, doch jetzt springt er wieder auf, um zum Küchentisch zu gehen.
Schnell öffnet er einen Brief nach dem anderen. "Absage! Absage! Absage! Kein Bedarf! Bereits jemanden eingestellt! Bla bla bla."
„Was ist das?“, will Luc wissen, während er die Arbeitsfläche mit einem Spülmittel einreibt.
„Bewerbungen, mein Sohn, wie du weißt, hat dein Alter seit über einem Jahr nicht mehr gearbeitet. Nun versuche ich, mich immer irgendwo zu bewerben, doch so wie es scheint, bin ich nicht gut genug für die meisten Firmen“, erklärt Barney mit traurigem Blick.
„Sei nicht enttäuscht, Dad, es wird sich sicher bald eine Möglichkeit ergeben“, versucht Luc, seinen Vater zu trösten.
„Du hast leicht reden, Junge, die anderen Briefe auf dem Tisch sind Rechnungen. Rechnungen, die wir nicht bezahlen können. Wenn deine Mutter nicht arbeiten ginge, dann hätten wir überhaupt kein Geld.“
Luc hört den niedergeschlagenen Worten seines Vaters zu, der sich ein Bier aus dem Kühlschrank nimmt und dann eine Flasche mit Bourbon aus dem Wohnzimmerschrank holt. Luc kann den stechenden Geruch bis in die Küche riechen.
Als sein Vater sich einen Schluck nach dem anderen gönnt, ist er bald nicht mehr richtig zu verstehen. Er versucht, Luc noch zu erklären, dass sie seinen Onkel Alfred bei sich aufgenommen haben, der aber auch zur Zeit arbeitslos ist und den lieben langen Tag lang nur schläft.
„Ach ja, Dad, wo soll ich denn dann schlafen?“, fragt Luc und lehnt sich an den Besenstil.
„Du hast vielleicht Sorgen, mein Junge, deine Sorgen hätte ich auch gern, haha!“, antwortet Barney abfällig und verfällt in einen tiefen, schnarchenden Schlaf.
Luc versucht, den Boden und das Geschirr vom Schmutz zu befreien. Gedanken quälen ihn, was hier schief gelaufen ist und warum alle so deprimiert sind. Er muss aufpassen, dass ihn diese Stimmung nicht auch mit herunterzieht.
Nachdem er mit Putzen fertig ist, macht er sich ein Sandwich und setzt sich zu seinem Vater auf die Couch. Er schaltet den Fernseher ein und bemerkt, dass er schon lange nicht mehr in so einen Kasten geschaut hat.
Zwei Stunden später kommt seine Mutter nachhause, sie hat beide Hände voll mit Einkaufstüten und staunt: „Was ist denn hier passiert? Die Küche sieht ja aus wie neu.“
„Hallo Mom!“, sagt Luc leise, um seinen Vater nicht aufzuwecken.
„Hallo, mein Junge! Lucas, das ist ja ein Ding, du siehst gut aus. Schön, dich zu sehen“, begrüßt Daina ihren Sohn. Sie sehen sich lange an, Luc kämpft mit den Tränen. Wie Johanna würde er am liebsten einfach all die schrecklichen Dinge erzählen, die ihnen passiert sind. Einfach über alles reden, um von seiner Mutter getröstet zu werden.
„Sind denn schon Ferien? Mann, ist die Zeit schnell vergangen.
Hast du schon einen Job?“, will Daina wissen?
„Mom, ich werde erst in zwei Monaten 12 Jahre alt, ich darf noch nicht arbeiten“, erklärt ihr Luc.
„Ach papperlapapp, jeder kann heutzutage arbeiten, du könntest doch Zeitungen ausfahren oder Limonade verkaufen. Jeder Junge jeder muss sich heutzutage seine Brötchen verdienen. Du kannst morgen früh gleich zum Stadtrat gehen, dort sind immer ein paar Stellen für junge Leute ausgeschrieben, vor allem für die Sommermonate. Wenn du hier schlafen und essen willst, dann musst du auch deinen Teil dazu beitragen." Sie setzt sich und zündet sich eine Zigarette an. "Weißt du, wir sind zur Zeit ziemlich knapp bei Kasse.“
„Mom, ich bin gerade erst angekommen, ich hab die Küche geputzt und die Essensreste vom Boden gekratzt. Dad hätte mich fast erschossen, vor ein paar Tagen habe ich meinen besten Freund verloren und jetzt, da ich endlich zuhause bin, höre ich nichts anderes als Geld verdienen. Arbeit, Geld, keine Arbeit, Geld, wir brauchen Geld!“, faucht Luc seiner Mutter entgegen.
„Na gut, du wirst schon sehen, wo du bleibst, wenn du nichts machst, dann kannst du auch nicht lange hier bleiben“, sagt seine Mutter und nimmt einen kräftigen Schluck aus der Bourbonflasche. Dann holt sie ein paar Tabletten aus ihrer Tasche und kippt sie mit einem weiteren Schluck herunter.
Na toll, denkt sich Luc, das werden ja tolle Ferien. Ich werde aus meinem Zimmer verwiesen und nun soll ich auch noch arbeiten gehen.
Daina holt aus dem Schrank unter dem Fernseher eine alte löchrige Decke und ein Polster heraus. „Hier, du kannst heute auf dem Sofa schlafen, wir reden morgen weiter.“
„Gute Nacht, Mom.“ Luc hofft, dass er auf dem unbequemen Sofa bald einschlafen kann.
Am nächsten Morgen wacht Luc verspannt auf und bemerkt, dass seine Mutter bereits das Haus verlassen hat. Sein Vater und sein Onkel schlafen noch ihren Rausch aus und schnarchen um die Wette.
Luc geht in die Küche, um sich ein Frühstück zu machen, doch er findet nicht viel Essbares, nur ein paar Scheiben schimmeligen Käse, eine Tube Senf und ein paar Oliven in einem halbvollen Glas. Er schließt mit Schwung die Kühlschranktür und sieht etwas auf dem Küchentisch.
Dort liegt ein Zettel mit der Handschrift seiner Mutter: Mein Lucas, ich habe gestern noch lange nachgedacht und bin zu dem Entschluss gekommen, wenn du schon nicht arbeiten willst, dann kannst du ja wenigstens das Haus in Schuss halten, vor allem den Garten, da wäre mir schon viel geholfen.
In Liebe, deine Mutter.
Nach einer Schüssel trockenem Müsli, da die Milch bereits sauer war, geht Luc nach draußen und beginnt, im Garten seiner Arbeit nachzugehen.
Nach einer Woche harter Arbeit sieht wirklich alles wieder sehr ordentlich und sauber aus. Sogar ein paar Blümchen trauen sich dank Lucs Pflege wieder an die Oberfläche.
Eines Vormittags beschließt Luc, einen Spaziergang zu machen. Er kommt zu seiner alten Schule und denkt über vieles nach. Wie glücklich sie alle vor ein paar Jahren noch gewesen sind, als sein Vater noch in der Holzfirma in Foxwoodland gearbeitet hat. Er ist jeden Abend nachhause gekommen, war zwar müde, aber gut gelaunt. Man konnte sich mit ihm über alles unterhalten, er roch immer nach Holz und hat sich gesund ernährt, nicht so wie jetzt, wo er seinen Körper systematisch mit Alkohol, Frust und Missmut vergiftet.
Seine Mutter musste damals nicht arbeiten gehen, sie hielt das Haus sauber, machte den Einkauf und kümmerte sich führsorglich und liebevoll um alle. Sie wollten damals sogar noch mehr Kinder kriegen, sodass Luc Geschwister bekommen hätte.
Doch als der Tag kam, an dem Barney seinen Job verlor, hat sich alles zum Schlechten gewendet. Es scheint unmöglich zu sein, seinen Vater zu motivieren. Jede Absage reißt ihn weiter in ein tiefes Loch, in dem es nur Unzufriedenheit, Verdrossenheit, Langeweile, Alkohol und noch mehr Frust gibt.
Sein Onkel Alfred hat zwar immer schon seine Probleme gehabt, doch so wie jetzt hat Luc ihn noch nie erlebt.
Sein Blick streift durch den großen Wald, der sich durch ganz Foxwoodland zieht, große, dichte Bäume, Kiefern, Tannen, Schwarz- und Weißfichten. Dank seinem Vater kann er alle voneinander unterscheiden; der hat früher viel Wert darauf gelegt, dass Luc sich in der Natur auskennt und alleine zurechtfindet. Doch das ist lange her ...
Dann kommt ihm wieder in den Sinn, was im letzten Jahr auf Howlith so alles passiert ist. Er denkt an Benjamin, wie es ihm wohl geht, an Johanna in ihrer luxuriösen Wohnung und an Nici und ihren Vater.
Er denkt an die Zeit, als er hier in Foxwoodland noch zur Schule gegangen ist und nicht mal ansatzweise ahnte, was alles auf ihn zukommen würde.
Er geht weiter und kommt am Haus seiner ehemaligen Lehrerin vorbei. Er sieht sie auf der Terrasse sitzen, in dem von Rosen bewachsenen Garten, umrandet von dunkelgrünen Hecken.
Die junge Frau, die ihn oft an seine eigene Mutter erinnert, sitzt friedlich in ihrem Schaukelstuhl und liest ein Buch. Doch sie muss sich beobachtet fühlen, denn sie hebt plötzlich den Blick zum Gartentor.
„Lucas! Hallo!“, ruft sie ihm winkend zu. „Komm doch rein!“
Sie legt das Buch auf den Tisch und steht auf, um Lucas entgegenzugehen.
Sie strahlt übers ganze Gesicht vor Freude, ihren ehemals besten Schüler wiederzusehen.
„Hallo, Mrs. Rutterford, schön, Sie wieder zu sehen“, begrüßt Luc die junge Frau, deren lange, braunen Locken über beide Schultern hängen. Sie hat dunkelbraune Augen und eine Lesebrille um den Hals.
„Ist das eine freudige Überraschung, dich hier zu sehen. Komm, ich hab frische Limonade gemacht. Du bist doch bestimmt durstig an so einem heißen Tag.“
Sie hat Recht, Luc ist wirklich sehr durstig und trinkt das erste Glas sofort leer. Mrs. Rutterford schenkt ihm daraufhin gleich nochmal eins ein.
„Nun erzähl doch mal, Lucas, wie geht´s dir denn in der neuen Schule?“
Luc lässt sich in den anderen Schaukelstuhl fallen und überlegt.
Was soll er ihr denn erzählen? Die Wahrheit, das, was wirklich passiert ist? Oder das, was Lehrer so hören wollen? Er räuspert sich, dann beginnt er zu erzählen: „Ja, wissen Sie, es ist eigentlich sehr schön dort ... und ich habe viele neue Freunde kennengelernt, aber …". Plötzlich schießen ihm Bilder wie Blitze durch den Kopf, Bilder von den schrecklichen Ereignissen. Bilder seiner Freunde.
"Ach ähm ... ja ähm ... es ist, wie gesagt ... schön dort.“
„Verschwinden denn noch immer so viele Kinder dort?“
Luc bleibt die Spucke im Hals stecken und er verschluckt sich.
Nach einem kurzen Hustenanfall sieht er seine Lehrerin schockiert und fassungslos an.
Er hätte nicht gedacht, dass sie davon weiß, denn er hat es ja gerade ihr zu verdanken, dass er auf diese Schule geht. Wieso hat sie ihn dort eingeschrieben, wenn sie doch wusste, wie gefährlich es dort ist?
„Woher in aller Welt wissen Sie davon?“
„Ich habe mich nach meiner Ausbildung als Lehrerin dort beworben, ich war selbst auf Howlith Island und kenne die Lektionen, das dunkle Königreich und den Nebel. Doch ich habe leider eine Absage bekommen, ich sei noch zu jung, haben die damals gemeint. Aber ... naja, ist doch jetzt egal, Schnee von gestern." Sie sagt das so locker, als würden sie sich über ein gutes Buch unterhalten.
"Du willst nun bestimmt von mir wissen, warum ich dich dort eingeschrieben habe, obwohl ich all diese schrecklichen Dinge wusste.“ Luc sieht sie immer noch mit hochgezogenen Augenbrauen an, nie hätte er mit dieser Ehrlichkeit gerechnet.
„Ja, also ... das würde mich nun wirklich interessieren."